Nachtrag zur Chronik des Kosovo-Kriegs [1]
Die Kapitulation
Immer wieder "Signale" aus Belgrad – von der NATO souverän ignoriert
In der achten Kriegswoche meldet die jugoslawische Nachrichtenagentur
Tanjug einen Teilabzug aus dem Kosovo, geplant sei eine
Truppenverminderung im Kosovo bis auf "Friedensstärke". Die NATO reagiert "ausgesprochen
kühl". Einen Tag lang will sie trotz ihrer bekannt
gründlichen Luftaufklärung "keinerlei Anzeichen für
einen Rückzug" entdeckt haben, wie ihr Sprecher Shea mitteilt. Man
läßt sich auch durch Berichte von Journalisten, die Belgrad
eigens als Zeugen herbeigebeten hat, nicht irritieren; umgekehrt
erläutert der NATO-Sprecher denen seinen Begriff von Abzug:
"Der Abzug sei nicht ausreichend, alle müßten umkehren, die
Straßen in Richtung Norden nehmen und das Kosovo nur noch im
Rückspiegel sehen." (SZ, 12.5.1999)
Die NATO-Politiker können ganz nach Gusto den Teilabzug als
nicht-existent abfertigen – Scharping hat "noch nie
gesehen, daß Soldaten ein Kampfgebiet in blankpolierten Bussen,
frischrasiert und ohne jedes Gepäck verlassen" (FAZ, 15.5.)
– oder als existent, aber ungenügend: "halbe
Maßnahme" (Albright, FAZ, 12.5.). Auf jeden Fall sorgen die
NATO-Streitkräfte vor Ort dafür, daß mehr nicht
zustandekommt. Während die Öffentlichkeit nach dem
bewährten Schema: "Kann man Milošević glauben?"
nach Beweisen schreit, meldet Shea harte Attacken auf jugoslawische
Einheiten im Kosovo. General Clark beglückwünscht die
alliierten Streitkräfte zu ihrem "bisher besten Tag"
(FAZ, 14.5.), und der englische Außenminister brüstet sich
ein paar Tage später mit der Trefferquote der NATO-Piloten:
"Die serbischen Truppen seien demoralisiert und könnten nicht aus ihren Verstecken herauskommen". (SZ, 18.5.)
– weitergehende Anstalten zum Rückzug gestaltet die NATO garantiert zum Selbstmordprogramm aus.
Der als Friedensangebot gemeinte serbische Versuch, den eigenen Krieg
im Kosovo zu sistieren, um die Bereitschaft zur Rückkehr zum
Status quo ante kenntlich zu machen, wird durch den Luftkrieg der NATO
vereitelt. So billig will die Kriegsallianz ihren Gegner nicht
davonkommen lassen; und so bescheiden, als bloße Beendigung
serbischer Militäraktionen im Kosovo, ist ihre Forderung nach
einem serbischen Rückzug nicht gemeint.
Weitere politische Signale aus Belgrad werden notifiziert und –
für nicht befassungswürdig erklärt. Die Initiative eines "Milošević-Vertrauten" und Ministers seiner
Regierung, der den deutschen Außenminister Fischer nach Belgrad
einlädt und die G8-Forderungen als "positive Grundlage
für Verhandlungen" akzeptiert; ein Interview mit
Milošević, in dem dieser sich mit einer "zur
Selbstverteidigung bewaffneten Friedenstruppe im Kosovo"
einverstanden erklärt; schließlich eine Erklärung von
Drasković, der den Friedensplan der G8 würdigt, abgegeben im
jugoslawischen Fernsehen – wie man aus der Definition legitimer
Ziele durch die NATO weiß, ist das die Propagandazentrale
Miloševićs –; alle diese Angebote sind den Kriegsherren
keine weitere Nachfrage wert. Und zwar nicht deshalb, weil man
Milošević ohnehin nichts glauben kann, wie die Version für
die Öffentlichkeit ungerührt behauptet: Sie werden ja gerade
als ermutigende Anzeichen dafür registriert, daß der Feind
Wirkung zeigt, daß seine Kriegsmoral beschädigt ist. Nur
folgert die NATO daraus umgekehrt, daß man auf dem richtigen Weg
ist und das Zerstörungswerk umso konsequenter fortsetzen
muß. Verhandlungsbereitschaft von Seiten Rest-Jugoslawiens, so
etwas wie eine Rückkehr zu Rambouillet, ist nicht das, was die
NATO herbeibombardieren will. Da ist sie um einiges anspruchsvoller,
und so sieht auch ihre Antwort aus:
Verschärfte Invasionsdrohung
Sie gibt erstens die Eröffnung zweier neuer Fronten, die Aufnahme
von Angriffsoperationen von der Türkei und von Ungarn aus,
bekannt; das erlaubt eine weitere Steigerung der Luftschläge,
nachdem der Luftraum westlich von Jugoslawien einigermaßen
überfüllt ist. Zweitens findet eine neuerliche
öffentliche Befassung mit dem Kapitel Invasion statt.
Der englische Kampfgeist hält die "Beschränkung"
auf den Luftkrieg für eine unnötige Herauszögerung des
Kriegsendes, Außenminister Cook drängt auf einen sofortigen
Einsatz von Bodentruppen; der Italiener D'Alema startet eine
Initiative in Gestalt eines Friedensplans, der für den Fall,
daß Rest-Jugoslawien seine Truppen nicht aus dem Kosovo abzieht,
Bodentruppen androht; Blair läßt sich in
Flüchtlingslagern als Kriegsheld umjubeln und verspricht den
albanischen Statisten in die Hand, daß die NATO sie
demnächst nach Hause begleitet; Deutschland lehnt den Einsatz von
Bodenkampftruppen ab. Das Schlußwort verbleibt beim
amerikanischen Präsidenten, der, nachdem er die britischen
Scharfmacher erst einmal zurückgewiesen und nachdrücklich
klargestellt hat, wer im Bündnis die Entscheidungen trifft, den
Bodenkrieg "nicht ausschließen" will. (FAZ, 20.5.)
Die Öffentlichkeit kolportiert das Hinundher im wesentlichen als
eine Debatte, an der sie lebhaft teilnimmt. Die Standpunkte variieren
zwischen besorgten Wünschen, daß es nicht zum Schlimmsten,
dem Opfer von NATO-Menschenleben kommen möge, und der Sorge um den
Gesundheitszustand des Bündnisses, dem von innerer Zerrissenheit
bis zur Selbstlähmung alles mögliche Bedenkliche attestiert
wird. Ein gewisses erkenntnisleitendes Interesse bildet bei diesen
Erwägungen selbstverständlich die Bedeutsamkeit der eigenen
Nation, die Frage also, wie diese sich mit ihren Potenzen in einem
solchen Szenario wiederfinden und wieviel Ehre sie dabei einlegen
würde. Vor lauter solchen Sorgen und auch noch der, ob das
Bündnis diese neuerliche Zerreißprobe überhaupt noch
überstehen kann, fällt ein bißchen unter den Tisch,
daß diese "Debatte" einen Adressaten hat und
daß diesem in unüberhörbarer Weise die Drohung
präsentiert wird, sich der NATO demnächst auch am Boden
gegenüberzusehen.
Neben der Selbstdarstellung und dem diplomatischen Dialog der
politischen Führer erörtern die militärischen
Führungsstäbe der NATO ihren Bedarf und halten eine deutliche
Aufstockung der "Friedenstruppe" für erforderlich
– als öffentliche Begründung figuriert einerseits die
wachsende Zahl heimzugeleitender Flüchtlinge, andererseits der
nächste Winter, dem die Planungsstäbe einen Zeitplan
entnehmen, bis wann der Rücktransport passiert sein muß. Der
amerikanische Generalstab beantragt brieflich bei seinem
Verteidigungsminister die Freigabe der Option Bodenkrieg, der
Oberkommandierende des NATO-Kriegs, General Clark, trägt in
Washington sein Bedürfnis nach einer Beschleunigung und
Vervollständigung der Operation durch Bodentruppen vor:
"Ich kann nicht garantieren, daß die Kriegsziele mit dieser
Strategie der Luftangriffe erreicht werden." (FAZ, 22.5.)
Den US-Militärs kommt die Tatsache, daß Rest-Jugoslawien die
NATO-Strategie bislang immer noch aushält, offensichtlich wie eine
unerträgliche Provokation von seiten des Gegners vor, der sich dem
Krieg entzieht, der Abnützungskrieg aus der Luft wie ein
unverständlicher Verzicht auf die Fülle ihrer Mittel und ein
Verbot, den Feind endlich zu stellen.
Bei der Gelegenheit erfährt man dann schließlich, daß
von einer Debatte über den Einsatz von Bodentruppen eigentlich
auch nurmehr, was den Zeitpunkt angeht, die Rede sein kann: Schon vor
dem NATO-Gipfel in Washington hat Solana Clark damit beauftragt, die
Invasionspläne zu überarbeiten; die liegen vor, fix und
fertig in vier Versionen, und das schon seit Sommer 98 – von
wegen also "Reaktion" auf die schrecklichen
Vertreibungen... Eine Überarbeitung ist wegen der
militärischen Einschätzung der zwischenzeitlich erzielten
Erfolge fällig; und über das Ergebnis wird längst im
Militärausschuß des Bündnisses beraten. Am 25.5. ergeht
schließlich ein Beschluß – zur Aufstockung der "Friedenstruppen". Wie Clark zuvor schon per New York Times
mitteilt, kann er auch mit diesem Etikett leben, die Hauptsache besteht
im systematischen Aufbau einer entsprechenden Truppenkonzentration vor
Ort:
"Auch wenn der Hauptauftrag für diese Truppe lautet, erst
nach einem Einlenken von Milošević und dem Ende der Bombenangriffe in
das Kosovo zur Friedenssicherung einzurücken, könne sie doch
die Option eines Kampfeinsatzes offenhalten." (SZ, 22.5.)
So wird das Invasionspotential Zug um Zug herangeschafft und vor der
jugoslawischen Grenze in Stellung gebracht. Und in diesem Rahmen hat
auch der eskalierende Bombenkrieg seinen guten Sinn, an dem die
Öffentlichkeit, je länger er dauert, herumzweifelt, indem sie
ihn abwechselnd als Drückebergerei verdächtigt oder als
gutgemeinte Absicht der Ersparnis von Menschenleben hochleben
läßt, die aber doch nicht klappen kann: Der Luftkrieg
verbessert von Tag zu Tag die Voraussetzungen für einen Einmarsch
– im NATO-Jargon: "permissive environment" –,
vernichtet fortschreitend die Mittel der jugoslawischen Abwehr, so
daß der letztendliche Einsatz von Militär am Boden
möglichst genau zu berechnen und seine Kosten zu minimieren sind.
Mit dieser freizügigen, von einer militärischen Gegenwehr so
gut wie gar nicht beeinträchtigten Planung und Handhabung der
militärischen Optionen gibt die NATO zu Protokoll, daß sie
in aller Machtvollkommenheit über den Kriegsverlauf entscheidet
und gar nicht daran denkt zu verhandeln. Sie stellt ihrem Kontrahenten
in Belgrad, je mehr der das Bedürfnis erkennen läßt,
seinem ruinierten Staatswesen weitere Schläge zu ersparen, umso
drastischer die fortschreitende Zerstörung aller staatlichen
Mittel in Jugoslawien in Aussicht, ergänzt und gesteigert um die
Drohung mit einem Einmarsch, deren Glaubwürdigkeit sie materiell
untermauert. Sie erlaubt Serbien keine Alternative außer der,
sich zwischen einer Invasion, d.h. dem Herauskämpfen einer
militärischen Niederlage mit unabsehbaren Folgen für die
serbische Hoheit, oder der vorherigen Kapitulation zu entscheiden.
Russen verhandeln – NATO bombardiert
Die NATO läßt zu, daß andere verhandeln. Nachdem sich
die empörte Moskauer Führung ihr Dilemma, dem Angriff auf
ihre Interessen am Balkan und der Konfrontation mit der westlichen
Allianz ausweichen zu wollen, sich andererseits aber aus dem Geschehen
nicht ganz herausdrängen zu lassen, in eine neue Aufgabe
übersetzt hatte, die einer Vermittlung zwischen den
Kriegsparteien, um auf diesem Weg ein Moment von Zuständigkeit zu
retten, hat sie ein weiteres Mal nachgegeben. Sie hat sich mit der
Vereinbarung der G8-Prinzipien auf einen "Rahmen" für
ihre Vermittlung festlegen lassen, der das Kriegsziel der NATO im
Prinzip festschreibt: die Beseitigung der jugoslawischen Hoheit im
Kosovo und ihren Ersatz durch eine "internationale zivile und
Sicherheitspräsenz". Auf dieser Grundlage lehnt der Westen
eine eigene Rolle Rußlands nun nicht mehr rundherum ab. Man
attestiert der regen Reisetätigkeit des russischen
Sonderbeauftragten Tschernomyrdin zwischen Belgrad und den
Hauptstädten der Kriegsallianz eine gewisse Nützlichkeit,
unter der Bedingung freilich, daß man selbst den Inhalt und Zweck
der Verhandlungen definiert.
Auf der einen Seite wird die unablässige russische Forderung nach
einem Bombenstopp – auf diese Forderung hat sich die russische
Ausgangsposition der Verurteilung eines völkerrechtswidrigen
Kriegs zurückgezogen – ebenso unablässig abgewiesen;
die Veranstaltung wird sich bis ungefähr zum letzten Kriegstag
wiederholen. So stellen die Kriegsmächte klar, daß von einer
Vermittlung in der Hinsicht, daß der Vermittler auch nur der Form
nach beiden Konfliktparteien ein Nachgeben abhandelt, keine Rede sein
kann. Auf wiederholte vehemente russische Drohungen, nicht nur die
Vermittlerrolle, sondern auch gewichtige Beziehungen zu den USA zu
kündigen, falls die russische Forderung nach einer Unterbrechung
des Bombardements abgelehnt wird, reagiert die westliche
Führungsmacht mit provokativer Herablassung:
"Talbott spielte Äußerungen Jelzins herunter,
Rußland werde sich aus der Kosovo-Diplomatie zurückziehen,
wenn die NATO ihre Luftangriffe fortsetze und nicht auf russische
Vorschläge eingehe. Wichtig sei, so Talbott, daß
Tschernomyrdin weiter der Auffassung sei, daß eine Fortsetzung
der diplomatischen Bemühungen zur Beendigung des Luftkriegs gegen
Jugoslawien nützlich und notwendig sei." (FAZ, 14.5.)
Eine gelungene Kombination: Die russische Forderung an die eigene
Adresse lassen die USA regelmäßig auflaufen, der
Unterhändler soll sich davon aber nicht verdrießen lassen
und seine "Vermittlung" in Richtung Belgrad fortsetzen,
wenn er nun einmal der Auffassung ist, daß das zu etwas gut sein
könnte. Eine zarte Andeutung, daß die USA auch ohne
russische Vermittlung ganz gut leben könnten, Rußland aber
offensichtlich nicht... So legt die Führungsmacht der NATO
Tschernomyrdins Aufgabe rücksichtslos gegen alle russischen
Prätentionen und ziemlich einseitig fest: Sie funktionalisiert ihn
als 'postman', als diplomatischen Übermittler der
Kapitulationsforderung und sonst nichts.
