
"Wenn ein enger
Nachbar wie die Türkei schon solche Probleme [mit seinem
EU-Beitrittswunsch] verursacht, kann man sich unschwer vorstellen,
welche Schwierigkeiten und Verwirrungen erst ein entfernter Nachbar wie
China auslösen muß! Die liberalen westlichen Medien hatten
gut lachen, als die Staatsverwaltung für religiöse
Angelegenheiten der Volksrepublik China im August 2007 ein Gesetz
über »Maßnahmen zum Management der Reinkarnation
lebendiger Buddhas im tibetischen Buddhismus« verabschiedete, das
zum 1. September in Kraft trat. Mit diesem »wichtigen Schritt,
das Management der Reinkarnation zu institutionalisieren«, werden
die Bedingungen und Verfahrensweisen für Wiedergeburten festgelegt
— um es kurzzufassen: Buddhistischen Mönchen ist seitdem
eine Reinkarnation ohne staatliche Erlaubnis untersagt, niemand
außerhalb Chinas darf den Reinkarnationsprozeß beeinflussen
und nur Klöster innerhalb Chinas können eine Genehmigung
beantragen.
Bevor wir nun vor Wut über Chinas kommunistischen
Totalitarismus explodieren, der das Leben seiner Bürger jetzt
sogar noch nach deren Tod kontrollieren will, sollten wir uns in
Erinnerung rufen, daß ein solches Vorgehen in der Geschichte der
europäischen Frühmoderne nicht unbekannt ist. Im Augsburger
Religionsfrieden von 1555, dem ersten Schritt zum Westfälischen
Frieden von 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete,
wurde die Religion des Landesherren zur offiziellen Religion eines
Gebiets oder Landes erklärt (cuius regio, eius religio).
Dies hatte die Tolerierung des Protestantismus durch die Katholiken in
Deutschland zur Folge; allerdings mußten jedesmal, wenn ein neuer
Herrscher mit einer neuen Religion an die Macht kam, sehr viele
Menschen ihre Glaubenszugehörigkeit ändern. Der erste
große institutionelle Schritt zur religiösen Toleranz im
modernen Europa beinhaltet also ein Paradox derselben Art wie das
erwähnte chinesische Gesetz: Der religiöse Glaube eines
Menschen, bei dem es um dessen innerste spirituelle Erfahrung geht,
wird von den Launen seines weltlichen Fürsten bestimmt.
Die chinesische Regierung regelt etwas, das sie nicht nur
toleriert, sondern sogar unterstützt. Ihre Sorge gilt nicht der
Religion, sondern der gesellschaftlichen »Harmonie« —
der politischen Dimension der Religion. Um die Auswüchse des durch
die eruptive Entwicklung des chinesischen Kapitalismus verursachten
gesellschaftlichen Zerfalls einzudämmen, befürworten die
chinesischen Funktionäre nun Religionen und traditionelle
Ideologien, die der sozialen Stabilität dienen, vom Buddhismus bis
zum Konfuzianismus — genau diejenigen Ideologien also, welche die
Zielscheibe der Kulturrevolution waren. Im April 2006
äußerte Ye Xiaowen, der höchste Religionsvertreter
Chinas, gegenüber der Nachrichtenagentur Xinhua, daß
»Religion eine der wichtigen Kräfte ist, aus der China seine
Stärke bezieht«, und hob den Buddhismus wegen seiner
»einzigartigen Rolle beim Aufbau einer harmonischen
Gesellschaft« hervor (so wird die Kombination aus
wirtschaftlicher Expansion und gesellschaftlicher Entwicklung und
Fürsorge offiziell genannt). In derselben Woche war China
Gastgeber des Buddhistischen Weltforums.
