Paul M. Sweezy
Die Zukunft des Kapitalismus
Als ich vorschlug, über «Die Zukunft des Kapitalismus»
zu sprechen, hatte ich nicht so sehr bestimmte Voraussagen über
sein künftiges Schicksal im Sinn als vielmehr die Methode, die
für die Analyse der Zukunft des Kapitalismus am geeignetsten und
ergiebigsten ist. Für den, der auch nur halbwegs vertraut ist mit
dem, was ich geschrieben habe, ist es kein Geheimnis, daß ich dem
Kapitalismus eine graue Zukunft profezeie. Aber das ist ja an sich
nichts Neues; nicht nur Marxisten, sondern auch andere Radikale haben
seit über hundert Jahren die gleiche Auffassung vertreten. Der
Kapitalismus hat freilich viele Mutmaßungen über seine
Zukunft überlebt und wird auch weiterhin viele überleben; dem
analytischen Problem der Diagnostizierung seiner Zukunft kommt dabei,
glaube ich, noch die gleiche Bedeutung zu wie eh und je.
Ich möchte also drei verschiedene analytische Methoden
umreißen und deutlich machen, weshalb ich die traditionelleren
und gebräuchlicheren davon für falsch halte und weshalb ich
meine, daß die dritte von mir aufzuzeigende Methode am
geeignetsten ist, das Problem zu behandeln.
Die erste ist charakteristisch für die bürgerliche
Ökonomie und leider auch für eine gewisse Art von Marxismus,
die sich auf das sogenannte Zusammenbruchsproblem konzentriert. Diese
Methode richtet ihr hr Augenmerk hauptsächlich auf die Dynamik des
Kapitalismus in den entwickelten Ländern Westeuropas und
Nordamerikas. Sie neigt dazu, Fragen zu stellen wie: Sind die
Konjunkturausschläge und andere Formen der Wirtschaftsschwankung
unter einigermaßen vernünftige Kontrolle gebracht worden?
Wie steht es mit den Problemen der Technologie, der Automation, der
Fähigkeit des Kapitalismus, technische Veränderungen unter
Kontrolle zu halten? Wie steht es mit dem internationalen Handel und
der internationalen Währungsflexibilität? Zu welchen Krisen
führt die heutige Konzernwirtschaft? Und so weiter. Kann man all
diese Probleme im Rahmen einer privatwirtschaftlichen,
marktorientierten, profitbestimmten Wirtschaftsordnung lösen? Und
wer einmal eine Zeitlang im akademischen Milieu dieses Landes oder der
USA zu Hause gewesen ist, der wird wissen, daß das die zentralen
Themen sind, die jedesmal erörtert werden, wenn die Frage nach der
Zukunft des Kapitalismus auftaucht.
Ich brauche Sie vermutlich nicht erst davon zu überzeugen,
daß dieser Rahmen für eine Analyse der Zukunft des
Kapitalismus völlig unzureichend ist. Schließlich ist der
Kapitalismus nicht auf die entwickelten Länder, seine
traditionelle Heimat, von der er seinen Ausgang nahm, beschränkt.
Er existiert nicht in einer passiven Umwelt, von der keine Gegenwirkung
ausginge. Er existiert vielmehr als ein Bestandteil der gesamten
Weltgesellschaft und Weltwirtschaft, und sein Funktionieren wird
entschieden beeinflußt von der Wechselwirkung zwischen den
entwickelten kapitalistischen Ländern und ihrer Umgebung. Diese
Umgebung ist beträchtlich größer als die entwickelte
kapitalistische Welt selbst. Hinsichtlich Bevölkerung und
Produktion können wir sagen, daß die «Erste
Welt», über den Daumen gepeilt, rund 20 % der
Weltbevölkerung ausmacht und etwa 60 % der Weltproduktion erzeugt,
während die nichtkapitalistischen, wenn Sie wollen:
kommunistischen Länder mit ihrer zentralistischen Planung rund 30
% der Weltbevölkerung und 30 % der Weltproduktion stellen. Der
Rest verteilt sich auf das, was man heute allgemein die Dritte Welt
nennt, die zwar 5o % der Weltbevölkerung umfaßt, aber nur 10
% der Weltproduktion erzeugt.
Ich benutze den Ausdruck «Dritte Welt» nicht nur, weil er
zum akzeptierten Sprachgebrauch geworden ist, sondern auch deshalb,
weil er kurz ist und griffig. Ich möchte jedoch betonen, daß
es keineswegs ein treffender Ausdruck ist. Die Dritte Welt ist in
Wirklichkeit gar keine – sie ist Bestandteil einer der beiden
anderen Welten, und ich meine, das ist von Bedeutung, wenn man das
Problem der Zukunft des Kapitalismus in seiner Gesamtheit verstehen
will.
