Der Balkan-Krieg der NATO
Eine unparteiliche, also abweichende Bilanz
Zur Vermeidung von Mißverständnissen: Eine Leistung trauen
wir dem Kriegsverlauf nicht zu. Die nämlich, daß das
Vorgehen der NATO auf der einen Seite, das der Serben auf der anderen
all die gutgläubigen Eiferer der ersten Kriegstage belehrt. Wer
glauben will, daß die USA samt Verbündeten ihre Luftwaffe in
weltkriegstauglicher Dimension mobilisieren, um einer Minderheit auf
dem Balkan zu helfen, wird das auch jetzt noch tun. Wer nicht
unterscheiden will zwischen den Nöten der Opfer, die ein Staat auf
dem Balkan – wie manch anderer – schafft, und den
Notwendigkeiten, denen sich zur Weltordnung berufene Nationen
verpflichtet wissen, dem ist der Unterschied egal – selbst dann,
wenn ihn die NATO jeden Tag vorführt. Die Abrechnung mit dem
Serben-Staat wird wegen dessen Opfern einfach für gerecht gehalten
und begrüßt, auch wenn die Luftwaffe der Witwen und Waisen
die Opfer des Kriegs im Kosovo dabei um ansehnliche Opfer ihrer eigenen
Kriegsziele ergänzt.
Eines freilich bleibt den Parteigängern, insbesondere den
Fanatikern der NATO-Mission, angesichts des Friedens – der mit
der Besetzung eines feindlichen Staates anfängt – nicht
erspart: eine gewisse Unzufriedenheit, was die Einlösung der
Versprechungen in bezug auf Opfer wie Täter angeht. Diese
Unzufriedenheit ist mit Kritik am Krieg und an den Berechnungen, mit
denen er beschlossen und geführt wurde, nicht zu verwechseln. Sie
beruht auf seiner Befürwortung und zeigt, daß die
Rechtfertigung der NATO-Mission ein bleibendes Bedürfnis darstellt
– auch wenn (oder: gerade weil) die NATO längst ganz andere
Dinge als Lebensrettung auf die Tagesordnung gebombt hat.
Genugtuung wie Ernüchterung, die der "Sieg über das
Böse" auslöst, sind die moralischen Sumpfblüten der
wirklichen Bilanz des Krieges. Dessen Ergebnis fällt nämlich
auch aus der Sicht seines Veranstalters gespalten aus. Das nötige
Zerstörungswerk ist getan und hat sein Ziel erreicht: Jugoslawien
ist besiegt; gerade wegen des gewonnenen Krieges aber hat die NATO noch
viel zu tun. Mit der herbeigeschossenen Kapitulation des Feindes
fällt ihr nämlich exakt die Aufgabe zu, die sie haben wollte:
Der Krieg war die unabdingbare Voraussetzung, die Ordnung auf dem
Balkan in den Griff zu nehmen; nach seinem erfolgreichen Ende gilt es,
sie herzustellen. Der Einsatz der überlegenen Gewalt des Westens
hat eine in doppelter Hinsicht neue Lage geschaffen: Zum einen haben
seine militärischen und politischen Leistungen die Welt
verändert, und das nicht nur im Kriegsgebiet selbst; zum anderen
erwächst der NATO aus ihrem Luftkrieg eine Tagesordnung von
Aufgaben, die noch zu erledigen sind, im Kosovo, in der Region, in
Europa. Es gibt noch viel Frieden zu stiften.
1. Die militärischen Leistungen
der NATO sind beachtlich. Mit ihrem Luftkrieg hat die Allianz nicht nur
Kriegsmittel – Soldaten und Gerät – Jugoslawiens
zerstört, sondern ziemlich das ganze Land. Das gehört sich so
im Krieg; erst recht in einem solchen Krieg, den westliche
Ordnungs-Mächte zur Vollstreckung ihres Anspruches über den
Balkan führen.
a) Die Verwüstung des Landes, die die NATO in aller Gründlichkeit vornahm, war notwendig, weil ihr "Krieg gegen Milošević" die Brechung der Souveränität Jugoslawiens zum Ziel hatte.
Kriege werden nicht von Privatpersonen, sondern von Staaten
geführt – von politischen Subjekten, die Herrschaft
über Land und Leute ausüben und daraus ihre Macht beziehen.
Das unbestrittene Gewaltmonopol über sein Territorium und sein
Volk ist das Lebensmittel eines souveränen Staates; seine
militärischen Gewalttaten begeht er unter Rückgriff auf diese
Potenzen der Nation, über die er gebietet – das
unterscheidet Krieg von Verbrechen und Soldaten von Mördern.
Kriege werden darum auch nicht gegen Privatpersonen, sondern gegen
Staaten geführt. In ihrem Krieg gegen Milošević
zerstört die NATO das ganze Land und ein bißchen das
serbische Volk, "gegen das der Krieg nicht ging". Das muß so
sein. Denn der Führer Jugoslawiens ist eben doch nicht bloß
der abgrundtief böse Mensch, als den ihn die offizielle
Feindbildpflege mit allerlei psychologischen Rassismen hinstellt. Er
verkörpert keine "kriminelle Energie", sondern einen Staatswillen,
der so viel vermag, wie seine nationale Gefolgschaft und die
materiellen Mittel der Nation hergeben. Die NATO hat sich jedenfalls
nicht an dem kindischen Einfall vom Tyrannenmord berauscht, sondern den
Staatsmann Milošević und die gesamten Mittel der Staatsmacht ins
Visier genommen, ohne die der größte "Verbrecher" nicht zum
Boß einer Nation taugt. Zielscheibe ihrer Bomben wird daher zum
einen der Reichtum der Nation: die industrielle Basis, die den Reichtum
hervorbringt, von dem Staat und Volk leben – Rüstungs- wie
Lebensmittelfabriken; dazu alles, was unter Infrastruktur fällt.
Daß Brücken, Tankstellen oder Kliniken zugleich
Infrastruktur der Gesellschaft sind, ist betrüblich, hilft aber
nichts: Weil alle Einrichtungen, die dem Zusammenleben der Bürger
dienen, Bürgern des feindlichen Staates dienen, gilt das zivile
Leben als ein einziger Beitrag zu dessen Funktionieren –
dafür wird es haftbar gemacht. Als Basis staatlicher
Wehrhaftigkeit gerät daher zum andern das Volk ins Fadenkreuz. Die
furchtbare Abstraktion, die privates und staatsbürgerliches Dasein
kurzerhand in eins setzt, ist der NATO jedenfalls geläufig, wenn
sie dauernd den abwegigen Eindruck dementiert, ihr Krieg "richte sich
gegen das serbische Volk". Treffen tut er es schon, weil das die
Besonderheit ihres humanitären Krieges gewiß nicht ist:
daß er die Untertanen des Feindes unversehrt ließe. Sicher:
Was Miloševićs Soldaten, die den Albaner höchst
persönlich als lebendigen Funktionär eines abtrünnigen
Staatswillens traktieren und ihr Land von der fremden Ethnie
säubern, mit dem dafür nötigen patriotischen Haß
von Haus zu Haus erledigen, ist ein anderes Programm als das der NATO.
Mit Kind und Kegel in die Flucht treiben will die das Staatsvolk ihres
Feindes nicht, wohl aber in die Fahnen-Flucht; zum Abfall von dessen
Herrschaft sollen die Bomben etwas Nachhilfe erteilen. Diese Logik,
eine Volksgemeinschaft als kollektiven Diener der falschen Nation zu
terrorisieren, kennt auch der Ordnungskrieg des Westens, ganz ohne
rassistisches Säuberungsmotiv. Die Sippenhaft, in die jeder Krieg
die Bewohner des feindlichen Geländes nimmt, vollzieht die NATO an
durchnumerierten legitimen Zielen anonym und präzise aus der Luft:
die Behandlung von Leuten, die den falschen Paß besitzen und dem
falschen Führer gehorchen, als Inventar der gegnerischen
Herrschaft. Den menschenfreundlichen Unterschied zwischen
militärischen und zivilen Zielen, zwischen beabsichtigten und
kollateralen Schäden hat sie aus ideologischen Gründen
aufgemacht und in der Praxis sachgerecht gleich wieder eingeebnet.
b) Die überlegene Manier des Krieges enthält eine Klarstellung: Einen solchen Krieg beherrscht nur die NATO
– die gebündelte, zu jeder Eskalation fähige und
bereite Militärkraft des Westens. Diesem Beweis hat das alliierte
Flüchtlingshilfswerk, nicht einmal nur beiläufig, seinen
Krieg gewidmet. Entsprechend fiel die "Antwort auf das Morden im
Kosovo" aus.
Der in der Kriegsmoral stets geleugnete Unterschied zwischen den
Nöten der Opfer und den Notwendigkeiten zum Weltordnen berufener
Nationen wird durch die Kriegführung der NATO nicht nur
bestätigt, sondern praktisch hergestellt. Schon der Standpunkt,
von dem aus die Allianz sich zum Eingreifen auf dem Balkan
"herausgefordert" sieht, hat im serbischen Bürgerkrieg seinen
Anlaß, aber nicht seinen Grund: Von Beginn an bezieht sie den
Konflikt exklusiv auf sich, definiert ihr Interesse als
übergeordnete Ordnungsmacht und errichtet mit ihrer
übermächtigen Luftwaffe eine militärische Front, die den
Schein von Ebenbürtigkeit gar nicht erst aufkommen
läßt, sondern klarstellt, als was und wofür die NATO
ihren Krieg führt: als und für ihre uneingeschränkte
Aufsichtsmacht über den Balkan. [1]
In diesem Sinne setzt die NATO dem Töten und Vertreiben im Kosovo
ihren Krieg entgegen. Ihre Entscheidung für den Luftkrieg steht
für das historische Experiment, erstmalig einen Krieg vom Himmel
her zu gewinnen. Was nicht nur technisch zu verstehen ist: Als
Ordnungs-Macht will sie dem fälligen Schlachten a priori den
Charakter einer Schlacht nehmen. Der Bodenkrieg ist dabei eine
ständig präsente Option, auf die sie sich parallel
vorbereitet. [2] So führt sie einen Krieg neuen Typs, der sich in
den Kategorien eines Kampfes zweier Gegner, die um den Sieg ringen und
ihre Opfer an Land & Leuten zählen, nicht bilanzieren
läßt: Die Gegenwehr Jugoslawiens beschränkt sich
darauf, den NATO-Krieg auszuhalten. Das imperialistische Erfolgsideal
des Krieges – null Schäden an eigenen Menschen und
Geräten bei optimaler Vernichtung feindlicher Potenzen –
wird so fast vollständig wahr.
2. Auch die politischen Leistungen
des Krieges sind respektabel. Unter Berufung auf die geschundenen
Kosovo-Albaner hat die NATO die Prinzipien ihrer Berufung zum
Weltordnen vollstreckt.
a) Ihren überlegenen Gewaltapparat setzt die Allianz zur Bekämpfung von Staaten ein, die sich ihren Ordnungsbedürfnissen widersetzen.
