Zynismus - Qualitätsmerkmal moderner Demokratie
Sie, die Protagonisten eines kapitalistischen Staates finden nichts dabei, wenn sie die Opfer ihres
Systems beklagen. So offenkundig ihr Zynismus auch ist, empfinden sie
ihn keineswegs als solchen. Im Gegenteil, sie halten ihre Haltung darob
für durchaus menschenfreundlich, für moralisch schwer in
Ordnung. Und nicht bloß das: Denen, die Einspruch erhaben, halten
sie mitunter vor, sie ließen es am nötigen Respekt den
Opfern gegenüber fehlen, Opfern gegenüber, die jene
überhaupt nicht zu verantworten haben: Nur wer ihre Opfer
bemitleide, erwerbe sich ein Recht auf Kritik. Eine Kritik, die sich
gleichzeitig mit dem Respekt vor den Opfern eben jenes kapitalistischen
Gemeinwesens ja auch schon erübrigt haben soll, zumal die
Menschenfreundlichkeit angesichts der für unabänderlich
gehaltenen gesellschaftlichen Notwendigkeiten nicht "übertrieben"
werden kann, soll und darf.
Denn grundsätzlich vertreten Zyniker die Meinung, daß die,
welche »das Los« so hart trifft, im Grunde selber für
ihre Lage verantwortlich sind: Haben denn nicht jene ihren Arsch nicht
hochgekriegt? Eben! Im Grunde halten sie sogar ihr zynisches Mitleid
für ein unangebrachtes Zugeständnis den Opfern gegenüber.
Einem wachen Zeitgenossen entgeht der so auf die Spitze getriebene
Zynismus keinesweg. Er sticht ja auch täglich ins Auge.* Bei
dieser Auffälligkeit stehen zu bleiben und sich mit einer daraus
ergebenen (höheren) Moral in die Politik einzumischen, das haben
gleichwohl schon viele versucht: Man sehe sich nur die deutschen
GRÜNEN an! Mit ihnen und nur mit ihnen, so werden sie ein ums
andere Mal vorstellig, ginge Politik in Ordnung, egal welcher Mittel
sie sich zu bedienen weiß. Freilich, hier wird ihre
»Kritik« lediglich in eine neue, für wirklich
glaubwürdig gehaltene Haltung überführt: Krieg wegen
»Auschwitz« — aber immer! Atomkraft, wenn
»nur« noch 20 Jahre — voll okay!
Keine Frage, solchermaßen sich erhebenden Leuten fällt dann ihr eigener Zynismus nicht auf. Wie auch?
(19.10.12)
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*Ein jüngstes Beispiel:
Da wird dem griechischen Staat deutscherseits vorgerechnet, daß
er völlig system- und sittenwidrig Rentner durchgefüttert
habe, wo es sich bei ihnen teils um welche handelt, die viel zu
früh ihrer Aus- und Vernutzug entzogen wurden, teils um welche,
die eh kein Einkommen mehr brauchen, für die jeder Euro zu schade
sei, weil sie eh nicht mehr verwertbar sind. Kurz & gut, »die Griechen« könnten und sollten sich »die
Deutschen« zum Beispiel nehmen; Rente erst mit 67 und dann in
einer Höhe, die einen schneller in den Tod treibt. Die früher
per Lohnabzug in die Rentenkasse zwangsabgeführten Beiträge
verwendet der deutsche Staat ja sowieso lieber produktiv. Wem das nicht
paßt, der möge gefälligst sich zu einem
zusätzlichen freiwilligen Lohnabzug entschließen (wie
könnte es übrigens anders sein, war diese bahnbrechende
Erfindung die eines Sozialdemokraten). So braucht der frühere
Lohnempfänger im Alter den Sozialkassen seines so sozialen
Sozialstaates nicht auf der Tasche liegen. Das ist ja seit Adolf dem
Tausendjährigen sowieso das abartigste Schmarotzertum, den Staat
für sich ausnutzen zu wollen! Allein umgekehrt geht Ausnutzung in
Ordnung, was, wie gesagt, »die Griechen« endlich lernen
müßten.
Überrascht stellt sich nun eine deutsche Ministerin, die noch nie
jemals etwas gegen das schöne deutsche Rentenmodell gesagt haben
wollte, hin und fest, daß die Rentner hierzulande weniger denn je
über die Runden kommen. Die zynische Heuchelei der Frau von der
Leyen stieß prompt auf harsche Kritik bei jenen, wurde als
unsachlich gebrandmarkt bei jenen, die so knallhart und
rücksichtslos wie offen und ehrlich die Notwendigkeiten von Staat
& Wirtschaft exekutiert sehen wollen. Zynismus wird heutzutage
nämlich vorzugsweise ungeheuchelt vorgetragen, will man nicht in
eine irgendwie soziale oder gar sozialistische Ecke gestellt werden.
Die Demokratie moderner Prägung zieht es vor, über Leichen zu
gehen, ohne sich lästigerweise mit einer Registrierung derselben
aufhalten zu müssen. Auf dieses Niveau umstandsloser Politik
sollen sich »die Griechen« hinarbeiten. Dummerweise
desavouiert eine deutsche Arbeitsministerin in ihrer Naivität ein
vorbildliches deutsches Erfolgsmodell!