Die zweite Methode berücksichtigt die Tatsache, daß die
entwickelten kapitalistischen Länder nicht für sich
existieren, sondern in einer quantitativ großen und qualitativ
aktiven Umgebung. Das wird von einer eklektischen Schule der
bürgerlichen Volkswirtschaft inzwischen anerkannt, die seit dem
Zweiten Weltkrieg, oft unter dem Namen The Economics of Development,
einen großen Aufschwung genommen hat; und das gleiche scheint
für die Wirtschaftstheorie der Sowjetunion und der anderen
Länder in der sozialistischen. Welt zu gelten, die sich
ideologisch nach der Sowjetunion richten. Diese Methode beruht auf der
ausdrücklichen oder stillschweigenden Annahme, es habe einst eine
Zeit gegeben, zu der die ganze Welt unterentwickelt gewesen sei; dann
aber habe, vor etwa vier Jahrhunderten, ein Gebiet in Westeuropa eine
kritische Schwelle überschritten und begonnen, sich auf
kapitalistische Weise zu entwickeln. Warum das geschah, ist umstritten
– eine Frage, in deren Beantwortung keine Übereinstimmung
erzielt wird, doch ist das vielleicht vom Standpunkt der heutigen
Diagnose aus gar nicht so entscheidend. Der Take-off
der sich entwickelnden Länder - Sie werden ohne Zweifel die
Terminologie von Walt Rostow heraushören, einem der führenden
Ideologen des liberalen Establishments im heutigen Amerika –
befähigte diese Gebiete, sich im Geschwindschritt einige
Jahrhunderte lang zu entfalten und die übrige Welt im Urzustand
der Unterentwicklung hinter sich zu lassen. Als Folge der beiden
Weltkriege und verschiedener historischer Ereignisse habe dann ein Teil
der unterentwickelten Welt sich losgemacht und – in
unterschiedlichen institutionellen und strukturellen Kontexten –
mit seinem eigenen Aufschwung begonnen, d. h. unter der Ägide
zentraler Planung, des Staatseigentums und der allgemeinen
Wirtschaftskontrolle. So gebe es jetzt nicht nur eine zweigeteilte,
sondern eine dreigeteilte Welt: jene, die vor etlichen Jahrhunderten
ihren Aufschwung nahm und die entwickelten kapitalistischen Länder
umfaßt; jene, die erst in jüngster Zeit unter Systemen der
zentralen Planung ihren Aufschwung begonnen hat; und dann jene 50 % der
Weltbevölkerung, die in den Startlöchern, im Stadium der
Unterentwicklung steckengeblieben sind und die deshalb zur Dritten Welt
gerechnet werden.
Unter diesen Umständen wird die Dritte Welt, angesichts der
Möglichkeiten der Entwicklung, des technologischen Wandels, der
Akkumulation von Kapital und Technologie, des steigenden
Lebensstandards usw. von dem Wunsch angesteckt, sich ihrerseits zu
entfalten und dieselben Früchte zu genießen. Und welche von
den beiden Pfaden, die sie einschlagen kann, wird die Dritte Welt wohl
wählen? Die Kehrseite der Medaille ist, daß jedes der beiden
Systeme, das spätkapitalistische und das kommunistische, seine
eigene Zukunft davon bestimmt sieht, ob es diesen riesigen Teil der
restlichen Welt, der mehr als die Hälfte ihrer Bevölkerung
umfaßt, unter seine Fittiche, in seinen Einflußbereich
bringen kann. Das System, dem es gelingt, die Dritte Welt hinter sich
zu bringen, wird schließlich in dem sogenannten Großen
Wettlauf den Sieg davontragen. Sie sehen, daß das die
fundamentale Ideologie des ganzen liberalen Establishments in den USA
und seiner Helfershelfer in anderen Ländern ist. Dabei dreht sich
alles darum, die Dritte Welt auf unsere Seite zu bringen, sie
wirtschaftlich zu entwickeln, sie dazu zu bringen, daß sie in
unsere Fußstapfen tritt. Auf das gleiche Ziel will die
grundlegende sowjetische Ideologie der friedlichen Koexistenz und des
friedlichen Wettstreits der Systeme hinaus. Es handelt sich um zwei
verschiedene Betrachtungsweisen, denen eigentlich dieselbe ideologische
Konzeption zugrunde liegt.