Sie droht anderen Souveränen mit Krieg, führt ihn, definiert
mit dem Recht ihrer unschlagbaren Potenzen das Kriegsziel bis hin zur
Kapitulation. Sie vollstreckt ihr ungemütliches Recht an der
Staatenwelt, stellt es über deren ungemütliches inneres und
äußeres (Völker-)Recht. Dabei ist sie um den
Berufungstitel "Menschenrechte"
garantiert nie verlegen; eher verfährt sie – das macht ihre
Freiheit aus – wählerisch; denn die von ihr sortierte
Phalanx von politischen Herrschaften läßt es durch die Bank
an menschenrechtlichen Verfehlungen nicht fehlen.
Im Fall Jugoslawiens und der unterdrückten Albaner wird die
– auch anderswo übliche – Tat der Staatsmacht,
abtrennungswillige Bürger mit Gewalt bei der Fahne zu halten, als
Mißachtung einer globalen Rechts-Norm geächtet und wie ein
Verbrechen geahndet. Urheber dieser Definition und der daraus folgenden
Aktion ist die NATO. Die Abschreckungsmacht des Westens baut sich auf
wie eine Instanz des Rechts, die Gesetzgeber, Ankläger, Polizist
und Richter in einem ist, und führt damit ein neues Paradigma in
die Weltpolitik ein. Staatsmänner müssen künftig darauf
gefaßt sein, unter diesem Gesichtspunkt nicht nur ideologisch als
"Schurken" bezeichnet, sondern praktisch als "Schurkenstaaten"
behandelt zu werden: als "Störenfriede", die universell
gültige Regeln und Sitten verletzen.
Glaubwürdig wird diese Anmaßung, der Welt ein Gesetzbuch
samt dazugehöriger Ordnungsmacht zu stiften, durch die
Gewaltmittel des Westens, die in ihrer Proportion zum Rest der Welt
einem Monopol auf weltweite kriegerische Ordnungsstiftung nahekommen
– ein wirkliches, freiwillig von allen Beteiligten anerkanntes
Welt-Gewaltmonopol, wie Freunde des Ewigen Friedens es sich ersehnen,
ist zwischen Staaten, allesamt selber Gewaltmonopolisten, ein für
allemal nicht zu haben. Dieses Kräfteverhältnis exekutiert
die NATO exemplarisch mit ihrem Krieg gegen Serbien; und so will sie
den auch verstanden haben: als "Lektion" nicht nur für die Serben,
sondern als verbindliche Maßgabe für "Diktatoren in aller
Welt". Staaten, die NATO-Recht verletzen, haben mit Vergleichbarem
immer und überall zu rechnen.
Die "Rechts-Norm", mit der der Westen auf diese drastische Art alle
Souveräne auf der Welt konfrontiert, verlangt "gutes Regieren".
Was dieser Imperativ besagt, entscheidet wiederum die Allianz. Die
Liste der Eingriffstatbestände, die sie vorweg allgemein
definiert, ist insofern aufschlußreich, als sie weniger
Fälle eindeutig "schlechten" als bloßen Regierens
aufzählt: Von "Gebietsstreitigkeiten" über "ethnische
Rivalitäten" bis zur "Auflösung von Staaten", gegen die eine
Zentralgewalt vorgeht, antizipiert die NATO-Doktrin ausnehmend
gewöhnliche Regungen regierender oder staatsgründungswilliger
Nationalisten als "Krisen", für die gleichnamige
"-reaktionskräfte" bei Fuß stehen. Ob die Aneignung eines
fremden Ölfeldes, das Niedermachen von Separatisten oder der Bau
von Raketen dann tatsächlich die Tat eines "Schurkenstaats" oder
legitim ist, das beurteilt der Club der Weltmächte sachkundig und
verbindlich im Einzelfall – danach nämlich, wo und
worüber er sich einig wird.
Für dieses universelle Kontrollregime beruft sich der Westen auf
die Menschenrechte. [3] Das gibt gelehrten wie menschenfreundlichen
Ideologen viel zu denken, die damit den Glauben in Kraft gesetzt sehen,
"der Mensch" käme in der Welt von heute mit seinen Rechten vor
allen Belangen der rechtsetzenden Instanzen. Den Machern der NATO
bereitet diese schwierige Denkfigur weniger Kopfzerbrechen. Für
sie bedeutet "Menschenrecht" schlicht und banal, daß sie, die
sich mit dem Recht ihrer unwidersprechlichen Gewalt darauf berufen,
über den Belangen aller anderen Souveräne auf der Welt
stehen. Daß es "vor Völkerrecht geht" und daß es im
allgemeinen wie im besonderen so widerstandslos ihrer Definitionshoheit
unterliegt, das ist es, was sie an "den Menschenrechten" einfach
unwiderstehlich finden. Indem sie sich zu deren Anwälten
erklären, kündigen sie den Respekt vor der Hoheit fremder
Staaten; und mit dem zynischen Hinweis auf die Nöte der Opfer, die
staatliche Herrschaft in der kapitalistisch "globalisierten" Welt
immerzu und überall schafft, ermächtigen sie –
ausgerechnet – sich in aller Form zu allen Notwendigkeiten
gewaltsamen Durchgreifens, die sie für sich entdecken.
Mit der Errichtung dieser Norm sagt die NATO – korrekt –
vorher, daß sie noch viel zu erledigen hat. Die Kriegsallianz
tritt an, sämtliche unverträglichen Ambitionen und
Rechtsansprüche der Nationen mit der exklusiven Reichweite ihres
überlegenen Gewaltapparates zu beherrschen: Dabei ist ihr
jedenfalls klar, daß mit dem Frieden auf dem Balkan der Bedarf an
globaler Ordnungsstiftung und damit ihr Bedürfnis nach Krieg
gewachsen ist. Der Katalog "sicherheitspolitischer Herausforderungen",
den sie zu ihrem 50. Geburtstag selbst zu Papier gebracht hat, kommt
einer Absichtserklärung in ca. 17 Fällen gleich, in denen sie
sich zum "Eingreifen" auffordert. Der Militärverein geht dabei
davon aus, daß sein weltweites Kontrollregime bei dessen Objekten
das Sicherheitsbedürfnis, also das Bemühen um Gewaltmittel
und um Korrekturen am Kräfteverhältnis, enorm steigert. Eben
darum erteilt er sich den Auftrag, aufstiegswillige Gewinner wie
empörte Verlierer seiner Weltordnung um so schärfer zu
kontrollieren und die unausbleiblichen Gewaltausbrüche gewaltsam
zu sistieren – am besten gleich präventiv...
b) Die Gewalt, die zur Beaufsichtigung anderer Staaten ermächtigt und befugt, ist innerhalb des Bündnisses
sehr eindeutig verteilt. Die Kriegführung gegen Jugoslawien hat
die Kräfteverhältnisse im freiheitlichen Lager demonstriert
und die "Weltmacht Europa" – deren "Hinterhof" zerbombt wurde
– auf ihre Abhängigkeit vom "atlantischen Partner"
verwiesen. Der Abstand zwischen den USA und den europäischen Weltordnern in ihrer Befähigung zum Krieg
hat schon mitten in den laufenden Bombardements die Partner mindestens
genauso stark beschäftigt wie das Leid der Kosovo-Albaner. Seit
dem 50. Geburtstag der NATO befassen sich die USA wie die Europäer
– jede Seite auf ihre Weise – damit, wie sie es
künftig mit diesem Abstand halten. Beide Seiten sind auf
Aufrüstung verfallen.
Die NATO hat den Krieg gewonnen. Was für ein Krieg und wie der
gewonnen wird: daß die Führungsmacht allein mehr
Quantität & Qualität an Abschußbasen,
Tarnkappenbombern und Raketen dazu beisteuert als die restlichen
Mitglieder zusammen und damit einen Staat zerstört, in dem es
immerhin für drei Monate Ökonomie und Rüstung zu
zerstören gibt, das legt den Stand der Dinge in der NATO offen,
und auf die Klarstellung ist die Kriegführung von amerikanischer
Seite auch durchaus angelegt: Auch nach Ende des Kalten Krieges, den
der Westen unter dem Atomschirm der USA erfolgreich geführt hat,
lebt das Bündnis weiterhin von der Militärkraft Amerikas,
nämlich von dessen konventioneller
Kriegführungsfähigkeit. Das ungleiche
Kräfteverhältnis auf nuklearer Ebene existiert fort; mit dem
ersten gemeinsamen heißen Krieg tritt nun die erwiesene
konventionelle Überlegenheit der USA hinzu. Deren Fähigkeit
und Wille, einen Regionalkrieg mit modernsten Mitteln zu führen,
und zwar so, wie es einer Supermacht gebührt, setzen den
Maßstab, an dem ihre Partner und Konkurrenten sich zu messen
haben. Aufmarschkapazität, Waffentechnik, Stehvermögen
– und das wenn nötig an mehreren Kriegsschauplätzen
gleichzeitig: Die USA und ihr jeweiliges Können bestimmen das
weltweit gültige Rüstungsniveau, an dem es nichts zu deuteln
gibt. Die Verbündeten haben zur Kenntnis zu nehmen, woran sie mit
ihrer Führungsmacht sind. Wohl wissend, daß solche
Demonstrationen militärischer Überlegenheit auf der anderen
Seite des Atlantik das dringende Bedürfnis nach einer Minderung
des Abstands wecken, folgert die Weltmacht Nr. 1 aus ihrer Lektion an
die Partner die Notwendigkeit, das Nötige zu tun, um ihn –
mindestens – zu wahren.
In den Staaten Europas fällt die Bilanz dementsprechend gespalten
aus. Sie haben sich in das gegebene Kräfteverhältnis
eingefügt und den Krieg, so wie er geführt wurde, für
das Passende gehalten: Bei relativ geringem eigenem Aufwand ist der
Erfolg an der Seite der USA garantiert; man braucht sich
militärisch nicht zu verausgaben und kassiert dennoch die
bedingungslose Niederlage des Feindes. Die Nachteile dieses Vorteils
sind aber auch nicht zu übersehen: Man ist nicht Herr des
Kriegsbeschlusses, der über die entsprechend inszenierten
diplomatischen Vorstufen zum Losschlagen führt; man hat nur wenig
Mitentscheidungsmacht bei der Durchführung der großen
Schlägerei, ist noch nicht einmal über alle errungenen
Erfolge und die nächsten Ziele und Eskalationsstufen voll auf dem
Laufenden; schon gar nicht ist man frei, nach eigenem Ermessen
aufzuhören; und der moralische Genuss wie erst recht der
politische Ertrag, nämlich der Zuwachs an Kompetenzen auf dem
Balkan, die aus dem Sieg erwachsen, sind zwar groß und preiswert,
aber geteilt, insofern beschränkt und auf alle Fälle gleich
Gegenstand eines Streits zwischen den Partnern, für den man sich
schon von den ersten Kriegsvorbereitungen an und durch alle
Eskalationsstufen hindurch bis zur Gestaltung des Waffenstillstands mit
den passenden Initiativen und Beiträgen in Stellung bringen
muß. Neben und bei der Rettung der armen Kosovaren haben die
Partner Amerikas also vieles im Auge zu behalten und
durchzukämpfen, wovon kein Serbe und kein Albaner sich etwas
träumen läßt. Und am Ende steht eine
Schlußfolgerung, die auch auf einer etwas anderen Ebene liegt als
irgendeine Freude über das befreite Amselfeld. Regierende wie
mitdenkende regierte Europäer entnehmen dem amerikanisch
dominierten Krieg die doppelte Lehre, daß ein dermaßen
überlegen geführtes Zerstörungsunternehmen, wie es
bislang nur die Amerikaner beherrschen, militärisch das einzig
Senkrechte ist – und daß man zu so etwas auch allein, ohne
die USA, als Europa fähig sein müßte.
