Herbert Marcuse
Befreiung von der Überflußgesellschaft
Als unverbesserlicher Filosof, für den Filosofie und Politik
untrennbar geworden sind, fürchte ich, hier heute eine ziemlich
filosofische Rede halten zu müssen, und ich bitte Sie dafür
um Nachsicht. Wir setzen uns hier mit der Dialektik der Befreiung
auseinander (eigentlich ein überflüssiger Ausdruck, denn ich
glaube, alle Dialektik enthält Momente der Befreiung), und zwar
Befreiung nicht nur im intellektuellen Sinn, sondern unter Einbeziehung
von Geist und Körper, eine Befreiung, welche die ganze menschliche
Existenz umfaßt. Denken Sie an Plato: an die Befreiung vom
Höhlendasein. Denken Sie an Hegel: an die Befreiung im Sinn des
Fortschritts und der Freiheit in der historischen Dimension. Denken Sie
an Marx. In welchem Sinne ist nun alle Dialektik Befreiung? Sie ist
Befreiung vom Repressiven, Befreiung von einem schlechten, einem
falschen System – sei es ein organisches System, sei es ein
Sozialsystem, sei es ein geistiges oder intellektuelles System:
Befreiung durch Kräfte, die sich innerhalb eines solchen Systems
selbst entwickeln. Das ist ein entscheidender Punkt. Es handelt sich um
Befreiung kraft des Widerspruchs, den das System erzeugt, gerade weil
es ein schlechtes, ein falsches System ist.
Ich benutze hier absichtlich moralische, filosofische Begriffe, Werte
wie «schlecht» und «falsch». Denn ohne ein
objektiv zu rechtfertigendes Ziel einer besseren, einer freien
menschlichen Existenz muß alle Befreiung sinnlos bleiben –
sie ginge nicht hinaus über Fortschritte innerhalb der
Knechtschaft. Ich glaube, daß auch für Marx Sozialismus
etwas ist, das sein sollte. Dieser normative Zug gehört zum Wesen
des wissenschaftlichen Sozialismus. Der Sozialismus soll sein; er ist,
wie wir vielleicht sagen können, eine biologische, soziologische
und politische Notwendigkeit. Er ist insofern eine biologische
Notwendigkeit, als eine sozialistische Gesellschaft nach Marx mit dem
ganzen Logos des Lebens, mit den essentiellen Möglichkeiten
menschlicher Existenz übereinstimmen würde, nicht nur
geistig, nicht nur intellektuell, sondern auch organisch.
Nun aber zu unserer heutigen Situation. Ich denke, wir stehen einer
geschichtlich neuartigen Situation gegenüber, weil es für uns
heute darum geht, uns von einer relativ gut funktionierenden, reichen,
mächtigen Gesellschaft zu befreien. Das Problem, vor dem wir
stehen, ist die Notwendigkeit der Befreiung nicht von einer armen
Gesellschaft, nicht von einer zerfallenden Gesellschaft, nicht einmal
in erster Linie von einer terroristischen Gesellschaft, sondern von
einer Gesellschaft, die in großem Maße die materiellen und
sogar die kulturellen Bedürfnisse des Menschen entwickelt –
eine Gesellschaft also, die, einem Schlagwort zufolge, einen immer
größeren Teil der Bevölkerung an ihren Gütern
teilhaben läßt. Und damit ist bereits gesagt, daß wir
auf eine Befreiung aus sind, für die in der Gesellschaft
augenscheinlich keine Massenbasis besteht.
Wir kennen die sozialen Mechanismen der Manipulation, lndoktrination
und Repression, die für das Fehlen einer solchen Massenbasis
verantwortlich sind – dafür, daß die Mehrheit der
oppositionellen Kräfte in das herrschende Sozialsystem integriert
ist. Ich möchte jedoch betonen, daß es sich dabei nicht
bloß um eine ideologische Integration handelt, auch nicht nur um
eine soziale Integration – sondern um einen Vorgang, der eine
starke und reiche materielle Basis hat. Diese Basis versetzt die
Gesellschaft in die Lage, die materiellen und kulturellen
Bedürfnisse besser zu entwickeln und zu befriedigen als je zuvor.
Doch kann es mit der Kenntnis der Mechanismen von
Manipulation oder Repression, die tief in das Unbewußte des
Menschen eingreifen, nicht sein Bewenden haben. Ich glaube, daß
wir (und ich werde in meiner ganzen Rede von «uns»
sprechen) zu zaghaft gewesen sind, um die wesentlichen, radikalen
Grundzüge einer sozialistischen Gesellschaft, ihren qualitativen
Unterschied zu allen bestehenden Gesellschaften hervorzuheben: den
qualitativen Unterschied, der den Sozialismus tatsächlich zur
Negation der bestehenden Systeme macht, ganz gleich, wie produktiv und
mächtig diese scheinbar oder wirklich sein mögen. Anders
ausgedrückt – und das ist einer von den vielen Punkten, in
denen ich Paul Goodman widersprechen muß –, bestand unser
Fehler nicht darin, daß wir zu anmaßend, sondern, darin,
daß wir zu bescheiden gewesen sind. Wir haben sozusagen einen
Großteil dessen unterdrückt, was wir hätten sagen und
was wir hätten betonen müssen.
