Keine Anerkennung russischer Staatsräson durch den Imperialismus:
Wofür ein Chodorkowski gut ist
Auf der einen Seite verlangt der »freie Westen« von Rußland die Bekämpfung der Korruption, auf der anderen Seite hat er etwas dagegen, wenn Rußland genau das tut. Auf der einen Seite verlangt er von Rußland rechtsstaatliches Vorgehen, auf der anderen Seite ist es ihm nicht recht, wenn Rußland seinen Rechtsstaat unter Beweis stellt. Dann spricht er von einem »politischen« Prozeß. Die Auflösung dieser Widersprüche findet sich im Interesse an und gegen Rußland: Der Rechtsstaat möge nicht Ausfluß einer souveränen Gewalt, also ihre national unabhängige Formgebung in Ge- und Verboten sein, vielmehr soll er sich als Maßstab des »freien Westens« in Szene setzen. Die Bekämpfung von Korruption soll also noch viel politischer verstanden werden, als Rußland das tut, indem es sich den imperialistischen Maßstäben als Einmischungstitel verweigert.
Im Falle Rußlands haben seine westlichen Feindstaaten - und das begleitet ihre Feindschaft - den grundlegenden Vorbehalt, daß es das Kapital - wiewohl die Wirklichkeit eine andere Sprache spricht - nicht zum obersten Zweck der Staatsräson gemacht hat. Zwar möchte man nicht allzu offen aussprechen, daß ein Rechtsstaat Kapitalisten, als Wirtschaftskriminelle dingfest gemacht,
billig davonkommen zu lassen, wenn nicht sogar freizusprechen hat, wie es eine kapitalistische Staatsräson westlicher Art regelmäßig vorexerziert. Doch hinweisen möchte man anhand des Urteils schon darauf, daß es Rußland an einer wirklich kapitalistischen Staatsräson gebricht.
Rußland verlangt seinen Kapitalisten eine nationale Verantwortung ab, die sich
- ganz wie im Westen - von selber verstehen soll und im wesentlichen auch kann. Doch eben das nimmt der »freie Westen« Rußland nicht ab, weil er sich prinzipiell nicht mit der nationalen Konkurrenz, die Rußland darstellt, arrangieren will. Daß er das nichtdestotrotz muß - hauptsächlich wegen der nötigen Erdöl- und Erdgaslieferungen und des westlichen Investments in Rußland -, ist ein bleibendes Ärgernis. Gerade die BRD samt ihrem EU-Projekt und mit ihrer - aller Abschaffung des Realsoz zum Hohn - ihr Lieblingsfeindbild pflegenden Öffentlichkeit denkt da überaus strategisch, wenn es Rußland den kapitalistischen Aufstieg in der Rangordnung der Staaten im allgemeinen und als einzig verbliebene europäische Konkurrenz im besonderen verbauen will. Daran basteln seit 2008 EU-Funktionäre, die in »umfassenden [!] Verhandlungen« mit Rußland diesen Staat einmal mehr weichzuklopfen versuchen. Dafür taugt ihr ein Chodorkowski, der seine große, auf Kapital fußende, zu Kopf gestiegene Freiheit dazu genutzt hat, einer nationalen Verantwortung eben nicht nachkommen zu wollen. Was ihn im Westen so sympathisch gemacht hat, in ihm einen Vorkämpfer eigener Interessen dort zu sehen. Daß im »freien Westen« einer desto besser ankommt, je mehr er sich als selbst stilisierender Gockel aufplustert, ist ja nun wirklich nichts Neues. Sonja Zekri von der Süddeutschen Zeitung hat Chodorkowski in eine Reihe mit Nedschajew, Bakunin, Sacharow und Solschenizyn gestellt (11.12.10), was gar nicht abwegig ist: Eine wortschäumende Wirrnis gehört zu einem solchen Wichtigtuer einfach dazu.
(30.12.10)

zum Jukos-Prozeß (GegenStandpunkt 4-2003)
Дело ЮКОСа