Ich möchte nun darauf hinweisen, daß diese zweite Methode
zwar der ersten insofern überlegen ist, als sie die Umwelt, in der
die entwickelten kapitalistischen Länder existieren, nicht einfach
aus dem Spiel läßt; sie führt aber trotzdem völlig
in die Irre und ist ohne diagnostischen Wert. Der Hauptgrund dafür
besteht darin, daß es absurd ist, sich die ganze Welt von 1500
oder einer anderen frühen Epoche so vorzustellen, als wäre
sie im Zustand der Unterentwicklung gewesen wie die Dritte Welt von
heute. Unentwickelt nach heutigen wissenschaftlichen
Maßstäben: meinetwegen – aber unterentwickelt in dem
Sinn, in dem Afrika und Lateinamerika und der größte Teil
von Asien heute unterentwickelt sind: auf keinen Fall! In Wirklichkeit
hat jeder Kontinent, Nordamerika vielleicht ausgenommen, irgendwann
einmal einen hohen Stand der Kultur erreicht. Und der materiell,
kulturell und ideologisch erreichte Hochstand in verschiedenen Teilen
der heutigen unterentwickelten Welt war nach den Maßstäben
der damaligen Zeit, und in mancher Hinsicht auch nach unseren heutigen
Maßstäben, außerordentlich beeindruckend.
Die mechanistische Darstellung, nach der ein jeder im Zustand der
Unterentwicklung dagesessen hat, bis plötzlich eine kleine Region
vorpreschte und die anderen hinter sich ließ, hat mit der
Wirklichkeit nichts zu tun. Die Wahrheit ist, daß der
Kapitalismus sich in seinen Ursprungsländern von Anfang an durch
Unterwerfung, Plünderung, Ausbeutung und Umformung der Mitwelt, in
der er lebte, entfaltet hat. Folglich wurde der Reichtum von der
Periferie in die Metropole geschleust, folglich wurden die alten
Gesellschaftssysteme an der Periferie zerstört und zu
abhängigen Satelliten umgestaltet. Das ist die eine Seite des
Prozesses. Die andere ist, daß der erbeutete Reichtum, der aus
der Außenwelt, der Periferie in die Metropole gesogen worden war,
zur Grundlage für deren rasche Entwicklung wurde. Das war die
wirkliche ökonomische und soziale Basis des Aufschwungs der
«Ersten Welt», und es ist fraglich, ob es ohne die
Ausplünderung der Periferie überhaupt zu einem solchen
Aufschwung gekommen wäre.
Natürlich hat dieser Prozeß etliche Jahrhunderte lang
gedauert und dabei immer größere Dimensionen angenommen. Er
läßt sich keinesfalls auf das 15. und 16. Jahrhundert
zurückdatieren. Ich bin geneigt, der Analyse Oliver Cox' in seinem
Buch The Foundation of Capitalism
zuzustimmen, nach der Venedig vom 7. und 8. Jahrhundert an als erster
echt kapitalistischer Staat anzusehen ist, der sich auf das Hinterland
ausdehnte, es unterwarf, ausplünderte, seinen Reichtum einheimste
und eine bürgerliche Kultur in höchster Vollendung
entwickelte. Anschließend spielte sich der gleiche Prozeß
in vielen anderen italienischen Stadtstaaten ab, ebenso in den
Hansestädten Nordeuropas. Schließlich verlagerte er mit der
Erschließung der Überseegebiete – ich spreche
ausdrücklich, wie Sie bemerken werden, nicht von der
«Entdeckung der Neuen Welt» – seinen Schwerpunkt erst
auf Spanien und Portugal und dann auf Holland, Frankreich und England,
unter deren Ägide der neue Handelskapitalismus in jeden Winkel der
Welt eindrang. Damit war der Prozeß jedoch keineswegs
abgeschlossen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts traten weitere
kapitalistische Zentren, besonders die USA, Deutschland und Japan, auf
den Plan, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die ganze Welt
bereits durchgreifend polarisiert: auf der einen Seite eine relativ
kleine entwickelte kapitalistische Metropole, die sich auf wenige
Länder hauptsächlich in Westeuropa und Nordamerika
konzentrierte, auf der anderen die an Unterentwicklung leidende riesige
Periferie, die ihre Basis bildete und aus der sie einen Großteil
ihrer Versorgung holte.
Sehen wir uns an, was mit den unterjochten und ausgebeuteten
Ländern und Regionen geschah. In jedem Fall, wo die bestehende
Sozialordnung mit der ausbeuterischen Tätigkeit der Eroberer nicht
vereinbar war oder ihr im Wege stand – und das war überall
der Fall -, wurde diese Ordnung mit Gewalt umgekrempelt und
zerschlagen, was jedesmal verheerende Folgen für die lokale Kultur
und Bevölkerung hatte.