Wenn diese wesentlichen, wahrhaft radikalen Grundzüge, die eine
sozialistische Gesellschaft zur förmlichen Negation der
bestehenden Gesellschaften machen, wenn dieser qualitative Unterschied
heute als utopisch, als idealistisch, als metafysisch erscheint, dann
ist das genau die Form, in der diese radikalen Grundzüge
erscheinen müssen, insofern sie wirklich eine entschiedene
Negation der bestehenden Gesellschaft darstellen – das
heißt, insofern der Sozialismus tatsächlich die Sprengung
der Geschichte, der radikale Bruch, der Sprung in das Reich der
Freiheit, also etwas völlig Neues ist.
Das Bewußtsein, wenigstens ein halbes Bewußtsein davon,
daß ein solcher totaler Bruch nötig ist, war in einigen der
großen sozialen Kämpfe unserer Zeit durchaus vorhanden.
Walter Benjamin zitiert Berichte, wonach die Leute während der
Pariser Kommune an allen Ecken der Stadt auf die Uhren von
Kirchtürmen, Palästen usw. geschossen haben. Darin
drückt sich, bewußt oder halbbewußt, das
Bedürfnis aus, die Zeit anzuhalten; zumindest sollte das
herrschende, das etablierte Zeitkontinuum stillstehen und eine neue
Zeit beginnen. Diese Geste unterstreicht den qualitativen Unterschied,
den totalen Bruch zwischen der alten und der neuen Gesellschaft.
In diesem Sinne möchte ich hier mit Ihnen die unterdrückten
Vorbedingungen für eine solche qualitative Veränderung
diskutieren. Ich sage absichtlich «qualitative
Veränderung», nicht «Revolution», weil wir von
zu vielen Revolutionen wissen, die das Kontinuum der Repression nur
aufrechterhalten, das alte Herrschaftssystem durch ein neues ersetzt
haben. Wir müssen uns die wesentlich neuen Grundzüge
bewußt machen, die eine freie Gesellschaft von den bestehenden
Gesellschaften als deren eindeutige Negation unterscheiden, und wir
müssen diese Grundzüge formulieren, ganz gleich, wie
metafysisch, wie utopisch, ich würde sogar sagen: wie
lächerlich das den normalen Menschen aller Lager, auf der Linken
ebenso wie auf der Rechten, erscheinen mag.
Was ist das, die Dialektik der Befreiung, mit der wir uns hier
beschäftigen? Sie bedeutet den Aufbau einer freien Gesellschaft,
einen Aufbau, der in erster Linie davon abhängt, inwieweit die
vitalen Bedürfnisse nach Abschaffung des etablierten Systems der
Knechtschaft sich durchsetzen, und der zweitens – und das ist
entscheidend – bestimmt wird durch das bewußte wie unter-
und unbewußte Streben nach den qualitativ neuen Werten einer
freien menschlichen Existenz. Ohne das Hervortreten solcher neuen
Bedürfnisse und ihrer Befriedigung, die Bedürfnisse und
Befriedigungen freier Menschen, wird jede Veränderung der
gesellschaftlichen Institutionen, ganz gleich, wie weit sie geht, nur
ein System der Knechtschaft durch ein anderes System der Knechtschaft
ersetzen. Auch kann das Auftreten solcher neuen Bedürfnisse und
ihre Befriedigung nicht als bloßes Nebenprodukt, als bloßes
Ergebnis veränderter sozialer Institutionen begriffen werden. Die
Entwicklung neuer Institutionen muß bereits das Werk von Menschen
sein, die neue Bedürfnisse haben. Das ist, nebenbei gesagt, die
Grundidee, die dem Marxschen Begriff vom Proletariat als dem
geschichtlichen Agenten der Revolution zugrunde liegt. Marx betrachtete
das Industrieproletariat nicht nur deshalb als geschichtlichen Agenten
der Revolution, weil es die fundamentale Klasse im materiellen
Prozeß der Produktion darstellte, auch nicht nur, weil es zu
seiner Zeit die Mehrheit der Bevölkerung umfaßte,
sondern vor allem deshalb, weil diese Klasse «frei» von den
repressiven und aggressiven Konkurrenzbedürfnissen der
kapitalistischen Gesellschaft war und deshalb, zumindest potentiell,
zum Träger wesentlich neuer Bedürfnisse, Ziele und
Befriedigungen werden konnte.
Wir können diese Dialektik der Befreiung auch auf
gröbere Weise ausdrücken, nämlich als einen Circulus
vitiosus. Der Übergang von der freiwilligen Knechtschaft, wie sie
im großen Maße in der Überflußgesellschaft
besteht, zur Freiheit setzt die Abschaffung der Institutionen und
Mechanismen der Repression voraus. Aber die Abschaffung der
Institutionen und Mechanismen der Repression setzt ihrerseits die
Befreiung von der Knechtschaft, den Durchbruch des Bedürfnisses
nach Befreiung voraus. Hinsichtlich des Bedürfnisses müssen
wir, meine ich, unterscheiden zwischen dem Bedürfnis nach
Änderung unerträglicher Lebensbedingungen und dem
Bedürfnis nach Änderung der Gesellschaft
schlechthin. Die beiden sind keineswegs identisch, sie stehen
keineswegs in Einklang miteinander. Handelt es sich um das
Bedürfnis nach Veränderung unerträglicher
Lebensbedingungen und besteht zumindest eine vernünftige Chance,
daß sich das innerhalb der bestehenden Gesellschaft erreichen
läßt, auf der Grundlage des Wachstums und des Fortschreitens
der bestehenden Gesellschaft, so haben wir es mit einer bloß
quantitativen Veränderung zu tun. Qualitative Veränderung
hingegen bedeutet Veränderung des Systems im Ganzen.