Auf der anderen Seite steigert die NATO – wie zum Hohn auf die
russische Forderung nach einem Bombenstopp – die Anzahl ihrer
Angriffe immer weiter, beweist nebenbei, daß ihre
Kapazitätsgrenzen noch keineswegs erreicht sind, und unterstreicht
damit die Botschaft an beide Adressen: Der russische
Möchtegern-Vermittler kann mit keinerlei Konzessionen zugunsten
seiner Mission rechnen, und sein Verhandlungspartner Milošević
braucht gar nicht erst darauf zu setzen, daß ihm eine russische
Fürsprache irgendetwas erspart. Zur Betonung, wem die exklusive
und souveräne Entscheidung über Verhandlungen und deren
Erfolg zusteht, werden genau plaziert vor und nach Tschernomyrdins
Besuchen eigens vermehrt Bombenangriffe auf Belgrad geflogen. Man
erprobt neue Formen von Kriegskunst: Tschernomyrdin verhandelt in
Belgrad, die NATO bombardiert Kasernen in der Stadt, trifft ein
Krankenhaus und diverse Botschaften. "Die schwersten Angriffe seit dem
Beschuß der chinesischen Botschaft..." (SZ, 21.5.)
So wird Rußland laufend von neuem vor die Alternative gestellt,
die eigene Drohung wahrmachen zu müssen und dann gänzlich an
den Rand gedrängt zu werden oder die Zurückweisung zu
schlucken, und entscheidet sich für das Zweite, bestätigt
also die Funktionszuweisung durch die USA.
Belgrad unterwirft sich – "im Prinzip". Die Antwort des Westens: Anklage in Den Haag!
Am 20.5. präsentiert Tschernomyrdin schließlich einen Erfolg seiner Diplomatie:
"Nach einem Gespräch mit Tschernomyrdin hat Milošević seine
Bereitschaft signalisiert, auf der Basis der G-8-Vorschläge unter
dem Dach der UNO über eine Friedenslösung im Kosovo zu
verhandeln... Bei der Ausarbeitung von Detailfragen verlange
Jugoslawien jedoch ein Mitspracherecht." (NZZ, 21.5.)
Die Führung in Belgrad gibt zu Protokoll, daß sie die
Kapitulation ins Auge faßt. Um noch irgendeinen regierbaren
Restbestand von Jugoslawien zu retten, erklärt sie ihre
Bereitschaft, die G8-Forderungen als Grundlage von Verhandlungen zu
akzeptieren, also ihre Alleinzuständigkeit im Kosovo zugunsten der
"internationalen Gemeinschaft" aufzugeben – das aber
nicht ohne auf dem eigenen Recht zu bestehen, noch über das
Maß mitzustreiten, in dem in jugoslawische Hoheitsrechte
eingegriffen wird. Als Hebel zur Anerkennung einer solchermaßen
befugten Souveränität reklamiert sie die förmliche
Einbeziehung der "Völkergemeinschaft":
Milošević will Verhandlungen nicht mit der Internationalen
Kontaktgruppe, sondern mit den Vereinten Nationen aufnehmen, setzt also
immer noch auf die russische und chinesische Präsenz im
Sicherheitsrat als Mittel zur Relativierung der NATO-Position. Er
erklärt sich bereit, der Stationierung einer internationalen
Truppe unter UNO-Kommando zuzustimmen, wobei die UNO als Schiedsrichter
auch über und gegen den Kriegsgegner fungieren und nur solche
NATO-Staaten wie Griechenland und Portugal, die nicht an den
Luftangriffen teilgenommen haben, zur Teilnahme an der Friedenstruppe
aufrufen soll. Zur Gewährleistung der jugoslawischen Herrschaft
über ein autonomes Kosovo, das auch weiterhin Teil Serbiens
bleiben müsse, verlangt Milošević die Aufrechterhaltung
einer jugoslawischen Militär- und Polizeipräsenz im Kosovo;
außerdem soll der jugoslawischen Grenzpolizei das Recht auf
Kontrolle aller heimkehrenden Kosovo-Albaner vor dem
Grenzübertritt zustehen, um den Einzug von UÇK-Trupps
immerhin zu erschweren.
Die einhellige Antwort:
"Miloševićs Erklärung wird noch nicht als ein ausreichend klares Signal gewertet." (SZ, 21.5.)
Von wegen "nicht klar": Daß Milošević zu
weitreichenden Konzessionen bereit ist, um den Krieg zu beenden, ist
längst schon "klar", aber das Maß seiner
Unterwerfungsbereitschaft genügt der freiheitlichen Kriegsallianz
nicht. Sein Beharren auf einer immer noch irgendwie zu respektierenden
Souveränität im Kosovo kann die NATO aus ihren
unabänderlichen höheren Gründen nicht akzeptieren, wie
der amerikanische Präsident in seiner Rede am nächsten Tag
darlegt:
"Ich glaube, daß der Feldzug funktioniert. Jeden Tag
hören wir Berichte von Deserteuren in der serbischen Armee,
Meinungsverschiedenheiten in Belgrad und Unruhe in der serbischen
Bevölkerung. Präsident Milošević sollte wissen,
daß er die fundamentalen Bedingungen, die wir gestellt haben,
nicht ändern kann, weil sie einfach nötig sind, damit die
Kosovaren heimkehren und in Frieden leben können." (FAZ,
22.5.)
Damit Milošević diese Gründe endlich kapiert, werden einige
Extra-Anstrengungen unternommen, ihn explizit zur Zielscheibe zu
erklären. Die US-Regierung gibt bekannt: "Clinton billigt
Sabotage der CIA in Serbien". (Newsweek, SZ, 25.5.) Bei der
Bombardierung der Belgrader Innenstadt wird das Innenministerium mit
seinen "ausgedehnten unterirdischen Kommando- und
Kontrollanlagen" aufs Korn genommen. Die Villa des jugoslawischen
Präsidenten sei aus demselben Grund angegriffen worden. (Shea,
FAZ, 26.5.) Daneben werden wiederum Angriffe auf das
Stromversorgungssystem geflogen, diesmal weitaus gründlicher als
zuvor. "Notaggregate fallen aus... Probleme der
Wasserversorgung..." (SZ, 25.5.) Daß die NATO ihre Angriffe
immer noch steigern kann, nimmt die Öffentlichkeit fast schon als
Routine. "Die NATO flog am Mittwoch nach eigenen Angaben die
bisher heftigsten Angriffe: Es seien 740 Einsätze geflogen
worden." (SZ, 28.5.)
Am selben Tag erfolgt aus Den Haag eine weitere Antwort auf das
serbische Unterwerfungsangebot: Milošević und mit ihm die
Führungsspitze Rest-Jugoslawiens werden auf die internationale
Verbrecherliste gesetzt.
"Das internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag hat
offiziell Anklage gegen den jugoslawischen Präsidenten, den
Präsidenten Serbiens Milutinović, den serbischen Innenminister
Stojiljković, den stellvertretenden jugoslawischen Regierungschef sowie
gegen den Generalstabschef der jugoslawischen Armee, Ojdanić erhoben.
Die Anklageschrift wirft ihnen Verbrechen gegen die Menschlichkeit,
Morde und Vertreibungen vor, die von serbischen Truppen im Kosovo
begangen worden sind... Das Material, auf das sich die Anklage
stützt, ist in den vergangenen Monaten vor allem von
NATO-Ländern, internationalen Organisationen und einzelnen
Personen zusammengetragen worden." (NZZ, 28.5.)
Die Bekanntgabe wird in der westlichen Staatenwelt unisono als
gewaltiger historischer Fortschritt gewürdigt: "...das erste
Mal in der Geschichte, daß das Tribunal ein Staatsoberhaupt
während eines bewaffneten Konflikts der Verübung schwerer
Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht
beschuldigt". (FAZ, 28.5.)
Wo sie Recht haben, haben sie Recht. Daß sich Kriegsgegner
wechselseitig als Verbrecher bezichtigen, ist traditioneller
Bestandteil jeder Kriegsmoral und -propaganda; daß nach einem
Krieg in Gestalt von Prozessen gegen die Machthaber der unterlegenen
Seite die Rechtmäßigkeit ihrer Niederlage bescheinigt wird
und sich der Sieger sein Recht auf eine Neuordnung der Beziehungen
genehmigt, ist auch nicht neu und unter dem Titel Siegerjustiz bekannt.
"Das erste Mal in der Geschichte" setzt sich hier aber die
Siegerjustiz schon vor dem Sieg in Bewegung, tritt in Gestalt eines von
der "Völkergemeinschaft" ins Leben gerufenen, für
überparteilich erklärten Tribunals in Erscheinung und bringt
schließlich das neue Instrument des "humanitären
Völkerrechts" in Anschlag, um noch laufende Kriegsaktionen
als "Verbrechen" zu identifizieren.
Alle Seiten legen großen Wert auf die Form: Die NATO-Staaten
erklären sich beeindruckt, wenn nicht gar überrascht von der
Entscheidung des "unabhängigen Gerichts" und
schwören, sie "respektieren" zu wollen, die
Chefanklägerin dementiert jede politische Einflußnahme oder
Berechnung: "Politischer Druck sei nicht auf sie ausgeübt
worden." (FAZ, 28.5.) Und niemand im Publikum hält das mit
der "Unabhängigkeit des Gerichts" für einen
schlechten Witz. "Unabhängig" ist das Tribunal
allenfalls insofern, als es schon vor dem Kosovo-Krieg, nämlich in
den Zeiten des Bosnien-Kriegs gegründet worden ist. Sein
Existenzgrund und seine gesamte Mission besteht aber in gar nichts
anderem als im Bedarf der NATO-Mächte, den Bürgerkriegs- und
Staatsgründungsmetzeleien auf dem Balkan, d.h. in erster Linie
denen der serbischen Seite den Titel "ethnische
Säuberungen" zuzuweisen, sie in ein Delikt zu verwandeln und
sich selbst vermittels dieser Operation als Exekutive eines
internationalen Strafgerichts ins Amt zu setzen. Mit dem Auftrag zu
internationaler Verbrecherbekämpfung ausgestattet, erklärt
sich die NATO dazu befugt, die Verbrechen mit ein bißchen Krieg
zu unterbinden, weshalb sie sich neben ihrem Krieg auch damit
befaßt, namhaft gemachte Verbrecher zu fassen und dem Gericht zu
überstellen. "Politischer Druck" auf Frau Arbour
wäre im Rahmen dieser sinnreichen Kooperation einigermaßen
überflüssig. Immerhin hat sich die NATO mitten in ihrem Krieg
gleich auch noch als Ermittler betätigt, das Tribunal mit ihren
Luftaufnahmen und ihrem Spionagematerial versorgt und die
Flüchtlinge, kaum angekommen in den Lagern, zur Aufnahme von
Zeugenaussagen einvernommen. Umgekehrt versorgt das Tribunal die NATO
mit der höheren Beglaubigung und Legitimation ihres Kriegsziels,
der "Verhinderung einer humanitären Katastrophe", die
sich die NATO zwar auch selbst schon zugesprochen hat, die aber, als
Anklage eines internationalen Gerichts gegen Milošević und
Genossen formuliert, den zusätzlichen Reiz besitzt, abweichende
politische Beurteilungen in Bezug auf Freund und Feind darauf zu
verweisen, daß auch sie der Gründung eines solchen Tribunals
zugestimmt, folglich sich auch dessen Sprüchen zu unterwerfen
hätten:
"So mögen die Regierungen der NATO die Anklage gegen
Milošević zwar im Augenblick als störend empfinden"
– eine Empfindung, die auch nur die Öffentlichkeit
verspürt in ihrem Drang, sich die "Unabhängigkeit" des Gerichts gegenüber seinen
politischen Auftraggebern ordentlich auszumalen. "Ihr
militärisches Eingreifen zugunsten der Kosovo-Albaner erhält
durch die Anklage wegen Verfolgung und Deportation jedoch eine
nachträgliche politische Legitimation, die die fehlende Zustimmung
des UN-Sicherheitsrats zu den Luftangriffen teilweise aufwiegt –
gegenüber innenpolitischen Kritikern genauso wie gegenüber
Rußland und China, die beide der Einsetzung des
Jugoslawien-Tribunals zugestimmt haben." (FAZ, 4.6.)
Die USA und ihre Kriegsverbündeten lassen keine Zweifel daran,
welchem Umstand sich der "historische Fortschritt" dieser
Rechtsförmlichkeit verdankt und warum sie so großen Wert auf
sie legen. Angesichts der herrschenden Machtverhältnisse in der
Staatenwelt, im Bewußtsein der Überlegenheit und
Unwidersprechlichkeit ihrer militärischen Mittel nehmen sie
für sich ein Monopol auf die Definition des in der
zwischenstaatlichen Konkurrenz Verbotenen und Erlaubten in Anspruch.
Sie wollen sich nicht länger von der überkommenen Form der
Auslegung und Exekution des Völkerrechts, dem Einigungszwang von
mehreren Vetomächten im UNO-Sicherheitsrat, behindern lassen. Sie
machen ihr exklusives Recht auf die Ausübung internationaler
Kontrollgewalt geltend, die anderen Souveränen die Reichweite
legitimen Machtgebrauchs diktiert, und zwar einschließlich in
früher einmal so genannten "inneren Angelegenheiten".
Dafür haben sie sich mit dem "humanitären
Völkerrecht" ein Institut zurechtkonstruiert, welches nicht
mehr einzelne Gewaltaffären und Staatsinteressen auf dem
Prüfstand stellt, sondern die Legitimität fremder
Staatswillen selbst. Das Kriegsgericht in Den Haag verurteilt die
jugoslawische Herrschaft in Gestalt ihrer führenden Vertreter als
verbrecherisch; umgekehrt setzen sich die NATO-Kriegsmächte damit
als Diener des Tribunals und Exekutoren dieses Urteils ins Amt. [2]
Vor lauter Begeisterung angesichts dieses Einzugs von Sittlichkeit in
die Weltpolitik macht sich die NATO-Öffentlichkeit zwei leicht
verdrehte Probleme zurecht: Erstens den gekünstelten Konflikt
zwischen Recht und Realpolitik, die Frage, wie mit einem
Kriegsverbrecher überhaupt noch Diplomatie betrieben werden
könne, immerhin brauche man ja noch seine Unterschrift unter den
Kapitulationsvertrag...
"Man kann nicht mit Politikern verhandeln, die vom UNO-Tribunal
angeklagt sind, Kriegsverbrechen begangen zu haben... Milošević
hat als Gesprächspartner bei Verhandlungen zur Beilegung der
Kosovo-Krise und als Garant für eine Nachkriegsordnung
endgültig ausgedient. Unbeantwortet bleibt allerdings die Frage,
mit wem denn der Westen über eine Friedensregelung sprechen
will." (NZZ, 28.5.)
Welch eine Verlegenheit für die NATO-Diplomatie: Ausgerechnet die
in Gestalt eines "unabhängigen Gerichts"
institutionalisierte neue Kriegsmoral der NATO – soll der NATO
Knüppel zwischen die Beine werfen! Nachdem sich aber die
Öffentlichkeit nachhaltige Sorgen um die diplomatische
Manövrierfreiheit der Kriegsdiplomatie macht, erfolgt Entwarnung
aus Washington.
"Regierungsbeamte in Washington erinnerten daran, daß der
amerikanische Gesandte Holbrooke während des Bosnien-Konflikts mit
den beiden als Kriegsverbrecher angeklagten Führern der bosnischen
Serben, Karadžić und Mladić zusammenkam." (SZ, 28.5.)
Gottseidank kann die NATO selbst ihre Legitimationsverfahren und die
anderen Instrumente ihrer Politik gerade noch auseinanderhalten.
Zweitens ventiliert die Öffentlichkeit wieder einmal die Frage, ob
man denn mit der Einlösung des Versprechens rechnen darf, ob und
wann die NATO Milošević auch einfängt und vor Gericht
stellt. Die Sorge ist zwar von der offiziellen Parole inspiriert, die
den politischen Gegner als Verbrecher identifiziert, liegt aber auch
ein bißchen neben der Sache: Bei dieser Exekution des neuen
Völkerrechts geht es nun einmal nicht ums Einfangen von
Verbrechern – das höchstens als letzte Zutat und
krönenden Abschluß –, sondern darum, einen für
unduldbar erklärten Staatswillen niederzumachen. Bei diesem
Programm kommen andere Mittel zum Einsatz, erst einmal solche wie ein
NATO-Luftkrieg, dann z.B. das Aufhetzen des serbischen Volks zu ein
bißchen Bürgerkrieg... Und auch die konkurrierenden
Interessen und Einsprüche dritter Staaten sind mit der
beanspruchten Rechtsförmlichkeit keineswegs erledigt, sondern
werfen eigene Machtfragen auf.