In ihrer hektischen Jagd nach Gold rafften die Portugiesen und Spanier
nicht nur alles an sich, dessen sie habhaft werden konnten, sie zwangen
auch die Eingeborenen, in den Minen zu arbeiten, wo sie wie Vieh
verreckten. Im Karibischen Raum wurde die Eingeborenenbevölkerung
in zwei bis drei Generationen buchstäblich ausgerottet, und in
großen Teilen von Mittel- und Südamerika konnten die
Indianer nur überleben, indem sie sich in die Wälder oder auf
die Berge zurückzogen. Um sich mit den nötigen
Arbeitskräften für die Minen und Plantagen zu versorgen,
gingen die Ausbeuter zum Sklavenhandel über. Große Teile
Afrikas wurden in Reviere für Sklavenjäger verwandelt, und
selbstverständlich wurden die Gesellschaften, aus denen man sich
die Sklaven holte, sowie jene, in die man sie schickte, völlig
umgestürzt. Im Karibischen Raum, in Mittel- und Südamerika
und in Afrika – in jenem Bereich also, der durch den
südlichen Atlantik verbunden wird – können wir auf das
genaueste studieren, wie die Kehrseite der Anhäufung großer
Vermögen durch die Sklavenhändler Liverpools und anderer
britischer, französischer und neuenglischer Hafenstädte
aussieht. Die von außen hervorgerufene Unterentwicklung nahm im
Fernen Osten einen etwas anderen, doch nicht weniger spektakulären
Verlauf. Die Holländer plünderten Indien und setzten dann
eines der wirkungsvollsten Programme zur Aufrechterhaltung der
Ausbeutung in der kolonialen Welt in die Praxis um. Der
berühmteste Fall sind vermutlich die Briten in Indien – was
einmal, kurz bevor die Briten auf der Szene erschienen, eine der
höchstentwickelten Kulturen der Welt gewesen war, wurde gnadenlos
ausgeraubt und in eine der ärmsten und rückständigsten
Zonen der Welt verwandelt.
Die Schauseite der Medaille war auch hier die Akkumulation von Reichtum
in der Metropole. Eric Williarns, der heutige Premierminister von
Trinidad & Tobago, schreibt in seiner sehr brauchbaren und
aufschlußreichen Monografie Capitalism and Slavery,
die industrielle Revolution in England sei mit den direkten und
indirekten Profiten aus dem Handel mit Negersklaven in Ostindien
finanziert worden. Brooks Adams macht in seinem Buch The Law of Civilization in Decay die Ausplünderung Indiens dafür verantwortlich. Beide haben recht.
Und nach den Eroberern, den Pionieren der Unterjochung, kamen die
Kapitalanleger, die Händler, die Bankiers, die Administratoren und
Berater – all jene, deren Sache es war, die Kolonien und
Halbkolonien in unversiegliche Quellen des Profits für die
Metropole zu verwandeln. Ihre Bemühungen führten dazu,
daß sich ein charakteristisches Grundmuster der wirtschaftlichen
Beziehungen zwischen Zentrum und Periferie ausbildete. Die Periferie
spezialisierte sich auf die im Zentrum benötigte
Rohstoffproduktion und diente zugleich als Absatzmarkt für
Industrieartikel, während die meisten Gewerbe in der Periferie den
Kapitalisten des Zentrums in die Hände fielen, die den
Löwenanteil der Profite in ihre Tasche steckten. Die
künstlich erzeugte Unterentwicklung der Periferie wurde also
eingefroren und auf ewig besiegelt, während das Zentrum in die
Lage versetzt wurde, sich mittels des Reichtums seiner Satelliten
weiterzuentwickeln.
Dieses Grundmuster eines entwickelten und reichen Zentrums
gegenüber einer verarmten Periferie ist keineswegs nur in der
Beziehung zwischen den entwickelten kapitalistischen Ländern und
den kolonialen und halbkolonialen Ländern zu finden. Dort ist es
zwar am ausgeprägtesten und spektakulärsten, aber es findet
sich genauso innerhalb der beiden Pole. So ist zum Beispiel ein Land
wie Brasilien, was seine Bodenschätze und seine geografischen
Möglichkeiten betrifft, eines der reichsten Länder der Welt.