Diese Unterscheidung zwischen quantitativer und qualitativer
Veränderung ist nicht identisch mit der Differenz zwischen Reform
und Revolution. Quantitative Veränderung kann Revolution bedeuten
und herbeiführen. Aber nur, wenn quantitative und qualitative
Veränderung zusammentreffen, kann man von einer Revolution im
essentiellen Sinne des Sprungs von der Vorgeschichte in die Geschichte
des Menschen sprechen. Mit anderen Worten, das Problem, mit dem wir es
zu tun haben, ist die Frage, wo Quantität in Qualität
umschlagen kann, wo die quantitative Veränderung der Bedingungen
und Institutionen zu einer qualitativen Veränderung werden kann,
die das ganze menschliche Dasein umfaßt.
Heute sind die beiden potentiellen Faktoren der Revolution, die ich
gerade genannt habe, auseinandergerissen. Der erste herrscht in den
unterentwickelten Ländern vor, wo quantitative Veränderung
– sprich: Schaffung humaner Lebensbedingungen – an sich
schon eine qualitative Veränderung darstellt, aber noch nicht zur
vollen Freiheit führen kann. Der zweite potentielle Faktor der
Revolution, die Vorbedingungen der Befreiung, ist in den entwickelten
Industrieländern potentiell gegeben, durch die kapitalistische
Organisation der Gesellschaft aber an die Kette gelegt und pervertiert.
Ich meine, wir stehen vor einer Situation, in der diese entwickelte
kapitalistische Gesellschaft einen Punkt erreicht hat, wo quantitative
Veränderung prinzipiell in qualitative Veränderung, in echte
Befreiung umschlagen kann. Und eben gegen diese wahrhaft bedrohliche
Möglichkeit mobilisiert die Überflußgesellschaft des
entwickelten Kapitalismus an allen Fronten, nach innen wie nach
außen, alle seine Abwehrkräfte.
Ehe ich fortfahre, lassen Sie mich kurz definieren, was
ich unter Überflußgesellschaft verstehe. Als Modell
dafür bietet sich natürlich die heutige amerikanische
Gesellschaft an, obwohl es sich selbst in den USA mehr um eine Tendenz
handelt, die sich noch nicht restlos verwirklicht hat. Vor allem ist
diese Gesellschaft kapitalistisch. Es ist offenbar nötig, daran zu
erinnern; denn selbst auf der Linken gibt es Leute, die glauben,
daß die amerikanische Gesellschaft keine Klassengesellschaft mehr
sei. Ich kann Ihnen versichern: Sie ist eine Klassengesellschaft; sie
ist eine kapitalistische Gesellschaft mit hoher Konzentration an
wirtschaftlicher und politischer Macht; mit einem groß und
größer werdenden Sektor der Automation und der Koordinierung
von Produktion, Distribution und Kommunikation; mit vollem Privatbesitz
an den Produktionsmitteln, der allerdings durch immer aktivere und
umfassendere Eingriffe der Regierung gestützt werden muß. Es
ist eine Gesellschaft, in der, wie schon erwähnt, die materiellen
wie die kulturellen Bedürfnisse der Massen in größerem
Maße als je zuvor befriedigt werden – allerdings nur,
soweit das die Bedürfnisse und Interessen des Apparats und der
Mächte, die ihn beherrschen, erlauben. Es ist ferner eine
Gesellschaft, deren Wachstum von zunehmender Verschwendung, geplanter
Obsoleszenz und Zerstörung abhängt, während die
Unterschicht der Bevölkerung weiterhin in Armut und Elend lebt.
Ich glaube, daß ein innerer Zusammenhang zwischen diesen Faktoren
besteht, daß sie das Syndrom des Spätkapitalismus bilden:
die offenbar untrennbare Einheit nämlich – untrennbar
für das System – von Produktivität und Destruktion, von
Bedürfnisbefriedigung und Repression, von Freiheit innerhalb eines
Systems der Knechtschaft, das heißt, die Unterwerfung des
Menschen unter den Apparat und die untrennbare Einheit von Rationalem
und Irrationalem. Wir können sagen: die Rationalität dieser
Gesellschaft liegt gerade in ihrem Irrsinn, und dieser Irrsinn ist in
dem Maße rational, in dem er leistungsfähig ist, in dem er
liefert, was ihm abverlangt wird.
Nun stellt sich die Frage: Wozu sollten wir uns von dieser Gesellschaft
befreien, wenn sie doch allem Anschein nach fähig ist – wenn
auch vielleicht erst in ferner Zukunft –, die Armut in einem
größeren Maße zu überwinden als je zuvor, die
Mühsal der Arbeit und die Arbeitszeit zu reduzieren und den
Lebensstandard zu erhöhen? Wenn doch der Preis dieser komfortablen
Knechtschaft, für alle ihre Errungenschaften, von Menschen gezahlt
werden muß, die weit von der Metropole und weit von ihrem
Überfluß entfernt sind? Wenn doch die
Überflußgesellschaft selbst kaum Notiz nimmt von dem, was sie tut,
was sie an Terror und Versklavung bewirkt und wie verbissen sie an
allen Ecken der Welt gegen die Befreiung kämpft?
