Das Elend der russischen Opposition am Falle eines ihrer Wortführer
Wenn jemand ein literarisches Werk als Satire auffaßt,
das keine Satire ist, was will er damit sagen? Welchen Vorwurf
will er an die Adresse des Autors richten?
Er bezichtigt ihn einer Überzeichnung gesellschaftlicher
Zustände, um sich darüber zu erheben und gar lustig zu
machen, die von dieser Überzeichnung abweichende Realität
also zu bestätigen als das, was er, der Kritisierte, im Grunde
für in Ordnung hält, ja dessen An- und Betreiber er ist. Er
wirft dem Autor also Kritiklosigkeit hoch 3 vor.
Ebendiesen Vorwurf hat ein führender Kopf der russischen
Opposition, Peter Pomerantsev, an Vladislav Surkov gerichtet (siehe le monde diplomatique,
Januar 2012). Surkov ist (im Hintergrund) Stratege Vladimir Putins und
Dimitri Medvedevs und damit richtet sich der Vorwurf an die Regierung
selber. Surkov, so unterstellt Pomerantsev habe den Roman »Unter
Null«* unter Pseudonym geschrieben, was freilich nichts zur Sache
tut. Der Roman selber ist eine schonungslose Beschreibung der –
mit dem Abschied vom (sachlich beginnend schon mit Stalin und mit der
offiziellen Aufgabe unter Gorbatschow erst recht) inhaltsleer
gewordenen Sozialismus – eingerissenen kapitalistischen
Verhältnisse und allem, was dazugehört, in Rußland.
Eine drastische Bestandsaufnahme, womit es die Staatsgewalt heutzutage
zu tun hat und die zur Bewältigung ihrer ihr eigenen Aufgaben so
nützlich sein kann wie sie notwendig ist.
Davon will Pomerantsev nichts wissen. Er will ja Putin, Surkov und Co.
für die Verhältnisse verantwortlich machen, die unter der
Vorgängerregierung Jelzins geradezu einen (im westlichen Ausland
durchaus begrüßten) Staatsnotstand erreicht hatten. Seine
Kritik läßt freilich tief blicken. Nämlich wie er
Kritik, was er unter Kritik versteht. Nicht daß er die
kapitalistischen Maßstäbe an den Pranger stellen
möchte, nein, er will ihnen fehlende Moral vorhalten! Dazu ist es
zweckmäßig, von den Zuständen und den ihnen obwaltenden
Maßgaben abzusehen, vielmehr das Personal der Macht in den
Mittelpunkt zu rücken. Putin und Co., so der Vorwurf, ließen
es an Moral fehlen, um Ruhe und Ordnung zu schaffen. Eine Ordnung, die
ihr Vorbild überhaupt nicht unbedingt im »freien
Westen« suchen muß, ist doch dort auch nicht alles Gold,
was glänzt, eine Ordnung, die genauso gut unter einer Stalinschen
Knute gefunden werden kann. Gerade deshalb ist diese Sorte Kritik ja in
Rußland so beliebt und anschlußfähig. Die
Größe der Nation ist ihr Maßstab, die Moral ihr
Unterpfand. Daran würden sich Putin, Medvedev und Co. vergehen.
Es zeigt wie widerlich und blöd diese Opposition ist, der sich
Sjuganovs KP ebenso zugehörig weiß wie der Mann mit dem
Brett vor dem Kopf, der in New York residierende Kasparov. Und es macht
es Putin, Medvedev und Co. im Grunde leicht, mit ihr fertig zu werden.
Wer sich nämlich auf die Personalisierung der Macht
einläßt, der hat die Demokratie schon zu seinen eigenen
Ungunsten begriffen. Es ist nämlich immer schwerer, aus einer
Oppositionsrolle heraus eine Führerfigur zu schaffen, die gegen
die amtierenden Führer eine Chance haben, sitzen die doch qua
Macht am längeren Hebel. Natürlich hat Putin recht, wenn er
diese Opposition ganz lässig als einfach zur Demokratie
gehörig einstuft. Die Opposition hierzulande – egal ob sie
grün, sozialdemokratisch rechts (als SPD) oder sozialdemokratisch
links (als Linkspartei) einherkommt – ist bekanntlich nicht
anders unterwegs: Von der Macht ganz viel Moral fordernd, daher jede
Menge Vorwürfe an die Visagen der Macht erhebend.
Kurz und gut, es ist das Jämmerliche an dieser, dem Kapitalismus
überhaupt nicht abholden Opposition, sich auf das Personalwesen
der Demokratie zu verlegen. Selbstverständlich auch das Passende,
wenn man sich Demokratie & Marktwirtschaft ohne
»Neben-«Wirkungen vorstellen will, was man ja nur kann,
wenn man ihr ganz, ganz viel Moral verabreicht.
(12.02.12)
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*Der Roman »Nahe Null« unter dem Pseudonym Natan Dubowizki 2009 [auf deutsch 2010] veröffentlicht, wurde auf KoKa im November 2010 rezensiert.