Was die NATO-Öffentlichkeit mit ihrem Problemgetue komplett
versäumt bzw. in unpassende Bilder einkleidet, ist der
diplomatische Gehalt der Anklageerhebung: Das Gericht in seiner
justiziellen Optik ist stolz darauf, daß es nunmehr – im
Unterschied zu den Fällen aus dem Bosnien-Krieg – die
Befehlskette bis hin zur Spitze nachweisen kann, dieses Mal hat die CIA
ihre Abhörprotokolle zur Verfügung gestellt.
Schließlich geht es nach dem Willen der USA dieses Mal auch um
mehr als darum, ein Rest-Jugoslawien herzustellen und es in seine
Schranken zu verweisen wie im Fall Bosnien. Dieses Mal gilt der Krieg
einem Feind, der als dauerhafter und grundsätzlicher Störfall
auf dem Balkan identifiziert worden ist, dieses Mal wird nicht nur
gegen Serbenführer in Bosnien, sondern gegen das Staatsoberhaupt
und die jugoslawische Führungsspitze Anklage erhoben: In der Form
von Kriegsverbrechern, die ihrer gerechten Strafe zuzuführen sind,
wird nicht mehr und nicht weniger als der serbische Staatswille
für strafwürdig erklärt. Mit der Ankündigung der "Bestrafung" einer Staatsraison in Gestalt ihrer
führenden Amtsinhaber wird der Widerruf, die Kündigung
jeglicher Anerkennung für den serbischen Souverän in Szene
gesetzt – und diese Inszenierung kann schon deshalb die
Kriegsdiplomatie nicht "stören", weil das
Kriegsbündnis keine andere Diplomatie beabsichtigt außer
der, die auf die Entgegennahme der Kapitulationserklärung
ausgerichtet ist. Die Anklage aus Den Haag, die den Kriegsgegner zum
Objekt ihrer Gerichtsbarkeit erklärt, gerade während er noch
in Amt und Würden ist, antizipiert das Kapitulationsprogramm, das
die NATO für Serbien vorsieht – der Vollzug dieses Urteils
liegt dann wiederum nicht in den Händen einer internationalen
Justiz, sondern in denen der internationalen Streitmacht, die den
serbischen Staat in die Knie zwingt. Dem jugoslawischen Souverän,
der mit seinen Unterwerfungsangeboten immer noch die Berechnung auf
eine auf neuer Stufe auszuhandelnde Anerkennung verbindet, wird auf
diesem Weg eine eindeutige Auskunft erteilt: Verbrecher verdienen nur
ihre gerechte Strafe, Staatsverbrecher keine
Kapitulationsverhandlungen, sondern einzig die bedingungslose
Kapitulation!
Rußland hält die Anklage für "politisch motiviert".
"Es ist erstaunlich, daß man sich zu dem Schritt
ausgerechnet in dem Moment entschieden hat, in dem die ersten
Fortschritte im Friedensprozeß bemerkbar sind."
(Erklärung des Außenministeriums, SZ, 28.5.).
Eben deshalb – der Vollzug ist abzusehen!
"Wir holen die Russen ins Boot":
Rußland übernimmt die NATO-Linie – die gemeinsame Mission von Talbott, Ahtisaari und Tschernomyrdin
Tschernomyrdin reist wieder nach Belgrad und handelt Milošević
weitere Zugeständnisse ab: Jugoslawien läßt sich auf
den Forderungskatalog der G8 nicht nur als "Grundlage von
Verhandlungen" ein, sondern "akzeptiert" ihn und
erklärt sich bereit, dem Kosovo "eine substantielle
Autonomie" einzuräumen. (SZ, 29.5.) Die NATO reagiert wie
gewohnt, Shea erklärt das Entgegenkommen wieder einmal für
unzureichend und vermeldet einen neuen Schießrekord – "die bisher höchste Zahl von Einsätzen, insgesamt
792", als schmückenden Zusatz zu Tschernomyrdins
Belgrad-Besuch. Die politischen Auftraggeber halten es nun aber
für lohnend, sich die Ergebnisse der russischen Diplomatie
vorzunehmen. Tschernomyrdin kündigt schon den Durchbruch, eine
gemeinsame Reise mit Ahtisaari nach Belgrad, an, die
NATO-Verhandlungsführer beraumen aber erst einmal
Dreiergespräche auf dem Petersberg an. Dort bearbeiten der
US-Emissär Talbott und der Repräsentant der EU, der Finne
Ahtisaari, die russische Delegation.
Die NATO-Politiker haben zuvor schon die Verhandlungen mit Belgrad in
ihr kriegerisches Gesamtkunstwerk "eingebunden": Zuerst
einmal dadurch, daß sie die Auswahl zwischen genehmen und
nicht-genehmen Unterhändlern getroffen haben. Nachdem sich Mitte
Mai die UNO wieder ins Spiel bringen wollte und Generalsekretär
Annan den Schweden Bildt und den slowakischen Außenminister Kukan
als UN-Gesandte berufen hatte – eine nicht zu duldende
anti-amerikanische Aktion, weil Bildt es gewagt hatte, die Luftangriffe
zu kritisieren –, ließ das US-Außenministerium Annan
die Warnung zukommen: "Bildt hat kein Mandat, mit
Milošević im Namen der NATO zu verhandeln" (SZ, 15.5.),
und beauftragte die europäischen Partner damit, einen offiziellen
Verhandlungsführer zu benennen. Die "Völkergemeinschaft" gehörte damals wegen ihrer
kleinen Meuterei noch nicht "ins Boot", und von den beiden
UN-Gesandten ist im Folgenden kaum mehr etwas zu hören. An deren
Stelle erhält der Euro-Repräsentant die Aufgabe, die
Verhandlungsschiene im Namen der Kriegsallianz zu betreuen und die
russische Forderung nach mehr europäischer Unterstützung der
eigenen Diplomatie zufriedenzustellen. Ahtisaari gibt gleich zu Beginn
bekannt, daß seine Aufgabe vornehmlich darin bestehen soll, "die gemeinsame Grundlage für Verhandlungen zu
verbreitern" (FAZ, 15.5.), und widmet seitdem seinen
Verhandlungseifer ganz den russischen Verhandlern, um die auf die "gemeinsamen" NATO-Konditionen zu verpflichten. Seine
neutrale finnische Vorstellung von einer im echten Sinn
europäischen Friedensstiftung besteht darin, daß die "NATO eine zentrale Rolle spielen müsse" und
Rußland seine Vermittlung im Sinne der "Einhaltung und
weiteren Präzisierung der Prinzipien, die von den G8-Staaten
festgelegt worden waren", (FAZ, 18.5.) zu verstehen habe. Ganz
entsprechend der Albright’schen "Doppelmagnet"-Strategie: "Der Westen zieht
Rußland und Rußland zieht Serbien stärker an
sich" (FAZ, 14.5.); "an sich ziehen" bedeutet auf
amerikanisch wohl so etwas Ähnliches wie erdrückende
Umarmung. Während der ersten Etappe der Ahtisaari-Diplomatie
durfte Tschernomyrdin seine Verhandlungsergebnisse rapportieren, um
sich von Ahtisaari die "gemeinsame" Linie vorbuchstabieren
zu lassen, daß sie solange nicht als Erfolg akzeptiert werden,
wie Milošević nicht das komplette NATO-Programm unterschreibt
und Rußland seinerseits alle davon abweichenden Forderungen und
eigenen Interessen streicht. Auf diese Weise ließ die NATO die
diplomatischen Kontakte zu ihrem Kriegsobjekt überwachen,
ließ sich von ihrem russischen Mittelsmann über die
fortschreitende Kriegsmüdigkeit in Belgrad auf dem Laufenden
halten, und behielt die Entscheidung ganz sich vor, wann sie auf
Miloševićs Unterwerfungsgesten einsteigen und die russischen
Verhandlungen als erfolgversprechend einstufen wollte. Solange lehnte
der Finne die russischen Anträge ab, Tschernomyrdin nach Belgrad
zu begleiten. Schließlich "dürfe sich Ahtisaari als
internationaler Vermittler im EU-Auftrag nicht mit unnützen Reisen
verbrennen lassen" (Auskunft aus dem Auswärtigen Amt)
– die NATO-Repräsentanten wollen auch die Zelebration des
Erfolgs ganz für sich reservieren.
Anfang Juni ist es dann soweit. Vom ersten 1. bis zum 2.6. darf die
gespannte Öffentlichkeit mitfiebern, die angesagte Reise nach
Belgrad wird mehrfach abgesagt, man läßt einiges
durchsickern über ernste Meinungsverschiedenheiten zwischen dem
amerikanischen und russischen Unterhändler: Der Westen in Gestalt
von Talbott und Ahtisaari "zieht Rußland an sich",
indem den russischen Vertretern in Marathonsitzungen auf dem Petersberg
eingebleut wird, daß die NATO auch keine einzige ihrer
Forderungen zu akzeptieren gedenkt. Die Streitpunkte und ihre "Beilegung":
1. Einstellung der Luftangriffe:
Belgrad und Tschernomyrdin verlangen einen Stopp der Luftangriffe vor
dem Beginn des Abzugs der serbischen Truppen aus dem Kosovo. Die NATO
fordert genau die umgekehrte Reihenfolge. Die "Einigung",
die auf dem Petersberg erreicht wird, besteht in einer "Synchronisierung", wie die NATO diese ausgestaltet, wird
man später sehen.
2. Die Zusammensetzung der Friedenstruppe:
"Die Russen forderten zunächst, daß keine Truppen der
‚bombardierenden Länder‘ im Kosovo stationiert
würden. Von den NATO-Staaten sollten etwa portugiesische und
griechische Kontingente im südlichen Grenzbereich in engen
Sektoren einrücken. Die übrigen NATO-Truppen in Albanien und
Mazedonien sollten bleiben, um dort die Grenzen zum Kosovo für die
UÇK abzuriegeln, während ein starkes russisches Kontingent
zusammen mit chinesischen und indischen Truppen vom Zentrum aus das
Gebiet kontrollieren sollte, gemeinsam mit jugoslawischen Truppen. Zwei
oder drei muslimische Länder könnten auch wie neutrale
europäische Staaten Truppen im Kosovo stationieren." (FAZ,
11.6.)
Ob die russischen Diplomaten jemals daran geglaubt haben, die
NATO-Streitkräfte ließen sich durch die Stationierung einer
internationalen neutralen Truppe im Kosovo, gar noch unter Führung
von Russen, Indern und Chinesen, ihren Sieg abspenstig machen und sich
nach ihren enormen militärischen Leistungen von einer
dahergelaufenen Völkerfamilie ersetzen, oder ob sie damit nur
Milošević zur Unterwerfung zugeredet haben, sei einmal
dahingestellt. Jedenfalls wird diese Position ersatzlos gestrichen. Das
Gegen"argument" lautet: "unzweckmäßig" und "unrealistisch":
"Diese russischen Vorstellungen lehnten die Alliierten als
unzweckmäßig und als unrealistisch ab, schon weil
Rußland keine 10000 Mann für das Kosovo in wenigen Wochen
aufbieten und sie dann über längere Zeit versorgen
könnte... Auch müßte Moskau die Geldmittel dafür
aufbringen. Die Russen hatten gefordert, daß die UN das Geld
vorstrecken und die NATO später die Rechnung begleichen
sollte." (FAZ, 11.6.)
Man hat also, wie es sich unter guten Freunden gehört, besprochen,
wie man das gemeinsame Projekt am besten arbeitsteilig angeht, und ist
zu dem Ergebnis gekommen, daß die NATO dem russischen Freund in
Anbetracht seiner logistischen und finanziellen Engpässe
zweckmäßigerweise die Arbeit abnimmt. Echt stark! Mittels
der dreisten Manier, so zu tun, als ginge es um technisch-sachliche
Abwägungen, wird den Russen eine totale Zurückweisung ihres
Vorschlags präsentiert und bei der Gelegenheit gleich noch die
Ablehnung jeder ins Gewicht fallenden russischen Beteiligung an der
künftigen "Friedenstruppe" mitgeliefert. Es kommt zu
der "Einigung", daß Rußland seinen Friedensplan
zur Makulatur erklärt und sich auf den Willen zu eigener
Beteiligung, gleichberechtigt mit der NATO, zurückzieht:
"Tschernomyrdin erklärte vor der Presse, an der
internationalen Schutztruppe sollten die NATO und Russland beteiligt
sein. Die Truppe würde unter der Verantwortung der UNO
aufgestellt, beide Kontingente sollten aber unter getrenntem Oberbefehl
stehen. Die NATO und Russland müssten eine Vereinbarung über
die Zusammenarbeit ihrer Einheiten herbeiführen. Von westlicher
Seite hieß es, die NATO könne gemäß der
Petersberger Vereinbarung ihr Kontingent nach ihren eigenen
Vorstellungen zusammenstellen." (NZZ, 3.6.)
3. Die Aufrechterhaltung der jugoslawischen Souveränität
über das Kosovo sollte nach russischer Auffassung immerhin noch
durch die Einbeziehung der jugoslawischen Armee und die Kontrolle der
Grenzen garantiert werden. Die Einigung hingegen lautet: "Erst
müssen alle raus, anschließend dürfen einige –
eine genaue Zahl wäre festzulegen – wieder rein."
(FAZ, 4.6.) Außerdem verlangt das Petersberg-Papier nicht nur den
Rückzug serbischer Streitkräfte aus dem Kosovo, sondern
ausdrücklich "den überprüfbaren Abzug aller
Militär-, Polizei- und paramilitärischen Kräfte in
Übereinstimmung mit einem kurzfristigen Zeitplan". (FAZ,
5.6.)
Aus der russischen Delegation sickert durch, daß sie zutiefst
verbittert ist. Das russische Delegationsmitglied Sergejew "beklagte sich, Talbott habe in der Nacht völlig
überraschend 'unlogische und nicht durchsetzbare'
Vorschläge vorgelegt." (NZZ, 3.6.) Talbott setzt seine nicht
durchsetzbaren Forderungen dennoch durch; das entscheidende Argument
zur Überzeugung der Russen lautet nämlich schlicht und
einfach: Einmarsch! Schon vor den Petersberg-Verhandlungen hat Clinton
seine Entschlossenheit bekanntgegeben, "den Einmarsch von
Kampftruppen in das Kosovo anzuordnen, wenn es in den nächsten 3
Wochen nicht zu einer Übereinkunft mit Belgrad komme." (FAZ,
28.5.) "Gutunterrichtete Kreise" berichten nachher von einem
"geheimen Beschluss von großen NATO-Staaten, noch im
laufenden Monat in Jugoslawien einzumarschieren. Am Geheimtreffen bei
Bonn sollen in der vergangenen Woche die Amerikaner, die Briten, die
Franzosen und Italiener sowie einige weitere NATO-Staaten beteiligt
gewesen sein, die zum gemeinsamen Einmarsch mit Bodentruppen
entschlossen waren. Der Beschluss sei den Russen und den jugoslawischen
Militärs hinterbracht worden und habe seine Wirkung nicht
verfehlt." (NZZ, 7.6.)