Wir kennen die traditionelle Schwäche emotionaler, moralischer und
humanitärer Argumente angesichts derartiger technologischer
Leistungen, angesichts der irrationalen Rationalität einer
derartigen Macht. Argumente dieser Art richten nicht viel aus gegen die
kruden – um nicht zu sagen: brutalen – Fakten der
Gesellschaft und ihrer Produktivität. Und doch ist es allein das
Bestehen auf den realen Möglichkeiten einer freien Gesellschaft,
die von der Überflußgesellschaft blockiert werden –
ist es allein diese Zielbewußtheit in der Praxis wie in der
Theorie, in der Demonstration wie in der Diskussion, was die
völlige Degradierung des Menschen zum Objekt oder vielmehr zum
Subjekt/Objekt der totalen Verwaltung bisher verhindert hat. Und es ist
dieser beharrliche Widerstand, der die fortschreitende Brutalisierung
und geistige Verkrüppelung des Menschen aufgehalten hat. Denn der
kapitalistische Wohlfahrtsstaat ist in seinem Kern ein
Rüstungsstaat. Er braucht einen Feind, einen totalen Feind; denn
die Perpetuierung der Knechtschaft, die Perpetuierung des
erbärmlichen Existenzkampfes gerade angesichts der
neuen Möglichkeiten von Freiheit aktiviert und intensiviert in
dieser Gesellschaft eine elementare Aggressivität, die wohl noch
nie in der Geschichte ein solches Ausmaß erreicht hat. Diese
elementare Aggressivität muß in gesellschaftlich
nützliche Bahnen gelenkt werden, sonst sprengt sie das System.
Deshalb die Notwendigkeit eines Feindes, der, wenn er nicht existiert,
geschaffen werden muß. Zum Glück hat das System einen
solchen Feind. Aber sein Bild und seine Macht müssen in dieser
Gesellschaft zur Übergröße aufgebläht werden,
damit man in der Lage ist, die Aggressivität der
Überflußgesellschaft sozialadäquat zu kanalisieren.
Das Ergebnis ist ein verstümmeltes, verkrüppeltes und
frustriertes Menschenwesen, das wie besessen seine eigene Knechtschaft
verteidigt.
Wir können die fatale Situation, der wir ausgesetzt sind,
zusammenfassen. Eine radikale Veränderung der Gesellschaft ist
objektiv notwendig, und zwar in dem doppelten Sinne, daß sie die
einzige Chance ist, die Möglichkeiten menschlicher Freiheit zu
bewahren und die technischen und materiellen Ressourcen für die
Realisierung von Freiheit verfügbar zu machen. Während diese
objektive Notwendigkeit nachweisbar besteht, ist das subjektive
Bedürfnis nach einer solchen Veränderung jedoch nur bei einer
Minderheit vorhanden. Es herrscht insbesondere nicht bei jenen Teilen
der Bevölkerung, die traditionsgemäß als Agenten der
historischen Veränderung betrachtet werden. Das subjektive
Bedürfnis ist verdrängt, und zwar wiederum aus doppeltem
Grund: erstens dank der tatsächlichen Befriedigung von
Bedürfnissen, zweitens durch eine massive wissenschaftliche
Manipulation und Administrierung von Bedürfnissen – das
heißt, durch eine systematische Kontrolle der Gesellschaft nicht
nur über das Bewußtsein, sondern auch über das
Unbewußte des Menschen. Diese Kontrolle ist gerade durch die
Leistungen der großartigsten, Freiheit schaffenden Wissenschaften
unserer Zeit ermöglicht worden, in der Psychologie vor allem durch
die Psychoanalyse und die Psychiatrie. Daß sie zugleich zu
mächtigen Instrumenten der Unterdrückung werden konnten und
geworden sind, ist wiederum einer von den schrecklichen Aspekten der
Dialektik der Befreiung.
Diese Divergenz zwischen der objektiven Notwendigkeit, und dem
subjektiven Bedürfnis verändert, meine ich, die Basis, die
Aussichten und die Strategie der Befreiung. Diese Situation macht das
Sichtbarwerden neuer Bedürfnisse zur Voraussetzung, die qualitativ
anders sind als die vorherrschenden aggressiven und repressiven
Bedürfnisse, ja sogar in Gegensatz zu diesen stehen: das
Hervortreten eines neuen Menschentyps mit vitalen, biologischen
Antrieben in Richtung auf die Freiheit und mit einem Bewußtsein,
das in der Lage ist, den materiellen wie den ideologischen Schein der
Überflußgesellschaft zu durchstoßen. Mit anderen Worten,
jede mögliche Befreiung hängt heute offensichtlich ab von der
Erschließung und Aktivierung einer Tiefendimension der
menschlichen Existenz, die diesseits und unterhalb der traditionellen
materiellen Basis besteht: keine idealistische Dimension über und
oberhalb der materiellen Basis, sondern eine Dimension, die noch
materieller ist als die «materielle Basis». Ich werde
gleich verdeutlichen, was ich damit meine.
