Paul M. Sweezy
Die Zukunft des Kapitalismus

Als ich vorschlug, über «Die Zukunft des Kapitalismus» zu sprechen, hatte ich nicht so sehr bestimmte Voraussagen über sein künftiges Schicksal im Sinn als vielmehr die Methode, die für die Analyse der Zukunft des Kapitalismus am geeignetsten und ergiebigsten ist. Für den, der auch nur halbwegs vertraut ist mit dem, was ich geschrieben habe, ist es kein Geheimnis, daß ich dem Kapitalismus eine graue Zukunft profezeie. Aber das ist ja an sich nichts Neues; nicht nur Marxisten, sondern auch andere Radikale haben seit über hundert Jahren die gleiche Auffassung vertreten. Der Kapitalismus hat freilich viele Mutmaßungen über seine Zukunft überlebt und wird auch weiterhin viele überleben; dem analytischen Problem der Diagnostizierung seiner Zukunft kommt dabei, glaube ich, noch die gleiche Bedeutung zu wie eh und je.
Ich möchte also drei verschiedene analytische Methoden umreißen und deutlich machen, weshalb ich die traditionelleren und gebräuchlicheren davon für falsch halte und weshalb ich meine, daß die dritte von mir aufzuzeigende Methode am geeignetsten ist, das Problem zu behandeln.
Die erste ist charakteristisch für die bürgerliche Ökonomie und leider auch für eine gewisse Art von Marxismus, die sich auf das sogenannte Zusammenbruchsproblem konzentriert. Diese Methode richtet ihr hr Augenmerk hauptsächlich auf die Dynamik des Kapitalismus in den entwickelten Ländern Westeuropas und Nordamerikas. Sie neigt dazu, Fragen zu stellen wie: Sind die Konjunkturausschläge und andere Formen der Wirtschaftsschwankung unter einigermaßen vernünftige Kontrolle gebracht worden? Wie steht es mit den Problemen der Technologie, der Automation, der Fähigkeit des Kapitalismus, technische Veränderungen unter Kontrolle zu halten? Wie steht es mit dem internationalen Handel und der internationalen Währungsflexibilität? Zu welchen Krisen führt die heutige Konzernwirtschaft? Und so weiter. Kann man all diese Probleme im Rahmen einer privatwirtschaftlichen, marktorientierten, profitbestimmten Wirtschaftsordnung lösen? Und wer einmal eine Zeitlang im akademischen Milieu dieses Landes oder der USA zu Hause gewesen ist, der wird wissen, daß das die zentralen Themen sind, die jedesmal erörtert werden, wenn die Frage nach der Zukunft des Kapitalismus auftaucht.
Ich brauche Sie vermutlich nicht erst davon zu überzeugen, daß dieser Rahmen für eine Analyse der Zukunft des Kapitalismus völlig unzureichend ist. Schließlich ist der Kapitalismus nicht auf die entwickelten Länder, seine traditionelle Heimat, von der er seinen Ausgang nahm, beschränkt. Er existiert nicht in einer passiven Umwelt, von der keine Gegenwirkung ausginge. Er existiert vielmehr als ein Bestandteil der gesamten Weltgesellschaft und Weltwirtschaft, und sein Funktionieren wird entschieden beeinflußt von der Wechselwirkung zwischen den entwickelten kapitalistischen Ländern und ihrer Umgebung. Diese Umgebung ist beträchtlich größer als die entwickelte kapitalistische Welt selbst. Hinsichtlich Bevölkerung und Produktion können wir sagen, daß die «Erste Welt», über den Daumen gepeilt, rund 20 % der Weltbevölkerung ausmacht und etwa 60 % der Weltproduktion erzeugt, während die nichtkapitalistischen, wenn Sie wollen: kommunistischen Länder mit ihrer zentralistischen Planung rund 30 % der Weltbevölkerung und 30 % der Weltproduktion stellen. Der Rest verteilt sich auf das, was man heute allgemein die Dritte Welt nennt, die zwar 5o % der Weltbevölkerung umfaßt, aber nur 10 % der Weltproduktion erzeugt.
Ich benutze den Ausdruck «Dritte Welt» nicht nur, weil er zum akzeptierten Sprachgebrauch geworden ist, sondern auch deshalb, weil er kurz ist und griffig. Ich möchte jedoch betonen, daß es keineswegs ein treffender Ausdruck ist. Die Dritte Welt ist in Wirklichkeit gar keine – sie ist Bestandteil einer der beiden anderen Welten, und ich meine, das ist von Bedeutung, wenn man das Problem der Zukunft des Kapitalismus in seiner Gesamtheit verstehen will.