Die Operation namens "wir holen die Russen ins Boot" ist
gelungen. Sie besteht darin, daß sämtliche russischen
Anträge, die Rücksichtnahme auf eine serbische
Souveränität betreffend, abgeschmettert worden sind. Der
russischen Beteiligung an dieser imperialistischen Aktion ist jeder
Schein eines Erfolgs im Sinne einer Vermittlung bestritten worden, der
russische Versuch, eine eigene Rolle zu spielen, die Prätention,
in einem als völkerrechtswidrig verurteilten Krieg könne man,
wenn schon nicht dagegenhalten, doch immerhin auf diplomatischer Ebene
der NATO Zugeständnisse abverhandeln, ist auf ganzer Linie
blamiert. Mit der Drohung der Invasion, also dem rücksichtslosen
Gebrauch der NATO-Gewalt, die jede Diplomatie hinfällig macht, ist
die russische Delegation dazu erpreßt worden, ihrer eigenen
Niederlage zuzustimmen und sich für die Rolle als schierer
Helfershelfer bei der Durchsetzung des NATO-Kriegsergebnisses
herzugeben.
Die Reise nach Belgrad zu Fronleichnam und ihr Erfolg: Belgrad unterwirft sich
Bemerkenswert unbeeindruckt von dem gerade noch von der
Öffentlichkeit ventilierten Problem, wie überhaupt ein
diplomatischer Umgang mit einem Staatsverbrecher möglich sein
soll, reist Ahtisaari nach Belgrad und führt vor, wie die passende
Diplomatie aussieht. Er bringt dem jugoslawischen Staatschef ein Diktat
der NATO zur Kenntnis, was er auch dem Rest der Welt eigens
erläutert:
"Ahtisaari erklärte, er habe Milošević die
Friedensofferte als nicht verhandelbar und als bestmögliche
Variante dargelegt und den jugoslawischen Präsidenten
aufgefordert, die Zeit nicht für Gespräche mit ihm zu
verschwenden, sondern für interne Abklärungen zu nutzen. Er
habe kein Mandat, um Änderungen am Angebot vorzunehmen."
(NZZ, 4.6.)
Der jugoslawische Präsident nimmt das Diktat entgegen und
läßt seine Anerkennung der Niederlage durch die Zustimmung
des serbischen Parlaments beglaubigen, die Partei Šešeljs stimmt
geschlossen dagegen und bezeichnet die Annahme des Friedensplans als
Kapitulation, was im Westen wieder einmal als bodenloser Nationalismus
durchschaut wird.
*
Die 12 Punkte, die das Diktat zur Kapitulation enthält, lassen an
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Der Plan sieht den
"überprüfbaren Rückzug der Militär-, Polizei-
und paramilitärischen Kräfte aus dem Kosovo" (FAZ,
4.6.) vor, d.h. die Entfernung sämtlicher serbischen Hoheitsorgane
und -instrumente. Mit der waghalsigen Konstruktion, daß sich die
Aufgabe jeglicher faktischen serbischen Souveränität
über die Provinz zugunsten einer internationalen Besatzungstruppe
mit einer "vollen Berücksichtigung der Prinzipien der
Souveränität und territorialen Integrität des
Bundesrepublik Jugoslawien" bestens verträgt, bestätigt
sich das Dokument seine völkerrechtlich einwandfreie
Legitimität und legt in Punkt 6 fest, wie in Zukunft die
jugoslawische Souveränität im Kosovo in Erscheinung treten
darf:
"Nach dem Rückzug wird einer vereinbarten Zahl von
serbischen Offiziellen die Rückkehr erlaubt, um folgende Aufgaben
zu erfüllen: die Verbindung zu der internationalen zivilen Mission
und der internationalen Sicherheitspräsenz, die Markierung von
Minenfeldern, die Aufrechterhaltung einer Präsenz an Orten des
serbischen Kulturerbes, die Aufrechterhaltung einer Präsenz an
wichtigen Grenzübergängen." (SZ, 4.6.)
Damit auch wirklich kein Missverständnis darüber aufkommen
kann, wie wenig die "territoriale Integrität"
Jugoslawiens mit einer Belgrader Souveränität über das
Staatsgebiet zu schaffen hat, wird die Anzahl der serbischen
Offiziellen, die zurückkehren dürfen, eigens spezifiziert: "Hunderte und nicht Tausende". Wie schon an der
bescheidenen Anzahl abzulesen ist, geht es bei der Zulassung einer
Handvoll serbischer Offizieller nicht um die Repräsentanz einer
Staatsmacht, sondern um die einer besiegten Staatsmacht; ebenso sehen
deren Aufgaben aus: Sie dürfen dem Sieger zur Hand gehen, wo der
ihre Dienste in Anspruch nehmen möchte. Mit der punktuellen
Aufstellung an einigen Grenzübergängen und an den serbischen
Heiligtümern wird Rest-Jugoslawien genau die passende Anerkennung
als Nation zuteil, die das NATO-Programm noch vorsieht: Dieses
Staatswesen soll nicht grundsätzlich von der Erdoberfläche
verschwinden, "nur" seinen gesamten Staatswillen in
NATO-Untertänigkeit aufgehen lassen; jenseits davon wird ihm noch
soviel an nationalem Eigenwillen zuerkannt, daß es ein Recht auf
eigene Götzenverehrung an eigenen historischen Orten besitzt... An
diesen von der NATO genehmigten Plätzen sollen sich dann die
Serben dereinst als Zielscheiben für die albanische Volkswut
aufbauen dürfen.
Der von der NATO neu eingerichtete Status sieht "eine
substantielle Autonomie des Kosovo innerhalb der Bundesrepublik
Jugoslawien" vor, d.h. explizit keine Rückkehr zu der von
Milošević aufgehobenen Autonomie der Provinz innerhalb der
Republik Serbien, sondern die Aufwertung der Provinz durch die
Annäherung an den Status Montenegros, als gleichberechtigte
Republik in Jugoslawien und gegen Serbien. Eine ähnlich
vorwärtsweisende Berücksichtigung gilt der Republik
Montenegro, die ein Stück weit von der serbischen Vorherrschaft
befreit wird, indem dem jugoslawischen Militär der Rückzug
ausschließlich auf serbisches Territorium vorgeschrieben wird: "Der Prozeß des Rückzugs schließt... die
Abgrenzung einer Pufferzone in Serbien ein, hinter die sich die Truppen
zurückziehen." Der "territorialen Integrität
Jugoslawiens" kann die NATO schon auch etwas Positives
abgewinnen, wenn sie vorerst ein Zusammenbleiben von Serbien,
Montenegro und Kosovo verordnet: Mit den beiden letzteren etabliert man
deren nationalistisches Aufbegehren gegen den serbischen Nationalismus
dauerhaft als Sprengsatz in diesem neuen "Staats"verband;
so bekommt die neue "Bundesstaats"-Konstruktion die
Schwächung der serbischen Führungsnation gleich mit als
Auftrag auf den Weg gegeben.
Punkt 3 sieht die Installierung der neuen Hoheit vor, "die
Stationierung einer wirksamen, internationalen zivilen Präsenz und
einer Sicherheitspräsenz im Kosovo unter UN-Aufsicht, die so
tätig werden, wie es gemäß Kapitel 7 der UN-Charta
entschieden werden kann". Der Titel der neuen Hoheit lautet zwar
UNO, de facto hat sich aber die NATO in ihrem Plan zum
maßgeblichen Instrument der UNO vor Ort selbst ernannt und sich
alle Rechte gemäß Kapitel 7 [3] schon einmal zugesprochen:
"Eine internationale Sicherheitspräsenz mit wesentlicher
NATO-Beteiligung muß unter einheitlicher Kontrolle und
einheitlichem Kommando stationiert und ermächtigt werden."
Daß eine "wesentliche Beteiligung" der NATO
einschließt, daß die NATO auch das "einheitliche
Kommando" besitzt, ist einleuchtend, die Logik muß im
Folgenden jedoch noch durchgesetzt werden.
Die NATO setzt ihre Doppelstrategie fort:
Arbeit an der Kapitulationsformel und Fortführung der Bombardements
Der britische Premier definiert ein Stück vorwärts, wie die
NATO die russische Ex-Weltmacht in ihrem Kapitulationsprogramm ein-,
d.h. herunterstufen möchte. Nach seiner äußerst
diplomatisch gefaßten Verlautbarung verdienen Rußlands
Forderungen keine ernsthafte Berücksichtigung, sondern nurmehr
eine ungefähr von der Art psychologischer Techniken, nach denen
man labile Persönlichkeiten nicht eigens reizen sollte:
"Auf die Teilnahme russischer Truppen angesprochen, meinte Blair,
daß man wie bisher auf russische Empfindlichkeiten Rücksicht
nehmen werde, an den klaren Forderungen der NATO aber keine Abstriche
gemacht würden. Dazu gehöre es auch, dass es keine Aufteilung
Kosovos in unterschiedliche Sektoren geben dürfe." (NZZ,
4.6.)
Die NATO-Sprachführer betätigen sich als
Auslegungskünstler und weisen mindestens dreimal pro Tag darauf
hin, daß Tschernomyrdin auf dem Petersberg die Formulierung vom
"einheitlichen Kommando- und Kontrollsystem... mit wesentlicher
NATO-Beteiligung" unterschrieben hat, um daraus zu "folgern", daß
Rußland keinesfalls ein eigener
Sektor zusteht. Das NATO-Kriegsziel ist zwar schon beschlossen und
besiegelt, soweit es um die Beseitigung serbischer Hoheit im Kosovo
geht; nun geht es aber um die Inthronisation der NATO als neue Hoheit,
und die verträgt keinesfalls eine auch nur formell
gleichberechtigte Beteiligung Rußlands. Da mögen sich die
russischen Vertreter noch so hartnäckig auf das vermeintliche
Programm der Beendigung des völkischen Kriegs vor Ort berufen,
für das sie genauso einstehen möchten – die NATO
dekliniert die Erfordernisse ihres humanitären Auftrags immer
deutlicher durch: Sie ist die einzige Schutzmacht der Kosovaren, die
sie dort anzuerkennen gedenkt; sie definiert eine russische Anwesenheit
als widerstreitendes, wenn nicht feindliches Interesse – es sei
denn, Rußland unterstellt sich ihrer Aufsicht. Der russische
Vize-Außenminister Awdejew: "Unter einem NATO-Kommando
gehen wir da nicht hin"; Talbott räumt ein, "daß
Rußland und die NATO eine unterschiedliche Auffassung über
die Kfor hätten." (FR, 5.6.) So geht der Streit voran
– insbesondere der um den Bombenstopp. Moskaus
Ministerpräsident Stepaschin beharrt auf der Einstellung der
Luftangriffe vor einer UN-Resolution. (FAZ, 4.6.) Nach seinen
kontinuierlichen Niederlagen, die sich Rußland bei seinen
Versuchen, seine Mitzuständigkeit zu retten, eingehandelt hat,
legt es sich umso mehr auf diese eine Forderung fest: Wenigstens das
möchte man sich zurechnen können, das aber unbedingt,
daß Rußland die Einstellung der Angriffe durchgesetzt hat.
Dafür pochen die russischen Vertreter auf ihren Status im
Sicherheitsrat, darauf, daß ohne ihre Zustimmung keine
UNO-Resolution zustandekommt. Die NATO lehnt ab:
"Nach dem unabdingbaren ersten Schritt, nämlich einer
verbindlichen und öffentlichen Erklärung Miloševićs,
daß auch er die Konditionen der Allianz akzeptiere, sei als
nächster Schritt der erkennbare und verifizierbare Rückzug
der serbischen Einheiten aus der Provinz Vorbedingung für eine
Unterbrechung der Luftangriffe." (FAZ, 4.6.)
Die "Konsequenz", die die NATO Rußland seit der
Abfassung des Petersberg-Papiers abverlangt, daß es
gemäß der Formel vom "einheitlichen Kommando"
auch zu unterschreiben hätte, daß dieses alleine der NATO
gebührt, ist nun einmal keine der Interpretation diplomatischer
Dokumente – auf der Ebene könnten die Russen mit gleichem
Recht kontern und tun das auch mit ihren Verweisen aufs
Völkerrecht, auf Rambouillet usw. und die dort anerkannte "Souveränität und Integrität der Bundesrepublik
Jugoslawien". Die NATO-Diplomatie bringt mit ihrem Hinweis auch
nur den Standpunkt gegenüber den russischen Unterhändlern in
Anschlag, daß sie, wenn sie sich schon so weit über den
Tisch haben ziehen lassen, doch auch weiterhin nachgeben sollten.
Operiert wird bei dieser immer weiter fortgesetzten Erpressung aber mit
dem unabweisbaren Gewaltapparat, den die NATO auf dem Balkan in
Stellung gebracht hat. Und der soll eben solange in Aktion bleiben, bis
die fortschreitende Definition der Kapitulationsbedingungen durch die
NATO von allen Beteiligten als verpflichtendes Diktat anerkannt und
unterschrieben ist. In Washington wird die Nachricht von der
Übernahme des NATO-Diktats aus Belgrad zwar als "positive
Entwicklung" bewertet. Regierungskreise erklären aber
postwendend, "daß es noch zu früh sei, über eine
Bombenpause zu sprechen", und schieben eine weitere
unerläßliche Bedingung nach. Soviel Anerkennung mag man dem
Milošević-Staat nicht gewähren, daß die Annahme des
12-Punkte-Plans durch sämtliche serbischen Regierungsorgane
genügen könnte; der Gegner muß seinen Willen zur
Kapitulation auf militärischer Ebene vorführen – und
das unter der aufrechterhaltenen Drohung mit Luftschlägen:
"Über die genauen Modalitäten des Rückzugs, der
vollständig sein muss, sind Kontakte zwischen der jugoslawischen
Armee und der NATO etabliert worden, die zu einer Einstellung der
Luftangriffe führen sollen. Die NATO will aber ihre Aktion (auch
so ein Wort für den Nicht-Krieg der NATO) so lange
weiterführen, bis klar ist, daß man sich in Belgrad an die
Vereinbarungen hält." (NZZ, 4.6.)
Die ersten Schritte zum Vollzug: Das Diktat von Kumanovo
Über die russischen Einwände und Forderungen setzt sich die
Kriegsallianz gleichzeitig praktisch hinweg, indem sie Vertreter des
jugoslawischen Militärs zu einem Treffen im mazedonischen Ort
Kumanovo, mittlerweile ein NATO-Militärlager, einbestellt. Die
NATO-Repräsentanten treten dort offensiv mit dem Standpunkt an,
daß die Bundesrepublik Jugoslawien seit der Annahme des
12-Punkte-Plans aus ihrer souveränen Zuständigkeit für
den Landesteil Kosovo verabschiedet worden ist und sich verabschiedet
hat, so daß es nunmehr ausschließlich um "Details" des serbischen Abzugs zu gehen hätte:
"Bei den Gesprächen, so wird in Brüssel betont, handle
es sich nicht um Verhandlungen. Vielmehr gehe es darum, alle Details so
abzuklären, daß kein Interpretationsspielraum übrig
bleibe." (NZZ, 7.6.)
Abgeschlossen werden soll ein "militärisch-technisches
Abkommen" – das Adjektiv "technisch" hebt
hervor, daß das Gegenüber bei diesem Abkommen
ausschließlich als Vollzugsorgan des NATO-Reglements für die
Kapitulation gefragt ist. Dabei geht es in allen "Details"
logischerweise nur um die politische Hauptsache, nämlich die
Installation der NATO als Hoheit vor Ort anstelle der serbischen
Hoheit. Die jugoslawischen Vertreter versuchen noch einmal, dagegen
Einspruch zu erheben, indem sie sich an das Subjekt UNO klammern,
dessen ausschließlicher Zuständigkeit sie mit dem
12-Punkte-Plan zugestimmt haben wollen:
"Sie sollten eine militär-technische Regelung
herbeiführen, bei der es um die Festlegung der genauen
Zeitpläne und der Strecken für den Abzug der serbischen
Einheiten sowie um dessen Verifizierung gehen sollte. Zur
Überraschung der NATO waren die serbischen Offiziere aber nicht
bereit und angeblich nicht befugt, diese Informationen entgegenzunehmen
und Absprachen zu treffen. Sie bestanden darauf, daß der
Rückzug ihrer Truppen erst beginnen sollte, nachdem der
UN-Sicherheitsrat eine Resolution zum Rückzug und zum
Nachrücken einer Friedenstruppe gefaßt hätte."