Von dieser Dimension sprechen, heißt nicht, Politik durch
Psychologie ersetzen. Im Gegenteil, es heißt, sich endlich
klarmachen, daß die Gesellschaft bis in die tiefsten Grundlagen
des individuellen Seins, selbst in das Unbewußte des Menschen,
eingedrungen ist. Wir müssen die Grundlagen der Gesellschaft in
den Individuen selbst aufsuchen, in den Individuen, die infolge des
herrschenden sozialtechnischen Drucks das Kontinuum der Repression
reproduzieren, auch durch die bisherigen Revolutionen hindurch.
Die nötigen Veränderungen können sich somit nicht auf
ideologische Fragen beschränken. Sie ergeben sich aus der
tatsächlichen Entwicklung einer Industriegesellschaft. Diese
Gesellschaft hat Faktoren eingeführt, von denen unsere Theorie
früher keine Notiz zu nehmen brauchte. Sie ergeben sich aus dem
ungeheuren Wachstum der materiellen und technischen Produktivität,
das die traditionellen Ziele und Vorbedingungen von Befreiung
übertroffen und überholt hat.
Hier stehen wir vor der Frage: Ist die Befreiung von der
Überflußgesellschaft identisch mit dem Übergang vom
Kapitalismus zum Sozialismus? Als Antwort möchte ich vorschlagen:
Sie ist nicht damit identisch, sofern man Sozialismus lediglich als
planmäßige Entwicklung der Produktivkräfte und als
Rationalisierung der Ressourcen definiert (mag dies auch weiterhin eine
Vorbedingung für jede Befreiung bleiben). Befreiung ist nur dann
identisch mit dem Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, wenn
man den Sozialismus in seinem utopischsten Sinn definiert; nämlich
als Abschaffung der Arbeit, als Beendigung des Existenzkampfes
– was bedeutet, daß das Leben seinen Zweck in sich selbst
hat und nicht mehr ein Mittel zum Zweck ist – und als Freisetzung
der menschlichen Sensibilität und Sensitivität, die damit zur
umwälzenden Kraft wird, nicht als privater Faktor, sondern als
Produktivkraft zur Umgestaltung der menschlichen Existenz und ihrer
Umwelt. Der Sensitivität und Sensibilität zu ihrem Recht zu
verhelfen, das ist für meine Begriffe ein Grundziel des integren
Sozialismus. Damit ist ein qualitativer Grundzug der freien
Gesellschaft gegeben. Er setzt, wie Sie bereits erkannt haben werden,
eine völlige Umwertung der Werte voraus, eine neue Anthropologie.
Er setzt einen neuen Typ des Menschen voraus, der das Leistungsprinzip
der etablierten Gesellschaften ablehnt – einen Menschentyp, der
sich von der Aggressivität und Brutalität, die der
Organisation der bestehenden Gesellschaft innewohnen, und ihrer
heuchlerischen, puritanischen Moral freigemacht hat, einen Menschentyp,
der biologisch unfähig ist, Kriege zu führen und Leiden zu
schaffen, der eine klare Vorstellung hat von Freude und Lust und der
als einzelner wie zusammen mit anderen daran arbeitet, eine soziale und
natürliche Umwelt zu schaffen, in der eine solche Existenz
möglich wird.
Die Dialektik der Befreiung als Umschlag von Quantität in
Qualität impliziert also einen Bruch im Kontinuum der Repression,
der bis in die Tiefe des Organismus hineinreicht. Wir könnten auch
sagen, qualitative Veränderung, Befreiung impliziert heute
organische, triebstrukturelle, biologische Veränderungen
gleichzeitig mit den politischen und gesellschaftlichen
Veränderungen.
Die neuen Bedürfnisse und Befriedigungen haben eine ausgesprochen
materielle Basis, wie schon gesagt. Sie sind nicht aus der Luft
gegriffen, sondern sie ergeben sich logisch aus den technischen,
materiellen und geistigen Möglichkeiten der entwickelten
Industriegesellschaft. Sie sind mit der Produktivität einer
entwickelten Industriegesellschaft gegeben, und sie sind der wahre
Ausdruck einer Gesellschaft, die jede Art von Askese, die gesamte
Arbeitsdisziplin, auf der die jüdisch-christliche Moral beruht,
seit langem zum Anachronismus gemacht hat.
Warum muß diese Gesellschaft den herkömmlichen Menschentyp
und seine Daseinsform hinter sich lassen und ebenso negieren wie die
Moral, der sie einen Gutteil ihrer Ursprünge und Grundlagen
verdankt? Diese neue, unerhörte und nicht vorausgesehene
Produktivität läßt die Vorstellung von einer
Technologie der Befreiung zu. Ich kann hier nur kurz andeuten, was ich
damit meine: solche fantastischen und in der Tat eindeutig utopischen
Tendenzen wie die Konvergenz von Technik und Kunst, die Konvergenz von
Arbeit und Spiel, die Konvergenz von dem Reich der Notwendigkeit und
dem Reich der Freiheit. Nicht mehr dem Diktat des kapitalistischen
Profitstrebens und seiner Rentabilität unterworfen, nicht mehr dem
Diktat des Mangels, der von der kapitalistischen Gesellschaftsordnung
unaufhörlich reproduziert wird, würde und könnte die
gesellschaftlich notwendige Arbeit, die materielle Produktion sich
zunehmend verwissenschaftlichen (die Tendenz dazu ist bereits
erkennbar). Technisches Experimentieren, Wissenschaft und Technologie
würden und könnten zum Spiel mit den bisher verborgenen
– systematisch versteckten und blockierten –
Möglichkeiten von Gesellschaft und Natur werden.