Reichtum und Industrie sind dort in einem sehr kleinen Dreieck zwischen
Rio de Janeiro, Belo Horizonte und Sấo Paulo konzentriert, während
das übrige Land nach wie vor von Unterentwicklung und von
drückender Armut gekennzeichnet ist. Das gleiche ist in den
entwickelten kapitalistischen Metropolen der Fall: schließlich
liegen zwischen Harlem und der Park Avenue nur zwei oder drei Meilen
– ein Beispiel dafür, wie extreme Armut und extremer
Reichtum dicht nebeneinander existieren können. Oder wenn man den
Blick über die Dächer von Copacabana in Rio auf die
zauberhaften Berghänge richtet und ein bißchen genauer
hinschaut, so sieht man dort die berühmten favelas, einige der schlimmsten Slums, die es auf der Welt gibt.
Entwicklung auf der einen und Unterentwicklung auf der anderen Seite
bedingen sich in dialektischer Weise gegenseitig. Darin besteht von
Anfang an die ganze Geschichte des Kapitalismus. Sie wiederholt sich
auf jeder erdenklichen Stufe. Es sind die beiden Seiten der
kapitalistischen Medaille, die ebensowenig voneinander zu trennen sind
wie siamesische Zwillinge. Und wenn man das nicht begreift, wenn man
daran nicht tagtäglich denkt, dann wird man immer und immer wieder
von der Propaganda irregeführt, die zusammengehörige Dinge zu
trennen versucht, die Entwicklung zur guten und Unterentwicklung zur
zufällig schlechten Seite stempelt, um uns weiszumachen, wir
könnten das eine ohne das andere haben. Das ist ein Märchen,
und solange man dieses Märchen nicht durchschaut, kann man nicht
zu einem wirklich konstruktiv-analytischen Nachdenken über das
Problem kommen, wie die Zukunft des Kapitalismus aussieht.
Ich wiederhole: Die kapitalistische Entwicklung erzeugt
zwangsläufig an einem Pol Entwicklung, am anderen Pol
Unterentwicklung. Die entwickelten kapitalistischen Länder und die
unterentwickelten Länder sind keine getrennten Welten; sie sind
das Oben und Unten ein und derselben Welt. Somit ist der ganze Begriff
der Dritten Welt irreführend und sollte fallengelassen werden.
Dafür mag es zu spät sein; die Rede von der Dritten Welt ist
zum festen Bestandteil des heutigen Sprachgebrauchs geworden. Doch
sollten wir uns ständig daran erinnern, daß es sich um eine
bequeme façon de parler handelt, nicht um eine Kennzeichnung der sozioökonomischen Realität.
Wenn wir dieses Grundmuster von Entwicklung/Unterentwicklung vor Augen
haben, lassen sich viele andere, ich würde sogar sagen: alle
grundlegenden Trends und Tendenzen der modernen Geschichte einem
zusammenhängenden und verständlichen Grundmuster zuordnen.
Vor allem wird jetzt klar, wie absurd es ist, von den Beziehungen
zwischen den entwickelten und unterentwickelten Ländern zu
erwarten oder zu erhoffen, sie würden zur Entwicklung der
letzteren führen. Handel, Investitionen, Regierungshilfe, das sind
im Gegenteil eben die Mittel, mit denen die entwickelten Länder
die unterentwickelten ausbeuten und in ihrem Zustand festhalten. Was
den Handel betrifft, so haben das viele Leute bereits durchschaut. Der
Austausch von Rohstoffen gegen Fertigwaren hat die Tendenz, sich selbst
zu reproduzieren und zu perpetuieren, anstatt strukturelle
Änderungen herbeizuführen. Daß die Preise in den
Import-Export-Beziehungen dazu tendieren, die Rohstoffe exportierender
Länder in Friedenszeiten zu benachteiligen, ist allgemein bekannt.
Die Handelsbeziehungen enthalten keine Faktoren, die der Entwicklung
der unterentwickelten Länder zugute kämen – im
Gegenteil. Das gilt auch für die Investitionen, die das Zentrum in
der Periferie vornimmt, obwohl die Vertreter der bürgerlichen
Volkswirtschaft natürlich fast einhellig das Gegenteil behaupten.
Ich möchte nicht den Versuch machen, auf die Knifflichkeiten der
Theorie der Auslandsinvestitionen einzugehen. Ich würde aber Ihre
Aufmerksamkeit gern auf ein paar massive statistische Fakten lenken,
die meines Erachtens völlig unverständlich wären, wenn
die bürgerlichen Ökonomen mit ihrer Einschätzung der
Kapitalbeziehungen recht hätten. Ich bediene mich dabei der Daten
über die Auslandsinvestitionen Großbritanniens und der USA
in den Zeiträumen ihrer größten Aktivität; diese
Daten sprechen eine deutliche Sprache, was den Effekt der
Auslandsinvestition auf unterentwickelte und entwickelte Gebiete
betrifft.