(FAZ, 8.6.)
"Vujović (der Vertreter des jugoslawischen
Außenministeriums) sagt ein Wort, das die NATO aus ihrem
Vokabular verbannt hat: Er nennt seine Gruppe eine 'Verhandlungsdelegation'... Als der Mann aus Belgrad auf
die 'Souveränität und territoriale Integrität der
Bundesrepublik Jugoslawien und ihres integralen Bestandteils'
Kosovo hinweist, da ist klar: Die Serben verstehen das, was über
den Unterschriften von Milošević, Ahtisaari und Tschernomyrdin steht,
keineswegs als Kapitulation... Außerdem spricht Vujović von einer
‚internationalen Sicherheitspräsenz‘, die auf
Grundlage eines UN-Sicherheitsratsbeschlußes errichtet werden
soll, nicht von der NATO... 'Nichts darf die Entschließung
des Sicherheitsrats präjudizieren', sagte Vujović."
(SZ, 8.6.)
Den Vollzug der Kapitulation auch nur der Form nach an ein externes
Gremium wie den Sicherheitsrat auszuliefern, lehnen die NATO-Vertreter
kategorisch ab; ein neuerlicher Streit um die Auslegung des "Friedensplans" kommt nicht in Frage. Gegen das letzte
Aufbegehren des Gegners besteht man umgekehrt darauf, daß "alle Details so abzuklären sind, daß kein
Interpretationsspielraum übrig bleibt", weil klar ist,
welche Zumutungen das Abkommen für einen fremden Souverän
enthält. Darin besteht schließlich der harte Kern der
Phrase, daß man Milošević nicht trauen kann, und deshalb
geraten die Verhandlungen in Kumanovo ins Stocken. Die
Siegermächte setzen noch eigens ein paar unerfüllbare
Aufgaben für den Feind auf die Tagesordnung:
"Vom serbischen Militär wird verlangt, daß die
vergrabenen Minen vor dem Rückzug zerstört werden. Auch diese
Forderung stößt auf Widerstand, weil dies innerhalb der von
der NATO gesetzten Frist von 7 Tagen nicht möglich sei...
Daß sich die Erörterungen mit der jugoslawischen
Militärdelegation bis zum Sonntag abend hinzogen, wird u.a. auch
auf serbische Einwände zurückgeführt, wonach eigene
Transportkapazitäten, Treibstoffvorräte und die Infrastruktur
unter den 74tägigen Luftangriffen zu stark gelitten hätten,
als daß den NATO-Instruktionen genau Folge geleistet werden
könne." (NZZ, 7.6.)
Schließlich haben die jugoslawischen Repräsentanten auch
sehr gut verstanden, was die NATO mit ihrer "Pufferzone innerhalb
Serbiens", in die sich die Truppen zurückziehen sollen,
präjudizieren will:
"Diese Forderung stößt in Belgrad offenbar auf
Widerstand, weil sie aus jugoslawischer Sicht die
Souveränität des Landes verletzt." (NZZ, 7.6.)
Während der Treffen in Kumanovo gehen die Gefechte mit der
UÇK weiter und eskalieren; die UÇK versucht angesichts
des kommenden NATO-Einzugs soviel Boden zu gewinnen, wie ihre eigenen
Kräfte gestatten, und möchte selber ein bißchen
über die abrückende Armee siegen. Die NATO ignoriert diese
Anstrengungen souverän. Während aus dem Westen des Kosovo
andauernde Kämpfe vermeldet werden, gilt die Aufmerksamkeit der
Luftüberwachung ganz den serbischen Formationen: "Angebliche
Truppenkonzentrationen der jugoslawischen Armee in dieser Region
beobachtet das Bündnis mit etlichem Misstrauen." (NZZ, 9.6.)
Die Forderung der jugoslawischen Seite, immerhin die Kontrolle
über die Grenzen zu behalten, um der einrückenden UÇK
etwas entgegenzusetzen, wird mit der Sorge um die verängstigten
Flüchtlinge abgefertigt:
"Die serbische Forderung, die Rückkehr der geflüchteten
Kosovo-Albaner an der Grenze selbst kontrollieren zu wollen, wurde von
westlicher Seite mit der Begründung zurückgewiesen, daß
dies die Flüchtlinge nur einschüchtern und von einer Heimkehr
abhalten würde." (FAZ, 10.6.)
Gleichzeitig begründen NATO-Kreise die Ablehnung einer verlängerten Abzugsfrist mit dem Argument:
"Diese zusätzliche Zeit, davon geht man aus, würden die
serbischen Einheiten dazu benützen, das Ausmaß der
Verwüstung zu vervollständigen und den nachrückenden
Friedenstruppen das Leben so schwer wie möglich zu machen. Aus
Erfahrung wisse man, so ein NATO-Sprecher, dass gegen Ende eines
Krieges die Visitenkarten abziehender Truppen nicht schöner
würden." (NZZ, 9.6.)
Mit den letzten Arbeiten am Feindbild, nach dem man sich von den
abziehenden Truppen die schrecklichsten Grausamkeiten und Racheakte
erwarten darf, wird die westliche Öffentlichkeit auf ein paar
notwendige Racheakte des Kriegsgewinners vorbereitet: Die
NATO-Delegation denkt nicht daran, auf serbische Forderungen
bezüglich eines gesicherten Abzugs einzugehen. Garantien, wie sie
die jugoslawische Delegation verlangt, daß die UÇK die
Abrückenden nicht angreift, sind von ihr nicht zu haben. Eher das
Gegenteil. Die NATO droht unverhohlen, daß die jugoslawische
Armee für jede Verzögerung des Abzugs, die durch den Streit
um die Bedingungen verursacht wird, blutig zahlen wird:
"Die Unterschrift unter das Papier ist die eine, der Beginn des
Rückzugs die andere Bedingung der NATO für eine Suspendierung
der Luftangriffe. Somit haben die Verzögerungen bei den
Gesprächen ihren Preis, nämlich weitere Zerstörungen an
strategischen Einrichtungen in Serbien und weitere Verluste der
jugoslawischen Armee in Kosovo... Auf militärischer Seite wird der
Druck, der zu einem vollständigen Rückzug aller bewaffneten
Einheiten führen soll, aufrechterhalten." (NZZ, 7.6.)
Und dieser Preis wird eingefordert.
Das NATO-Massaker an etlichen 100 serbischen Soldaten vom 8.6.
Das Massaker wird angekündigt: Aus dem Weißen Haus
heißt es anläßlich der Streitigkeiten in Kumanovo: "Wir werden sie sehr hart schlagen und dann sehen, wie es
weitergeht". Cohen und Shelton bekräftigen, daß die
NATO serbische "Verzögerungsmanöver" bei dem
binnen einer Woche verlangten Abzug aus dem Kosovo nicht hinnehmen
werde. (FAZ, 8.6.) Noch am selben Tag wird zugeschlagen. Mit
unverhohlenem Stolz berichtet das Pentagon zwei Tage später, wie
die NATO die Gelegenheit ergriffen hat, etliche hundert serbische
Soldaten, die ihre Deckung verlassen haben – sei es, weil sie auf
den Waffenstillstand für ihren Abzug bauten, sei es, weil "die UÇK sie herausgelockt hat" – wie Hasen
abzuknallen:
"Aus dem Pentagon hieß es weiter, daß bei den zum
Wochenanfang wieder verstärkten NATO-Angriffen am Montag
vermutlich mehrere hundert serbische Soldaten getötet oder
verletzt worden seien. Amerikanische B-52-Flugzeuge hätten mit
Streubomben einen vernichtenden Schlag gegen zwei jugoslawische
Bataillone geführt, die nahe an der albanischen Grenze im Kosovo
zusammengezogen worden seien. Es habe auf serbischer Seite dabei die
wohl verheerendsten Verluste durch einen Einzelangriff seit dem Beginn
des Luftkriegs gegeben." (FAZ, 10.6.)
Am folgenden Dienstag wird noch einmal nachgelegt:
"Die NATO hat Jugoslawien am Dienstag wieder so heftig
bombardiert wie vor der Belgrader Zustimmung zum
Kosovo-Friedensplan." (SZ, 9.6.) Ein amerikanischer
Luftwaffengeneral: "Die Angriffe seien kurz vor den
Militärgesprächen in Kumanovo geflogen worden... am Dienstag
die schwersten Luftangriffe seit Beginn." (SZ, 10.6.)
Die NATO demonstriert angesichts der stockenden Verhandlungen, wie ein
serbischer Truppenabzug ohne serbische Unterschrift unter das Diktat
von Kumanovo aussehen könnte, und erledigt vorher noch so viele "legitime Ziele", wie ihre Militärmaschinerie in den
Tagen überhaupt bewältigen kann. Eine letzte Erfolgsbilanz
wird ganz nach der Logik der Siegermoral gezogen:
"Innerhalb von 7 Tagen haben die Serben nach NATO-Angaben u.a. 93
Truppenfahrzeuge, 29 Panzer, 86 Mörser- und 209
Artilleriegeschütze sowie weitere Luftabwehrstellungen verloren...
Die jugoslawische Führung hätte diese Verluste nach Angaben
eines NATO-Sprechers vermeiden können, wenn sie sich sofort zu
einer militärischen Umsetzung des politischen Abkommens vom
vergangenen Freitag entschlossen hätte." (NZZ, 10.6.)
Wenn das Objekt einer übermächtigen Erpressung nicht auf der
Stelle nachgibt, hat es sich selbst die Schuld an den Verlusten
zuzuschreiben, die ihm der Feind zufügt.
Zeitgleich das G8-Außenministertreffen: Einigung bei hinhaltendem russischem Widerstand
In den letzten Tagen wiederholt sich täglich das Stereotyp –
wörtlich so kolportiert im deutschen Fernsehen –: Jelzin
ruft Clinton an, verlangt einen Bomben-Stop; fängt sich als
Antwort ein: Sorry, No! Dann geht’s ans Kleingedruckte...
Zwischenzeitlich, nach Bekanntwerden des Friedensplans für das
Kosovo, ist die russische Politik in Aufruhr geraten. Außer den
wenigen Tschernomyrdin-Anhängern würdigen alle Fraktionen der
Duma den Friedensplan als das, was er ist: als komplette
Zurückweisung aller russischen Forderungen, Niederlage der eigenen
Diplomatie und Demontage des Status der eigenen Nation:
"Angeprangert wurde dabei vor allem, daß die russischen
Positionen in dem Konzept kaum noch zu erkennen seien. Stopp der
Bombardierungen... Einheiten einer künftigen Friedenstruppe
zusammengesetzt aus Ländern, die nicht aktiv an den
militärischen Operationen beteiligt waren... In beiden Punkten hat
sich der Westen durchgesetzt. ... daß sich der nun vereinbarte
Friedensplan deutlich von den Vorschlägen in Rambouillet
unterscheide. So ist jetzt etwa nicht mehr nur von einem
Autonomiestatus für das Kosovo in der Serbischen Republik die
Rede, sondern von einer Autonomie innerhalb Jugoslawiens. Dies
eröffne die Möglichkeit, daß das Kosovo den gleichen
Status wie Montenegro erhalte... Zudem hätte sich die NATO das
Recht gesichert, die Nachkriegsordnung Jugoslawiens nicht nur im
politischen und wirtschaftlichen Bereich zu bestimmen, sondern auch auf
militärischem Gebiet. Tschernomyrdin habe sich zum
Interessenvertreter der NATO und der USA machen lassen... Auch der
außenpolitische Experte der Jabloko-Fraktion, Lukin, kritisierte
die Nachgiebigkeit. Duma-Abgeordnete gingen in ihrer Kritik sogar so
weit, die Vereinbarung mit dem Münchner Abkommen von 1938 zu
vergleichen... Tschernomyrdin wurde von Suganow... als 'Verräter' bezeichnet, der den Ausverkauf der
russischen Interessen auf dem Balkan betreibe." (HB, 7.6.)
"Suganow, Ryschkow und Charitonow forderten die Absetzung
Tschernomyrdins als Kosovo-Sonderbeauftragten. Sie warfen
Tschernomyrdin in einer gemeinsamen Erklärung vor, er habe eine
traurige Rolle gespielt und den nationalen Interessen Rußlands
zuwider gehandelt... Der kommunistische Abgeordnete Iljuchin, Leiter
des Sicherheitsausschusses, kündigte für Anfang Juli die
erste Sitzung einer 'öffentlichen Kommission zur Ermittlung
von Verbrechen Amerikas und der NATO gegenüber Jugoslawien'
an, die vom Vorsitzenden der Duma, Selesnjow, angeregt worden ist. Die
unabhängige Tageszeitung Nesawissimaja Gazeta bescheinigte
Tschernomyrdin, er habe die Serben getäuscht und so getan, als sei
der NATO-Plan mit dem russischen Präsidenten abgestimmt gewesen.
In Wirklichkeit aber habe sich Tschernomyrdin als Instrument des
mächtigen Drucks der Amerikaner auf die Führung in Belgrad
benutzen lassen." (FAZ, 9.6.)
Nicht nur die Duma läuft Sturm; in der russischen
Verhandlungsdelegation selbst kommt es zum offenen Gegensatz zwischen
Tschernomyrdin und den Vertretern des Militärs:
"Angeführt von dem General Iwaschow, dem Leiter der
Abteilung für internationale Zusammenarbeit im russischen
Verteidigungsministerium und flankiert vom Moskauer Vertreter bei der
NATO in Brüssel, Sawarsin, wurde Tschernomyrdin zu große
Kompromissbereitschaft vorgeworfen." (HB, 7.6.) "General
Iwaschow, Leiter der Abteilung für internationale
militärische Zusammenarbeit des Verteidigungsministeriums, sagte,
wenn der NATO-Plan verwirklicht würde, geriete Rußland in
die Abhängigkeit der NATO." (FAZ, 9.6.)
Das russische Außenministerium schließt sich der Linie der Militärs an –
"Tschernomyrdin habe sich von der NATO vereinnahmen lassen. Aus
ihrer Sicht hat Tschernomyrdin mit dem Friedensplan vom Bonner
Petersberg einem Dokument zugestimmt, in dem Rußland die
NATO-Luftschläge im nachhinein praktisch sanktioniert." (SZ,
7.6.) –
und will die Teilnahme am G8-Außenministertreffen absagen, wenn der Westen sein Bombardement nicht unterbricht.
"Pleuger (der Politische Direktor des Auswärtigen Amtes zu
Besuch in Moskau) mußte zur Kenntnis nehmen, daß die Russen
solange ein G-8-Treffen der Außenminister boykottieren wollen,
bis keine Bomben mehr fallen." (SZ, 7.6.)
Ab da tritt Tschernomyrdin nicht mehr in Erscheinung. Ob er in Unehren
abgesetzt oder in Ehren entlassen worden ist, ist nicht recht zu
erfahren; der russische Präsident schweigt sich darüber aus.
Aus guten Gründen mag er sich weder hinter Tschernomyrdin stellen
und die nationale Empörung auf sich ziehen noch offen gegen den
Sonderbotschafter stellen, den er schließlich selbst berufen hat,
um die anfängliche härtere Linie der Regierung Primakow zu
durchkreuzen. Stattdessen verdonnert er Iwanow dazu, nach Bonn zu
reisen, um von der eigenständigen russischen Rolle zu retten, was
noch zu retten ist: "egal wie", dafür hat ein
Präsident schließlich das Kommando und Untergebene.
"Erst als Jelzin in den Machtkampf eingriff, gab das russische
Außenamt den Versuch auf, sich aus der gemeinsamen Position mit
dem Westen davonzustehlen. 'Schafft mir das Problem vom Hals
– egal wie', soll Jelzin gesagt haben." (SZ 7.6.)