Darin kommt einer der ältesten Träume aller radikalen Theorie
und Praxis zu sich selbst. Damit würde die schöpferische
Fantasie und nicht nur die Rationalität des Leistungsprinzips zur
Produktivkraft für die Umformung der sozialen und naturgegebenen
Welt. Es käme eine Realität auf, die das Werk und das Medium
der sich entwickelnden Sensibilität und Sensitivität des
Menschen wäre.
Und auf die Gefahr hin, daß man mich auslacht, füge ich
hinzu: Es wäre dies eine «ästhetische»
Realität – die Gesellschaft als Kunstwerk. Das ist heute die
größte Utopie, die radikalste Möglichkeit von Befreiung.
Was heißt das, konkret ausgedrückt? Wie gesagt, es geht hier
nicht um private Sensitivität und Sensibilität, sondern um
Sensitivität und Sensibilität, schöpferische Fantasie
und Spielfähigkeit als Produktivkräfte zur Transformation der
Gesellschaft. Als solche würden sie zum völligen Um- und
Neubau unserer Städte und zur Wiederherstellung des freien Landes
führen; zur Wiedergewinnung der Natur, nachdem die technologische
Gewalt verschwunden und die destruktive Macht der kapitalistischen
Industrialisierung gebrochen sein wird; zur Schaffung eines inneren und
äußeren Spielraums der Stille, der individuellen Autonomie
und Gelassenheit; zur Beseitigung des Lärms, der kulturellen
Hörigkeit, der zwanghaften Haufenbildung, des Schmutzes und der
Häßlichkeit. Das sind keineswegs snobistische und
romantische Forderungen. Die Biologen haben inzwischen erkannt,
daß es sich hier um tiefwurzelnde Bedürfnisse des
menschlichen Organismus handelt, deren Verdrängung, Entstellung
und Unterdrückung durch die kapitalistische Gesellschaft den
menschlichen Organismus buchstäblich verstümmelt, und zwar
nicht nur im übertragenen, sondern in einem ganz realen und
wortwörtlichen Sinn.
Ich glaube, nur in einer so verstandenen Welt kann der Mensch wirklich
frei sein, können sich wirklich menschliche Beziehungen zwischen
freien Wesen durchsetzen. Ich glaube, auch Marx ließ sich in
seiner Konzeption des Sozialismus von der Vorstellung einer solchen
Welt leiten. Diese ästhetischen Bedürfnisse und Ziele
müssen aber von Anfang an für den Umbau der Gesellschaft
bestimmend sein, nicht erst am Schluß oder in der fernen Zukunft.
Sonst gingen die alten Bedürfnisse und Befriedigungen, die eine
repressive Gesellschaft reproduzieren, in die neue Gesellschaft
unverändert ein. Repressive Menschen würden ihre eigene
Repression in die neue Gesellschaft einschleppen.
Wie sollen sich aber nun jene qualitativ neuen Bedürfnisse und
Ziele als organische, biologische Bedürfnisse und Ziele entfalten?
Handelt es sich dabei wirklich um reale Ziele oder nur um beliebig
gesetzte Wertvorstellungen? Wie kann man sich die Entfaltung dieser
Bedürfnisse und Wünsche innerhalb und entgegen der
bestehenden Gesellschaft vorstellen – das heißt, vor der
Befreiung? Das ist die Dialektik, von der ich ausgegangen bin:
daß wir uns nämlich strenggenommen freimachen müssen,
bevor wir eine freie Gesellschaft schaffen können.
Überflüssig zu sagen, die Zersetzung des bestehenden Systems
ist die Vorbedingung jeder derartigen qualitativen Veränderung. Je
besser aber der Repressionsapparat der Überflußgesellschaft
funktioniert, desto weniger Wahrscheinlichkeit besteht für einen
allmählichen Übergang von der Knechtschaft zur Freiheit. Das
Faktum, daß wir heute keine spezifische Klasse oder spezifische
Gruppe als revolutionäre Kraft nachweisen können, entlastet
uns nicht von der Verpflichtung, alle, aber auch alle
Möglichkeiten und Verfahren zu benutzen, um die Mechanismen der
Repression in jedem Individuum lahmzulegen. Die Ausdehnung der
potentiellen Opposition auf die gesamte Basisbevölkerung
entspricht genau dem totalitären Charakter der entwickelten
kapitalistischen Gesellschaft. Die inneren Widersprüche des
Systems sind heute größer denn je zuvor. Die starke
Expansion des kapitalistischen Imperialismus wird sie wahrscheinlich
noch verschärfen. Ich meine nicht nur den allgemeinsten
Widerspruch zwischen dem kolossalen Reichtum der Gesellschaft auf der
einen und der destruktiven, aggressiven und verschwenderischen
Verwendung dieses Reichtums auf der anderen Seite – sondern
weitaus konkretere Widersprüche wie die Notwendigkeit, zu
automatisieren, die ständige Reduzierung des menschlichen Anteils
an der fysischen Arbeitsleistung in der materiellen Reproduktion der
Gesellschaft und damit die Tendenz zur Austrocknung der Quellen des
Mehrwerts, schließlich die Gefahr der technologischen
Arbeitslosigkeit, die selbst eine Gesellschaft im größten
Überfluß nicht mehr durch die Erzeugung von zunehmend
parasitärer und unproduktiver Arbeit kompensieren kann: alle diese
Widersprüche existieren. Als Reaktion darauf werden womöglich
auch Unterdrückung, Manipulation und Integration gesteigert werden.