Der britische Imperialismus und seine Auslandsinvestitionen erreichten
ihren Höhepunkt bekanntlich in den fünfzig Jahren vor dem
Ersten Weltkrieg. Im Zeitraum von 1870 bis 1913 investierte
Großbritannien im Ausland, nach den anerkannten Quellen, einen
Nettobetrag von 2,4 Milliarden Pfund. Das heißt, die
Auslandsinvestitionen der Briten überstiegen die Investitionen von
Ausländern in Großbritannien um 2,4 Milliarden Pfund. Auf
den ersten Blick sieht es so aus, als hätte Großbritannien
der übrigen Welt eine sehr ansehnliche Summe aus eigenen
Ressourcen zur Verfügung gestellt. Die Summe selbst war in der Tat
beträchtlich, nämlich rund 50 Milliarden damalige Goldmark,
und die Kaufkraft der Mark betrug zu jener Zeit mindestens das Doppelte
der heutigen – somit hätten die Auslandsinvestitionen
Großbritanniens in dem halben Jahrhundert vor dem Ersten
Weltkrieg nach heutigem Geldwert rund 100 Milliarden Mark ausgemacht.
Aber selbstverständlich hatte auch diese Medaille ihre Kehrseite:
die Beute, das Einkommen den Auslandsinvestitionen in
Großbritannien 4,1 Milliarden Pfund. Rechnet man beide Summen
gegeneinander auf, dann ergibt sich, daß der Zufluß an
Einnahmen den Abfluß, von Investitionen um rund 70 %
übertraf. Das war der wirkliche Vermögensertrag in dieser
Periode. Das Geld wurde mit der Rechten ausgegeben und
mit der Linken wieder eingenommen, nur daß es sich in der linken
Hand um 70 % vermehrt hatte. Wer hat also wem geholfen? Eindeutig war
es die übrige Welt, sei sie nun entwickelt oder unterentwickelt
gewesen, die Großbritannien durch diesen Investitionsmechanismus
tributpflichtig war.
Oder nehmen wir die Praxis der USA seit dem Zweiten Weltkrieg. Ich
beschränke mich auf die direkten Auslandsinvestitionen der
amerikanischen Konzerne, die in der Welt von heute bei weitem die
wichtigsten sind. Die Zahlen, die sich mit jenen vergleichen lassen,
die ich soeben für Großbritannien zitiert habe, sehen
für 1950-1963 wie folgt aus: Nettoabfluß von Kapital aus den
USA 17,4 Milliarden Dollar; Zufluß von Einkommen in die USA 29,4
Milliarden Dollar. Abermals stellt sich heraus, daß der
Zufluß den Abfluß um fast 70 % überstiegen hat. Ich
habe versucht, danach Sweezys Erstes Gesetz der Auslandsinvestition
aufzustellen, das besagt, daß der Zufluß aus den
Auslandsinvestitionen den Abfluß von Kapital um 70 %
übersteigen wird. Und ich lege dem eine gute wissenschaftliche
Methode zugrunde: ich habe wenigstens zwei Fallbeispiele! Und nun halte
ich Ausschau nach jungen Wissenschaftlern, die das Gesetz im Lichte
jedes weiteren Falls, der sich anbietet, überprüfen und
bestätigen.
Um es nochmals zu sagen, die Frage lautet: Wer verwendet wessen Reichtum? Und die Antwort ist eindeutig.