Im Westen nimmt man mit Schadenfreude und Herablassung zur Kenntnis,
wie sich die russische Führung an der Demütigung aufreibt und
zerstreitet, die ihr die NATO-Linie zumutet, und keinen Ausweg findet.
Daß die russische Politik sich nicht "davonstehlen"
kann, letztlich auf Gemeinsamkeit mit der NATO hinauslaufen muß,
ob sie will oder nicht, gilt unbesehen. "Jelzin kann kein
Interesse daran haben, sich Ende Juni beim G-8-Gipfel als
Repräsentant einer ins internationale Abseits geratenen
Großmacht bemitleiden zu lassen" (ebd.), deshalb stellt der
US-Präsident bis zur letzten Minute Jelzin mit seiner Forderung
nach Bombenstopp ins internationale Abseits.
*
Iwanow tritt zum Außenministertreffen der G8 an und versucht ein
letztes Mal, die lückenlose Durchsetzung der NATO zu unterlaufen.
Es geht zum einen um den Text der UNO-Resolution. Die
Überführung des Streitfalls unter die Zuständigkeit der
UNO, interpretiert als Distanzierung von und Zurechtweisung der NATO,
war das Hilfsmittel, mit dem Tschernomyrdin Milošević zur
Aufgabe bewogen hatte – nun entwerfen die G8, d.h. die G7, die
NATO-Führungsmächte plus Japan, die Vorlage, mit der die UNO
ihren Kriegszug absegnen soll. Die Zwickmühle für die Russen
ist perfekt: Der Entwurf einer UNO-Resolution ist das einzige "Angebot", das die NATO für Rußland vorsieht,
den Schein von Respekt für seinen Status als Vetomacht zu retten.
In diese Resolution packen die G7 ihre Kapitulationsformel
gegenüber Restjugoslawien hinein sowie die nachträgliche
vollständige Legitimation ihres Kriegs durch die
völkerrechtliche Instanz der "Staatengemeinschaft".
Iwanow kämpft ein letztes Mal darum, daß seinen G7-Kollegen
die Zustimmung Rußlands doch etwas wert sein müßte
–
"Nachdem die NATO in der Nacht neue Angriffe geflogen war,
schickte Iwanow der neuen Verhandlungsrunde in Köln neben dem
routinemäßigen Protest eine Warnung voraus. Ob sich Russland
an einer Friedenstruppe beteilige, hänge von den Bestimmungen der
UN-Resolution ab. 'Sollte ein Versuch unternommen werden,
für uns unannehmbare Bedingungen vorzuschlagen, dann werden wir
entsprechende Schritte ergreifen'." (SZ, 9.6.) "Iwanow kritisierte, die NATO habe ihre Forderungen
gegenüber Belgrad erheblich verschärft. Die NATO
verknüpfe in unzulässiger Weise militärische
Einzelfragen – etwa die Frist für den Rückzug der
serbischen Truppen und die Forderung nach einer einheitlichen
Kommandostruktur der internationalen Friedenstruppe – mit der
Diskussion über die politischen Grundsätze." (NZZ,
8.6.) –
und darf erfahren, wie wenig das ist. Die G7 geben der Nummer 8 zu
verstehen, daß der russische Versuch, in die UNO-Resolution
Momente der Kritik am NATO-Krieg und Abschwächungen der
NATO-Positionen einzubauen, aussichtslos ist. Gegenwehr ist zwecklos
angesichts ihrer Streitmacht, die an den Grenzen des Kosovo für
den Einmarsch bereit steht und jede Gegenwehr in den Verhandlungen in
Kumanovo und Bonn mit weiteren Luftschlägen gegen Jugoslawien
beantwortet. Die Gespräche verzögern sich immer wieder, da
der russische Außenminister in zahlreichen Einzelfragen Bedenken
anmeldet, sich bei Jelzin rückversichern muß, um letztlich
getreu der Jelzin-Direktive, der "die Sache vom Tisch haben
will", nachzugeben.
Der Resolutionsentwurf übernimmt die G8-Prinzipien und den
12-Punkte-Plan vom Petersberg vollständig, strittig bleiben "die Fragen der Kommandostruktur, der Zusammenarbeit der
künftigen Friedenstruppe mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den
Haag und die Frage, inwieweit die gesamte Resolution unter Kapitel 7
der UN-Charta gestellt werden soll. Kapitel 7 ermöglicht
Zwangsmaßnahmen gegen Friedensstörer, auch
militärische." (SZ, 9.6.) Eine Einigung kommt in folgenden
Punkten zustande:
Erstens ist die NATO die Sicherheitspräsenz. Iwanow widersetzt
sich "dem amerikanischen Wunsch, explizit im Resolutionstext die
Beteiligung der NATO an der internationalen Truppe zu
erwähnen" (NZZ, 8.6.), das Zugeständnis an
Rußland besteht darin, daß die NATO im Text der Resolution
nicht namentlich erwähnt wird! Stattdessen "autorisiert" die UNO-Resolution "Mitgliedsstaaten
und relevante internationale Organisationen zur Errichtung einer
internationalen Sicherheitspräsenz" und verbannt die NATO in
einen Anhang:
"Der Text des Entwurfs verweist in einem Anhang auf den von
Ahtisaari und Tschernomyrdin ausgehandelten Kompromiß, in dem von
einer 'substantiellen' Rolle der NATO innerhalb eines
gemeinsamen Kommandos die Rede ist. 'Wir haben in dem Anhang
deutlich gemacht, daß wir einen NATO-Kern haben und die NATO der
Führer sein wird', so Albright. Diese Frage in der Form von
Anhängen zu klären, sei die beste Möglichkeit."
(SZ, 9.6.)
Den Russen wird wieder einmal die Zustimmung zur Hauptsache
abgehandelt, über Einzelheiten der "Kommandostruktur"
kann man sich ja später noch einigen – wenn die NATO schon
im Kosovo steht.
Zweitens fordert der Entwurf für die UNO-Resolution "die
volle Zusammenarbeit aller Betroffenen, einschließlich der
internationalen Sicherheitspräsenz, mit dem Internationalen
Kriminaltribunal für das ehemalige Jugoslawien". Es gibt
also keinerlei Garantien für Milošević, einschlägige
russische Zusicherungen im Rahmen von Tschernomyrdins Diplomatie haben
nichts zu besagen, deren Stellenwert ist also gänzlich entwertet.
Drittens wird im Entwurf die Berufung auf Kapitel 7 der Charta der
Vereinten Nationen untergebracht und "die Lage in der
Region" als "Bedrohung für den internationalen Frieden
und die Sicherheit" definiert, so daß der NATO-Feldzug
nachträglich als ein Akt "kollektiver
Selbstverteidigung" gegen Miloševićs Bruch des
internationalen Friedens voll ins (Völker-)Recht gesetzt wird. Die
Legitimation des Kriegs als dem Geist und den Aufgaben der UNO
gemäß, ist die Bedingung der G7 für die "Rückführung" des Falls auf UNO-Ebene;
Rußland wird dazu erpreßt, dieses "Junktim"
hinzunehmen.
Drittens schließlich geht es um die Reihenfolge, in der der
serbische Rückzug aus dem Kosovo, der Bombenstopp und die
Verabschiedung der UNO-Resolution erfolgen sollen – ein Zeitplan,
der für gar nichts anderes steht als das letzte Kräftemessen
der beteiligten Mächte, wer sich mit welchen Formeln (nicht)
durchsetzt:
"(Es) wurde eine informelle Übereinkunft über die mehr
als komplizierte Schrittfolge erzielt. Zunächst würde der
Resolutionstext an die Vereinten Nationen nach New York und an den Ort
der in Mazedonien stattfindenden Militärgespräche
übermittelt. Sobald das noch auszuhandelnde Militärabkommen
mit der UNO-Resolution abgestimmt und unterschrieben sei, sollten sich
die jugoslawischen Einheiten in verifizierbarer Form zurückziehen,
dem werde in rascher Folge ein Unterbruch der Bombardierungen folgen.
Anschließend sieht der Zeitplan die Annahme der UNO-Resolution im
Sicherheitsrat und den Beginn der Stationierungen der internationalen
Friedenstruppe vor. Den Abschluss bilden dann eine formelle Beendigung
der NATO-Luftangriffe und der vollständige serbische Rückzug.
Moskau hatte immer wieder die Einstellung der Bombardierungen als
Vorbedingung der russischen Zustimmung zu der UNO-Resolution
bezeichnet. Iwanow setzte sich mit dieser Forderung gegenüber den
anderen Außenministern insofern durch, als die Bombenangriffe
zwar erst nach der prinzipiellen Einigung auf den Entwurfstext, aber
noch vor der formellen Billigung der Resolution im Sicherheitsrat
ausgesetzt werden." (NZZ 9.6.)
Der Klartext: Rußland unterwirft sich – dem
Resolutionsentwurf der NATO; daraufhin hat die endgültige
bedingungslose Unterwerfung der jugoslawischen Vertreter in Kumanovo
stattzufinden, samt verifizierbarem Truppenabzug; dann "unterbricht" die NATO ihren Bombenkrieg. Wohlgemerkt:
Für "beendet" will sie ihn erst dann erklären,
wenn auch der Sicherheitsrat seine Pflicht erledigt und das NATO-Diktat
abgenickt hat! Die NATO-Diplomaten regeln die Modalitäten der
Kapitulation akribisch bis in die letzten Feinheiten, damit das
herbeigebombte neue internationale Kräfteverhältnis auch an
allen Formfragen statuiert wird. Am Mittwoch erfolgt die Einigung:
"Der einzige Unterschied zu dem am Dienstag vereinbarten Zeitplan
besteht darin, daß Solana Kofi Annan über die Unterbrechung
der Luftangriffe unterrichten soll. Es sei eine Art vertrauensbildender
Maßnahme, die Vereinten Nationen bei der Ankündigung des
vorläufigen Bombardierungsstopps einzuschalten, hieß es in
Kreisen der G-8-Außenminister." (SZ 10.6.)
Eine nette Geste von der NATO, daß sie mittlerweile für die "Völkerfamilie" wieder eine Funktion in ihrer
Weltordnung entdeckt hat und sie zum Zweck der "Vertrauensbildung" einklinken möchte. Auf die genaue
Reihenfolge, in der die beteiligten Instanzen ihre
Zustimmung/Unterwerfung abzuliefern haben, bis die NATO mit der
offiziellen Beendigung das Schlußwort spricht, kommt es
schließlich deshalb an, um den Gegnern auch noch die Deutung des
Kriegsergebnisses zu bestreiten. Schon vorab wird die Kriegslegende
Rußlands bekämpft, nach der es den russischen Anstrengungen
zu verdanken sein soll, daß der Sicherheitsrat wieder in Recht
und Funktion gesetzt worden ist, ebenso wie Miloševićs
trostloser Versuch, Niederlagen in Siege zu verwandeln:
"Wir haben überlebt und unser Land verteidigt und das
gesamte Problem zur Spitze der Weltautorität gehoben – den
Vereinten Nationen... Mit unserem Gang zu den UN... haben wir auch die
Weltbühne zurück zu den UN gebracht, die während der
achtzig Tage der Aggression nicht funktioniert haben. Das ist unser
Beitrag für die Welt – eine unipolare Welt zu verhindern,
die Akzeptanz zu verhindern, daß die Welt auf dem Diktat eines
Zentrums basiert. Ich glaube, dieser Beitrag wird in geschichtlicher
Hinsicht gewaltig sein." (FAZ, 12.6.)
Daß Milošević mit der Staatsmännern eigenen
Verlogenheit nicht ohne den Schein eines Erfolgs auskommen und sich vor
seiner Nation als Sieger präsentieren will und dafür die UNO
als "Weltautorität" beschwört, der sich
letztlich, dank seines Widerstands, auch die NATO-Aggression hätte
beugen müssen – nicht einmal diese Interpretation seiner
Kapitulation will ihm die NATO durchgehen lassen. Sie sorgt für
eine Kommandostruktur mit dem entgegengesetzten Inhalt.
*
Der Entwurf der UNO-Resolution wird an die jugoslawische Delegation
übermittelt, Rest-Jugoslawien erhält auf die Weise den
Bescheid, daß es sich von der Völkergemeinschaft nicht den
Hauch einer Distanzierung von seinem Kriegsgegner zu erwarten hat,
daß die UNO nurmehr mobilisiert wird, um das
NATO-Kapitulationsprogramm abzusegnen. Das einzige Zugeständnis,
das die NATO in Kumanovo den serbischen Militärs gewährt: Sie
verzichtet darauf, innerhalb von 24 Stunden nachzurücken, gesteht
der jugoslawischen Armee den Abzug zu ohne die Drohung, sie auch dabei
noch in Gefechte zu verwickeln. Am 9.6. wird der Militärvertrag
unterzeichnet. Und das "militärisch-technische
Abkommen" wird postwendend in seiner völkerrechtlichen
Bedeutung gewürdigt:
"Das in Kumanovo unterzeichnete
‚Militärisch-technische Abkommen zwischen der
Internationalen Sicherheitsstreitkraft (Kfor) und den Regierungen der
Bundesrepublik Jugoslawien sowie der Republik Serbien muß
als bedingungslose Kapitulation bezeichnet werden. Gemäß
UN-Resolution ist das Mandat der Friedenstruppe nicht zeitlich
begrenzt, muß also nicht immer wieder neu verhandelt werden. Das
Abkommen haben für die NATO deren Kfor-Kommandeur, der britische
General Jackson, sowie für die jugoslawische Seite jeweils ein
ranghoher Offizier der Armee und der Polizei unterzeichnet. Das
Abkommen besteht aus 6 Artikeln und 2 Anhängen. Anhang A regelt
die technischen Einzelheiten des vollständigen
serbisch-jugoslawischen Streitkräfteabzugs. In Anhang B werden die
Befugnisse der Kfor-Truppe sowie insbesondere die des Kfor-Kommandeurs
festgelegt. Danach muß sich die Kfor-Truppe ungehindert im
gesamten Kosovo bewegen können – also auch in dem
mehrheitlich von Serben bewohnten und von russischen Soldaten
kontrollierten Nordbezirk Leposavić." – damals war ein
solcher Sektor offensichtlich als Zugeständnis an Rußland
noch im Gespräch, um die UNO-Resolution über die Bühne
zu bringen. "Sie haftet nicht für Schäden, die sie in
Erfüllung ihrer Aufgabe an öffentlichem und privatem Reichtum
anrichtet. Die Kfor hat das Recht, den vereinbarten Rückzug der
serbisch-jugoslawischen Bewaffneten mit Gewalt zu erzwingen und alle
militärischen und Polizeieinrichtungen jederzeit zu inspizieren.
Der Kommandeur hat die unbedingte und unbeschränkte Befugnis,
alles nach seinem Ermessen Notwendige zum Schutz der Kfor und der
zivilen 'Implementierungspräsenz' zu veranlassen
– einschließlich der Anwendung von Gewalt. Damit ist der
Kommandeur faktisch ein internationaler Protektor für das
Kosovo." (FAZ, 14.6.)
Es ist eben doch um ein bißchen mehr als um die Festlegung der
Fristen und Strecken für den Abzug gegangen:
Vertragsschließendes Subjekt ist die Kfor, personalidentisch mit
der NATO, dazu ermächtigt durch die NATO, ohne jedes
Dazwischentreten von seiten der sogenannten Völkergemeinschaft.