Gleichwohl kann und muß der Boden für eine künftige
Befreiung vorbereitet werden. Die Verkümmerung des
Bewußtseins und der Triebe muß durchbrochen werden. Eine
Ahnung und ein Bewußtsein von den neuen, über das System
hinausweisenden, antagonistischen. Werten gibt es bereits, besonders
bei den noch nicht integrierten Gesellschaftsgruppen und bei jenen, die
kraft ihrer privilegierten Position den ideologischen und materiellen
Schleier der Massenmedien und der Indoktrination durchstoßen
können: der Intelligenz.
Wir wissen, daß sich in der Arbeiterbewegung von Anfang an ein
verhängnisvolles Vorurteil gegen die Intellektuellen als
Katalysatoren der historischen Veränderung durchgesetzt hat. Es
ist an der Zeit, die Frage zu stellen, ob dieses Vorurteil gegen die
Intellektuellen und deren daraus entspringendes
Minderwertigkeitsgefühl nicht ein wesentlicher Faktor in der
Entwicklung der kapitalistischen wie der sozialistischen Gesellschaften
und in der Entwicklung und Schwächung der Opposition gegen diese
Gesellschaften gewesen ist. Die Intellektuellen haben gemeinhin
versucht, die anderen an der Basis zu organisieren. Dagegen haben sie
keinen Gebrauch von der naheliegenden Möglichkeit gemacht, sich
selbst zu organisieren – nicht nur auf regionaler, nicht nur auf
nationaler, sondern auf internationaler Ebene. Das ist nach meiner
Ansicht heute eine ihrer vordringlichsten Aufgaben. Können wir
sagen, die Intelligenz sei zum Agenten der historischen
Veränderung geworden? Können wir sagen, die Intelligenz sei
heute eine revolutionäre Klasse? Nein, das können wir nicht
sagen. Aber wir können feststellen, daß die Intellektuellen
eine entscheidende Funktion als Wegbereiter haben, nicht mehr und nicht
weniger als das. Für sich sind sie keine revolutionäre Klasse
und können es auch nicht sein, aber sie können zum
Katalysator werden, heute vielleicht mehr denn. Denn – und auch
dafür haben wir eine sehr materielle und sehr konkrete Basis
– aus dieser Gruppe werden die Inhaber entscheidender Positionen
im Produktionsprozeß kommen, zukünftig sogar noch mehr als
bisher. Ich verweise auf die zunehmende Verwissenschaftlichung des
materiellen Prozesses der Produktion, durch den die Rolle der
Intelligenz sich verändert. Aus dieser Gruppe rekrutieren sich
Wissenschaftler, Techniker, Ingenieure, sogar Psychologen – denn
die Psychologie ist und bleibt ein gesellschaftlich notwendiges
Instrument, sei es im Dienste der Knechtschaft oder der Befreiung.
Man hat diese Intelligenz als eine neue Arbeiterklasse bezeichnet. Ich
halte diese Charakteristik mindestens für voreilig. Diese Leute
sind heute die gehätschelten Pfründner des etablierten
Systems. Sie befinden sich andererseits jedoch an der Wurzel des
klaffenden Widerspruchs zwischen den befreienden Möglichkeiten der
Wissenschaft und ihrem repressiven und versklavenden Gebrauch. Diesen
verdrängten und verschleierten Widerspruch aufzudecken, ihn als
Katalysator der Veränderung zu mobilisieren, das ist eine der
Hauptaufgaben der heutigen Opposition, und zwar eine wesentlich
politische Aufgabe.
Unsere Aufgabe ist Aufklärung, aber Aufklärung in einem neuen
Sinn. Als Verbindung von Theorie und Praxis, und zwar politischer
Praxis, ist Erziehung heute mehr als Diskussion, mehr als bloßes
Lehren und Lernen und Schreiben. Solange sie nicht über das
College, die Schule, die Universität hinausgeht, wird sie machtlos
bleiben. Erziehung muß heute Geist und Körper, Vernunft und
Fantasie, die Bedürfnisse des Intellekts und der Triebe
einbegreifen; denn unsere gesamte Existenz ist zum Subjekt/Objekt der
Politik, der Sozialtechnik geworden. Es handelt sich nicht um die
Frage, ob wir die Schulen und Universitäten, ob wir das
Bildungssystem politisieren sollen. Das Bildungssystem ist bereits
durch und durch politisiert. Ich brauche bloß daran zu erinnern,
in welch unglaublichem Maße die Universitäten – ich
spreche von den USA – an riesigen Forschungsaufträgen der
Regierung und verschiedener halbamtlicher Stellen beteiligt sind; was
das heißt, werden Sie aus eigener Erfahrung wissen.
