
Nachrichten aus der
französischen Klassengesellschaft
Am 19.01.10 erinnert Le Monde daran, daß
in Frankreich wie in jedem
anständigen kapitalistischen Gemeinwesen ein
beträchtliches Heer von
Unbeschäftigten zum festen Volksinventar dazu gehört. Eine gute halbe
Million von ihnen muß sich künftig
nicht mehr mit der knappen Arbeitslosenstütze
herumärgern – sie kriegen
nämlich keine mehr:
"600 000 Personen erhalten in den
nächsten Monaten im Prinzip keinerlei
Zuwendungen mehr und werden sich
ohne die geringste soziale Absicherung
wiederfinden. Ihr Schicksal wird von ihrer
familiären Unterstützung abhängen
und im Gefolge ein erhebliches Anwachsen
der Armut in Frankreich nach sich
ziehen."
Mit ihrem Übergang in die Lebensform von Schmarotzern und
Produzenten der Armut ihrer Familien leisten die proletarischen Habenichtse einen letzten Dienst am Wachstum und an
ihrer Nation.
Begonnen haben die 600 000 ihre
Karriere damit, den "französischen Arbeitsmarkt,
der nicht flexibel genug war",
aus seinem unhaltbaren "Reformstau"
zu lösen, indem sie die neuen staatlich "privilegierten
befristeten Arbeitsverträge
(CDD, Contrats à durée
déterminée)"
als flexible Manövriermasse mit Leben
erfüllt haben. Keine Ansprüche auf
unerträgliche Kündigungsfristen, keine unsinnigen Abfindungskosten und
keine kostentreibenden Streitereien
vor den Arbeitsgerichten! So was beflügelt zuerst den Unternehmerelan – "Vor
der Krise waren fast drei Viertel der geschaffenen Beschäftigungen CDDs", und
dann die Massenentlassungen.
"Die CDDs, die ersten, die entlassen
wurden, finden keine Beschäftigung
mehr auf einem Arbeitsmarkt, der träge
geworden ist."
Daß der Reichtum, den die Beschäftigten produzieren, sie notorisch zu
seinen Opfern macht, davon geht man
auch links vom Rhein als Selbstverständlichkeit aus, so daß "ein Frankreich,
das über ein System der sozialen
Absicherung verfügt", den Arbeitslosen
gibt, was sie brauchen: "die Zeit, eine
angemessene Arbeit zu finden". Und
wenn sie für keinen Unternehmer nützlich sind, sind sie deswegen doch nicht
unnütz. Als staatlich gestiftete Gattung
von (Reserve-)Billigarbeitskräften
bringen sie den Niedriglohnsektor insgesamt voran. Und wenn schließlich
die ihnen staatlich gewährte Zeit abläuft, in der sie sich als Bezieher von "sozialer Absicherung"
überflüssig machen dürfen – "Die Dauer dieses Bezugs
ist proportional zur Beitragsdauer, also
zur Menge der geleisteten Arbeitsstunden
vor der Anmeldung bei Pôle emploi"
(= Arbeitsagentur) –, dann leisten
sie ihren letzten Dienst und liegen der
Sozialkasse nicht auf der Tasche.
P.S. Natürlich ist so was ein "sozialer
Skandal" und in einem zivilisierten
Land wie Frankreich werden sie nicht
einfach ihrem Schicksal überlassen.
Die Regierung ist sich ihrer Verantwortung bewußt, kann aber leider nichts
machen, weil sie nicht zuständig ist, wo
sie die Gewerkschaften und den Unternehmerverband mit der Abwicklung
dieser sozialen Last beauftragt hat.
"Momentan besteht die offizielle
Position
darin, den Ball an die Sozialpartner
zurückzuspielen, die traditionell die
Arbeitslosenversicherung verwalten."
Diese wiederum würden auch gerne
helfen, sehen sich aber leider außerstande, weil "eine Verlängerung der
Unterstützung
jener Arbeitslosen, die am
Ende ihrer Rechte sind, die Unedic 1,3
Milliarden Euro zusätzlich kosten würde,
bei der Ende 2009 bereits ein Defizit
von 5,6 Milliarden Euro aufgelaufen ist."
