"Die Menschen sagten immer seltener »Futures« und immer häufiger »Scheiße«." (S. 207)
NAHE NULL von Natan Dubowizki
Wenn ein Autor pseudonym einen Roman schreibt, dann
doch wohl deshalb, weil sein Name nichts zur Sache tun soll, die er dem
geneigten Leser mitteilen möchte. Dieser schlichte Umstand ist
für einen gemeinen bürgerlichen Kopf einfach nicht
begreiflich, erst recht, wenn es sich um einen Russen handelt, dem man
allerhand zu unterstellen bereit ist, weil ja Rußland als
Feindbild keineswegs deswegen beim deutsch denkenden Ideologen aus der
Mode gekommen ist, weil es seine Art sonderbaren Sozialismus hinter
sich gelassen hat. Im Gegenteil, einem solchen Opportunismus ist ebenso
zu mißtrauen wie jeder abweichenden Äußerung aus
dem Reich des Bösen, sofern sie nicht aus dem Munde von Leuten
kommt, die dem Westen so in den Arsch kriechen wie es der gerne
hätte.
Da der im Juli 2009 erschienene Roman - im Original: Околоноля - jedoch
nichts an Aufgeschlossenheit zu wünschen übrig
läßt, reibt sich die westliche Besprechung denn auch an dem
Pseudonym des Autors (siehe z.B. the independent vom 14.08.09 und taz
vom 23.03.10). Und die Beurteilung des Romans selber wird auf die
angeblich als bescheuert beurteilten Innenansichten Rußlands
verkürzt, die - so der demokratische Durchblicker - einzig
dafür bebildert zu betrachten sind, wie wenig demokratisch und
aufgeklärt es dort drüben zugeht. Also im Grunde nichts
Neues, was uns der Russe mitzuteilen hat, sieht man einmal davon ab,
daß ein hochrangiger Russe jetzt den Eindruck höchstselbst
bestätigt, den man von Land und Leuten im slawischen Osten eh
schon gehabt hat.
Die Offenheit des Romans setzt eine Offenheit des Lesers voraus, denn
er besteht nicht nur in einer Wiederspiegelung russischer
Verhältnisse, wie sie - selbst das ignoriert ja ein
westlich-ideologisierter Beobachter - ab 1991 dort unter der
ursprünglichen Akkumulation von Kapital entstanden sind
und für deren Etablierung - in ihrem Umfang keineswegs
geringe - Gewalt allenthalben erforderlich war.
Man ist gut beraten, einmal zur Kenntnis zu nehmen, woran - und nichts
weniger ist das Verdienst dieses Romans - sich die neuen russischen
Verhältnisse orientieren: Am Westen, vornehmlich am großen
Gegenspieler, den USA, von der Literatur angefangen über
religiöse Spinnereien bis hin zur Wild-West-Manier der locker
sitzenden Pistole und dem Harakiri in Abu Graib [Abu Ghuraib].
Der Zusammenschluß der Wirklichkeit mit seiner Fiktion, der im
freien Westen immer getrennt erscheint und gemeinhin als
zusammenhanglos eingeordnet wird, gelingt dem Autor, indem er
das »Business« Film einfach auf seinen Topos der
Exzessivität zurückführt und sie auf eine Ebene mit der
Exzessivität der Realität stellt, so daß Realität
und Fiktion nicht mehr zu unterscheiden sind. Sie sind einzig zwei
Seiten derselben Medaille. Und wenn er schon beim Erwähnen
us-amerikanischer Autoren nicht geizt, so hat er doch einen vergessen,
den, der das »Genre« begründet hat - und der nicht
zuletzt deshalb in die science fiction-Ecke gestellt wird - Edgar A.
Poe - man denke etwa an den »Doppelmord in der Rue Morgue«.