Den Rüstungsbedarf, der sich daraus wie von selbst ergibt, kann
mittlerweile wohl jeder geneigte Zeitungsleser herbeten: "Wir" brauchen
eigene Aufklärungs-, Transport- und Bomberkapazitäten, damit
der Ami in der NATO nicht immer alles alleine macht. Im
kapitalistischen Gemeinwesen wird freilich noch aus dem dringlichsten
Bedürfnis der Kriegskultur eine Kostenfrage, und mit dem Willen zu
mehr militärischer Autonomie ist noch lange nicht das Geld da, die
ambitionierten Projekte auch zu bezahlen. Es kommt hinzu, und das
stellt sich bei der Definition des Bedarfs wie bei der Besichtigung der
entsprechenden Haushaltsprobleme praktisch heraus, dass da verschiedene
Staaten zwar als Euro-Mächte dasselbe Problem haben, in allen
ihren Vorstellungen zu dessen gemeinsamer, eben europäischer
Lösung aber national, jeder für sich planen und rechnen. Das
"Wir", das sich rüstungsmäßig von den USA emanzipieren
möchte, existiert mindestens als eine Dreifaltigkeit von
Führungsnationen, die beim Seufzen über die "Uneinigkeit
Europas" immer an den Nationalismus der beiden anderen denken, den sie
dem Ihrigen unterordnen wollen, ohne dabei jedoch selbst über das
einzig stichhaltige Überzeugungsmittel überlegener nationaler
Gewaltmittel zu verfügen – genau in der Hinsicht setzen eben
wieder die USA die Maßstäbe, die keine von ihnen
erfüllt. Die europaweit hörbare Klage über "fehlende
autonome Verteidigungsidentität" drückt aus, daß Europa
es bei deren allgemein für fällig erachteter Herstellung
nicht bloß mit einer etwas komplexen Ausgangslage zu tun hat
– 1 Geld für 11 Nationen, 15 WEU-Mitglieder, von denen
wiederum nicht alle im Euro-Club sind, x Rüstungskonzerne, lauter
verschiedene nationale Militärhaushalte –, sondern in allen
praktischen Problemen einer gemeinsamen Kriegsplanung und -produktion
auf die Souveränitätsfrage stößt. Alle
europäischen Nationen leiden unter einem Mangel an
militärischer Autonomie in ihrem segensreichen und unverzichtbaren
transatlantischen Bündnis; alle können sich gut vorstellen,
daß eine gemeinsame Streitmacht dieses Problem lösen
könnte; und jede kalkuliert so, daß Europa die Lösung
für ihr nationales Autonomieproblem zu sein hätte. Denn
Souveränitätsverzicht in dieser Angelegenheit zugunsten einer
anderen Nation, die dann die Führung hätte: Das haben sie
nach ihrer eben gar nicht europäischen, sondern nationalen
Rechnung jetzt schon; genau davon wollen sie ja wegkommen.
Da bleibt nichts anderes, als von dieser Grundsatzfrage der
Souveränität doch wieder, so gut es geht, zu abstrahieren,
auf die Ebene des technisch und ökonomisch gemeinsam "Machbaren"
herunterzusteigen und mit multinationalen Corps, punktueller
Rüstungskooperation, Firmenzusammenschlüssen und dergleichen
dem im Krieg erfahrenen Rückstand gegenüber den USA
entgegenzuwirken – so eben, wie der "Europa-Gedanke" schon immer
in die Tat umgesetzt worden ist...
c) Bei der Verrichtung guter Werke, die die Zerlegung ganzer Staaten erfordern, will sich die NATO von niemandem behindern lassen. Insofern war mit der Hilfe durch Krieg vom ersten Tag an nicht nur die Kapitulation der Serben, sondern auch die Zurückhaltung von Russen und Chinesen
ein zu bestätigendes Kriegsziel. Ihre Mitwirkung am Weltordnen ist
überholt und überflüssig; dafür sind sie definitiv
nicht zuständig – das Höchste, was ihnen erlaubt werden
kann, ist eine Vermittlerrolle für unverhandelbare Positionen der NATO.
Diese Grußadresse und die mit ihr verbundenen Umstände haben
es in diesem Waffengang ebenfalls zu höherer Bedeutung gebracht
als das im Vorspann immer wieder abgespulte Mitleid mit den
Kosovo-Albanern.
Was die NATO mit Jugoslawien anstellt, ist kein Krieg, sondern eine dem
Völkerfrieden dienende Friedensmission der Staatengemeinschaft. So
viel Wert die Sprecher der Allianz auf diese Sprachregelung legen, so
sehr bestehen deren Führer doch gleichzeitig darauf, daß
durchaus kein anderes Mitglied der Staatengemeinschaft ihnen bei ihren
guten Werken in die Quere kommt. Sie beziehen den Bürgerkrieg in
Jugoslawien exklusiv auf sich; sie erklären die Region zu ihrem
Krisengebiet und drohen Serbien mit der NATO; sie beschließen,
wie lange geschossen wird und wann sie genug haben – und
führen damit vor, daß das Weltordnen ihr alleiniges Metier
ist. Dabei lassen sie sich weder ungefragt helfen noch stören. Das
Verfahren, mit dem die NATO sich zum Krieg mandatiert, die Art und
Weise, wie sie ihn führt, der Friede, den sie herbeiführt:
das alles zielt auf den Ausschluß aller übrigen Mächte
der "Völkergemeinschaft". Dabei geht es im Wesentlichen und im
Grunde nur um die zwei, die in den Vereinten Nationen Mitsprache- und
sogar Einspruchsrechte anmelden könnten. Deswegen wird auf dem
Wege einer "Selbstermächtigung der Wohlmeinenden" das
Legitimationsforum UNO übergangen: Seine Ausschaltung dient der
Ausschaltung Rußlands und Chinas. Mit diesem Manöver ist es
allerdings noch lange nicht getan: Das Vorhaben, die beiden
Großmächte zu tätiger Zurückhaltung zu
nötigen, wird zum eigenständigen Kriegsziel.
– Die Frage "Was machen die Russen?" begleitet den Krieg schon
von seiner Vorbereitung in Rambouillet an. Das ist kein Wunder. Die
Frage geht stillschweigend davon aus, daß Rußland
übergangen wird; sie drückt die Sorge aus, ob es sich das
wohl gefallen läßt. Man ist sich auf westlicher Seite also
völlig darüber im Klaren, daß das Unternehmen gegen
Milošević eine kriegerische Herausforderung Rußlands ist.
Sein Status als Veto-Macht im UN-Sicherheitsrat wird als Privileg ohne
praktische Bedeutung desavouiert; sein Einfluß auf dem Balkan
wird auf nichts reduziert; seine Interessen als europäische
Ordnungsmacht werden als unbeachtlich abgewiesen. Die NATO behandelt
Rußland nicht mehr als Weltmacht, vielmehr als europäischen
Randstaat ohne Macht. Damit weist sie dem Land eben dies als seinen
neuen weltpolitischen Status zu. Warnungen an Moskau vor einer
"Wiederbelebung slawischer Waffenbrüderschaft" oder einem
"Rückfall in den Kalten Krieg" zeigen, daß der Westen mit
derartigen Reaktionen rechnet, also nicht etwa aus Versehen, sondern
bewußt und absichtsvoll den russischen Selbstbehauptungswillen
provoziert, um ihn in die Schranken zu weisen. Die zerstörerische
Gewalt, die die NATO über Jugoslawien entfesselt, leistet beides
und ist darauf auch berechnet: die Restbestände an antiwestlicher
Gegenmacht, die es in Moskau allenfalls noch gibt, herauszufordern und
abzuschrecken. Ohne jede Verletzung russischer Grenzen ist die
NATO-Aktion fürs kosovo-albanische Heimatrecht ein erster
Abschreckungskrieg gegen den problematischen Staatenkoloss im Osten.
Die Diplomatie, mit der der Westen seinen Bombenkrieg politisch
begleitet, hat in der Hauptsache dieses Kriegsziel zum Inhalt. Unter
dem Motto "Wir holen die Russen ins Boot!" macht sie die implizite
antirussische Stoßrichtung der Gewaltdemonstration auf dem Balkan
explizit. Der offensive Gebrauch dieser albernen Metapher stellt
nämlich erstens klar, daß man sie gerade rausgeworfen hat
– aus der Weltordnung der NATO, in der keine Macht ungestraft
gegen den Strom schwimmt, und überhaupt aus jeder
eigenständigen Mitwirkung am imperialistischen
Weltordnungsgeschäft, in Europa und anderswo. Auf der Grundlage
wird ihnen zum vollzogenen Ausschluß eine Alternative
eröffnet, die keine ist: Wenn Rußland auf alle Positionen
verzichtet, die der Westen ihm bestreitet – von der UNO bis zum
Balkan –, und wenn es das dadurch praktisch beweist, daß es
die Anmaßung einer Vermittlerrolle da, wo es nichts zu vermitteln
gibt, aufgibt und sich für die Rolle eines Übermittlers
unverhandelbarer westlicher Kapitulationsgebote nach Belgrad hergibt,
dann braucht Moskau sich nicht mehr ausgeschlossen und gedemütigt
zu finden. Es ist dann "im Boot" – und hat damit auch schon den
ganzen Lohn kassiert, den es sich von seiner Kapitulation versprechen
darf: Es braucht die westliche Machtentfaltung auf dem Balkan nicht
mehr negativ auf sich zu beziehen. Umgekehrt umgekehrt: Solange
Rußland noch irgendetwas gegen die NATO will, ist es mit einer
NATO konfrontiert, die diesen Willen mit ihrer überlegenen Macht
zurückweist und sich davon auch überhaupt nichts abhandeln
läßt.
Der Erfolg gibt dem Westen unübersehbar recht. Moskau hat sich
herausfordern und von eigenmächtigen Reaktionen auf seine
Herausforderung abschrecken lassen. [4] Es hat sich gefügt und
damit abgefunden, daß dabei nichts herausgesprungen ist –
als eben dies: daß der Westen insoweit nichts mehr gegen
Rußland hat.