Wo alle Zuständigen gegen das traurige Los der Pauper kämpfen, da stellt es
sich unweigerlich ein.
Nicht nur unten, auch oben in der
Hierarchie der Berufe gibt es vorzeitige
Beendigungen befristeter Arbeitsverhältnisse und Lebenskrisen. Wie die SZ
am 03.02. berichtet, tritt der "Vorstandsvorsitzende
von Frankreichs größtem
Telefonkonzern, Didier Lombard, vor
dem Ende seines Mandats im Frühjahr
2011 zurück". Der Mann hatte nämlich
nicht nur das Unglück, "daß sich mehr
als zwei Dutzend Mitarbeiter binnen 18
Monaten umgebracht hatten", sondern
auch noch das Pech, daß er bei "seinem
öffentlichen Auftritt ungeschickt
von einer Selbstmord-Mode sprach".
So beschädigen Untergebene, die wegen Arbeitsstreß aus Leben und Firma scheiden, posthum auch noch die
Karriere der Führungskraft, die für die
geschäftsnützliche Einrichtung ihres
Arbeitsstresses zuständig war. Sorgen
sind angesagt wegen der dadurch entstandenen "schwersten Krise des früheren
Monopolisten" France Télécom. Ein
Riesenladen und an der Spitze ein Konzernlenker, der nicht lenkt, sondern im
Gerede ist!
"Weitreichende personelle Konsequenzen aus der Selbstmordserie" sind gefragt eine Führung, die
führt. So bedroht die belastende "Serie" den Karriereweg des neuen Chefs
Stéphane Richard, der "allein die volle
Verantwortung übernehmen muß". Die
Verantwortung für die traurige Vergangenheit übernimmt mit seinem Rücktritt der alte Vorstandvorsitzende; mit
der Firma und ihren Arbeitsbedingungen haben die Selbstmörder endgültig
nichts mehr zu tun. So kann man über
das "vergleichsweise glimpfliche Ende"
aufatmen und gespannt verfolgen,
ob der Neue seine Sache auch so gut
macht, wie das die SZ von ihm erwarten kann: "Wie seine Karriere weiter
verläuft, wird auch davon abhängen, ob
er das Wohl der 100 000 Mitarbeiter in
Frankreich im Auge behält." (SZ, 29.01.*)
Auch bei den "Führern einer Kulturnation"
(*) grassiert die Sorge um
den Arbeitsplatz. Genauer gesagt liefern sich zwei von ihnen ein "unwürdiges
Duell" (*) um selbigen. Der jetzige Inhaber des Staatspräsidentenamtes
Sarkozy betreibt als Nebenkläger einen
Strafgerichtsprozeß gegen den ehemaligen französische Premierminister
Villepin mit dem Vorwurf "der Komplizenschaft
verleumderischer Denunziation,
Gebrauchs gefälschter Urkunden,
Vertrauensmißbrauch und Hehlerei
mit Diebesgut" (Le Monde, 29.1.). Der
seinerseits will Sarkozy bei der nächsten Wahl seinen Job streitig machen
mit einem "Wiederaufstieg, der ihn womöglich
bis in den Elysée-Palast führen
wird" (*). Da der von beiden
umworbene Arbeitsplatz nicht nur
ziemlich einmalig ist, sondern auch
über einen unwidersprechlichen Kitzel verfügt, nämlich den einer "Macht,
wie sie selbst der US-Präsident kaum
kennt", ergibt sich der "giftige Kampf"
der beiden "unversöhnlichen
Männer"
mit den dazugehörigen Ingredienzen
wie "Haß, Intrigen und Winkelzügen"
(*) gewissermaßen wie von selber.
So kommt man als wählender Franzose demnächst möglicherweise in
den Genuß der Wahl, ob man eher
Geschmack an der Rachsucht des einen findet – "Ich werde die Verantwortlichen
an den Fleischerhaken hängen"
(Sarkozy, *) – oder mehr am Rachedurst des anderen – "Sarkozy will mich
zerfetzen." (Villepin, Le Monde)
aus: Sozialistische Hochschulzeitung, Nürnberg, Mai 2010