Was die Sache betrifft, die man komischerweise als Hilfe der
entwickelten Länder für die unterentwickelten Länder
bezeichnet, als wäre sie ein Sesam-öffne-dich zur
wirtschaftlichen Entwicklung, so ist der Befund allzu eindeutig, und
wiederum können wir hier ein Gesetz aufstellen: Je mehr Hilfe,
desto weniger Entwicklung. Die Gründe dafür sind
vielfältig. Ein Großteil der Hilfe ist natürlich
militärischer Art und dient angeblich der Verteidigung gegen das
Schreckgespenst der kommunistischen Aggression – dabei weiß
doch jeder Zehnjährige bereits, daß diese subventionierten
Militärmaschinen in den unterentwickelten Ländern für
das Gleichgewicht der Mächte in der Welt ohne jeden Belang sind
und lediglich dazu dienen, repressive Regierungen in deren eigenen
Ländern zu stützen. Aber davon abgesehen hat auch der
größte Teil der reinen Wirtschaftshilfe nichts mit
ökonomischer Entwicklung zu tun. Ein großer Teil davon
fließt in die Taschen korrupter Bürokraten und Beamten in
jenen Ländern; ein weiterer Teil dient nur dazu, Schulden und
Zinsen an die Banken des Landes abzuzahlen, das für die angebliche
Hilfe gesorgt hat; fast nichts davon bleibt für die
wirtschaftliche Entwicklung übrig. Ich möchte die Aussage
eines hohen Beamten in der Verwaltung der amerikanischen Auslandshilfe
zitieren, D. A. Fitzgerald, den die Zeitung U.S. News and World Report nach seiner Pensionierung interviewt hat. Er sagte unter anderem:
«Die Kritik an der
Auslandshilfe geht immer wieder von der Voraussetzung aus, als ginge es
darum, für das Wachstum fremder Volkswirtschaften zu sorgen. Dabei
war das überhaupt nicht unser Ziel. Unser Ziel hat eher darin
bestanden, für günstige Abstimmungsergebnisse bei den
Vereinten Nationen zu sorgen oder ein Land daran zu hindern, daß
es den Sowjets Luftbasen zur Verfügung stellt, und was dergleichen
Gründe mehr sind.»
Das einzige Ziel, das er nicht erwähnt, ist das des
wirtschaftlichen Wachstums. Der Zweck der Auslandshilfe besteht also,
mit anderen Worten, eindeutig darin, den Status quo zu sichern, der die
Rückständigkeit der unterentwickelten Länder zementiert,
während er den weiteren Aufstieg der entwickelten Länder
begünstigt. Vor diesem Hintergrund wird auch klar, welche
Bedeutung den kommunistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts in
Wirklichkeit zukommt. Sie sind nicht, wie uns bürgerliche
Ideologen einreden wollen, eine Art von historischem Zufall, der auf
Kriegswirren zurückgeht oder als Ausfluß der ideologischen
Frasen von Profeten namens Marx und Lenin zu verstehen ist. Historisch
gesehen sind sie Ausdruck eines unvermeidlichen Kampfes, den die
unterentwickelten Länder führen, um sich aus der Zwangsjacke
zu befreien, in der sie seit ein paar Jahrhunderten gesteckt haben. Als
Gefangene des Systems können die unterentwickelten Länder nur
weiteren Rückschritt produzieren. Nur außerhalb des Systems
können sie damit beginnen, ihre Ressourcen für eigene Zwecke
zu benutzen, können sie, mit anderen Worten, einen wirklichen
Prozeß der wirtschaftlichen Entwicklung in Gang bringen.
Es gibt nun eine Menge Beispiele dafür, wie gegensätzlich
sich Länder entwickeln, von denen das eine innerhalb, das andere
außerhalb der Zwangsjacke des internationalen kapitalistischen
Systems existiert – Länder, die zur Zeit, als das eine davon
ausbrach, etwa den gleichen Entwicklungsstand hatten. China und Indien
bieten sich als ein solches Paar geradezu an und sind wohl auch auf
lange Sicht das wichtigste Beispiel. China entwickelt sich, nach
welchem Maßstab auch immer, sehr rasch und rundum – nicht
nach Art des schlagseitigen, Entwicklung/Unterentwicklung
reproduzierenden Schemas, das für die Kolonialländer so
charakteristisch ist. Dagegen entwickelt sich Indien nicht nur in
dieser ungleichmäßigen Weise, es macht auch,
durchschnittlich gesehen, kaum Fortschritte – die Statistiken
sind nicht allzu zuverlässig, aber selbst bei optimistischster
Betrachtung zeigen sie nur eine sehr kleine durchschnittliche
Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens; und natürlich besagen
Durchschnittswerte sehr wenig, da die Mehrheit leicht an Boden
verlieren kann, was im Fall von Indien vermutlich auch geschieht. Und
inzwischen sehen wir, daß der Hungertod in vielen Teilen des
Landes mehr und mehr endemisch wird und sich in den kommenden Jahren
zweifellos auf weitere Teile ausbreiten wird.
Die beiden Korea sind ebenfalls ein beeindruckendes Beispiel, wenn auch
der Maßstab des Vergleichs hier kleiner ist. Ebenso die beiden
Vietnam, wenn das Bild auch durch das massive Eingreifen der USA
verzerrt wird; trotz dieser Tatsache zeigt es jedoch eindeutig,
daß sich die eine Seite bedeutend und in vernünftiger Weise
entwickelt, während die andere Seite ein unglaubliches
Durcheinander von Unterentwicklung und Verzerrung aufweist.