– Bei der fälligen Einbindung der zweiten nicht-westlichen
Nation mit Weltmachtanspruch, Atomwaffen und Vetorecht in der UNO
bewährt sich die Weltorganisation, die der Westen mit seiner
Selbstermächtigung zum Krieg ausdrücklich übergangen
hat. Das Angebot an die übergangenen Sicherheitsrats-Mitglieder
und insbesondere die Vetomacht China, dem Sieg der NATO eine
förmliche Resolution gemäß der einschlägigen
Vorlage der G-8 zu widmen, stellt die Volksrepublik vor die Wahl:
Entweder sie verweigert ihre Zustimmung und muß erleben,
daß der Westen dann einfach ohne Einschaltung der UNO und ohne
jede Rücksicht auf chinesische Einwände mit seiner
Friedensstiftung weitermacht, wie und solange er will; oder sie
verzichtet auf ein Veto, räumt damit eine wohlbegründete
Gegenposition gegen das Vorgehen des Westens, bewahrt bloß
formell ihr Recht auf Mitentscheidung über Krieg und Frieden auf
der Welt vor weiterer Blamage und erkennt dafür faktisch die
Bedeutungslosigkeit dieses Rechts und damit ihres weltpolitischen
Entscheidungsanspruchs an. Die speziell antichinesische
Stoßrichtung dieses diplomatischen Manövers wird in denkbar
passender Weise durch eine Laune des Kriegsglücks verdeutlicht und
geschärft: Einen Raketentreffer auf die chinesische Botschaft in
Belgrad quittiert Washington mit einem knappen "Sorry, nichts für
ungut!", rückt ansonsten keinen Millimeter von seiner Position in
der UNO-Frage – Zustimmung Chinas oder weitere Ausschaltung des
Sicherheitsrats – ab und sorgt auf diese Weise dafür,
daß die Volksrepublik als unmittelbar Betroffener vor der
Alternative steht, entweder mit einem Veto ihren Protest zu
verdeutlichen und sogleich die Blamage zu kassieren, daß daraus
gar nichts weiter folgt, oder trotz erlittenem Schaden die Resolution
passieren zu lassen und damit den NATO-Krieg mitsamt seinen
Nebenwirkungen und den darin erkennbaren Neben-Zielen ins Recht zu
setzen. So oder so tut China den USA nicht weh, wohl aber sich selbst,
nämlich seinem Anspruch auf Respektierung als nicht
übergehbare Weltmacht: Die Nation wird, wenn auch "aus Versehen",
kriegerisch geschädigt, sie wird übergangen – und sie
kann nichts Durchschlagendes dagegen tun.
Auch China verzichtet lieber darauf, dem globalen Menschenrechtsexport
der NATO die Einwilligung zu entziehen – und damit einen
längst vorliegenden Verdacht einmal mehr zu bestätigen. Per
Stimmenthaltung im Sicherheitsrat läßt es die Resolution
passieren, die den Krieg der NATO ausdrücklich ins Recht setzt.
Einen irgendwie gearteten Preis zahlt der Westen dafür nicht;
schon gar nicht den, daß das dicke Land seinen Stammplatz auf
seiner Liste prominenter Aufsichtsfälle loswird: Die dem Kosovo
vergleichbaren Eingriffstitel – Tibet, Taiwan – sind bei
Bedarf jederzeit aktualisierbar.
d) Die Nachbarn des Feindes auf dem Balkan werden in ihrer ökonomischen und weltpolitischen Bedeutungslosigkeit kurzerhand zu Instrumenten des NATO-Krieges.
Deshalb ist es angezeigt, ihre "Destabilisierung" zu betränen und
zu befürchten – an der ist sicher Milošević schuld,
aber was aus ihnen wird, bestimmt die Balkanordnung, für die der
Westen die Verantwortung übernimmt und sonst niemand.
Mit seinem Krieg mischt der Westen die Region auf. Alle Anrainer
Jugoslawiens bekommen ihren strategischen Stellenwert verpaßt;
der Wille der Nationen spielt dabei keine Rolle. Das Bündnis geht
ungefragt davon aus, daß sein Feind automatisch der Feind aller
ist, die mit Milošević in einer Gegend wohnen – egal, wie
deren Kontakte zu und Interessen an Jugoslawien aussehen. Auch ihnen
wird ein Status zugewiesen: Südosteuropa ist eine Etappe der NATO.
Die Allianz konfisziert den Balkan mit allen Souveränen und
Völkern, die auf ihm regieren und leben, als ihren Raum und macht
ihn gemäß ihren Notwendigkeiten des Kriegführens wie
des anschließenden Kontrollregimes zurecht.
– Im Krieg sind sie Instrument der militärischen Einkreisung
Jugoslawiens und Auffangbecken für Kosovo-Flüchtlinge. Die
Betreuung der notleidenden Opfer des Bürgerkrieges dient nicht
ganz nebenbei der notwendigen Auf- und Bereitstellung jener
Streitmacht, die nach dem Luftkrieg in das Kosovo einrückt, sowie
der heimatnahen Verstauung einer Menschenmenge, die im Gefolge der
Befreiung von Serbien die völkische Grundausstattung des
NATO-Protektorats verkörpert.
– Für die damit anbrechenden Friedenszeiten ist die Region
für Funktionen verplant, für die Imperialisten so
süße Metaphern wie "strategisches Vorfeld",
"Gegenküste" oder "Landbrücke" – zur Türkei, zum
Kaukasus usw. – kennen. Die inskünftige Staatsräson der
Balkanländer ist damit treffend und zur Gänze beschrieben:
Sie sind Teil der NATO-Landkarte. So läßt sich lakonisch an
ihnen ausdrücken, welchen Gewaltbedarf die NATO an ihnen hat.
Eine ideologisch rechtfertigende Umschreibung ihrer Inbesitznahme
Südosteuropas schenkt sich die NATO dennoch nicht: Wo sie ihre
Gewalt aufbaut, hat diese gerade noch gefehlt, also ein ziemliches
"Machtvakuum" geherrscht, erkennbar an der unübersehbaren
"Instabilität" – daß die Balkanländer unter dem
Zugriff und der tätigen Hilfe des Westens binnen eines knappen
Jahrzehnts von schlecht und recht lebensfähigen
realsozialistischen Industrienationen zu verrottenden Hinterhöfen
der europäischen Demokratie und Marktwirtschaft heruntergekommen
sind, wird da glatt noch als anschaulicher Beleg dafür in
Erinnerung gebracht, daß es ihnen an bewaffneter westlicher
Aufsicht mangelt. Im Visier, ideologisch wie praktisch, ist dabei schon
wieder Milošević, dessen Vertreibungspolitik hinterlistig auf
die "Destabilisierung des Balkan" zielt und geeignete
Gegenmaßnahmen erfordert. So setzt der Westen ins Recht, was er
ohnehin tut – das Gelände mit Stützpunkten seiner
Gewaltmaschine pflastern.
3. Die fällige Nachkriegsordnung
muß durchgesetzt werden. Der zweite Teil des Kriegsziels harrt
seiner Einlösung: Die NATO-Mächte sind – je nach
Interesse und Gewicht im Krieg sowie nach eigener Auskunft auf
Jahrzehnte – damit befaßt, die weltpolitische
Zuständigkeit wahrzunehmen, die sie mit ihren Waffen so
unwidersprechlich übernommen haben. Die üppige und
langwierige Tagesordnung der Implementierung des Friedens umfaßt
dieselben Leistungen, die der Westen schon seinem Krieg abverlangte.
Deshalb stehen neue Notwendigkeiten und Berechnungen auf der Agenda der
Weltordner, die das ehrfurchtsheischende Wort "Frieden" in seiner
ganzen imperialistischen Schlichtheit buchstabieren.
a) Es geht um die dringend erforderliche Fortsetzung des Krieges, in Form einer Besetzung,
mit Gewähr für die jederzeitige Bereitschaft, bei Bedarf zum
geächteten Bodenkrieg überzugehen und notfalls auch auf den
bewährten, offiziell nur stornierten Bombenkrieg
zurückzugreifen.
Das Kosovo wird befreit – von serbischer Herrschaft, zu einem
Protektorat der NATO. Die siegreiche Allianz übernimmt die Macht
in der jugoslawischen Provinz; dieses Ziel ist mit ihrem Bombenkrieg
erreicht. Serbische Truppen und Schießgeräte verschwinden
mit Umsetzung des Friedensplans aus dem Kosovo. Das Land ist
Miloševićs "Schreckensherrschaft" entrissen; nun geht der Westen
daran, alle Funktionen, die in den Händen serbischer
Ordnungskräfte Knechtschaft und Terror über die Menschheit
brachten, selber zum Segen der Bevölkerung ausüben.
Dafür braucht er vor allem eine "robuste Schutztruppe" von 50000
Soldaten, die es mit Widerstand jeder Art aufnehmen kann. Den leistet
zwar niemand, schon gar nicht die serbische Restbevölkerung; von
der jugoslawischen Armee geht auch nicht die angeblich befürchtete
Bedrohung aus. Das beliebte Bild vom drohenden "Machtvakuum", das KFOR
unverzüglich zu füllen habe, macht jedoch klar, was die
Truppe dort einzupflanzen und zu beschützen hat: Sich! Das gelingt
auch gut. Doch dabei bleibt es nicht.
– Den vertriebenen Kosovo-Albanern haben die Herren der NATO hoch
und heilig versprochen, sie sicher in ihre Heimat
zurückzuführen und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Auch das klappt einerseits gut: Heimfahren – das tun die
Flüchtlinge schon von allein, ziemlich fluchtartig sogar,
angesichts ihrer Lagerexistenz und versperrter Alternativen;
Gerechtigkeit wird ihnen in der Form zuteil, daß die Spuren
serbischer Greueltaten ausfindig gemacht, von Besatzungssoldaten
gesichert und von Experten ausgewertet werden, damit der Gerichtshof in
Den Haag seines Amtes walten und den Standpunkt einer supranationalen
Strafjustiz in der Fassung, wie die NATO sie liebgewonnen hat,
praktisch wahr werden lassen kann. Das ist freilich überhaupt
nicht das, was die Vertriebenen sich von ihrer Rückkehr unter
NATO-Geleit versprochen haben; ganz zu schweigen von den bewaffneten
Aktivisten des kosovarischen Widerstands: Die wollen erstens Rache,
zweitens eine eigene kosovo-albanische Staatsgewalt. Mit diesem
Bedürfnis stoßen sie auf eine Besatzungsmacht, die in ihrer
Überparteilichkeit die UCK und deren Anhänger auf keinen Fall
gleich wieder so behandeln will wie die serbischen Unterdrücker
neulich: als illegale Bürgerkriegsarmee oder gar als Terrortruppe.