Die NATO erklärt das Dokument zur bedingungslosen Kapitulation
durch die Bundesrepublik Jugoslawien – die Sorge, daß man
dem Staatsverbrecher Milošević noch die Ehre einer Unterschrift
erweisen müßte, war also gänzlich
überflüssig. Die NATO unter dem Titel Kfor läßt
jegliche Hoheit im Kosovo auf sich überschreiben; so kommt das
Novum eines NATO-Protektorats in die Welt. Per UNO-Resolution sichert
sich die NATO dann noch dessen unbefristete Dauer: "Der
Sicherheitsrat beschließt, daß die Zivil- und
Sicherheitspräsenz für eine anfängliche Periode von 12
Monaten eingerichtet werden und danach fortgesetzt werden, falls der
Sicherheitsrat nicht anders entscheidet",- um die NATO
abzusetzen, ist die eher unwahrscheinliche Voraussetzung einer
einstimmigen Entscheidung im Sicherheitsrat erfordert. (FAZ, 9.6.) Die
NATO setzt sich also auf unabsehbare Zeit auf dem Balkan fest.
Im Unterschied zur peniblen Regelung der Anzahl, Aufgaben und
Bewegungsfreiheit der "serbischen Offiziellen" fällt
die Festlegung der Rolle der UÇK im Rahmen des neuen
NATO-Protektorats einigermaßen unbestimmt aus, was bei einem
späteren Streit innerhalb der Kfor-Mächte über die
Bedeutung der Formel "Demilitarisierung" aufkommt. Entgegen
der dann verkündeten journalistischen Weisheit, daß wieder
einmal Verträge mit heißer Nadel genäht worden seien,
hat man es hier aber nicht mit einer Nachlässigkeit der
Kriegsdiplomatie zu tun. Zum Zeitpunkt der Kapitulation genießt
die UÇK schließlich den Status eines potentiellen
Verbündeten; und überhaupt verdienen die Opfer und Feinde der
Serben einen Vorschuß an Wohlwollen, alles Weitere regelt die
Sicherheitspräsenz.
Einschaltung des Weltsicherheitsrats
Das Kriegsbündnis hat die UNO während des gesamten Kriegszugs
zum Statisten gemacht – nach Durchsetzung der Kapitulation wird
sie zur formvollendeten Beglaubigung des NATO-Siegs einbestellt, um die
Erpressung der anderen Veto-Mächte abzurunden: Bei Nichtzustimmung
handelt das westliche Kriegsbündnis nach seinem eigenen
Gutdünken, mandatiert sich selbst vermittels seines
humanitären Völkerrechts, und bootet damit die anderen
Sicherheitsratsmitglieder aus. Nach dieser Etappe bietet es denen dann
die Gelegenheit, der zwischenzeitlich von der NATO geschaffenen Lage
zuzustimmen und – darin eingeschlossen – dem Verfahren der
zeitweiligen Selbstermächtigung der NATO, d.h. dem
Außerkraftsetzen ihres Vetorechts. Für diese neue Form der
Entmachtung ist nun die Zustimmung der anderen Mächte gefragt und
auch nur die: Im Fall einer Ablehnung handelt die NATO eben ohne das
Placet des Sicherheitsrats, wie gehabt. China und Rußland haben
die Wahl: Sie dürfen auf ihre Rolle als Vetomächte
verzichten, weil sie als solche nicht gefragt werden, oder sie weiter
spielen – wenn sie selbst per Zustimmung zum Resultat der
NATO-Politik ihre vorhergehenden Einwände für gegenstandlos
und sich mit ihrem entwerteten Status einverstanden erklären!
Im Vorfeld der Sitzung des Sicherheitsrats wird der Streit mit China ausgefochten, das die Botschaft sehr gut verstanden hat:
"Der Vertreter Pekings kritisierte, dass der Sicherheitsrat nicht
einfach der 'Gummistempel' (der Achtergruppe) sei."
(NZZ, 10.6.)
"Der stellvertretende UNO-Botschafter übte harte Kritik am
Westen, der immer häufiger unter Berufung auf die Menschenrechte
die in der UNO-Charta zugesicherte Souveränität und
Integrität von Staaten missachte. Auch seien die Luftangriffe der
NATO ohne Zustimmung des Sicherheitsrats erfolgt. Entsprechend habe
China sie von Anfang an abgelehnt. Shen Guofeng kritisierte aber auch,
daß sich die Resolution auf Kapitel 7 der UNO-Charta berufe. Aus
der Sicht Pekings läuft diese Passage in der Resolution praktisch
auf eine Legitimierung der bisherigen und künftiger Luftangriffe
der NATO hinaus." (NZZ, 11.6.)
China versucht, die Resolution zu entschärfen, wendet sich gegen
ein "unbegrenztes Mandat der Besatzungstruppen" (SZ, 12.6.)
und gegen den Passus, in dem die volle Zusammenarbeit mit dem
Internationalen Kriegsverbrechertribunal verlangt wird: "'Unangemessen', weil die Anklagen gegen
Milošević bloss 'politisch motiviert' gewesen
seien." (NZZ, 10.6.). Nachdem China "einige
überwiegend kosmetische Textänderungen, die nichts an der
Substanz der von den G-8-Außenministern vereinbarten Vorlage
ändern" (FAZ, 11.6.), genehmigt werden – ein Hinweis
in der Präambel, daß primär der Sicherheitsrat für
die Sicherung des Weltfriedens zuständig sei, und eine
Verurteilung der terroristischen Aktionen jedweder Partei im Kosovo
–, zieht sich China mit Stimmenthaltung aus der Affäre und
begründet seinen Verzicht auf ein Veto damit, "dass die
jugoslawische Regierung dem Friedensplan zugestimmt habe" (NZZ,
11.6.), bekundet also seinen Dissens, den es aber an dieser Stelle
nicht weiter austragen will.
Die Sicherheitsratsresolution wird abgeliefert und damit der
früher demonstrativ gepflegte Schein, wonach die NATO-Staaten im
Auftrag einer höheren Instanz namens Völkergemeinschaft
unterwegs sind, endgültig aus dem Verkehr gezogen; das umgekehrte
Verhältnis ist als das angemessene etabliert: Die
Völkergemeinschaft gehorcht dem Auftrag, dem NATO-Krieg
nachträglich seine einwandfreie rechtliche Grundlage zu
bescheinigen. Das erachtet die NATO bei all ihrem Menschenrecht zur
Selbstmandatierung überhaupt nicht als überflüssig,
vielmehr schreibt sie auf diese Weise das neue Völkerrecht fort,
indem sie die in dieser Sphäre rechtsetzenden Instanzen, die
konkurrierenden Mächte, dazu heranzieht, das von ihr geschaffene
Kräfteverhältnis billigend oder weniger billigend
anzuerkennen. Diesem Interesse verdankt sich die schöne Redeweise,
nach der schließlich auch noch die UNO "in" ein "Boot geholt" werden muß.
Die Implementierungsverhandlungen gehen weiter, Russen rücken in Priština ein
Mit der UNO-Resolution hat sich Rußland die Zustimmung zum
NATO-Sieg über Jugoslawien abpressen lassen, offen ist einzig noch
die Rolle, die es im Rahmen des Besatzungsstatuts über die Provinz
spielen soll – eine Frage, die die G7 leichten Herzens mit der
Formel im Anhang geregelt haben und auf weitere Verhandlungen mit
Rußland vertagen. Schließlich ist der Abzug der
jugoslawischen Armee in Gang, das Nachrücken der
NATO-"Friedenstruppe" nur noch eine Frage von Stunden, die
militärische Lage vor Ort also fest im Griff der NATO.
Am 9. Juni reist Talbott nach Moskau zu Verhandlungen über eine
Beteiligung russischer Friedenstruppen und über die
Kommandostruktur. Noch während der Verhandlungen gibt die NATO
ihre Vorstellung über die Einteilung des Kosovo in fünf
Sektoren bekannt, die den fünf führenden Kriegsmächten
unterstellt werden soll:
"Die NATO will Kosovo in 5 Sektoren einteilen. Nach
vorläufigen Planungen sollen die Amerikaner den östlichen
Teil an der Grenze zu Serbien übernehmen und dort eine 'Pufferzone' einrichten. Den Briten ist angeblich die Mitte
der Provinz um die Hauptstadt Priština zugedacht, den Deutschen,
Franzosen und Italienern die nord- und südwestlichen
Regionen." (FAZ, 10.6.)
Nach westlicher Lesart wäre ein russischer Sektor dasselbe wie
eine "Teilung" des Kosovo: Zwischen sich und ihrem
Kriegsgegner duldet die NATO keinen Dritten, verdächtigt ihn
zumindest der Sympathie mit dem Feind und geht damit voll auf
Konfrontation zur russischen Position, die auf einem "separaten
russischen Sektor im Nordwesten der Provinz" besteht, "in
dem sich allenfalls Soldaten aus neutralen Staaten, aber keine
NATO-Einheiten aufhalten." (NZZ, 11.6.) Die in Gestalt eines
Sektors als gleichberechtigt anerkannte Zuständigkeit
Rußlands über das Streitobjekt auf dem Balkan ist der Preis,
den Moskau von der NATO für seine gesammelten Rückzieher,
d.h. seine konstruktiven Bemühungen zur Wiederherstellung des
Friedens verlangt. Zugleich wird damit ein letztes Mal Einspruch gegen
den NATO-Krieg eingelegt: Die NATO soll nicht als gänzlich
unbeschränkte Siegermacht in die Provinz einrücken, der
Vorbehalt gegenüber dem vom Westen durchgesetzten Besatzungsstatut
soll im Namen serbischer Interessen vor Ort in Form eines russischen
Sektors institutionalisiert werden, ein selbständiges
militärisches Kommando über das eigene Truppenkontingent
inbegriffen:
"Iwaschow hat klargestellt, daß Rußlands
militärische Führung die Friedenstruppe nicht in die
westliche Befehlsstruktur eingebunden sehen will. 'Wir wollen
unseren eigenen Sektor der Verantwortlichkeit'. Russische
Soldaten würden im Kosovo nur dem Befehl russischer Offiziere
folgen. 'Dies ist eine Entscheidung des
Präsidenten'." (SZ, 11.6.)
Talbott soll also nicht glauben, er könne Jelzin noch einmal gegen
seine Verhandlungsdelegation ausspielen. Die Positionen sind
unversöhnlich –
"Beide Postulate wies Talbott klipp und klar zurück. Die
Friedenstruppen müßten unter einem einheitlichen Kommando
stehen. Andernfalls könnte es zu Gegensätzen innerhalb der
Schutztruppen und zu einer De-facto-Teilung Kosovos kommen."
(NZZ, 11.6.) –,
so daß sich Rußland ein altes Gesetz aus der Geschichte der
Arbeiterbewegung wieder einfallen läßt, nach dem der
Imperialismus nur die Sprache der Gewalt versteht. Am selben Tag werden
russische Truppen, die in Bosnien im Rahmen der Sfor stationiert sind,
in das Kosovo verlegt. Der Einmarsch wird in Absprache mit den
jugoslawischen Autoritäten geregelt, die zur allgemeinen
westlichen Empörung noch einmal im Kosovo als Obrigkeit in
Erscheinung treten. Vor dem Verband fahren jugoslawische
Armeefahrzeuge, serbische Polizei und ein Wagen mit russischen
Diplomaten, der serbische Bevölkerungsteil jubelt.
Die russische Öffentlichkeit läßt militärische Stimmen zu Wort kommen,
"Amerika ziehe die Gespräche mit Rußland in die
Länge, um Zeit für die Stationierung der NATO-Truppen zu
gewinnen. Washington und die NATO würdigten zwar die entscheidende
Rolle Rußlands bei der Beendigung der Bombardierungen, versuchten
jedoch, Rußland bei der Nachkriegsordnung im Kosovo eine
zweitrangige Rolle zuzuweisen." (FAZ, 14.6.) Der Vertreter des
russischen Militärs in der Verhandlungsdelegation erklärt,
"Rußland hat nicht die Absicht, die amerikanische Seite zu
bitten, Rußland einen wichtigen Sektor im Kosovo zur
Verfügung zu stellen. Wenn dazu keine Vereinbarung erzielt werden
kann, werden wir unseren Sektor deklarieren und in dieser Frage eine
Übereinkunft mit der jugoslawischen Seite treffen". (SZ,
12.6.) Interfax berichtet unter Berufung auf den Generalstab der Armee,
"das Einrücken der russischen Truppen habe es
ermöglicht, daß Rußland in den normalen
Verhandlungsprozeß über die Zukunft des Kosovo
zurückkehre. Damit seien die Bedingungen für einen
konstruktiveren Gang der Verhandlungen geschaffen worden." (FAZ,
14.6.)
Nach 12 Wochen Kosovo-Krieg, nach 12 Wochen Kriegsdiplomatie, die die
NATO für Rußland zu einer einzigen Abfolge von
Zurückweisungen und Demütigungen ausgestaltet hat, in denen
sie Rußland vorgeführt hat, wie wenig Respekt sie ihm als
ehemaliger Weltmacht und Vetomacht zu erweisen gedenkt, ist der
russische Nationalismus bis aufs äußerste provoziert und der
Bedarf nach Demonstration eigenständiger Macht unabweisbar. Weil
die NATO dabei ist, sich in allen Hinsichten als Siegermacht und
exklusive neue Hoheit im Kosovo zu etablieren und jede nennenswerte
russische Beteiligung, erst recht jeden Ansatz einer aktiven Rolle zu
unterbinden, meint Rußland, sich und der NATO den Beweis
eigenständiger Handlungsfähigkeit als Militärmacht
schuldig zu sein. Der Beweis, den Rußland mit seinem
Überraschungscoup anstrengt, fällt dann allerdings auch
genauso aus: Er dokumentiert auch nur, in welche verfahrene Lage sich
die ehemalige Weltmacht hineinmanövriert hat.
Die von Jelzin auf die Verhandlungslinie eingeschworenen russischen
Diplomaten zeigen sich düpiert. Die westliche Welt mutmaßt
eine Zeitlang, ob man einen Militärputsch vor sich hat. Der
Verdacht wird durch Jelzin dementiert, der mit einer Ordensverleihung
an den Befehlshaber der in Priština eingerückten Truppe
heraushängen läßt, daß er für den
Handstreich verantwortlich ist, zugleich blamiert er seinen eigenen
Regierungschef und Außenminister, die beide nicht informiert
sind. Der Verdacht auf militärische Insubordination – mit
Unterstützung des Präsidenten – bleibt also virulent
und die Frage nach dem Gesundheitszustand der russischen Macht wird
wieder einmal aufgeworfen. US-Repräsentanten nehmen die
Gelegenheit wahr und geben der russischen Führung zu verstehen,
daß sie sie mit ihren inneren Konflikten eigentlich schon gar
nicht mehr für einen brauchbaren Verhandlungspartner halten. Der
Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats der USA, Leavy: "In
Moskau gibt es ganz klar politische Konfusion", Albright gibt
sich "überzeugt, daß Jelzin in Moskau unverändert
die Kontrolle hält", Clinton läßt sich von Jelzin
wie von einem unartigen Schulkind "versprechen, daß es
keine weiteren Überraschungen gibt". (FAZ, 15.6.)
Zugleich fällt der angestrebte Machtbeweis in seiner
militärischen Dimension so jämmerlich aus, wie es der durch
die NATO veränderten Lage auf dem Balkan und in Osteuropa
entspricht. Vor Ort geraten der britische Kommandant der Kfor-Truppe,
Jackson, und der amerikanische Oberbefehlshaber Clark aneinander; Clark
möchte, wie man später hört, den Flugplatz in Priština
besetzen und den Russen unbedingt an Ort und Stelle ein
Scharmützel liefern. Jacksons Linie wird von Washington ins Recht
gesetzt: Die NATO hat genügend andere Mittel, die Russen die
Unhaltbarkeit ihrer Lage spüren zu lassen, und reizt sie voll aus:
Die NATO-Partner und Freunde in Osteuropa dürfen vorsorglich den
Luftraum für Militärtransporter aus Rußland sperren, so
daß die russische Mannschaft in Priština von jedem Nachschub
abgeschnitten ist und sich von der Kfor mit dem Notwendigsten, Wasser
und Lebensmitteln, versorgen lassen zu muß – zur Genugtuung
von General Jackson.