Die zweite Methode berücksichtigt die Tatsache, daß die entwickelten kapitalistischen Länder nicht für sich existieren, sondern in einer quantitativ großen und qualitativ aktiven Umgebung. Das wird von einer eklektischen Schule der bürgerlichen Volkswirtschaft inzwischen anerkannt, die seit dem Zweiten Weltkrieg, oft unter dem Namen The Economics of Development, einen großen Aufschwung genommen hat; und das gleiche scheint für die Wirtschaftstheorie der Sowjetunion und der anderen Länder in der sozialistischen. Welt zu gelten, die sich ideologisch nach der Sowjetunion richten. Diese Methode beruht auf der ausdrücklichen oder stillschweigenden Annahme, es habe einst eine Zeit gegeben, zu der die ganze Welt unterentwickelt gewesen sei; dann aber habe, vor etwa vier Jahrhunderten, ein Gebiet in Westeuropa eine kritische Schwelle überschritten und begonnen, sich auf kapitalistische Weise zu entwickeln. Warum das geschah, ist umstritten – eine Frage, in deren Beantwortung keine Übereinstimmung erzielt wird, doch ist das vielleicht vom Standpunkt der heutigen Diagnose aus gar nicht so entscheidend. Der Take-off der sich entwickelnden Länder - Sie werden ohne Zweifel die Terminologie von Walt Rostow heraushören, einem der führenden Ideologen des liberalen Establishments im heutigen Amerika – befähigte diese Gebiete, sich im Geschwindschritt einige Jahrhunderte lang zu entfalten und die übrige Welt im Urzustand der Unterentwicklung hinter sich zu lassen. Als Folge der beiden Weltkriege und verschiedener historischer Ereignisse habe dann ein Teil der unterentwickelten Welt sich losgemacht und – in unterschiedlichen institutionellen und strukturellen Kontexten – mit seinem eigenen Aufschwung begonnen, d. h. unter der Ägide zentraler Planung, des Staatseigentums und der allgemeinen Wirtschaftskontrolle. So gebe es jetzt nicht nur eine zweigeteilte, sondern eine dreigeteilte Welt: jene, die vor etlichen Jahrhunderten ihren Aufschwung nahm und die entwickelten kapitalistischen Länder umfaßt; jene, die erst in jüngster Zeit unter Systemen der zentralen Planung ihren Aufschwung begonnen hat; und dann jene 50 % der Weltbevölkerung, die in den Startlöchern, im Stadium der Unterentwicklung steckengeblieben sind und die deshalb zur Dritten Welt gerechnet werden.
Unter diesen Umständen wird die Dritte Welt, angesichts der Möglichkeiten der Entwicklung, des technologischen Wandels, der Akkumulation von Kapital und Technologie, des steigenden Lebensstandards usw. von dem Wunsch angesteckt, sich ihrerseits zu entfalten und dieselben Früchte zu genießen. Und welche von den beiden Pfaden, die sie einschlagen kann, wird die Dritte Welt wohl wählen? Die Kehrseite der Medaille ist, daß jedes der beiden Systeme, das spätkapitalistische und das kommunistische, seine eigene Zukunft davon bestimmt sieht, ob es diesen riesigen Teil der restlichen Welt, der mehr als die Hälfte ihrer Bevölkerung umfaßt, unter seine Fittiche, in seinen Einflußbereich bringen kann. Das System, dem es gelingt, die Dritte Welt hinter sich zu bringen, wird schließlich in dem sogenannten Großen Wettlauf den Sieg davontragen. Sie sehen, daß das die fundamentale Ideologie des ganzen liberalen Establishments in den USA und seiner Helfershelfer in anderen Ländern ist. Dabei dreht sich alles darum, die Dritte Welt auf unsere Seite zu bringen, sie wirtschaftlich zu entwickeln, sie dazu zu bringen, daß sie in unsere Fußstapfen tritt. Auf das gleiche Ziel will die grundlegende sowjetische Ideologie der friedlichen Koexistenz und des friedlichen Wettstreits der Systeme hinaus. Es handelt sich um zwei verschiedene Betrachtungsweisen, denen eigentlich dieselbe ideologische Konzeption zugrunde liegt.