Als reguläre Staatsgewalt oder Miliz sollen die
paramilitärischen Trupps zwar auch nicht auftreten; etwas von der
Art sollen sie nach einem Vorratsbeschluß der Siegermächte
aber demnächst werden; deswegen nimmt es die KFOR mit dem
Entwaffnen nicht so genau wie im Waffenstillstandsvertrag eigentlich
vorgesehen. Mehr als eine gewisse "Entmilitarisierung" der
aufgetauchten Untergrundarmee sowie eine freiwillige
Selbstverpflichtung, Waffen unter KFOR-Aufsicht zu deponieren, mag man
den Waffenbrüdern von neulich und Landesherren in spe nicht
zumuten. Damit kehren natürlich die blutigen Verhältnisse von
vor dem Krieg mit umgekehrten ethnischen Vorzeichen ein; zum
Bürgerkrieg wie damals eskalieren sie bloß deshalb nicht,
weil die serbische Minderheit, nun ohne jeden bewaffneten Schutz, das
Land verläßt. Die KFOR reagiert flexibel: Dieselbe Macht,
die sich für die Rückführung bedauernswerter
Heimatvertriebener feiern läßt, findet nichts dabei,
serbische Flüchtlinge hinauszueskortieren, die jetzt vom
spiegelbildlichen ethnischen Säuberungswahn bedroht sind; dieselbe
Streitmacht, die bereit und imstande war, einen ganzen Staat zu
zerschlagen, um "Mörderbanden" zu stoppen, erklärt sich
außerstande, "hinter jeden Serben einen Soldaten zu stellen" und
in ihrem Besatzungsgebiet Massaker und Plünderungen zu
unterbinden. So vereinfacht sich immerhin das Programm eines
"multiethnischen Kosovo", in dem in Zukunft verfeindete
Völkerschaften "friedlich zusammenleben" sollen.
Andererseits hat die NATO erklärtermaßen – und auch
dieser Erklärung ist sie eine Beglaubigung als unbedingten Respekt
gebietendes Machtwort schuldig – das Kosovo nicht erobert, um es
der albanisch-stämmigen Bürgerkriegspartei zu schenken. Hier
residiert sie; das Monopol auf Gewaltanwendung liegt erst einmal und
bis auf weiteres bei ihr; Hauptberuf der befreiten und
heimgeführten Massen ist es, sich als taugliches Besatzungsvolk zu
beweisen und sich zu fügen. Das wird den Albanern und ihren
"selbsternannten" Waffenträgern auch klargemacht: Die KFOR sieht
sich genötigt, unter Kontrolle zu nehmen, was sie selbst
freigesetzt hat. Die Folge sind manch unschöne Konfrontationen, so
daß der Besatzungsmacht von Seiten ihrer Schützlinge die
ganz neue Aufgabe zuwächst, sich auch noch gegen diese
durchzusetzen.
– Daneben hat es die NATO mit einer zweiten Besatzungsmacht zu
tun. Mit der Anwesenheit der Russen hat sie ein Problem, das ihr
Ärger über die Erstbesetzung des Flughafens von Prishtina
präzise illustriert: Die Siegermächte sind nicht bereit, die
Frucht des Krieges, ihre Besatzungsmacht, mit dem widerstrebenden
Gegenspieler in Moskau zu teilen. Das ganze Kosovo ist Aufmarschgebiet
der NATO; was sie dort aufbaut, duldet keine Nebenmacht. Andererseits
will der Westen nicht so weit gehen, die Russentruppe, die er nicht am
Einzug hindern konnte, wieder hinauszuwerfen. Sie bekommt keinen
eigenen Sektor, darf sich aber in von der KFOR zugewiesene Stellungen
begeben und tun, was man ihr sagt. Ihrer eigenen robusten Truppe
erteilt die NATO dementsprechend einen weiteren Auftrag: Sie hat die
russischen Kollegen unter Kontrolle zu halten, an jeder
Eigenmächtigkeit bei der Ausübung ihres zugestandenen Anteils
am Besatzungsregime zu hindern und so vor Ort die politische
Degradierung Moskaus zum Laufburschen westlicher Entscheidungen
militärtechnisch umzusetzen. Wenn die russischen Soldaten bei
ihrem Einsatz in dementsprechend ausgewählten UCK-Hochburgen auf
Widerstand stoßen und Schwierigkeiten kriegen, ihre Stellung zu
behaupten oder überhaupt zu beziehen, dann ist das ganz im Sinne
dieses Beweisziels, daß Moskau völlig zu Recht kein Zipfel
Besatzungsmacht zusteht.
b) Es geht um die formvollendete Kapitulation von Milošević, seine Absetzung und weltstrafrechtliche Verfolgung, um seine Ersetzung durch ein passendes Regime.
Mit der restjugoslawischen Staatsgewalt hat die NATO – entgegen
ihren tatsächlichen oder vorgespiegelten, auf jeden Fall auf
siegreiche Fortsetzung des Krieges berechneten "Befürchtungen"
– im Kosovo kein Problem; ein um so größeres hat sie
damit, daß der feindliche Staatswille jenseits der
Besatzungszonengrenze weiterexistiert. Der Luftkrieg hat die Armee zwar
dezimiert, aber nicht vernichtet; er hat zwar viel zerstört, aber
noch Panzer und Soldaten übrig gelassen; und vor allem: der
böse Diktator, gegen den der ganze Aufwand gerichtet war, ist zwar
in die Schranken gewiesen, aber noch an der Macht: In solchen Reihungen
guter und schlechter Nachrichten machen die Veranstalter des
NATO-Krieges die demokratischen Statisten, die ihn gutgeheißen
haben, mit ihrem Standpunkt vertraut, daß das Kriegsziel noch gar
nicht definitiv erreicht ist. Die Problemsicht – der besiegte
Souverän existiert noch, und er gebietet noch über Potenzen!
– richtet ihren wachsamen Blick auf lauter unerledigte Aufgaben:
Die Entmachtung der feindlichen Herrschaft ist noch nicht komplett,
ihre Beseitigung steht noch aus.
Die Frage, wohin die serbischen Panzer abziehen, benennt schon das zu
lösende Problem. Der G-8-Plan verfügt den Rückzug hinter
Pufferzonen im eigenen Land; was dahinter passiert, entzieht sich dem
Einfluß der NATO. Mit der Darlegung dieses Mangels definiert die
Allianz ihre Zuständigkeit für den Rest Jugoslawiens, und die
entsprechenden Forderungen lassen nicht auf sich warten: Das
Militär, für das es an sich überhaupt keinen passenden
Aufenthaltsort gibt, soll auf jeden Fall in Montenegro und der
Vojvodina keine neuen Untaten begehen können. Die Gefahr existiert
aber; also pocht der Westen auf Stabilität, die in dem Fall in der
Zersetzung der jugoslawischen Restnation besteht: Zur Vermeidung eines
"zweiten Kosovo" wird Montenegro für unantastbar erklärt,
sein Chef zu ‚unserem Mann‘ vor Ort ernannt;
nachdrücklich gewarnt wird Belgrad vor "Übergriffen" im
"muslimischen" Sandschak und in der "ungarischen" Vojvodina, von denen
weit und breit nichts zu sehen ist. In diesem Stabilisierungsprogramm
ist eingeschlossen, daß regelrechter Separatismus, etwa die
staatsrechtliche Abtrennung Montenegros von der jugoslawischen
Rest-Föderation, nicht befürwortet wird: Die Freunde des
Westens sollen nicht bloß den Machtbereich des Feindes weiter
verkleinern, sondern dessen zentrale Gewalt insgesamt untergraben. Das
ist nämlich das Haupthindernis für stabile Verhältnisse:
der erfolgreiche Feldzug gegen den Schurkenstaat hat den Schurken
übriggelassen. Milošević regiert noch – zwar einen
Trümmerhaufen, aber er regiert. Der personifizierte böse
Wille des Feindes ist seiner Mittel beraubt, aber nicht beseitigt.
An der Behebung dieses Übels wird gearbeitet. Die dafür
ausgegebene Formel – Demokratisierung – nennt in vornehm
zurückhaltender Form Ziel und Mittel: Das Volk wird zum Widerstand
aufgerufen, Unzufriedenheit geschürt, jede Regung von Protest an
die große Glocke gehängt, jede regierungsfeindliche Clique
unterstützt; oppositionellen serbischen Bürgermeistern wird
Finanzhilfe an der Regierung vorbei versprochen. Was sonst in Europa
und sogar im neuen Kosovo die reine Anarchie wäre und als
Terrorismus bekämpft würde, ist für Serbien das
Wunschbild der Stunde: Die Massen kündigen ihre
staatsbürgerliche Loyalität, Provinzfürsten sagen sich
von der Zentrale los, die Armee probt den Aufstand; im Idealfall
fände sich ein radikaler Patriot, der seinen Präsidenten
erschießt... Leider wird viel zuwenig davon wahr. Also bleibt es
wieder einmal an den Demokraten von auswärts hängen, die
Sache voranzubringen. Die USA ergänzen den internationalen
Haftbefehl gegen die jugoslawische Staatsführung um die Auslobung
eines ansehnlichen Kopfgelds – ein freilich mehr für Amerika
als für den Balkan kennzeichnender Einfall, wie ein nationaler
Führer unwidersprechlich zu ächten und die Loyalität zu
ihm zu untergraben wäre. Solch wohlmeinendem Rat ans Volk, sich
von seinem Präsidenten zu trennen, folgt die Drohung, es
widrigenfalls in Kollektivhaftung zu nehmen: Die Leier "Keine Dollars,
solange Milošević..." zielt nachdrücklich auf den Unwillen,
gemeinsam mit dem leitenden "Verbrecher" ausgehungert zu werden. So
schafft der Westen den serbischen Massen das Führungsproblem mit
Milošević an, das er hat, und erteilt ihnen auf diese praktische
Art den Auftrag; sich als Vollzugsorgan seiner Neuordnungsvorstellungen
zu bewähren. Machtvoll und unwiderstehlich sollen sie sich, wie es
sich für mündige Bürger mit guter demokratischer
Knechtsnatur geziemt, nach einem neuen Führer sehnen.
Freilich nicht nach irgendeinem, sondern nach einem, der im
mächtigen Ausland beliebt ist. Mit einer simplen freien Wahl sind
die Freunde eines demokratischen Machtwechsels in Belgrad nicht
zufrieden zu stellen, es muß schon der Richtige ran: ein
"demokratisch gewählter Demokrat" – was keine Tautologie
ist, sondern das westliche Ideal einer erfolgreichen Marionette
formuliert. Der Ersatz-Milošević darf auf keinen Fall
"Nationalist" sein; er muß dem Anforderungsprofil der
Siegermächte entsprechen, also für ein pflegeleichtes Serbien
ohne Überreste der alten Staatsräson, dafür in
hingebungsvoller Abhängigkeit von EU und NATO bürgen; und als
derart selbstloser Erfüllungsgehilfe soll er dann auch noch freie
Wahlen gewinnen. Unter diesem bescheidenen Anspruch werden die
Alternativangebote der Opposition einer kritischen Prüfung
unterzogen – mit enttäuschendem Ergebnis: Die ehrgeizigen
Gegner des immer noch amtierenden Präsidenten sind teils zu
serbisch, teils zu erfolglos – und genau besehen allesamt beides.
