Joseph Roth:
EINSTEIN, DER »FALL«

Der neueste »Fall« heißt »Einstein«. »Fälle« ereignen sich überall dort wo Zeitungen, zu Wachhunden der Kultur dressiert, über Erfindungen, Entdeckungen, Phänomene, Premieren, Raubmorde, Wettrennen, Boxmatches, Aufklärungsfilme, Primaballerinen, Modetage, Sonnenfinsternisse, siamesische Zwillinge, Ministerkonferenzen und Wunderkinder der wartenden Öffentlichkeit »reportieren«. Reportage ist die Mittlerin zwischen Novität und Nation, und aus Zeitungsberichten setzt sich schließlich die Kultur zusammen. Die Entdeckung Amerikas ginge heute so vonstatten, daß Kolumbus ein Sonderberichterstatter als Presseattaché beigegeben und der Ruf »Land, Land!« als zweispaltiger Sensationsbericht »aufgemacht« würde. Der Reporter, Geburtshelfer der Kulturerrungenschaften, verursacht mehrspaltige Frühgeburten mit Wasserköpfen aus Cicerofett.
Es kann keine Retorte mehr platzen, keine Froschmetamorphose sich vollziehen, kein Manschettenknopf erfunden, kein philosophisches System erbaut werden: Retorten, Frösche, Manschettenknöpfe, Systeme sind »Fälle«. Eine Relativitätstheorie mußte zum Feuilleton werden, da der Journalismus ja den Einstein der Weisen gefunden hatte. So ward Erkenntnis zum »Stoff«.

Die christlich-germanische Weltanschauung aber, die Wahrheiten auf Art ihre arische Abstammung prüft, war irritiert durch das Jüdeln der bei Ullstein und Mosse erschienenen Relativitätstheorie und horchte auf. Zwischen Reporter und Reportarier geworfen, verwandelte sich ein Forschungsergebnis zum politischen Fußball. Im Saal der Disharmonie vereinigten sich deutsche Naturforscher zu wissenschaftlichen Disputen auf antisemitischer Grundlage. Aus Relativitäts- wurde Rassentheorie.

Und Einstein selbst häuft Fehler auf Fehler. Es gibt wissenschaftliche Leitschriften genug, in denen er sich mit seinen Gegnern auseinandersetzen könnte. Statt dessen hat er »nahestehende Seiten«. »Nahestehende Seiten« sind journalistische Stützpunkte, von denen aus die Reporter »Informationen« gegen die Öffentlichkeit abfeuern, um »Gemüter« zu bewegen. »Von Einstein nahestehender Seite verlautet«, daß er fortreist.

Es ist am besten so. Die Leitartikelspalte wird wieder dem rechtmäßigen Taufpaten der Ereignisse freigegeben. Der Nationalismus der Vereinigung deutscher Naturforscher darf sich in Tanzkränzchen, Bierabenden und gemütlichen Zusammenkünften gegen die jüdische Weltherrschaft organisieren. Und Einstein, das Opfer der Sensation und der rassereinen Borniertheit, darf wieder zurück in seine Studierstube, wo er sich gewiß auskennt.

Er verlasse das Land der Reportage und der Karikultur. Wenn die Jahrhunderte erweisen, daß seine Lehre eine wissenschaftliche Tat von Bedeutung gewesen, bleibt der Ruhm der »deutschen Wissenschaft« ja doch ungeschmälert.
Denn nichts beweist den deutschen Professor in Einstein besser als die Naivität, mit der er fixen Reportern aufsitzt.
Die deutschnationale Vereinigung der Naturforscher gegen Einstein aber braucht erst gar nicht zu beweisen, daß sie undeutsch ist.

Freie Deutsche Bühne, 05.09.1920