Ich möchte nun darauf hinweisen, daß diese zweite Methode zwar der ersten insofern überlegen ist, als sie die Umwelt, in der die entwickelten kapitalistischen Länder existieren, nicht einfach aus dem Spiel läßt; sie führt aber trotzdem völlig in die Irre und ist ohne diagnostischen Wert. Der Hauptgrund dafür besteht darin, daß es absurd ist, sich die ganze Welt von 1500 oder einer anderen frühen Epoche so vorzustellen, als wäre sie im Zustand der Unterentwicklung gewesen wie die Dritte Welt von heute. Unentwickelt nach heutigen wissenschaftlichen Maßstäben: meinetwegen – aber unterentwickelt in dem Sinn, in dem Afrika und Lateinamerika und der größte Teil von Asien heute unterentwickelt sind: auf keinen Fall! In Wirklichkeit hat jeder Kontinent, Nordamerika vielleicht ausgenommen, irgendwann einmal einen hohen Stand der Kultur erreicht. Und der materiell, kulturell und ideologisch erreichte Hochstand in verschiedenen Teilen der heutigen unterentwickelten Welt war nach den Maßstäben der damaligen Zeit, und in mancher Hinsicht auch nach unseren heutigen Maßstäben, außerordentlich beeindruckend.
Die mechanistische Darstellung, nach der ein jeder im Zustand der Unterentwicklung dagesessen hat, bis plötzlich eine kleine Region vorpreschte und die anderen hinter sich ließ, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Die Wahrheit ist, daß der Kapitalismus sich in seinen Ursprungsländern von Anfang an durch Unterwerfung, Plünderung, Ausbeutung und Umformung der Mitwelt, in der er lebte, entfaltet hat. Folglich wurde der Reichtum von der Periferie in die Metropole geschleust, folglich wurden die alten Gesellschaftssysteme an der Periferie zerstört und zu abhängigen Satelliten umgestaltet. Das ist die eine Seite des Prozesses. Die andere ist, daß der erbeutete Reichtum, der aus der Außenwelt, der Periferie in die Metropole gesogen worden war, zur Grundlage für deren rasche Entwicklung wurde. Das war die wirkliche ökonomische und soziale Basis des Aufschwungs der «Ersten Welt», und es ist fraglich, ob es ohne die Ausplünderung der Periferie überhaupt zu einem solchen Aufschwung gekommen wäre.
Natürlich hat dieser Prozeß etliche Jahrhunderte lang gedauert und dabei immer größere Dimensionen angenommen. Er läßt sich keinesfalls auf das 15. und 16. Jahrhundert zurückdatieren. Ich bin geneigt, der Analyse Oliver Cox' in seinem Buch The Foundation of Capitalism zuzustimmen, nach der Venedig vom 7. und 8. Jahrhundert an als erster echt kapitalistischer Staat anzusehen ist, der sich auf das Hinterland ausdehnte, es unterwarf, ausplünderte, seinen Reichtum einheimste und eine bürgerliche Kultur in höchster Vollendung entwickelte. Anschließend spielte sich der gleiche Prozeß in vielen anderen italienischen Stadtstaaten ab, ebenso in den Hansestädten Nordeuropas. Schließlich verlagerte er mit der Erschließung der Überseegebiete – ich spreche ausdrücklich, wie Sie bemerken werden, nicht von der «Entdeckung der Neuen Welt» – seinen Schwerpunkt erst auf Spanien und Portugal und dann auf Holland, Frankreich und England, unter deren Ägide der neue Handelskapitalismus in jeden Winkel der Welt eindrang. Damit war der Prozeß jedoch keineswegs abgeschlossen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts traten weitere kapitalistische Zentren, besonders die USA, Deutschland und Japan, auf den Plan, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die ganze Welt bereits durchgreifend polarisiert: auf der einen Seite eine relativ kleine entwickelte kapitalistische Metropole, die sich auf wenige Länder hauptsächlich in Westeuropa und Nordamerika konzentrierte, auf der anderen die an Unterentwicklung leidende riesige Periferie, die ihre Basis bildete und aus der sie einen Großteil ihrer Versorgung holte.

