"Indiens später Aufschwung"*
Indien ist schwer im Kommen. Politisch ein Faktor schon seit 1947, aber ökonomisch jetzt auch!
Das gibt dem Imperialismus, speziell natürlich dem deutschen
Exportweltmeister schwer zu denken: Schließlich will man einmal
mehr die Nase vorne haben, wenn es darum geht, dieses enorme Potenzial
an "Menschen" oder sagen wir gleich: an "Markt" zu nutzen: Denn der
Nutzen für uns, so will es imperialistische Ideologie, sei natürlich auch das Beste für Indien und seine Menschenmassen.
Es versteht sich fast von selbst, daß diese
zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt den eingeschlagenen Weg
der wirtschaftlichen Öffnung fortsetzen soll.** Das ist nicht
leicht, zumal die Regierung nicht einmal eine gescheite Mehrheit im
Parlament habe und auf die Unterstützung zweier kommunistischer
Parteien angewiesen sei, also auch irgendwie soziale Belange zu
berücksichtigen habe (z.B. mit einer nationalen
Arbeitslosenversicherung für die Landbevölkerung). Dazu
käme natürlich eine gewisse Korruption aufgrund
ausgeprägten Lobbyismus'. Der "Markt" sei immer noch stark
reglementiert und der öffentliche Sektor dominiere in zahlreichen
Wirtschaftsbereichen. Der Privatisierungsprozeß sei in vielen
Bereichen aufgrund kommunistischen Einflusses(!) ins Stocken geraten.
Wer so daherredet, für den ist völlig klar, daß er als
Vertreter deutschen Kapitalinteresses weiß, was das Beste
für Indien wäre.
Aber das ist noch nicht alles. Es wird eine "geringe
außenwirtschaftliche Verflechtung" konstatiert; mit dem Abbau von
nach wie vor hohen Zöllen und einer Ausweitung von
Handelsabkommmen mit vielen asiatischen Staaten habe die Regierung
jedoch den richtigen Weg eingeschlagen und müsse den weiter
vorantreiben. Das gleiche gelte für sogenannte
"Kapitalverkehrsbeschränkungen", was die Direktinvestitionen
behindere. Gerade Indien habe ja einen immensen Nachholbedarf in Sachen
Infrastruktur! Wenn an der Beseitigung von
Energie-Versorgungsengpässen und von
Verkehrswegemängeln allein schon deshalb irrer Bedarf bestehe
(Indien will 64.000 km Autobahnen bauen, die 60 größten
Städte wollen U-Bahnen, außerdem sind 400 neue
Townships à 500.000 Einwohner projektiert), weil die
Entwicklung Indiens nicht mehr aufzuhalten sei [das ist vielleicht eine Logik!],
dann möchte sich das deutsche Kapital daran natürlich dumm
& dämlich verdienen - oder sollte man an dieser Stelle dann
doch lieber noch den diplomatisch-ideologischen Begriff
"Entwicklungshilfe" strapazieren? Wozu eigentlich?
Doch nicht nur die Infrastruktur, auch der Industriesektor ist
zurückgeblieben. Das mutet einem deutschen Durchblicker keineswegs
seltsam an: Er stellt fest, daß dies auf einen "Wust rechtlicher
Vorschriften zur Gründung von Industrieunternehmen und allgemein
auf die ausufernde Bürokratie zurückzuführen" sei.
Hinzu käme natürlich die "weitreichende Regulierung des
Arbeitsmarktes u.a. durch einen staatlichen Mindestlohn [60 Rupien -
ca. 1,50 Euro/Tag und nur für ein Familienmitglied, was der
deutsche Kapitalideologe natürlich nicht erwähnen mag!]
und umfangreichen Kündigungsschutz." Kein Wunder, daß das
den Unternehmen die erforderliche "Flexibilität" raube!
Blöderweise nähme die große Mehrheit der
Bevölkerung auch (noch) nicht am "Wirtschaftskreislauf" teil -
einer Mittelschicht von ca. 30 Millionen stünden über eine
Milliarde Arme und Ärmste gegenüber! Auf deutsch: Die
eingeschlagene Wirtschaftspolitik solle & müsse noch viel,
viel konsequenter, radikaler durchgeführt werden.