Dieses betrübliche Testergebnis läßt sich in die
hoffnungsvolle Diagnose kleiden, die Häupter der Opposition
wären bloß zu zerstritten; die Therapie wäre dann
einfach. Das eigentliche Problem liegt jedoch tiefer. Die Ersetzung des
alten Regimes – an der Erkenntnis führt mittlerweile kein
Weg mehr vorbei – scheitert letztlich daran, daß der
Westen, der sie verlangt und betreibt, die politische Lage in Serbien
doch immer noch nicht wirklich beherrscht. Volk, Führung,
Opposition – alle treiben, was sie wollen; als käme Serbien
nach seiner Niederlage überhaupt noch so etwas wie eine
souveräne nationale Entscheidungsfreiheit zu. An den
Schwierigkeiten, Milošević durch ortsansässige
Helfershelfer zu ersetzen, erkennt der Westen schon wieder, was ihm
bereits an der unerträglichen Bewegungsfreiheit der
restjugoslawischen Restarmee aufgefallen ist: die Schranken, die die
fortbestehende Eigenstaatlichkeit des eigentlich doch besiegten Landes
ihm und seinem Anspruch auf Oberhoheit setzt. Es hilft also nichts:
Letztlich ist dagegen vorzugehen: gegen die menschenrechtswidrige
Souveränität Jugoslawiens als solche. Das wiederum geht
letztlich wohl doch nur mit Gewalt. Die in Frage kommenden Szenarios
rechnen mit Brutalitäten der Belgrader Staatsmacht gegen
völkische und oppositionelle Minderheiten, denen die NATO dann
endlich einmal rechtzeitig, nämlich noch bevor sie zu einem
Bürgerkrieg eskalieren, "nicht mehr länger zusehen"
könnte... Einstweilen ist zwar noch nicht einmal das zu haben. Die
hoffnungsvollen Warnungen regierender Menschenrechtsfreunde sind aber
klar genug: Die Gelegenheiten für den fälligen
Stabilitätsexport ins Kernland des Bösen sind in Arbeit.
c) Es geht um die passende Sortierung von Völkern und Staaten in der ganzen aufgemischten Region.
Die NATO- und EU-Mächte sind mächtig stolz auf sich: Gerade
erst haben sie Jugoslawien verwüstet, da lassen sie den Bomben
einen "Stabilitätspakt" für die gesamte Balkanregion folgen,
aus dem einstweilen nur Serbien ausgeschlossen ist und auch das nur
solange, wie Milošević noch regiert. Daß sie mit diesem
auf eine bessere Zukunft gerichteten Projekt ihre eigenen Legenden
über den Belgrader Tyrannen als schuldigen Urheber aller
Instabilität in Südosteuropa dementieren – wozu
bräuchte es, wäre das wahr, nach der "Ära
Milošević" noch solch einen Pakt? –, stört die
Wohltäter der Menschheit zwischen Österreich und Griechenland
überhaupt nicht. Eigens in einem der Zentren des
stabilisierungsbedürftigen "Pulverfasses", in Sarajevo,
versammelt, um den Völkern ihre Fürsorge in symbolischer Form
zu verabreichen, fassen die zuständigen Staatschefs und Minister
Errungenschaften wie die Volkstumskonflikte in Mazedonien, das Chaos in
Albanien, den Aufruhr in Rumänien usw. und die
flächendeckende Verelendung der Region insgesamt als die gegebene
Lage ins Auge, um deren "Stabilisierung" sie sich zu kümmern
gedenken.
Ein großes Versprechen ist das nicht. Mit dem Imperativ
"Stabilität" ist das ganze Elend dieser Länder und ihrer
Insassen angesprochen, aber unter einem brutal abstrakten
Gesichtspunkt: Die Verhältnisse - welche auch immer, denkbar
elendige eben – sollen politisch Bestand haben. Direkter
ausgesprochen: Die Leute, die dort unter den Bedingungen
vollständiger ökonomischer Zerrüttung und
vollständig unproduktiver gesellschaftlicher Antagonismen
herumexistieren, sollen politisch Ordnung halten, sich ihrer Obrigkeit
zuverlässig fügen; umgekehrt sollen die Regierenden –
sonst nichts, aber – eine wirksame Kontrolle über die
Bevölkerung in ihrem Machtbereich gewährleisten. Von
Wohlergehen ist durchaus nicht die Rede, noch nicht einmal von
aushaltbaren Lebensbedingungen, wenn "Stabilität" versprochen
wird, sondern von unangefochtener Selbstbehauptung der politischen
Herrschaft angesichts und trotz flächendeckender Zerrüttung
dessen, was man "Wirtschaft & Gesellschaft" nennt. Es geht um die
politische Klammer, die Land und Leute als Nation zusammenhält, wo
sonst nichts einen gesellschaftlichen Zusammenhalt bewirkt: um den
Bestand einer Gewalt, die die Insassen ihres Sprengels im Griff
behält.
Um die Staatsmacht in diesem elementaren Sinn ist es auf dem Balkan
also schlecht bestellt; durchsetzungsfähige Gewalt ist das, was
den Ländern und Völkern der Region vor allem abgeht –
befinden die Erfinder des "Stabilitätspakts". Mit der Warnung vor
einem "Flächenbrand", mit dem sie einander zum Eingreifen
ermuntern, bescheinigen sie einer ganzen kleinen Staatenwelt, daß
man bei ihr jederzeit mit einem Umschlag der politischen Herrschaft in
Anarchie rechnen muß – genau dem "größten
anzunehmenden" politischen "Unfall" übrigens, den der Westen unter
demselben Titel "Stabilität" in dem vom gleichnamigen Pakt
ausgeschlossenen Land, Serbien, herbeizuführen bestrebt ist. Als
Hauptursache für diese prekäre Lage werden – jenseits
von Milošević – Konflikte ausgemacht oder auch einfach
weitsichtig unterstellt, die unter dem Stichwort "ethnisch" laufen: Die
Haltbarkeit der Macht steht in Frage, wo ein Teil des Volkes den Staat,
in dem er lebt, nicht – mehr – als den Seinen begreift,
weil noch so viele "andere" dazugehören oder weil die Führung
selber nicht zum "eigenen" Verband gehört; wo überhaupt
Leute, die keinen anderen sozialen Zusammenhang kennen und als
verbindlich anerkennen wollen als den über "Blut" und eingebildete
Volksnatur, es mit "Fremden" von gleicher moralischer Machart nicht
mehr aushalten und immer auf dem Sprung sind, gegeneinander loszugehen.
Daß solcher Wahn auf dem Balkan nicht von allein eingerissen ist
und auch nicht "der Tradition" entstammt, sondern unausbleiblicher
Bestandteil des antikommunistischen Staats-Um- und
Neugründungswesens ist, das der Westen vehement ermuntert und
betrieben hat; daß der Westen selbst ihn mit seiner Intervention
im Kosovo, exemplarisch für alle unbefriedigten
Volkstums-Nationalisten der Region, mit aller Gewalt ins Recht gesetzt
und entsprechend angeheizt hat: davon will selbstverständlich
keiner der ideell oder wirklich dafür Verantwortlichen etwas
wissen. Über das Ergebnis machen sich die zuständigen
Menschenrechtler in der einen Hinsicht aber nichts vor: Wo
völkische Rechtspositionen gegeneinander stehen, da ist die letzte
Grundlage für eine Gewalt, die als politische "Klammer" ihren
Dienst tut, in Gefahr.
Dieses schöne Resultat der Liquidierung des ehemaligen
"Ostblocks", der einstigen jugoslawischen Föderation sowie
schließlich des serbischen "Störenfrieds" behandeln die
Veranstalter des "Stabilitätspakts" so, als hätten sie im
Südosten ihres Alten Kontinents "balkanische Verhältnisse"
einfach vorgefunden. Für sie liegt da schlicht ein Mangel in der
politischen Verfassung der betroffenen Länder vor, zu dem sie auch
gerne "fehlende demokratische Reife" sagen. Und als wäre gar
nichts weiter dabei, als ginge es um nichts als ein bißchen guten
Willen, verlangen sie von den vor Ort zuständigen Obrigkeiten die
Behebung dieses Mangels – als Voraussetzung dafür, daß
ihnen bei der Überwindung ihrer inneren Instabilität sinnvoll
und mit Aussicht auf Erfolg geholfen werden kann. Die politischen
Wackelkandidaten in der Region werden so – das ist die eine Seite
des "Pakts" von Sarajevo – dafür haftbar gemacht, daß
die Verläßlichkeit, die ihnen gerade abgeht, trotzdem
herrscht. Praktisch bedeutet das einen unmißverständlichen
Aufruf zur Gewalt: Die Regierungen sollen gefälligst alles
aufbieten, was ihnen an Ordnungsmitteln noch zu Gebote steht, um innere
Konflikte zu sistieren, ethnische Unruhen unterm Deckel zu halten, ihre
Völker am Randalieren zu hindern und die Grenzen ihrer
Armenhäuser zu schließen. Auf der anderen Seite wird die
Erledigung dieses Geschäfts den zuständigen Landesregierungen
keineswegs anheimgestellt, sondern zur Gemeinschaftsaktion der
Aufsichtsmächte erklärt – aus gutem Grund: Es geht gar
nicht darum, daß diese Staatsgewalten sich wieder zum Herrn der
Lage machen, um dann womöglich selber irgendwelche produktiven
gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrem Land zu stiften.
"Stabilität" schulden sie den andern: den EU- und
NATO-Mächten, die entschlossen sind, fortan vorausschauend und
immerzu auf den Balkan aufzupassen. Deren Recht und Anspruch auf einen
ordentlichen Hinterhof ohne Durcheinander und Blutvergießen will
bedient sein. Mit seinem großherzig offerierten "Pakt" setzt der
Westen sich als oberstes und letztentscheidendes Subjekt der verlangten
Herrschaftsordnung ein und erteilt einen Herrschaftsauftrag;
nämlich: für die Bedürfnisse seiner Macht ein stabiles,
belastbares Umfeld zu schaffen. Das ideologische Codewort dafür
heißt "Hilfe zur Selbsthilfe" und paßt ausgezeichnet:
"Hilfe" steht für die Gewährung von Mitteln, die den
beglückten Staat in die Lage versetzen, als Ordnungsmacht zu
funktionieren, klärt somit auf über die Instanz, von der das
Interresse an Ordnung auf dem Balkan ausgeht und die dafür
letztlich zuständig ist, und legt Dienst – ist von den
Empfängern zu erbringen – und Nutzen – liegt beim
Spender – fest; "Selbsthilfe" stellt klar, daß der Westen
die unterstützten Staatsgewalten dafür haftbar macht,
daß sie die verlangte Ordnung auch hinbringen.
Alles andere wäre vor dem demokratischen Steuerzahler im Übrigen gar nicht zu verantworten. Denn:
d) Schließlich geht es, wie sich das für den Frieden so gehört, um die Finanzierung sowohl des Krieges als auch der Aufsicht
über die Balkanstaaten, die sich die Bündnispartner –
in Konkurrenz wie in NATO-Eintracht – herbeigeschossen haben.
Die Siegermächte kommen um die Geldfrage nicht herum. Sie
erstreckt sich auf die Kosten des Krieges wie auf die Kosten des
Friedens.