Sehen wir uns an, was mit den unterjochten und ausgebeuteten Ländern und Regionen geschah. In jedem Fall, wo die bestehende Sozialordnung mit der ausbeuterischen Tätigkeit der Eroberer nicht vereinbar war oder ihr im Wege stand – und das war überall der Fall -, wurde diese Ordnung mit Gewalt umgekrempelt und zerschlagen, was jedesmal verheerende Folgen für die lokale Kultur und Bevölkerung hatte.
In ihrer hektischen Jagd nach Gold rafften die Portugiesen und Spanier nicht nur alles an sich, dessen sie habhaft werden konnten, sie zwangen auch die Eingeborenen, in den Minen zu arbeiten, wo sie wie Vieh verreckten. Im Karibischen Raum wurde die Eingeborenenbevölkerung in zwei bis drei Generationen buchstäblich ausgerottet, und in großen Teilen von Mittel- und Südamerika konnten die Indianer nur überleben, indem sie sich in die Wälder oder auf die Berge zurückzogen. Um sich mit den nötigen Arbeitskräften für die Minen und Plantagen zu versorgen, gingen die Ausbeuter zum Sklavenhandel über. Große Teile Afrikas wurden in Reviere für Sklavenjäger verwandelt, und selbstverständlich wurden die Gesellschaften, aus denen man sich die Sklaven holte, sowie jene, in die man sie schickte, völlig umgestürzt. Im Karibischen Raum, in Mittel- und Südamerika und in Afrika – in jenem Bereich also, der durch den südlichen Atlantik verbunden wird – können wir auf das genaueste studieren, wie die Kehrseite der Anhäufung großer Vermögen durch die Sklavenhändler Liverpools und anderer britischer, französischer und neuenglischer Hafenstädte aussieht. Die von außen hervorgerufene Unterentwicklung nahm im Fernen Osten einen etwas anderen, doch nicht weniger spektakulären Verlauf. Die Holländer plünderten Indien und setzten dann eines der wirkungsvollsten Programme zur Aufrechterhaltung der Ausbeutung in der kolonialen Welt in die Praxis um. Der berühmteste Fall sind vermutlich die Briten in Indien – was einmal, kurz bevor die Briten auf der Szene erschienen, eine der höchstentwickelten Kulturen der Welt gewesen war, wurde gnadenlos ausgeraubt und in eine der ärmsten und rückständigsten Zonen der Welt verwandelt.
Die Schauseite der Medaille war auch hier die Akkumulation von Reichtum in der Metropole. Eric Williarns, der heutige Premierminister von Trinidad & Tobago, schreibt in seiner sehr brauchbaren und aufschlußreichen Monografie Capitalism and Slavery, die industrielle Revolution in England sei mit den direkten und indirekten Profiten aus dem Handel mit Negersklaven in Ostindien finanziert worden. Brooks Adams macht in seinem Buch The Law of Civilization in Decay die Ausplünderung Indiens dafür verantwortlich. Beide haben recht.
Und nach den Eroberern, den Pionieren der Unterjochung, kamen die Kapitalanleger, die Händler, die Bankiers, die Administratoren und Berater – all jene, deren Sache es war, die Kolonien und Halbkolonien in unversiegliche Quellen des Profits für die Metropole zu verwandeln. Ihre Bemühungen führten dazu, daß sich ein charakteristisches Grundmuster der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Zentrum und Periferie ausbildete. Die Periferie spezialisierte sich auf die im Zentrum benötigte Rohstoffproduktion und diente zugleich als Absatzmarkt für Industrieartikel, während die meisten Gewerbe in der Periferie den Kapitalisten des Zentrums in die Hände fielen, die den Löwenanteil der Profite in ihre Tasche steckten. Die künstlich erzeugte Unterentwicklung der Periferie wurde also eingefroren und auf ewig besiegelt, während das Zentrum in die Lage versetzt wurde, sich mittels des Reichtums seiner Satelliten weiterzuentwickeln.