In der westlichen Hemisfäre fällt der Kontrast zwischen Kuba
auf der einen und dem restlichen Lateinamerika auf der anderen Seite
stark ins Auge. Überall können wir diese Probe aufs Exempel
machen, und mir scheint, die Lehre, die wir daraus zu ziehen haben, ist
unmißverständlich.
Welche Schlüsse müssen wir aus diesem historischen
Prozeß ziehen? Enthält die Ansicht, wonach die
unterentwickelten Länder im «Großen Wettstreit»
aufgefordert sind, entweder der kapitalistischen oder der
kommunistischen Linie zu folgen, einen realen Kern? Besteht irgendeine
Aussicht, daß die entwickelten kapitalistischen Länder es
fertigbringen, ein gemeinsames Programm auszuarbeiten, das sie mit
Erfolg auf die unterentwickelten Länder anwenden können? Ich
für meinen Teil halte das für Wunschträume, in welchem
ideologischen Gewande sie auch einherkommen mögen: als
Liberalismus aus Washington oder als Friedliche Koexistenz aus Moskau.
Tatsache ist, daß die unterentwickelten Länder zum Tode
verurteilt sind, wenn sie im kapitalistischen Weltsystem gefangen
bleiben.
Daß es dabei bleiben wird, dafür bürgt paradoxerweise
ein Exportartikel der kapitalistischen Welt, der sich in der Dritten
Welt behauptet und durchgesetzt hat: die moderne Medizin, die zu einem
enormen Rückgang der Sterblichkeitsziffern geführt hat,
mögen diese in vielen Teilen der unterentwickelten Welt auch immer
noch hoch sein. Eine entsprechende Steigerung der
Produktionskapazität ist jedoch ausgeblieben, ganz zu schweigen
davon, daß nicht einmal die vorhandene Kapazität ausgenutzt
wird. Der zunehmenden Bevölkerungsexplosion entspricht also kein
ökonomisches Wachstum, das mit ihr Schritt halten könnte. Es
ist eine Binsenweisheit, daß die Weltbevölkerung sich in den
nächsten dreißig bis vierzig Jahren verdoppeln wird, nahezu
ohne Rücksicht darauf, wie sich in diesem Zeitraum die
Geburtenziffern entwickeln werden; und mit Sicherheit wird diese
Zunahme wenigstens zur Hälfte auf die unterentwickelten
Länder entfallen. Niemand kann im Ernst annehmen, daß die
unterentwickelten Länder angesichts der gegenwärtigen
institutionellen Strukturen einen solchen Bevölkerungszuwachs
ernähren, geschweige denn das Ernährungsniveau erhöhen
können.
Der amerikanische Landwirtschaftsminister Orville Freeman hat
angekündigt, die siebziger Jahre würden «ein Jahrzehnt
des Hungers» werden. Fidel Castro hat 1966 in einer Rede darauf
geantwortet: Freeman hat unrecht – die siebziger Jahre werden das
Jahrzehnt der Revolution sein. Denn in der heutigen Welt, sagt Castro,
werden die Menschen anders reagieren als vorher: sie werden lieber an
einer Kugel sterben als in langsamer Agonie verhungern.
Ich glaube, Castro hat damit eine einfache Wahrheit ausgesprochen. Ich
sehe angesichts der gegenwärtigen Machtstrukturen,
Interessenstrukturen, institutionellen Regelungen keine Anzeichen
dafür, daß die kapitalistischen Länder daran irgend
etwas ändern können oder wollen; ich wage allerdings keine
exakte Prognose hinsichtlich der Frage, welche Formen diese
Revolutionen annehmen und wie lange sie zu ihrer Entwicklung brauchen
werden. Es mag sein, und ich halte das für sehr wahrscheinlich,
daß sie eine ganze Geschichtsepoche bestimmen werden. Die
Entwicklung der modernen Technologie der Zerstörung macht es sogar
vorstellbar, daß die entwickelten kapitalistischen Länder
irgendwann einmal als Samson auftreten und den Prozeß abrupt zu
Ende bringen, indem sie die ganze Welt in die Luft jagen. Allerdings
flöge bei einer solchen Lösung der Kapitalismus ebenfalls in
die Luft. Jedenfalls sind die Zukunftsaussichten für das
kapitalistische System, wie auch immer man es dreht und wendet, nicht
gerade rosig.
Rede gehalten auf dem "Dialects of Liberation"-Kongreß in London, der vom 15. bis 30. Juli 1967 stattfand.