– Die Ökonomie des Kosovo-Krieges besteht, wie
grundsätzlich in jedem Krieg, aus zwei Seiten: Er kostet
diejenigen, die ihn führen, Geld; und er vernichtet Reichtum bei
denen, gegen die er geführt wird. Beide Seiten sind angesichts der
Einseitigkeit des Krieges klar geschieden. Serbien ist vielleicht nicht
gerade "in die Steinzeit zurückgebombt", aber auf den Stand des
ärmsten Landes in Europa; wie das Land damit fertig wird, ist sein
Problem. Der Westen hat die Kosten seines Sieges zu bezahlen; wie er
das Geld aufbringt, das ihm sein Ordnungskrieg wert war, haben seine
Staatshaushalte zu regeln. Was für die Weltgeltung sein muß,
muß sein; das ändert aber nichts daran, daß die
unabdingbaren faux frais hinterher finanziert werden müssen. Der
gegebene Vorschuß erspart das Zusammenzählen der Milliarden
nicht; und erst recht nicht die Bezahlung der neuen Notwendigkeiten,
die die NATO noch mitten im Krieg entdeckt hat: Neben dem Ersatz der
benutzten Waffen ist Aufrüstung fällig; auch dieses
dringliche Bedürfnis haben die kostspieligen Bomben auf
Milošević angestachelt und sollen die Eichels der
Siegermächte in Zukunft unbedingt befriedigen.
Zusätzlich kompliziert wird die Kostenfrage dadurch, daß der
Krieg im Bündnis geführt wurde. Die geschätzte "halbe
Milliarde DM pro Tag, die der Krieg kostet" – die NATO
natürlich; der Schaden, den sie beim Feind anrichtet, hat in
dieser Rechnung nichts verloren –, entfällt proportional zu
den Kriegsleistungen zum Gutteil auf die Führungsmacht. Die macht
geltend, daß sie ihre Bomben ganz im Interesse der
europäischen Partner geworfen hat, legt zwar keine zweite
"Rent-a-gun"-Rechnung auf, mit der sie – wie nach dem Golfkrieg
– Monatsmiete für Flugzeugträger und Stückpreise
für Cruise Missiles kassiert, verlangt für ihr Hauptverdienst
beim Schießen aber Entbindung von den Kosten des Friedens sowie
die Selbstverpflichtung zum Kauf amerikanischer
Rüstungsgüter. Die Frage "Was kostet dieser Krieg?" ist mit
seinem Ende noch nicht rum.
– Die Ökonomie des Friedens auf dem Balkan besteht zum
ersten darin, die Fortsetzung des Krieges zu bezahlen. Die Kosten der
Besatzung errechnen sich aus den nötigen Gebrauchswerten zur
Herstellung der Ware Frieden – und der geht auch nach dem Krieg
nur mit Waffen zu schaffen. Antransport, Einmarsch und Unterhalt der
robusten Truppe, Aufbau einer militärischen Infrastruktur,
Niederhalten der aufgerührten Volksgruppen, Beaufsichtigung der
Russen: Die Implementierung des NATO-Friedens kostet Geld. Dieser
Posten ist fix. Damit geht die eigentliche Friedenswirtschaft aber erst
los. Was der Friede seinen Veranstaltern über diese absolut
notwendigen Ausgaben hinaus wert ist – darüber erteilt ein
sehr komplexes Phantom Auskunft, das unter dem Namen "Wiederaufbau"
durch den Balkan geistert: Es geht um die Kosten des Wiederaufbaus
dessen, was Serben und NATO kaputt gemacht haben.
Deren Bezifferung läßt nicht zufällig alles offen, was
die potentiellen Empfänger westlicher Hilfsgelder und Kredite
einzig interessieren würde: Wer, wieviel, wofür, wann, zu
welchen Konditionen? Die Zahlen, die geringfügig zwischen 500
Millionen und 100 Milliarden $, DM oder Euro schwanken, belegen nur,
wie relativ notwendig der "Wiederaufbau" für die ist, die als sein
Subjekt antreten. Der Westen braucht ihn jedenfalls nicht;
ökonomisch sind Staaten und Völker der Region uninteressant.
Zur Anlage- oder Absatzsphäre der Zukunft fehlt den dortigen
Nationalökonomien jede Voraussetzung; in der kapitalistischen
Konkurrenz sind sie grundlegend ruinierte, heillos verschuldete
Abbruchunternehmen. Ein aktuelles Interesse, Länder mit der
politischen Ökonomie eines Zeltlagers zu Aufbaukandidaten zu
machen, ist nicht zu erkennen; wenn überhaupt, besteht ein
Interesse daran, den Balkan als "Transitland" wiederherzustellen
– dieser Aufbau einer Infrastruktur kapitalistischen
Warentransports findet dann aber auch garantiert getrennt vom Aufbau
lokaler Nationalökonomien statt. [5]
Was es stattdessen aufzubauen gilt, das stellt der mit allerlei
diplomatischem Budenzauber in Sarajevo inszenierte Festakt namens
"Stability Summit 1999" – fast – unverblümt klar. Der
Aufmarsch von dreißig Staats- und Regierungschefs in der vom
Krieg gezeichneten bosnischen Hauptstadt ist als Symbol gemeint,
nämlich für die politische Inbesitznahme der ganzen Region
durch ihre neuen demokratischen Ober-Aufseher, bringt also gleich die
Hauptsache zum Ausdruck: Wer der Herr im Laden ist. Im Kleingedruckten
ihrer Abschlußerklärung bringen die versammelten Sieger in
ihrer Eigenschaft als Geberländer dann zu Papier, welche
Bedingungen die Klienten erfüllen müssen, um an ihre
Wohltaten heranzukommen. Sie geben eine Runde Konditionen aus, unter
denen ihre "Hilfe zur Selbsthilfe" starten könnte; und diese
Liste, wobei den Empfängern wozu geholfen wird, ist
aufschlußreich. Auf Erfüllung materieller Bedürfnisse
ist es jedenfalls nicht berechnet, wenn etwa "konkrete Aktionen zur
Verbesserung des Investitionsklimas" oder die "Existenz starker
Kapitalmärkte" zu zwei von acht Bedingungen für die
Gewähr von Finanzspritzen erklärt werden: Die Beseitigung der
Hilfsbedürftigkeit zur Voraussetzung von Hilfe zu machen, ist die
Absage an jede Art ökonomischer Unterstützung. Dafür
widmen sich die restlichen sechs Versprechen einer
unmißverständlichen Ansage: Sie erklären politische
Gefügigkeit zur – notwendigen, aber nicht hinreichenden
– Voraussetzung für finanzielle Beihilfen, also zu deren
Sinn und Zweck. So geht das Verlangen nach "Garantie von Demokratie und
innerem Frieden" oder nach "effektiven Maßnahmen gegen
organisiertes Verbrechen, Terrorismus und die Verbreitung von
Handfeuerwaffen" auf Ordnungsdienste, die zwar erstens unter den
herrschenden Umständen unmöglich zu erbringen sind und die
außerdem zweitens allen Berechnungen widersprechen, aus denen
heraus die regierenden Figuren vor Ort mit diesen Umständen ihren
Frieden machen, sofern sie nicht sogar überhaupt deren Urheber
sind. [6] Aber genau so ist es eben gemeint: Mit dem Verweis auf ihre
hoffnungslose Hilfsbedürftigkeit unterwirft der Westen die
Partnerstaaten seines Stabilitätspakts seinem Kontrollregime,
negiert noch die erbärmlichste Art nationaler Vorteilsrechnung und
behält sich die Entscheidung darüber vor, ob die Herrschaften
vor Ort den gestellten Ansprüchen hinreichend nachgekommen sind,
um Kredite zu verdienen. Die weitere Forderung nach
"grenzüberschreitender Kooperation der nationalen Souveräne"
verlangt überdies ausgerechnet dem allenthalben aufgerührten
und radikalisierten Nationalismus eine Selbstverleugnung ab, die die
westlichen Friedenstruppen und Hohen Kommissare in Bosnien z.B. schon
seit Jahren mit all ihrer Gewalt nicht zu erzwingen vermögen.
Deshalb sagen die Veranstalter des "Pakts" auch immer gleich feierlich
dazu, daß sie sich zur Vollstreckung jener Notwendigkeiten
"verpflichten", die sie den Balkan-Staaten diktieren. Deren
Souveränität trauen sie nämlich nicht bloß gar
nichts zu; sie mißtrauen ihr zutiefst: Sie gilt ihnen als ein
einziges Hindernis bei der Herstellung von Stabilität und eignet
sich überhaupt nur dazu, gebieterische Aufträge loszuwerden
und Schuldige namhaft zu machen, wenn sie sich zu dem Urteil
entschließen, daß die aufgestellten Bedingungen nicht
erfüllt wurden. Alle Entscheidungen behalten die
maßgeblichen Euro-Mächte und die allzuständige
Weltmacht sich vor – und die Entscheidungsmacht sowieso. [7]
Irgendein Geld wird trotz alledem aus der EU und sogar aus den USA in
den Balkan fließen. Die Prämissen dafür stehen aber
auch schon fest. Die eine bringen die Amerikaner, kaum daß das
Treffen von Sarajevo vorüber ist, noch einmal nachdrücklich
in Erinnerung: Aus den USA werden Ermittlungsergebnisse lanciert, und
vom neuen europäischen Hochkommissar aus Österreich werden
sie verhalten bestätigt, wonach von den mittlerweile abgeflossenen
5 Milliarden Dollar Aufbauhilfe für Bosnien 1 Milliarde veruntreut
worden und vor allem beim Clan des bosnisch-muslimischen Staatschefs
Izetbegović hängengeblieben sein soll. An diesem Vorgang ist der
Inhalt nicht weiter bemerkenswert, der Zeitpunkt hingegen von
Interesse. Über die Verwendungsart von Geldern, mit denen eine
Regierung von oben herab, hauptsächlich vermittels Darlehen
für kapitalistisch so hoffnungslos unproduktive Güter wie
Wohnungsbauten, einen sich selbst tragenden kapitalistischen Aufschwung
herbeiführen soll, für den ansonsten – außer
vielen armen Leuten – sämtliche Voraussetzungen fehlen,
darüber kann sich kein halbwegs abgeklärter Profit- und
Polit-Profi etwas vorgemacht haben. In dem Fall ist das Verhältnis
zwischen Geschäft und Gewalt einfach so beschaffen, daß
privatgeschäftliche Bereicherung, um die es schließlich
gehen soll bei den projektierten "blühenden Landschaften", nur
über Anteile an bzw. Nähe zu der politischen Zugriffsmacht
auf Kredite von auswärts läuft; umgekehrt erstreckt sich die
politische Verantwortung im Wesentlichen oder ausschließlich auf
die privatgeschäftsförderliche Verteilung der
zufließenden Mittel, und die Bürde dieser schweren
Verantwortung macht sich auch nur über das politische
Zugriffsrecht darauf bezahlt. Wo Demokratie und Marktwirtschaft so
funktionieren, sollte man deren beflissenen Funktionären
gerechterweise nicht Korruption vorwerfen. Genau das geschieht aber,
und zwar in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem
Balkan-Wiederaufbauprojekt, daß daraus "crystal clear" ein
politisches Urteil ersichtlich wird; ein denkbar negatives nämlich
über die Sorte Herrschaft, die der Westen dort vor Ort installiert
hat bzw. als Ansprechpartner braucht und – faux frais seiner
Oberhoheit – bis auf weiteres finanzieren soll. Es lautet
unmißverständlich: Den eigenen Kreaturen – andere
haben dort ohnehin nichts an der Macht zu suchen – darf der
Westen auf keinen Fall wirklich souveräne Befugnisse zugestehen,
weder über Geld noch über Regierungsmacht; sie werden mit
tödlicher Sicherheit nur mafiamäßig mißbraucht.