Dieses Grundmuster eines entwickelten und reichen Zentrums gegenüber einer verarmten Periferie ist keineswegs nur in der Beziehung zwischen den entwickelten kapitalistischen Ländern und den kolonialen und halbkolonialen Ländern zu finden. Dort ist es zwar am ausgeprägtesten und spektakulärsten, aber es findet sich genauso innerhalb der beiden Pole. So ist zum Beispiel ein Land wie Brasilien, was seine Bodenschätze und seine geografischen Möglichkeiten betrifft, eines der reichsten Länder der Welt. Reichtum und Industrie sind dort in einem sehr kleinen Dreieck zwischen Rio de Janeiro, Belo Horizonte und Sấo Paulo konzentriert, während das übrige Land nach wie vor von Unterentwicklung und von drückender Armut gekennzeichnet ist. Das gleiche ist in den entwickelten kapitalistischen Metropolen der Fall: schließlich liegen zwischen Harlem und der Park Avenue nur zwei oder drei Meilen – ein Beispiel dafür, wie extreme Armut und extremer Reichtum dicht nebeneinander existieren können. Oder wenn man den Blick über die Dächer von Copacabana in Rio auf die zauberhaften Berghänge richtet und ein bißchen genauer hinschaut, so sieht man dort die berühmten favelas, einige der schlimmsten Slums, die es auf der Welt gibt.
Entwicklung auf der einen und Unterentwicklung auf der anderen Seite bedingen sich in dialektischer Weise gegenseitig. Darin besteht von Anfang an die ganze Geschichte des Kapitalismus. Sie wiederholt sich auf jeder erdenklichen Stufe. Es sind die beiden Seiten der kapitalistischen Medaille, die ebensowenig voneinander zu trennen sind wie siamesische Zwillinge. Und wenn man das nicht begreift, wenn man daran nicht tagtäglich denkt, dann wird man immer und immer wieder von der Propaganda irregeführt, die zusammengehörige Dinge zu trennen versucht, die Entwicklung zur guten und Unterentwicklung zur zufällig schlechten Seite stempelt, um uns weiszumachen, wir könnten das eine ohne das andere haben. Das ist ein Märchen, und solange man dieses Märchen nicht durchschaut, kann man nicht zu einem wirklich konstruktiv-analytischen Nachdenken über das Problem kommen, wie die Zukunft des Kapitalismus aussieht.
Ich wiederhole: Die kapitalistische Entwicklung erzeugt zwangsläufig an einem Pol Entwicklung, am anderen Pol Unterentwicklung. Die entwickelten kapitalistischen Länder und die unterentwickelten Länder sind keine getrennten Welten; sie sind das Oben und Unten ein und derselben Welt. Somit ist der ganze Begriff der Dritten Welt irreführend und sollte fallengelassen werden. Dafür mag es zu spät sein; die Rede von der Dritten Welt ist zum festen Bestandteil des heutigen Sprachgebrauchs geworden. Doch sollten wir uns ständig daran erinnern, daß es sich um eine bequeme façon de parler handelt, nicht um eine Kennzeichnung der sozioökonomischen Realität.
Wenn wir dieses Grundmuster von Entwicklung/Unterentwicklung vor Augen haben, lassen sich viele andere, ich würde sogar sagen: alle grundlegenden Trends und Tendenzen der modernen Geschichte einem zusammenhängenden und verständlichen Grundmuster zuordnen. Vor allem wird jetzt klar, wie absurd es ist, von den Beziehungen zwischen den entwickelten und unterentwickelten Ländern zu erwarten oder zu erhoffen, sie würden zur Entwicklung der letzteren führen. Handel, Investitionen, Regierungshilfe, das sind im Gegenteil eben die Mittel, mit denen die entwickelten Länder die unterentwickelten ausbeuten und in ihrem Zustand festhalten. Was den Handel betrifft, so haben das viele Leute bereits durchschaut. Der Austausch von Rohstoffen gegen Fertigwaren hat die Tendenz, sich selbst zu reproduzieren und zu perpetuieren, anstatt strukturelle Änderungen herbeizuführen. Daß die Preise in den Import-Export-Beziehungen dazu tendieren, die Rohstoffe exportierender Länder in Friedenszeiten zu benachteiligen, ist allgemein bekannt. Die Handelsbeziehungen enthalten keine Faktoren, die der Entwicklung der unterentwickelten Länder zugute kämen – im Gegenteil. Das gilt auch für die Investitionen, die das Zentrum in der Periferie vornimmt, obwohl die Vertreter der bürgerlichen Volkswirtschaft natürlich fast einhellig das Gegenteil behaupten. Ich möchte nicht den Versuch machen, auf die Knifflichkeiten der Theorie der Auslandsinvestitionen einzugehen. Ich würde aber Ihre Aufmerksamkeit gern auf ein paar massive statistische Fakten lenken, die meines Erachtens völlig unverständlich wären, wenn die bürgerlichen Ökonomen mit ihrer Einschätzung der Kapitalbeziehungen recht hätten. Ich bediene mich dabei der Daten über die Auslandsinvestitionen Großbritanniens und der USA in den Zeiträumen ihrer größten Aktivität; diese Daten sprechen eine deutliche Sprache, was den Effekt der Auslandsinvestition auf unterentwickelte und entwickelte Gebiete betrifft.
