Mit Lügen zum Super-GAU?
Am 28. Juni kommt es nahe dem AKW Brunsbüttel während
Wartungsarbeiten an elektrischen Schaltvorrichtungen zu einem
Kurzschluß. Ärgerlich für den Betreiber Vattenfall,
denn dieser Kurzschluß führt zu einer automatischen
Schnellabschaltung des Atomreaktors. Gleichzeitig fallen in Hamburg
für ca. 15 Minuten Ampeln und die Stromversorgung von S-Bahnen
aus. Knapp zwei Stunden später erwischt es Vattenfall dann noch
härter. Einer der beiden Transformatoren am AKW Krümmel
gerät in Brand. Der Trafo steht direkt an der hinteren
Außenwand des Maschinengebäudes. Große schwarze
Rauchwolken ziehen über den Reaktor hinweg und geben ein
überaus bedrohliches Bild. Doch Vattenfall gibt sich
schwedisch-cool: Nichts weiter passiert, der Brand ist unter Kontrolle
und im Grunde schon gelöscht. Auf den Reaktor habe der Vorfall
keine Auswirkungen gehabt. Diesen Satz dürfte das Unternehmen bis
heute bitter bereuen. Denn er war eine glatte Lüge.
Schritt für Schritt stellt sich in den folgenden Tagen
heraus, was passiert war: Zunächst schaltet sich die Turbine ab,
dann springt eine erforderliche Wassereinspeisepumpe kurz an, versagt
dann aber. Ein Reaktorfahrer versteht seinen Vorgesetzten angeblich
falsch. Die Folge: Statt einer planmäßigen und geordneten
Abschaltung der Anlage kommt es zu einer Notabschaltung. Diese wird
dadurch ausgelöst, daß der Kollege Sicherheitsventile per
Hand öffnet und damit eine enorme Druckentlastung bewirkt. Der
Druck sinkt, mit ihm aber auch der Wasserstand im
Reaktorkühlsystem. Innerhalb nur weniger Minuten sinkt der Pegel
von ca. 16 Meter um mehr als drei Meter. Kann dieser Vorgang nicht
gestoppt werden, könnte es im schlimmsten Fall zur Freilegung des
hochradioaktiven Kerns kommen. Das aber wäre der Super-GAU. Doch
die Sicherheitseinrichtungen springen an, und nach dem Schließen
der Ventile normalisierten sich die Verhältnisse in der Anlage.
Der später abgesetzte Atomchef von Vattenfall, Bruno
Thomauske, kritisiert dieses manuelle Eingreifen später
öffentlich als Mißverständnis und Fehler. Die
Notabschaltung, die der Reaktorfahrer durch seinen manuellen Eingriff
ausgelöst hat, wäre angesichts der Situation nicht
erforderlich und sozusagen übereifrig gewesen. Doch
möglicherweise hat der Reaktorfahrer das anders gesehen: Etwa die
Hälfte aller Feuermelder im AKW Krümmel sind angesprungen und
signalisieren Alarm, über eine Ansauganlage wird Rauchgas von der
Brandstelle direkt am angrenzenden Maschinenhaus angesaugt und dringt
in die Leitzentrale des Atommeilers ein. Der Reaktorfahrer muß
mit Gasmaske arbeiten, um die Anlage weiter bedienen zu können.
Vielleicht hat der Reaktorfahrer das einzig Richtige getan? In einer
undurchsichtigen Brandsituation die Anlage in die Notabschaltung
gezwungen, um so schnell wie möglich in einen sicheren Zustand zu
kommen?
Nur rund ein Jahr zuvor hatte der schwedische Staatskonzern schon
einmal die Öffentlichkeit belogen. Im Vattenfall-AKW Forsmark war
es zu einem extrem schweren Störfall gekommen. Nach einem
Kurzschluß war die Stromversorgung für den Eigenbetrieb
zusammengebrochen, und die Anlage mußte für den sicheren
Weiterbetrieb auf Notstrom umgeschaltet werden. Doch zwei der vier
vorhandenen und benötigten Aggregate für diesen
Katastrofenfall sprangen nicht an. Schon in Schweden versuchte
Vattenfall das Ereignis herunterzuspielen. Als in Deutschland dann der
Hinweis kam, daß der Reaktor in Brunsbüttel doch weitgehend
ähnlich konstruiert und gebaut sei wie der in Forsmark und
folglich ähnliche Probleme mit der Notstromversorgung vorhanden
sein müßten, bestritt Vattenfall dies glattweg. Am Ende
mußte Vattenfall einräumen, daß die Systeme in
Brunsbüttel und Forsmark an wichtigen Stellen baugleich sind
– und technische Veränderungen vornehmen.