"Es existiert ein Klub von Leuten, die gern zuschauen, wenn
andere krepieren. Wie sie sich winden und um Gnade bitten, wie sie ihr
menschliches Antlitz verlieren. Und sie möchten nicht nur heimlich
dabei zuschauen, sie möchten es offen tun, zusammen mit einem
Haufen anderer Leute. Denen allerdings weisgemacht wird, das Ganze sei
nur gespielt, Kino, Avantgarde natürlich, Ultra-Avantgarde. Der
Naturalismus ist schöpferisch begründet, als Suche nach einer
neuen Ästhetik. Und womöglich nach einer neuen Ethik. Im Saal
sitzen hundert, zweihundert Leute, und nur zehn, zwölf von ihnen
wissen, daß der Film reale Szenen enthält, echter
Folterungen und Hinrichtungen. Sozusagen dokumentarische Szenen,
Live-Videos. Live-Tod." (S.191)
Um mit der geschilderten unerträglichen Wirklichkeit, einer
kapitalistischen Wirklichkeit, fertig zu werden, bedarf es freilich
einer Suche nach Wahrheit, einer Kritik der politischen Ökonomie -
wohingegen sich die Menschen lieber im dunklen Schlamm an den
verschmutzten Ufern im Seichten aufhalten (S.46). Daß
Rußland nicht einfach solipsistisch für sich steht, wie die
imperialistische Sichtweise es nahelegt, wird in dem Buch an vielen
Stellen deutlich: In der Hauptsache, im Film, an dem mit ihm
einhergehenden Fantasien, die hervorgerufen werden in totalem Kontrast
zur Langweiligkeit bürgerlichen (Spießer-)Daseins, was
mitunter als Flucht aus der Wirklichkeit kritisiert wird, dann
nämlich, wenn dadurch Brauchbarkeit und Funktionalität
bürgerlicher Individuen in Frage stehen, ansonsten freilich sehr
in Ordnung geht, weil und insofern es die Leute bei Lust & Laune
hält. Die Fantasien erreichen ein bislang kaum gekanntes
Ausmaß an Perversität - Sex, Drogen (inklusive der
Religion), Gewalt und die dazugehörigen Zünder: "Frieden, Freundschaft und den Menschen ein Wohlgevögel! Toleranz und Multikulturalität"
(S. 100) -, wobei deutlich wird, woran man sich in Rußland
orientiert und worin man mittlerweile der USA schon gleichwertig, wenn
nicht gar einen Schritt voraus ist: realisierte Fantasien, die geradezu
eine russische Geheimwaffe im Kampf ums Geschäft die
Gesellschaftsidee schlechthin darstellen. Man denke nur an Sarah, die
das us-amerikanische Ideal an Klischeehaftigkeit wie Brauchbarkeit ["Bei
der Liebesausübung funktionierte sie tadellos, war noch kein
einziges Mal weggetreten oder ausgefallen. Nach dem Sex kehrte sie
automatisch in den Stand-By-Betrieb zurück,... Kurz - made in USA,
Preis-Leistungs-Verhältnis auf höchstem Niveau." S.64f]
verkörpert, doch sich zuletzt als russischer Prototyp entpuppt -
ein eben nicht bloß literarischer Kunstgriff erster Sahne. Der
»positiven Dynamik von Krebserkrankungen« (S. 28) wird der
Roman so auch im übertragenen Sinne gerecht. Das Resultat
drückt diese Dynamik so aus: "User gibt es wenige, Loser haufenweise." (S. 144) Aber damit sich aufzuhalten, würde den gesellschaftlichen Diskurs erheblich stören: "Zu hören waren auch die weit positiveren Reaktionen auf das gestern im Restaurant Nachtasyl
verzehrte Austerndinner zur Unterstützung der Kleinunternehmer,
der Demokratie, getöteter Journalisten, verprügelter
Anwälte, verbotener Schriftsteller, eingesperrter
Geschäftsleute, der Neuordnung der russisch-amerikanischen
Beziehungen und so weiter und so fort. Gesprochen wurde auch über
den kollektiven Besuch einer nonkonformistischen Ausstellung von
tausend zerschlagenen Gläsern als Zeichen des Protests gegen...." (S. 121)
Und wer immer noch Tomaten auf den Augen hat, dem sagt es der Roman auch unverblümt: "...Korruption
und organisierte Kriminalität sind ebenso tragende Elemente der
sozialen Ordnung wie Schule, Polizei und Moral." (S. 152) Hier wie
dort. Wie sich daneben China, die Chasaren, Afghanistan, Adolf
Aloisowitsch und Jossif Wissarionowitsch in die heutige Welt einordnen,
hier erfährt man es plastisch und drastisch. Nicht zu vergessen
ist die Kirche - wer hätte vermutet, daß selbst das
unscheinbare und hochfromme Kloster auf dem Inselchen Trikeri bei Volos
(S.75) von der Neuordnung der postsowjetischen Welt sich eine Scheibe
abschneidet?
(07.11.10)