Was bei dem Gesetz zur Reinkarnation auf dem Spiel steht,
wurde deutlich, als China im Zuge der andauernden Auseinandersetzungen
seiner Staatsvertreter mit dem Dalai Lama als Anwalt der alten
tibetischen Traditionen gegen die Modernisierung auftrat. Im November
2007 verkündete der Dalai Lama als Reaktion auf die Bekanntgabe
der neuen gesetzlichen Regelung, sein Nachfolger werde wahrscheinlich
nicht durch Wiedergeburt ausgewählt, sondern auf demokratischerem
Wege bestimmt; eine Art repräsentatives Gremium, ähnlich dem
Konklave im Vatikan, solle seinen Nachfolger wählen. Im Gegenzug
verteidigten nun die Chinesen die Reinkarnation als Methode der Wahl
und beschuldigten den Dalai Lama, zur Wahrung politischer Interessen
mit alten tibetischen Traditionen zu brechen. ..."
(Slavoj Žižek, Auf verlorenem Posten, 2008, S. 40f)
Hier haben wir also in China genau das Gleiche, was hierzulande den
Religionsgemeinschaften Anerkennung verschafft: Ihre gesellschaftliche
Funktion, die die Klassengegensätze leugnet, so gut es eben geht;
mit ganz viel Moral und gutem Willen sollen sich Glaubensgemeinschaften
für dieses staatliche Anliegen stark machen. Je härter die
Zeiten für das Proletariat, desto mehr wird ihre nützliche
Funktion betont: Wenn der Papst und andere Kirchenführer wieder
einmal gegen schnöden Materialismus wettern, dann verstehen das
nur Moralisten falsch: Eine Kritik des Kapitalismus ist damit nicht
gemeint, wohl aber das Zurückweisen jedweden proletarischen
Anspruchs und sei er noch so bescheiden: Die Not solle das Proletariat
(wieder) in die (dreckigen) Pfoten der klerikalen Mafia treiben. In
diesem Ansinnen herrscht Einigkeit unter den verschiedenen christlichen
Sekten, jenseits aller sonstigen Konkurrenz.
Die christliche Konkurrenz wird übrigens als Ökumene zurückgewiesen:
Zwar ist es für den Sinnsuchenden, der einfach nur und nichts als
glauben will, kaum wirklich ersichtlich, was einen mehr oder weniger
erheblichen Unterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus (und
anderen Christensekten) ausmachen soll; allein zum Glauben ist es auch
nicht wichtig, darüber Bescheid zu wissen. Daß
Glaubensstreitigkeiten, zumindest in den imperialistischen Staaten des
freien Westens in aller Regel nicht mehr mit Kriegswaffen ausgetragen
werden, verdankt sich allein dem staatlichen Verbot und der
Verdonnerung zur Toleranz. Das nennt sich dann Frieden und darf mit
einem eigenen Feiertag gefeiert werden, wenngleich nur in Augsburg. Im
übrigen ist einem, der die Verlautbarungen des römischen
Papstes liest, sonnenklar, was der unter Ökumene versteht: Die
Ein- und Unterordnung der anderen Sekten. Die Rechtgläubigkeit hat
schließlich ihren Sitz auf dem Stuhle Petri. Dieses Dogma besagt,
was als Wahrheit gilt - also mit der Wahrheit als solcher nicht die Bohne zu tun hat.
Der Krieg gegen den Islam soll ebensowenig als einer gegen ihn
gerichtet verstanden werden, sofern er sich genau so der staatlichen
Begierde unterordnet, wie erwünscht. Andernfalls gilt er deshalb als politisch-radikal und wird mit offener
(Gesetzes-)Gewalt bekämpft. Soviel nur in aller Kürze zum Kampf gegen
Verschleierung, Koranunterricht und internationale Beziehungen
muslimisch Gläubiger in der BRD und West-Europa.
Kurzum: Der ganze Zinnober mit dem Friedensfest wie überhaupt die
ganzen Religionen samt ihrer Dauerfehden sind ein einziger Anschlag auf
den Verstand.
(07.08.10)