Schuldknechtschaft und Kastensystem - 160 Millionen zählen allein
zu den "Unberührbaren" -, Scheiß drauf, wer will, der ziehe
bekanntlich seinen Kopf höchstselbst aus dem Schlamassel! Die
Arbeitskräfte im IT-Bereich, die zwar erst 5 % des
Dienstleistungssektors ausmachten, würden es ja vormachen. Werfen wir
also einen Blick aufs "Humankapital". Die Regierung verstärke die
Alfabetisierungsanstrengungen. Aber viel mehr interessiert uns das
in vielen Bereichen sehr gute ausgebildete, durchwegs englischsprachige
Fachpersonal: Indien werfe jährlich 500.000 Informatiker,
Techniker und Ingenieure auf den Markt - was wollten "Investoren"
eigentlich mehr? Genau das nämlich: Die Produktionskosten seien
unüberbietbar niedrig, weil Indien jedes Jahr 15 Millionen Leute
neu auf den Arbeitsmarkt brächte, die sich auf Vishnu-komm-raus
verdingen müßten. Die demografische Entwicklung - ein
Drittel der Einwohner unter 15 Jahren - spräche so also für
Indien! Natürlich nur, wenn die Inder das auch so sehen wollten
wie wir! Ansonsten blieben die
"Probleme", nämlich die: Landflucht, Slums (ca. 160 Millionen
leben in solchen) und last not least HIV-Erkrankungen (10 Millionen
geschätzt) - sind jene nicht eine Chance für unsere
Farmaindustrie? Klar, in der WTO müssen wir
bei diesem Thema speziell und bei anderen obendrein weiterkommen,
Indien dürfe nicht länger blockieren (Indien zählt als
Wortführer zu den G20, den Gegenspielern der Imperialisten, bei
den ausgesetzten WTO-Verhandlungen)!
Aber ob allem ist Indien ja auch eine Demokratie, welche als
Stabilitätsfaktor gewertet werden müsse. Die eingeschlagenen
Reformen seien nämlich immerhin "demokratisch legitimiert"!
Daß halbe wie ganze Analfabeten genau dafür nützlich
sind, wollen wir dann doch
wirklich nicht vergessen. Gegebenenfalls lassen die sich sogar mal in
einen Aufstand gegen die kommunistische Regierung von Bengal
(West-Bengalen) hetzen. Völlig verfehlt freilich sei es, wenn die
Kommunisten jene zu einem Aufstand gegen den Discounter Wal-Mart
bewegen würden - dann müßten sie sich
"Instrumentalisierung" vorwerfen lassen. Eine solch kapitalistisch
verblendete Sichtweise verstellt einem Deutschen freilich die Sicht
darauf, daß auch die sogenannten Kommunisten von der KPI-Marxist
wie alle ML-Ideologen an der "Entwicklung der Produktivkräfte"
ihren Fetisch gefressen haben; deshalb auch die Regierungspolitik in
nationaler Verantwortung großenteils mittragen. Von wegen Ehre,
wem Ehre gebührt!
Kurzum, wir deutsche Verantwortungsträger weltweit wissen, wie Armut zu bekämpfen ist! Wir verbreiten schließlich keine Ideologien über die Segnungen des Kapitals, wir setzen sie durch. Und wenn Indiens Wirtschaft um 10 % wächst, dann haben wir uns unsere
Rendite daran redlich verdient! Da lohne sich ein Blick auf Indiens
Wirtschaftsdaten, insbesondere auf die Bombay Stock Exchange, der wir
alles in allem eine gute Performance attestieren müssen - ganz im
Gegensatz zur prozyklischen Fiskalpolitik (bei Wirtschaftswachstum die
Steuern zu erhöhen statt zu senken!) der Regierung! Außerdem
gehe der Abbau von Subventionen noch schleppender voran als bei der
deutschen Steinkohle. Des weiteren belaste ein sozialpolitisch
motiviertes Arbeitsbeschaffungsprogramm, 2006 verabschiedet, den
Staatshaushalt ziemlich zwecklos. So müssen wir uns
auch noch um die unbefriedigende Lage der indischen Staatsfinanzen
sorgen! (Indien liegt im Liquiditätsrating hinter Bulgarien und
vor Kroatien auf Platz 58 und das als zehntgrößte
Volkswirtschaft und als der Megaboomer nach China.)
p.s.: Auf alle Fälle können die indischen Kommunisten sich
auf die zunehmende Wucht des deutschen Imperialismus gefaßt
machen. Viele von ihnen finden die KP Chinas ja durchaus klasse, weil
die es geschafft hat, Ansprechpartner par excellence imperialistischer
Ansprüche zu sein. Selber den "Produktivitätsfortschritt"
durchzusetzen - mit sozialer Abfederung und unter nationaler Kontrolle
versteht sich -, das scheint so manchem linken Inder als alternativlose
Vision vorzuschweben.
(14.08.07)
* Titel laut le monde diplomatique
** Der Artikel fußt im wesentlichen auf der Zeitschrift Außenwirtschaft, Sonderheft 2007