Aber nicht nur in Krümmel haben die Atommanager geschwiegen
und vertuscht. Bei der Schnellabschaltung im AKW Brunsbüttel war
ebenfalls nicht alles einwandfrei gelaufen. So hatte einer der
Steuerstäbe mit einiger Verzögerung reagiert. Diese
Steuerstäbe sind aber nicht irgendwelche nebensächlichen
Teile. Im Notfall werden sie, im AKW Brunsbüttel etwa 129
Stück, in den Reaktorkern geschossen, dort sorgen sie dafür,
daß die Kettenreaktion sofort unterbrochen wird. Diese
Steuerstäbe gehören damit zum Kernbereich der
sicherheitstechnischen Einrichtungen, deren Funktion im Ernstfall
unbedingt erforderlich.
Dabei ist entscheidend, daß das AKW Brunsbüttel ein so
genannter Siedewasserreaktor ist. Dieser Bautyp gilt heute als extrem
störanfällig. Der Sicherheitsbehälter dieser Reaktoren
ist extrem klein. Kommt es zu einer Kernschmelze unter hohem Druck,
dann würde der Sicherheitsbehälter nach nur fünf Stunden
platzen. Die gesamte Radioaktivität wäre dann mit einem
Schlag in die Umgebung freigesetzt. Außerdem sind der
Kühlkreislauf und der Kreislauf für die Stromerzeugung nicht
voneinander getrennt, wie dies in Druckwasserreaktoren der Fall ist.
Die Siedewasserreaktoren verfügen nur über einen Kreislauf,
in dem Reaktorkühlung und Stromerzeugung geschehen. Dazu ist eine
extrem schwierige Technik erforderlich. Das Problem: Die
hochradioaktiven leitungen sind nicht allein auf den
Sicherheitsbehälter begrenzt. Dadurch kann bei
Störfällen Radioaktivität viel schneller an die Umwelt
gelangen. Außerdem sind die Steuerstäbe unterhalb des
Reaktors angebracht. D.h. im Notfall können diese Steuerstäbe
nicht einfach von oben nach unten fallen (allein per Schwerkraft) und
damit die Kettenreaktion unterbrechen. Vielmehr müssen sie
entweder elektrisch oder per Hydraulik in den Reaktorkern geschossen
und dann arretiert werden.
Und es ruckelt weiter in Brunsbüttel. Zunächst melden
Meßgeräte, daß sich Wasserstoff in einem System
gebildet haben könnte. Kommt Wasserstoff mit Sauerstoff in
Verbindung, entsteht Knallgas, das die Rohrleitungen
möglicherweise nicht aushalten. Und genau solche
Wasserstoffexplosion hat es in diversen AKWs in der Vergangenheit schon
gegeben, die schwerste davon 2001 - in Brunsbüttel. Direkt neben
dem Reaktorbehälter explodierte eine Rohrleitung und zerlegte sich
in über 30 einzelne Stahlteile, die durch den Explosionsdruck
auseinanderschossen. Davon nahm die Besatzung des AKWs schlicht keine
Kenntnis. Zwar verzeichnete sie noch einen Druckabfall, für den
sie überhaupt keine Erklärung hatte, aber auch das
störte die Crew nicht sonderlich. Der Reaktor blieb weiterhin am
Netz, bis dann die Atomaufsicht wenigstens so weit funktionierte,
daß sie eine Untersuchung anordnete. Erst hier entdeckte man den
Schaden, und Brunsbüttel wurde für insgesamt ein Jahr
abgeschaltet.
Hier liegt eines der Probleme, welches sich in den letzten Jahren
immer mehr herausschält: Seit der Liberalisierung der
Strommärkte steigt auch für die AKW-Betreiber der
Kostendruck enorm. Und da kennen Unternehmen nur eine Sprache:
Personaleinsparungen und Arbeitsanforderungen steigen - auf der einen
Seite. Auf der anderen: Reparaturen, Wartungen und Sicherheitsanalysen
über einzelne Komponenten so gut es eben geht reduzieren oder
zeitlich strecken. All das senkt die Kosten - und die Sicherheit.
Erschwerend kommen ein personeller und ein technischer Faktor
hinzu. In den Reaktor-Schaltzentralen sind kaum noch Leute
beschäftigt, die beim Bau und der Inbetriebnahme der Anlagen dabei
waren und die sozusagen mit der Anlage "gewachsen" sind. Leute, die all
die nachträglichen Um- und Einbauten und andere Veränderungen
der Anlage gegenüber den ehemaligen Bauplänen miterlebt haben
und damit aus der Praxis in- und auswendig kennen, die wissen, ja fast
spüren, wie sich die Anlage unter bestimmten
Betriebszuständen verhält. Damit ist ein enorm großer
Erfahrungsschatz, der einen wichtiger Bestandteil von Sicherheit
darstellt, aus den Leitstellen verschwunden. Jüngeres, aber auch
unerfahreneres Personal hat diese Aufgaben heute übernommen.