Der britische Imperialismus und seine Auslandsinvestitionen erreichten ihren Höhepunkt bekanntlich in den fünfzig Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Im Zeitraum von 1870 bis 1913 investierte Großbritannien im Ausland, nach den anerkannten Quellen, einen Nettobetrag von 2,4 Milliarden Pfund. Das heißt, die Auslandsinvestitionen der Briten überstiegen die Investitionen von Ausländern in Großbritannien um 2,4 Milliarden Pfund. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte Großbritannien der übrigen Welt eine sehr ansehnliche Summe aus eigenen Ressourcen zur Verfügung gestellt. Die Summe selbst war in der Tat beträchtlich, nämlich rund 50 Milliarden damalige Goldmark, und die Kaufkraft der Mark betrug zu jener Zeit mindestens das Doppelte der heutigen – somit hätten die Auslandsinvestitionen Großbritanniens in dem halben Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg nach heutigem Geldwert rund 100 Milliarden Mark ausgemacht. Aber selbstverständlich hatte auch diese Medaille ihre Kehrseite: die Beute, das Einkommen den Auslandsinvestitionen in Großbritannien 4,1 Milliarden Pfund. Rechnet man beide Summen gegeneinander auf, dann ergibt sich, daß der Zufluß an Einnahmen den Abfluß, von Investitionen um rund 70 % übertraf. Das war der wirkliche Vermögensertrag in dieser Periode. Das Geld wurde mit der Rechten ausgegeben und
mit der Linken wieder eingenommen, nur daß es sich in der linken Hand um 70 % vermehrt hatte. Wer hat also wem geholfen? Eindeutig war es die übrige Welt, sei sie nun entwickelt oder unterentwickelt gewesen, die Großbritannien durch diesen Investitionsmechanismus tributpflichtig war.
Oder nehmen wir die Praxis der USA seit dem Zweiten Weltkrieg. Ich beschränke mich auf die direkten Auslandsinvestitionen der amerikanischen Konzerne, die in der Welt von heute bei weitem die wichtigsten sind. Die Zahlen, die sich mit jenen vergleichen lassen, die ich soeben für Großbritannien zitiert habe, sehen für 1950-1963 wie folgt aus: Nettoabfluß von Kapital aus den USA 17,4 Milliarden Dollar; Zufluß von Einkommen in die USA 29,4 Milliarden Dollar. Abermals stellt sich heraus, daß der Zufluß den Abfluß um fast 70 % überstiegen hat. Ich habe versucht, danach Sweezys Erstes Gesetz der Auslandsinvestition aufzustellen, das besagt, daß der Zufluß aus den Auslandsinvestitionen den Abfluß von Kapital um 70 % übersteigen wird. Und ich lege dem eine gute wissenschaftliche Methode zugrunde: ich habe wenigstens zwei Fallbeispiele! Und nun halte ich Ausschau nach jungen Wissenschaftlern, die das Gesetz im Lichte jedes weiteren Falls, der sich anbietet, überprüfen und bestätigen.

Um es nochmals zu sagen, die Frage lautet: Wer verwendet wessen Reichtum? Und die Antwort ist eindeutig.