Oder anders: Hilfe verlangt definitiv Abtretung resp. Vorenthaltung
aller Hoheitsrechte; sonst läuft sie schief. Oder noch anders:
Nicht bloß im Fall Milošević, dem man nicht hilft, sondern
an den Kragen will, ist Souveränität kein Wert, den der
Westen zu respektieren hätte; für die Adressaten der
stabilitätsstiftenden Aufbauhilfe Südost gilt dasselbe.
Daraus folgt die Prämisse Nummer 2: Wenn es schon nicht darum
gehen kann, sich per Aufbaukredit ins kapitalistische Wirtschaftsleben
wirklich souveräner fremder Mächte einzukaufen; wenn es
vielmehr darum geht, pseudo-souveräne Dependancen westlicher
Weltordnungsmacht auf dem Balkan zu unterhalten; dann kommt alles
darauf an, wer wieviel beizutragen und zu sagen hat. Dann gilt es beim
Übernehmen von Lasten immer gleich die Rechte ins Auge zu fassen,
die man damit erwirbt, und daran zu denken, welche Pflichten man den
Partnern aufbürden kann. Das fängt bei der Verteilung der
Kompetenzen und Gelder im Kosovo an und hört bei der Frage des je
nationalen Engagements beim "Wiederaufbau" des restlichen Balkan nicht
auf. Die öffentlich bemühte Dialektik von militärischen
Meriten und Mühen, finanziellen Diensten und Verdiensten, das
stete Pochen auf die eigene Quote an Nutzen und Lasten bezeugt,
daß die Stiftung des immerwährenden Balkanfriedens durch die
Allianz der Wohlmeinenden eine Konkurrenzaffäre zwischen deren
imperialistischen Teilhabern ist; und sie spiegelt die Kleinlichkeit
und Härte wider, mit der sich alle um eine positive nationale
Bilanz bemühen – ein jeder bei sich.
Aber um was sollte es auch sonst gehen, wenn Imperialisten gemeinsam eine Balkanordnung schaffen.
***
Statt eines Fazit: Schön,
daß es für das alles eine Formel gibt, die in ihrer
abgebrühten Anspielung auf "humanitäre Hilfe" auch die
Bedürfnisse aller Freunde des Kosovo und seiner ehemaligen
Bevölkerung abdeckt. Sie heißt: "Rückkehr der Flüchtlinge".
Aus der Perspektive seiner imperialistischen Aufseher ist der
Flüchtling die Personifizierung von "Instabilität" auf dem
Balkan. Der Flüchtling ist ...
... nicht mal eben von zu Hause ausgerissen, sondern heimatlos;
... kein Freund des Zeltens, sondern zahlungsunfähiger Insasse
eines Zeltlagers in einem Staat, in den er nicht hingehört;
... ein Pflegefall fürs Rote Kreuz, der zudem in Scharen zum Abkassieren der Pflaster auftaucht;
... ein ökonomischer Taugenichts, den keiner benutzen will;
kapitalistisch weltweit unbrauchbar, als Rudel pure
Überbevölkerung;
... ein politischer Nichtsnutz, den keiner haben will (nicht mal
Milošević); wo er ist oder hinkommt: er stört (selbst
Schily und Beckstein); als Strom sogar gefährlich;
... eine hungrige Last von Ausländern, deren Übernahme nur Kosten und Unfrieden verursacht;
... alles in allem zu gar nichts gut.
Zu gar nichts? Von wegen! Der Rückkehrer in das Kosovo ist...
... echt zu beglückwünschen, denn er hat seine Heimat wieder. Was will der Mensch mehr?
... endlich frei; zwar auch ziemlich frei von Lebensmitteln, vor allem aber frei von Milošević.
... kein Kurde, sondern ein privilegiertes Exemplar seiner Gattung, dem
die NATO den Weg in die verminte Heimat freibombt. Als solches (aber
nur, wenn er sich friedlich benimmt)
... ein wunderbarer Beglaubigungstitel für das Recht und die Gerechtigkeit der NATO-Mission.
Seine Vertreibung adelte die Bomben auf Belgrad und Priština,
nun adelt seine Beheimatung den Sieg des Westens über Jugoslawien.
Die NATO stiftet den durch ihren Krieg zurückgeführten
Elendsgestalten eine Ordnung (von der keiner weiß, wie ihre
Bewohner über den nächsten Winter kommen): Nun überlebt
mal schön! Aus dieser abgebrühten Perspektive fallen in den
Freudenbildern heimkehrender Flüchtlingsströme die Nöte
der Menschen und die Notwendigkeiten, die zum Weltordnen berufene
Nationen ihretwegen auf die Tagesordnung setzen, endgültig in eins.
[1] Allen, die es mit der menschenfreundlichen und -rechtlichen
Orientierung der NATO noch immer haben, sei also zu bedenken gegeben,
welche "Beziehung" das Bündnis zwischen den Opfern von Milošević
und sich hergestellt hat: Die Opfer des Kosovo-Kriegs der Serben haben
eine Abrechnung der NATO mit Jugoslawien "geboten". Das
Vernichtungswerk des Luftkriegs hat gar nicht zufällig den
dreimonatigen Beweis erbracht, daß es kein Glück, sondern
ein Pech ist, von der NATO als Schutzbefohlener "betreut" zu werden.
[2] Öffentlich stand die Strategie des Westens stets kopf:
Die fortlaufende Eskalation eines total überlegen geführten
Luftkriegs wurde als eine Abfolge immer neuer
Selbstbeschränkungen, die zielstrebige Vorbereitung des
Eroberungskriegs als – vorläufiger – Verzicht auf
diesen dargestellt. Dumm wie die Nacht und parteiisch ohne jede
Reserve, hat die Öffentlichkeit in den demokratischen Ländern
stets den geglaubten Schein nörglerisch gegen den anerkannten
Zweck gehalten und zum Kriegsgeschehen die fordernde Scharfmacherei
abgeliefert.
[3] In der volkstümlichen, die Optik der Ordnungsmächte
verplausibilisierenden Parole, "man" könne nicht wegsehen, wo
Leute geschunden werden, erscheint der Krieg gegen Serbien wie ein
einziges Gebot der Menschlichkeit. Milošević schikaniert Albaner, das
"ruft" nach auswärtiger Intervention: So rufen die Staaten des
Westens sich zum Hingehen auf. Aus ihrem Ordnungs-Interesse,
überall nach "bad government" zu schauen, wird eine
allgemein-menschliche Verantwortung – und man ist da gelandet, wo
man hinwollte: Bei der moralisch unschlagbaren Begründung für
den Krieg, den "man" gerade führt. – Zum Thema im
übrigen: GegenStandpunkt 1-99, S.137: Die Sittlichkeit des
Imperialismus – Völkerrecht und Menschenrechte.
[4] Die Schweijkiade der Besetzung des Flughafens von Priština
sollte Eigensinn beweisen und hat am Ende die Ohnmacht gegenüber
dem aufgebauten westlichen Abschreckungsszenario bloß praktisch
demonstriert.
[5] Noch bevor irgendetwas beschlossen ist, geschweige denn eine
Finanzierung in Aussicht steht, schlagen sich amerikanische, deutsche,
britische, französische Firmen bereits um millionenschwere
Großprojekte. Ihre Regierungen haben noch keine Finanzmittel
für den edlen Zweck des "Wiederaufbaus" in ihre Haushalte
eingestellt, unterstützen ihre nationalen Unternehmer aber schon
mal mit dem Verweis auf die Verdienste, die sich ihr jeweiliges
Militär bei der Zerstörung des Balkan erworben hat.
[6] Die Friedenstruppe der NATO im Kosovo liefert selbst ein
schönes Beispiel dafür, daß es aus allerlei
stichhaltigen ordnungspolitischen Beweggründen heraus gar nicht
unbedingt opportun ist, jeden Hintermann eines Massakers als
Terroristen zu verfolgen oder alle Handfeuerwaffen einzuziehen, und
daß das deswegen dann auch gar nicht geht.
[7] Von wegen also: "Marshall-Plan"! Daß das Ganze unter
diesem Titel firmiert, ist ein historischer Treppenwitz. Mit dem
Original hat die angebliche Kopie nun wirklich überhaupt nichts zu
tun, weder hinsichtlich der politischen Räson des Unternehmens
noch, was ökonomische Voraus- und Zielsetzungen betrifft.
Politisch ging es seinerzeit um die Eröffnung einer
Weltkriegsfront gegen einen bedrohlichen Feind; in einer Region und
unter Bedingungen, wo die Parteinahme der Nationen für die Sache
des Westens alles andere als selbstverständlich war; die
entsprechende Neudefinition der Staatsräson der vereinnahmten
Nationen war ohne das Angebot und die Gewährleistung einer
materiellen Basis dafür gar nicht zu haben. Dieses Angebot
wiederum traf auf Länder, die aus ihrer Kriegswirtschaft immerhin
die wesentlichen Bedingungen für einen Neuaufbau ihres nationalen
Kapitalismus mitbrachten – außer der einen: einem guten
Geld; eben dieses wurde durch den Marshall-Plan verfügbar. Und
zwar ohne jede Gefahr eines Schadens für das weggeliehene
amerikanische Nationalgeld: Als Weltgeld waren die US-Dollars
konkurrenzlos, sogar offiziell goldgleich. Gläubiger und
"Währungshüter" profitierten mit von dem Aufschwung, den ihre
europäischen Schuldner damit hinkriegten und über viele Jahre
aufrechterhalten konnten, ohne an die Grenzen des gleichzeitig enorm
expandierenden Weltmarkts zu stoßen... In jedem einzelnen Punkt
ist die Sachlage beim projektierten "Wiederaufbau" des Balkan
entgegengesetzt bestimmt: Der Weltmarkt ist überfüllt; zwei
bis drei Weltwährungen stehen in heißer Konkurrenz um die
Frage, wie die in ihnen notierten Kreditmassen ihren fiktiven Wert
behalten; national zurechenbare Erträge aus einem Engagement auf
dem Balkan sind nicht abzusehen, nur bodenlose Unkosten, also noch mehr
verlorene Kredite; denn als Anlagesphäre für gutes Geld ist
die Region sowieso unbrauchbar und außerdem
überflüssig, deswegen ja schon seit dem Ende ihrer
"realsozialistischen" Bewirtschaftung ein einziges Abbruchunternehmen.
Ihre oberhoheitliche strategische Inbesitznahme hängt insofern
auch gar nicht von offenen nationalökonomischen
Grundsatzentscheidungen ab – die sind längst gefallen
– und überhaupt nicht mit wirtschaftlichen Chancen zusammen,
die der westliche Imperialismus den dortigen Staaten eröffnen
müßte; sie richtet sich ja auch gar nicht gegen einen Feind,
der eine Alternative zu bieten hätte.
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