Endlich Aufklärung über Ausbeutung: Industriekultur
Betrachtet man die Kulturhauptstadt Europas 2010
mal nach ästhetischen Gesichtspunkten, dann hat die
Kulturabteilung des kapitalistischen Staates alle Anstrengungen
unternommen, die Gleichung Ruhrpott = potthäßlich zu
entkräften. Die größte Arbeit ist schon damit
geleistet, einem neutral klingenden Begriff wie Industrie einen absolut
positiv klingenden wie Kultur hinzuzufügen: Wenn schon sonst kaum Kultur stattfindet, dann zumindest Industriekultur!
So auch in Augsburg, wo nun der gleiche Typ sich zu schaffen macht, der
von 1989 bis 1999 dem Ruhrgebiet sein jetziges Image verpaßte;
sein Name Dr. Karl Ganser, seines Zeichens "visionärer
Stadtplaner". Hier in Augsburg macht er sich vornehmlich an den noch
übrig gebliebenen Fabrikgebäuden der Textilindustrie* zu
schaffen, die so zwischen 1970 und 1990 vollständig und unter
Mitwirkung der IG Textil kampflos, d.h. "sozialverträglich"
abgewickelt worden war.
"Perlen der Industriekultur" nennen sich nun einige markante
Industriebauten des 19. Jahrhunderts. Der andere werbewirksame Titel
positiver Assoziation heißt: "Deutsches Manchester". Offenbar
haben die Erfinder dieses Begriffs noch nie etwas vom
sprichwörtlichen Manchester-Kapitalismus** gehört. So
rücken sie Augsburg unfreiwillig in ein Licht, das der Wahrheit
entspricht: Augsburg war offenkundig Zentrum knallharter Ausbeutung,
übrigens nicht nur in der Textilindustrie, auch in der
Maschinenbauindustrie und anderen Industriezweigen; aber darüber
redet niemand gerne, schon gleich nicht die, die kulturell und
kulturschaffend unterwegs sind.
Wenn man über Ausbeutung zur damaligen Zeit redet, dann sicher
nicht bloß in der sachlichen Analyse von Karl Marx, nämlich
daß die Ware Arbeitskraft unter ihrem Wert gekauft wird und
aufgrund der Notlage der Besitzlosen auch dermaßen billig gekauft
werden kann. Unter Manchester-Kapitalismus versteht man vor allem die
Anklage, daß der gezahlte Lohn nicht einmal die unmittelbaren
Reproduktionskosten des Arbeiters und seiner Familie deckte. Den
Vorzug, wenigstens soweit die Arbeiter zu bezahlen, mußte der
Klassenstaat seinem Kapital erst deutlich machen, was er auch wiederum
nur unter dem Druck protestierender und streikender Arbeiter tat. Auch
heute geht ja der Streit, wenn es beispielsweise um Mindestlöhne
geht, genau darum, wieviel der Arbeiter denn überhaupt, d.h. minimalst möglich braucht - für sein bloßes Überleben.
Das gilt natürlich auch für die, die keine Arbeit mehr
finden, die dürfen sich dann über die Hartz-IV-Peanuts
freuen. Dabei dürfen sie die industriellen Kulturdenkmäler
bestaunen - Opa hat vielleicht noch darin malocht -, damit sie wissen,
wie weit es der Kapitalismus an Rhein & Ruhr, in Manchester, in
Augsburg und überall gebracht hat.
"Manchester" wird also wieder Vorbild, kulturgeil verschönert, den antikulturellen Begriff Ausbeutung gestrichen.
[Foto-Dokumantation aus der Tourismus-Broschüre RegioMagazin 2010]
(04.04.10)
* Pleickard Stumpf, Augsburg 1852:
...Augsburg ist der Hauptsitz des bayerischen Handels und der
Wechselgeschäfte durch 24 Bankiers; die Gewerbstätigkeit ist
außerordentlich sie wird hauptsächlich repräsentiert
durch mechanische Baumwollspinnereien, eine große Kattunfabrik
(C. Forster), Baumwoll- und Zwirnspinnereien, Fabriken von Messing,
Papier, Schwefelsäure, Maschinen (Reichenbach u. Comp.), chemische
Präparate, Leder. Schnupftabak, Gold- und Silberdraht, Wachstuch,
Essig etc., durch große Natur- und künstliche
Bleichanstalten und durch namhafte Färbereien, durch 13
Buchdruckereien, unter denen die von Cotta (Allgemeine Zeitung), 98
Bräuhäuser, 13 Mahl-, 5 Schleif-, eine Öl-, eine
Schneid-, eine Loh-, 3 Poliermühlen, 3 Eisen-, ein Silber-, ein
Messing-, 3 Kupferhämmer, 54 Wasserwerke. Die im Jahre 1852
abgehaltene Gewerbsausstellung zeugte von der hohen Stufe und dem
kräftigen Betriebe der Gewerbe in dieser uralten Reichs- und
Handelsstadt. ...
Johannes Meier, Augsburger Textilindustrie 1922:
... Heute befinden sich in Augsburg insgesamt 16 Baumwollspinnereien
und -Webereien, davon sind 4 reine Spinnereien und 8 reine Webereien,
weitere 4 gemischte Betriebe. Ferner finden wir 3 Zwirnereien, darunter
auch — Göggingen eingerechnet — 2 Betriebe der
Nähfadenfabrikation und 3 Ausrüstungsbetriebe. Das
größte Unternehmen ist die Mechanische Baumwollspinnerei und
Weberei Augsburg. Ihre Anfänge reichen schon weiter zurück.
Sie ist als Aktienunternehmen im Jahre 1837 gegründet worden.
Diese Firma ist eines der größten Werke ihrer Branche in
Deutschland überhaupt. Sie beschäftigt über 3800
Arbeitskräfte und stellt in der Hauptsache Rohgespinste und
Rohgewebe her, zum Teil auch Damaste. ...
** Friedrich Engels ist in seinem Werk "Lage de arbeitenden Klasse in England"
[1845] ausführlich auf die wahnsinnig destraströsen
Zustände in Manchester eingegangen (in MEW 2; zu Manchester ab S.
276). Viel anders hat es in den anderen Industriestädten Europas
nicht ausgesehen, Manchester war nur das ob seiner Größe
exemplarische Beispiel.