Doch nicht nur auf Seiten der AKW-Betreiber deuten immer mehr
Anzeichen darauf hin, daß die so genannte Sicherheitskultur unter
dem Druck der Liberalisierung zusammenbricht. Mindestens erscheint es
so‚ daß auch die Atomaufsichtsbehörden auf
Länderebene zumindest mehr Verständnis für die Sorgen
der Betreiber zeigen. Und bei einem Atomreaktor wie in
Brunsbüttel, dessen Restbetriebszeit nach dem vereinbarten
Atomausstieg ohnehin nur noch bis ca. 2009 läuft, scheint das noch
ausgeprägter zu sein.
Welche Sicherheitsauflagen mag eine Atomaufsicht noch gegen einen
Betreiber durchsetzen, wenn dessen Reaktor in zwei Jahren ohnehin
endgültig stillgelegt wird? Und wie stark tritt eine Atomaufsicht
auf, wenn sie erst vor kurzem ein Gerichtsverfahren gegen diesen
Betreiber wegen einer Sicherheitsauflage und Anlagenstillstand verloren
hat und Schadenersatz leisten mußte? Wie scharf ist eine
Aufsicht, wenn mit dem rot-grünen Atomausstieg die Abwicklung der
Atomenergienutzung ja nun irgendwie politisch geregelt wurde? Und wie
damit umgehen, wenn in Bonn und Kiel große Koalitionen bestehen,
die in der Atomfrage nicht so ganz einig sind, aber auch die SPD nun ja
nicht sonderlich radikal beim Atomausstieg ist? Da ist es nicht weiter
verwunderlich, wenn zwischen Atomaufsichtsbehörden und Betreibern
so eine Art Burgfrieden eintritt.
Im April/Mai dieses Jahres geht das AKW Brunsbüttel in die
jährliche Revision. Brennelemente müssen getauscht und die
wichtigsten Wartungsarbeiten und Prüfungen durchgeführt
werden. Dabei werden erstmals auch in Brunsbüttel Dübel
entdeckt, die nicht den Anforderungen entsprechen. Seit dem Herbst ist
Biblis genau wegen dieser Probleme komplett abgeschaltet. Es handelt
sich um Dübel von der Größe eines Oberschenkels, an
denen gelegentlich auch Kühlrohre aufgehängt sind. Wenn die
Dübel durch die Vibrationen, die auf die Rohrleitungen einwirken,
herausbrechen, dann kann es im schlimmsten Fall zum
Kühlmittelverlust kommen. Das ist ein anderes Wort für
Super-GAU. Einige Dübel werden also während der letzten
Revision ausgetauscht, dann geht der Reaktor wieder ans Netz. Doch
wenige Monate später werden weitere Dübel gefunden, die
ebenfalls nicht den Anforderungen entsprechen. Warum wurden die nicht
schon während der Revision zwei Monate vorher entdeckt?
Unter dem Druck der Öffentlichkeit stimmt Vattenfall zu,
eine Liste mit Sicherheitsdefiziten des AKW Brunsbüttel zu
veröffentlichen. Bereits über ein Jahr klagt die Deutsche
Umwelthilfe gegen Betreiber und Atomaufsicht auf Herausgabe dieser
Mängelliste. Die hier aufgeführten Sicherheitsdefizite und
fehlenden Nachweise gehen in die Hunderte, sind von unterschiedlicher
Sicherheitsrelevanz und stammen aus einer so genannten Periodischen
Sicherheitsüberprüfung (PSÜ), die 2001 begonnen worden
ist. Bis heute ist ein großer Teil der Mängel nicht behoben.
Nicht jedes einzelne Ereignis oder jeder einzelne Mangel
müssen alarmieren, es ist das gesamte System, die Summe all dieser
Vorkommnisse. AKWs zu betreiben grenzte schon immer an Wahnsinn. Aber
mit der Liberalisierung der Märkte und möglicherweise durch
den Ausstiegsbeschluß der Bundesregierung verstärkt, deutet
sich hier ein qualitativer Abbau der bisherigen Sicherheitsstandards in
den Atomkraftwerken an. Die Wahrscheinlichkeit schwerster Unfälle
steigt damit enorm an.
Robin Wood, der dokumentierte Text findet sich in analyse & kritik 519 vom 17.08.2007