Was die Sache betrifft, die man komischerweise als Hilfe der entwickelten Länder für die unterentwickelten Länder bezeichnet, als wäre sie ein Sesam-öffne-dich zur wirtschaftlichen Entwicklung, so ist der Befund allzu eindeutig, und wiederum können wir hier ein Gesetz aufstellen: Je mehr Hilfe, desto weniger Entwicklung. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein Großteil der Hilfe ist natürlich militärischer Art und dient angeblich der Verteidigung gegen das Schreckgespenst der kommunistischen Aggression – dabei weiß doch jeder Zehnjährige bereits, daß diese subventionierten Militärmaschinen in den unterentwickelten Ländern für das Gleichgewicht der Mächte in der Welt ohne jeden Belang sind und lediglich dazu dienen, repressive Regierungen in deren eigenen Ländern zu stützen. Aber davon abgesehen hat auch der größte Teil der reinen Wirtschaftshilfe nichts mit ökonomischer Entwicklung zu tun. Ein großer Teil davon fließt in die Taschen korrupter Bürokraten und Beamten in jenen Ländern; ein weiterer Teil dient nur dazu, Schulden und Zinsen an die Banken des Landes abzuzahlen, das für die angebliche Hilfe gesorgt hat; fast nichts davon bleibt für die wirtschaftliche Entwicklung übrig. Ich möchte die Aussage eines hohen Beamten in der Verwaltung der amerikanischen Auslandshilfe zitieren, D. A. Fitzgerald, den die Zeitung U.S. News and World Report nach seiner Pensionierung interviewt hat. Er sagte unter anderem:
«Die Kritik an der Auslandshilfe geht immer wieder von der Voraussetzung aus, als ginge es darum, für das Wachstum fremder Volkswirtschaften zu sorgen. Dabei war das überhaupt nicht unser Ziel. Unser Ziel hat eher darin bestanden, für günstige Abstimmungsergebnisse bei den Vereinten Nationen zu sorgen oder ein Land daran zu hindern, daß es den Sowjets Luftbasen zur Verfügung stellt, und was dergleichen Gründe mehr sind.»

Das einzige Ziel, das er nicht erwähnt, ist das des wirtschaftlichen Wachstums. Der Zweck der Auslandshilfe besteht also, mit anderen Worten, eindeutig darin, den Status quo zu sichern, der die Rückständigkeit der unterentwickelten Länder zementiert, während er den weiteren Aufstieg der entwickelten Länder begünstigt. Vor diesem Hintergrund wird auch klar, welche Bedeutung den kommunistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts in Wirklichkeit zukommt. Sie sind nicht, wie uns bürgerliche Ideologen einreden wollen, eine Art von historischem Zufall, der auf Kriegswirren zurückgeht oder als Ausfluß der ideologischen Frasen von Profeten namens Marx und Lenin zu verstehen ist. Historisch gesehen sind sie Ausdruck eines unvermeidlichen Kampfes, den die unterentwickelten Länder führen, um sich aus der Zwangsjacke zu befreien, in der sie seit ein paar Jahrhunderten gesteckt haben. Als Gefangene des Systems können die unterentwickelten Länder nur weiteren Rückschritt produzieren. Nur außerhalb des Systems können sie damit beginnen, ihre Ressourcen für eigene Zwecke zu benutzen, können sie, mit anderen Worten, einen wirklichen Prozeß der wirtschaftlichen Entwicklung in Gang bringen.
Es gibt nun eine Menge Beispiele dafür, wie gegensätzlich sich Länder entwickeln, von denen das eine innerhalb, das andere außerhalb der Zwangsjacke des internationalen kapitalistischen Systems existiert – Länder, die zur Zeit, als das eine davon ausbrach, etwa den gleichen Entwicklungsstand hatten. China und Indien bieten sich als ein solches Paar geradezu an und sind wohl auch auf lange Sicht das wichtigste Beispiel. China entwickelt sich, nach welchem Maßstab auch immer, sehr rasch und rundum – nicht nach Art des schlagseitigen, Entwicklung/Unterentwicklung reproduzierenden Schemas, das für die Kolonialländer so charakteristisch ist. Dagegen entwickelt sich Indien nicht nur in dieser ungleichmäßigen Weise, es macht auch, durchschnittlich gesehen, kaum Fortschritte – die Statistiken sind nicht allzu zuverlässig, aber selbst bei optimistischster Betrachtung zeigen sie nur eine sehr kleine durchschnittliche Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens; und natürlich besagen Durchschnittswerte sehr wenig, da die Mehrheit leicht an Boden verlieren kann, was im Fall von Indien vermutlich auch geschieht. Und inzwischen sehen wir, daß der Hungertod in vielen Teilen des Landes mehr und mehr endemisch wird und sich in den kommenden Jahren zweifellos auf weitere Teile ausbreiten wird.
Die beiden Korea sind ebenfalls ein beeindruckendes Beispiel, wenn auch der Maßstab des Vergleichs hier kleiner ist. Ebenso die beiden Vietnam, wenn das Bild auch durch das massive Eingreifen der USA verzerrt wird; trotz dieser Tatsache zeigt es jedoch eindeutig, daß sich die eine Seite bedeutend und in vernünftiger Weise entwickelt, während die andere Seite ein unglaubliches Durcheinander von Unterentwicklung und Verzerrung aufweist.