Das Bildungssystem ist politisch, und deshalb sind nicht wir es, die es
politisieren wollen. Was wir wollen, ist eine Gegenpolitik zur
herrschenden Politik. Und in diesem Sinne müssen wir dieser
Gesellschaft auf dem Boden ihrer eigenen totalen Mobilisierung
begegnen. Wir müssen die Indoktrination zur Knechtschaft mit der
Indoktrination zur Freiheit konfrontieren. Jeder von uns muß in
sich selbst und in anderen das Triebbedürfnis nach einem Leben
ohne Angst, ohne Brutalität und ohne Stumpfsinn wecken. Wir
müssen alle triebhaften und intellektuellen Kräfte aufbieten
gegen die vorherrschenden Werte einer Gesellschaft im
Überfluß, die überall Aggressivität und
Unterdrückung verbreitet.
Bevor ich schließe, möchte ich, wie praktisch jeder hier das
getan hat, mein Sprüchlein zu den Hippies sagen. Ich nehme sie
ernst. Ihre Existenz könnte uns Aufschluß geben
darüber, was es heißt, daß sich gegen die Werte der
Überflußgesellschaft neue Triebbedürfnisse durchsetzen
müssen. Allerdings scheint mir, daß die Hippies, wie jede
nonkonformistische Bewegung der Linken, gespalten sind. Es gibt bei
ihnen zwei Teile, zwei Parteien, zwei Tendenzen. Vieles ist nur
Maskerade und Clownerie auf privater Ebene und deshalb, wie Gerassi
sagte, völlig harmlos, manchmal sehr nett und reizend, aber nicht
mehr als das. Doch ist das nicht alles. Denn bei den Hippies und vor
allem bei Strömungen unter ihnen wie den Diggers und Provos gibt
es ein politisches Element – in den USA vielleicht sogar noch
mehr als hier. Mit ihnen tauchen tatsächlich neue
Triebbedürfnisse und Werte auf. Diese Erfahrung gibt es. Da ist
eine neue Sensibilität gegenüber leistungsfixierter und
wahnsinniger Vernunft. Da ist die Weigerung, sich nach den Spielregeln
eines erstarrten Spiels zu richten, das, wie wir wissen, von Anfang an
erstarrt gewesen ist. Und da ist die Revolte gegen die zwanghafte
Sauberkeit der Puritanermoral und die Aggression, die von ihr erzeugt
wird, wie wir es heute nicht nur in Vietnam erleben.
Zumindest dieser Teil der Hippies, der die Rebellion auf sexuellem,
moralischem, und politischem Gebiet in sich vereinigt, demonstriert in
der Tat eine nicht-aggressive Lebensform: eine aggressive
Nicht-Aggressivität, die uns zumindest potentiell qualitativ
andere Werte, eine Umwertung der Werte, vor Augen führen kann.
Alle Bildung ist heute Therapie – Therapie im Sinne der Befreiung
des Menschen mit allen erreichbaren Mitteln: Befreiung von einer
Gesellschaft, die ihn früher oder später zum Barbaren werden
läßt, auch wenn er das gar nicht mehr merkt. Bildung in
diesem Sinne ist Therapie, und alle Therapie ist heute identisch mit
politischer Theorie und Praxis. Welcher Art von politischer Praxis? Das
kommt völlig auf die Situation an. Es ist kaum vorstellbar,
daß wir das hier im einzelnen diskutieren können. Ich will
nur an die zahlreichen Möglichkeiten der Demonstration erinnern,
an das Aufspüren flexibler Demonstrationstaktiken, die der
institutionalisierten Gewalt gewachsen sind, an Boykott und vieles
andere – alles kommt in Frage, was eine begründete Aussicht
hat, die Kräfte der Opposition zu stärken.
Als Erzieher, als Studenten können wir den Boden dafür
bereiten. Noch einmal: Unsere Rolle ist begrenzt. Wir sind keine
Massenbewegung. Ich glaube auch nicht, daß wir in nächster
Zeit eine solche Bewegung erleben werden.
Ich bin bei diesen Überlegungen nicht auf die Dritte Welt
eingegangen, weil mein Thema auf die Befreiung von der
Überflußgesellschaft begrenzt war. Ich stimme mit Paul Sweezy
völlig darin überein, daß die
Überflußgesellschaft im Zusammenhang mit der Dritten Welt
gesehen werden muß. Ich glaube aber, daß wir den Akzent
unserer Arbeit auf die entwickelten Industriegesellschaften legen
müssen – wobei wir nichts unterlassen sollten, um
theoretisch wie praktisch den Befreiungskampf in den neokolonialen
Ländern zu unterstützen, die zwar nicht die Vollstrecker der
Freiheit sein werden, aber doch ihren Teil – und zwar einen
beträchtlichen Teil – zur potentiellen Schwächung und
Zersetzung des imperialistischen Weltsystems beitragen.
Unsere Rolle als Intellektuelle ist begrenzt. Auf keinen Fall
dürfen wir uns irgendwelchen Illusionen hingeben. Schlimmer
wäre es aber noch, wir würden dem Defätismus verfallen,
der überall wahrzunehmen ist. Wir kommen nicht daran vorbei, die
Rolle von Wegbereitern zu spielen. In dieser Rolle rächt sich jede
Illusion; aber noch schwerer rächt sich jeder, auch der geringste
Anflug von Defätismus.
Rede gehalten auf dem "Dialects of Liberation"-Kongreß in London, der vom 15. bis 30. Juli 1967 stattfand.