In der westlichen Hemisfäre fällt der Kontrast zwischen Kuba auf der einen und dem restlichen Lateinamerika auf der anderen Seite stark ins Auge. Überall können wir diese Probe aufs Exempel machen, und mir scheint, die Lehre, die wir daraus zu ziehen haben, ist unmißverständlich.
Welche Schlüsse müssen wir aus diesem historischen Prozeß ziehen? Enthält die Ansicht, wonach die unterentwickelten Länder im «Großen Wettstreit» aufgefordert sind, entweder der kapitalistischen oder der kommunistischen Linie zu folgen, einen realen Kern? Besteht irgendeine Aussicht, daß die entwickelten kapitalistischen Länder es fertigbringen, ein gemeinsames Programm auszuarbeiten, das sie mit Erfolg auf die unterentwickelten Länder anwenden können? Ich für meinen Teil halte das für Wunschträume, in welchem ideologischen Gewande sie auch einherkommen mögen: als Liberalismus aus Washington oder als Friedliche Koexistenz aus Moskau. Tatsache ist, daß die unterentwickelten Länder zum Tode verurteilt sind, wenn sie im kapitalistischen Weltsystem gefangen bleiben.
Daß es dabei bleiben wird, dafür bürgt paradoxerweise ein Exportartikel der kapitalistischen Welt, der sich in der Dritten Welt behauptet und durchgesetzt hat: die moderne Medizin, die zu einem enormen Rückgang der Sterblichkeitsziffern geführt hat, mögen diese in vielen Teilen der unterentwickelten Welt auch immer noch hoch sein. Eine entsprechende Steigerung der Produktionskapazität ist jedoch ausgeblieben, ganz zu schweigen davon, daß nicht einmal die vorhandene Kapazität ausgenutzt wird. Der zunehmenden Bevölkerungsexplosion entspricht also kein ökonomisches Wachstum, das mit ihr Schritt halten könnte. Es ist eine Binsenweisheit, daß die Weltbevölkerung sich in den nächsten dreißig bis vierzig Jahren verdoppeln wird, nahezu ohne Rücksicht darauf, wie sich in diesem Zeitraum die Geburtenziffern entwickeln werden; und mit Sicherheit wird diese Zunahme wenigstens zur Hälfte auf die unterentwickelten Länder entfallen. Niemand kann im Ernst annehmen, daß die unterentwickelten Länder angesichts der gegenwärtigen institutionellen Strukturen einen solchen Bevölkerungszuwachs ernähren, geschweige denn das Ernährungsniveau erhöhen können.
Der amerikanische Landwirtschaftsminister Orville Freeman hat angekündigt, die siebziger Jahre würden «ein Jahrzehnt des Hungers» werden. Fidel Castro hat 1966 in einer Rede darauf geantwortet: Freeman hat unrecht – die siebziger Jahre werden das Jahrzehnt der Revolution sein. Denn in der heutigen Welt, sagt Castro, werden die Menschen anders reagieren als vorher: sie werden lieber an einer Kugel sterben als in langsamer Agonie verhungern.
Ich glaube, Castro hat damit eine einfache Wahrheit ausgesprochen. Ich sehe angesichts der gegenwärtigen Machtstrukturen, Interessenstrukturen, institutionellen Regelungen keine Anzeichen dafür, daß die kapitalistischen Länder daran irgend etwas ändern können oder wollen; ich wage allerdings keine exakte Prognose hinsichtlich der Frage, welche Formen diese Revolutionen annehmen und wie lange sie zu ihrer Entwicklung brauchen werden. Es mag sein, und ich halte das für sehr wahrscheinlich, daß sie eine ganze Geschichtsepoche bestimmen werden. Die Entwicklung der modernen Technologie der Zerstörung macht es sogar vorstellbar, daß die entwickelten kapitalistischen Länder irgendwann einmal als Samson auftreten und den Prozeß abrupt zu Ende bringen, indem sie die ganze Welt in die Luft jagen. Allerdings flöge bei einer solchen Lösung der Kapitalismus ebenfalls in die Luft. Jedenfalls sind die Zukunftsaussichten für das kapitalistische System, wie auch immer man es dreht und wendet, nicht gerade rosig.

Rede gehalten auf dem "Dialects of Liberation"-Kongreß in London, der vom 15. bis 30. Juli 1967 stattfand.