Auf dieser Grundlage gehen dann die Verhandlungen über die
Bedingungen für eine russische Teilnahme an der Kfor weiter, am
20.6. wird in Helsinki eine Einigung erreicht. Die NATO hat sich voll
durchgesetzt mit ihrem Standpunkt, daß Rußland kein eigener
Sektor zusteht, daß russische Truppen im Kosovo eigentlich
überhaupt nichts verloren haben, sondern vielmehr als potentieller
Störfall angesehen werden und mehr unter die Aufsicht der
NATO-Truppen als auf die Seite der Aufsichtsmächte gehören.
Das wird mit der kleinlichen Regelung der Befehlsstruktur der
Öffentlichkeit auch ausgiebig bekannt gemacht:
1. "wird die einheitliche Kommandostruktur durch das Abkommen mit
Rußland in keiner Weise beeinträchtigt" und den Russen
nur das Minimum an "voller politischer und militärischer
Kontrolle über seine Friedenstruppen" konzediert, daß
russische Offiziere ins Hauptquartier der NATO in Brüssel und in
die südeuropäische Kommandozentrale in Neapel entsandt werden
und überdies auch mit den Befehlshabern der Kfor kooperieren.
"Damit wird dem heiklen Umstand, daß die russischen Truppen
de facto dem Kommando der NATO unterstehen, gewissermaßen die
Spitze gebrochen."
2. werden die russischen Truppen aufgesplittert und auf die
amerikanische, deutsche und französische Zone verteilt. Weitere 75
Soldaten dürfen zusammen mit NATO-Truppen am Flughafen von Priština den Luftverkehr kontrollieren.
3. hat sich die NATO für den Fall russischer Eigenwilligkeit das
Recht unterschreiben lassen, den russischen Willen praktisch zu
neutralisieren, d.h. im Bedarfsfalle dann eben die eigenen Befehle
durch eigene Mannschaften zu exekutieren:
"Für den Fall, daß die russischen Truppen sich weigern
sollten, Befehle der NATO-Kommandanten auszuführen, könnte
der Kfor-Kommandant Rückgriff auf das Truppenkontingent eines
anderen Landes nehmen und dieses mit der entsprechenden Aufgabe
betrauen. So ist sichergestellt, daß Moskau zwar die
Möglichkeit eines "Opt out" hat, aber dennoch nicht
über ein Veto-Recht verfügt, mit dem das Funktionieren der
Kfor behindert werden könnte... Iwanow sprach von einer
würdigen Beteiligung Russlands, dessen Interessen
vollumfänglich berücksichtigt worden seien. Auch
Präsident Jelzin, der noch am Donnerstag seine Unnachgiebigkeit
polternd unterstrichen hatte, hiess das Abkommen gut." (NZZ,
21.6.)
Nachdem endlich weitere russische Truppen im Kosovo ankommen, wird
deren Präsenz als Spießrutenlaufen organisiert: Die Russen
dürfen selbstverständlich nicht in die mehrheitlich von
Serben bewohnten nördlichen Landstriche, sondern werden der
UÇK und ihren Sympathisanten präsentiert. Vor Ankunft der
russischen Mannschaften veröffentlichen die USA eigens Berichte,
nach denen Russen auf Seiten der serbischen Milizen mitgekämpft
hätten – für den Fall, daß die UÇK noch
nicht genügend für das passende Feindbild auf Seiten ihrer
Volksgenossen geleistet hat. Solche Russen wären, so versichert
Washington, ebenfalls nach Den Haag zu überstellen. Die albanische
Bevölkerung demonstriert jedenfalls prompt und massenhaft,
daß sie Russen für dasselbe hält wie Serben und bei
Gelegenheit nicht auf tätige Rache zu verzichten gedenkt; sie
blockiert das Einrücken russischen Militärs, so gut es geht.
Die NATO läßt Rußland für seinen Aufstand
büßen: Sie gestaltet die Anwesenheit russischer Truppen zu
deren permanenter Demütigung aus und demonstriert ihnen immer
wieder einmal die Unhaltbarkeit ihrer Lage, indem sich Russen von der
NATO "beschützen" lassen müssen.
Alles das: die Niederringung des Milošević-Staats, die
Ausgrenzung und Beschädigung seiner russischen Schutzmacht, die
Zurückstufung russischen Militärs auf den Status dubioser
Hilfskräfte der NATO, hat der Westen geleistet. Aber das alles
nicht etwa wegen seiner ureigensten Interessen, sondern zu Diensten und
zum Wohle einer geschundenen Minderheit, die den Schutz des vereinigten
Imperialismus zu dringend benötigte. Da es mehr um die Sache ging,
war bisher kaum die Rede von diesem eigentlichen und edlen Auftrag, den
die Kriegsherren der NATO militärisch knapp auf die Formel
gebracht haben:
"Die Flüchtlinge zurückführen!"
Deshalb gibt es noch eine ganz andere Chronik des Krieges, über
deren Wahrheitsgehalt wir nicht weiter rechten wollen. Statt dessen
sind die immer neuen Schwierigkeiten zu würdigen, die sich der
NATO bei ihrem Kampf für das menschenrechtlich so wertvolle Ziel
entgegengestellt haben. Das Kriegsbündnis hat sich mutig all
diesen Schwierigkeiten gestellt, keine Anstrengungen gescheut und
epochemachende Lösungen entwickelt, die auf dem Gebiet
humanitärer Flüchtlingsbetreuung ihresgleichen suchen.
Es ist schon bemerkenswert: Der Bombenkrieg ist noch in vollem Gang und
die NATO hat eigentlich alle Hände voll zu tun, aber ihre
Strategen planen bereits, wie sie die Rückführung der
Kosovo-Albaner organisieren. Während es bislang internationaler
Usus war, daß Flüchtlinge ihre Fluchtwege und ihre
gelegentliche Rückkehr in der Hauptsache allein organisieren,
befinden die NATO-Planer nun, daß sie die Sache in die Hand
nehmen müssen. Nach ihrer Auffassung braucht ungefähr jeder
Flüchtlingstreck seine eigene Eskorte und Leibwache, weshalb sie
Ende Mai feststellen, daß die angeschwollenen
Flüchtlingsmassen unbedingt eine Erhöhung des
militärischen Begleitpersonals erfordern:
"Die Erhöhung der Truppenstärke der Kfor wurde in
Militärkreisen mit der großen Zahl von Flüchtlingen
begründet, deren sichere Rückkehr garantiert werden
soll." (SZ, 26.5.)
Dabei denkt die NATO, so gründlich wie Militärs planen, auch
schon an den nächsten Winter, beschließt, daß die
Heimführung auf jeden Fall vorher passieren muß, damit die
Flüchtlinge zu Hause auch noch die Heizung instandsetzen
können, und macht sich und dem Publikum klar, daß ein
solcher Zeitplan den rechtzeitigen Einsatz von Bodentruppen erfordert.
Ranghohe Vertreter der NATO:
"Wenn die Flüchtlinge noch vor dem Winter zurückkehren
sollten, müsse die westliche Allianz in spätestens drei
Wochen über den Einsatz von Bodentruppen entscheiden." (SZ,
25.5.)
Bodentruppen sind also in jedem Fall erforderlich, ob als
Begleitmannschaft oder um die jugoslawische Armee zu erledigen, ist
egal. Das läuft ja auch irgendwie auf dasselbe hinaus:
"Blair verspricht Flüchtlingen in Albanien feierlich, die
NATO werde für ihre Heimkehr sorgen. Sein Pressesprecher
sekundiert, früher oder später müssten in Kosovo
Bodentruppen eingesetzt werden und die NATO, nicht Milošević
werde entscheiden, wann." (NZZ, 20.5.)
Die NATO nimmt ihre Aufgabe der Rückführung so ernst,
daß sie die dafür nötigen Fristen festsetzt. Mit dem
Mißstand, daß weltweit Flüchtlinge herumlungern und
öfters ihr Leben lang nicht mehr in ihre Heimat zurückkommen,
wird jetzt aufgeräumt. Der Hohe Repräsentant der UN in
Sarajewo, Westendorp, steuert zu diesem Beschluß seine schlechten
Erfahrungen aus Bosnien bei:
"Und bedenken Sie: Mit jedem Jahr, das vergeht, verlieren
Flüchtlinge an Interesse, in ihre Heimat zurückzukehren. Wir
dürfen im Kosovo nicht denselben Fehler machen." (SZ, 12.5.)
Sonst tummeln sich die Schutzobjekte auf einmal in aller Herren
Länder, wo sie nicht verlangt und gebraucht werden, anstatt ihrer
gebotenen Heimatliebe nachzugehen. Eine schnelle Rückführung
ist also angesagt, damit die Flüchtlinge nicht die Lust an ihrer
Heimkehr verlieren, und zwischen diesem Beschluß und seiner
Erledigung liegt eigentlich nur noch der ambitionierteste Bombenkrieg
aller Zeiten, um das Terrain für die Flüchtlinge frei- und
den jugoslawischen Staat samt Inventar sturmreif zu schießen.
Auch von dieser Schwierigkeit läßt sich die NATO nicht
abschrecken und denkt schon wieder darüber hinaus. Noch
während der sich hinzögernden Kapitulation fallen ihr
zahlreiche Bedingungen ein, die erfüllt sein müssen, damit
die Rückkehr auch klappt. So eingeschüchtert und
verängstigt, wie Flüchtlinge nun einmal sind, wird der
Begleitschutz für die Kosovaren wohl auf längere Zeit
erforderlich sein. Also ist die Besetzung des Gebiets durch die NATO
und deren vorerst unbefristeter Aufenthalt ein Gebot der
Vertrauensbildung unter den Flüchtlingen. Blair:
"Eine starke NATO-Präsenz und eine klare Führung seien
schon deshalb vonnöten, weil es letztlich darum gehe, das
Vertrauen der Flüchtlinge zur Rückkehr in ihre
Heimatdörfer zu gewinnen." (NZZ, 4.6.)
Weil es darum geht, "eine sichere Umgebung für alle Bewohner
im Kosovo zu erreichen und die sichere Rückkehr der vertriebenen
Personen in ihre Häuser zu ermöglichen"
(12-Punkte-Friedensplan), muß Milošević davon
überzeugt werden, daß Rest-Jugoslawien nun auch noch seine
Herrschaft über das Kosovo abtreten und die NATO hereinbitten
muß. Für diese einleuchtende Idee müssen noch ein paar
andere internationale Instanzen gewonnen werden, bis hin zu den
Chinesen und dem Sicherheitsrat, der "die Schaffung eines
sicheren Umfeldes, in dem Flüchtlinge und Vertriebene in
Sicherheit in ihre Häuser zurückkehren können", in
seiner Resolution gutheißt und diese Aufgabe, "so lange wie
notwendig" der NATO anvertraut. Sollte sich hier etwa die UNO die
Richtlinien für die Abschiebepraxis der BRD zum Vorbild genommen
haben: Ohne "sicheres Umfeld" keine Rückkehr?
Das Vertrauen der Flüchtlinge ist jedenfalls äußerst
schwer zu erwerben, wie man an der peniblen Sorge der NATO um die
nötigen Bedingungen ablesen kann: Die Anwesenheit von
irgendwelchen Repräsentanten der jugoslawischen Hoheit würde
sie von Haus aus abschrecken, auch wenn eine internationale
Friedenstruppe danebenstünde. Folglich muß die NATO den
kompletten Rückzug aller serbischen Kräfte bis zum letzten
Polizisten aus dem Kosovo durchsetzen. Milošević ist zwar schon
zum Rückzug seiner Armee bereit, besteht aber immer noch darauf,
daß jugoslawische Kräfte die Grenzen kontrollieren –
einen solchen Schock kann die NATO ihren Flüchtlingen nicht
zumuten:
"Die serbische Forderung, die Rückkehr der geflüchteten
Kosovo-Albaner an der Grenze selbst kontrollieren zu wollen, wurde von
westlicher Seite mit der Begründung zurückgewiesen, daß
dies die Flüchtlinge nur einschüchtern und von einer Heimkehr
abhalten würde... Albright: 'Die Serben werden auf keinen
Fall bestimmen können, wer in das Kosovo hineingeht'."
(FAZ, 10.6.)
Unter dem Abzug noch jeglichen serbischen Hoheitsorgans ist es also
nicht getan, wenn es darum geht, den Flüchtlingen ihre Ängste
zu nehmen, und darauf folgt schon die nächste Aufgabe – das
ist schließlich nur logisch: die Auffüllung des
militärischen Vakuums, das durch den Abzug entsteht, und in das
die Flüchtlinge nicht hineinfallen dürfen:
"In einem ersten Schritt sollen rund 50000 Kfor-Soldaten das
militärische Vakuum auffüllen, das mit dem Abzug der Serben
entsteht. Damit wird, so die Hoffnung, sukzessive ein Sicherheitsumfeld
geschaffen, das den etwa 800000 Vertriebenen die Rückkehr erlauben
soll. Das Abkommen räumt der internationalen Friedenstruppe bis
auf weiteres ein Machtmonopol ein, sieht es doch vor, dass die
Kommandanten alle nötigen Schritte unternehmen können, um die
Sicherheit für alle Bewohner Kosovos zu garantieren." (NZZ,
11.6.)
Und schon wieder stellt sich bei der Auffüllung das
Militärvakuums ein neues Problem. Blair, der sich als einer der
feinfühligsten Kenner der Flüchtlingsseele herausgestellt
hat, weiß, "daß es keine Aufteilung Kosovos in
unterschiedliche Sektoren geben darf, weil es letztlich darum geht, das
Vertrauen... zu gewinnen." Die Unterschiedlichkeit von Amis,
Deutschen, Franzosen, Engländern, Italienern sowie deren weiteren
internationalen Hilfstruppen können die Kosovo-Bewohner zwar gut
aushalten, keinesfalls aber die der Russen, sekundiert Pflüger von
der CDU.
"Offensichtlich sei Moskau nicht bereit, sein Kontingent der NATO
zu unterstellen. Daraus ergebe sich die Aufteilung des Gebiets in
Besatzungszonen, was jedoch de facto zu einer Anerkennung der
ethnischen Säuberung führen wird, denn es steht nicht zu
erwarten, daß auch nur ein Albaner in ein von Russen dominiertes
Gebiet zurückkommen wird". (FAZ, 10.6.)
"Wenn die Russen da sind, dann gibt es keine
Rückkehr"... "Die Russen, die Krieg gegen uns
geführt haben, sollen den Frieden implementieren? Das geht
nicht" (12.6.),
– haben die Reporter der SZ von albanischen Flüchtlingen
erfahren, die sie extra vor Ort besucht haben, um sich deren
Wünsche bezüglich des "sicheren Umfelds" aufsagen
zu lassen. Auch dieses Hindernis, das droht, den Flüchtlingen den
Weg nach Hause zu versperren, räumt die NATO aus: NATO rein,
Russen raus. General Jackson möchte deshalb zwar nicht gleich
einen Dritten Weltkrieg anfangen, aber das ist dann ja auch gar nicht
nötig. Bei der Bereinigung des Russenproblems denkt die NATO auch
wirklich nur an die elementarsten Bedürfnisse der
Flüchtlinge, die geregelt werden müssen:
"Die militärische Verwirklichung des Abkommens mit Belgrad
sowie eine wirksame Betreuung der heimkehrenden Vertriebenen –
vor allem deren Schutz, die nachhaltige Versorgung mit Trinkwasser,
Notunterkünften, Elektrizität, Medikamenten und
ärztlicher Hilfe, einschließlich der verbliebenen Serben
– machten eine straffe zentrale Führung der KFOR, eine
Koordinierung und Logistik mit zentraler Kontrolle über alle
Kräfte und Mittel unabdingbar. Anders könnte das Unternehmen
Kfor in einem Chaos enden. Gerade die zu erwartenden Komplikationen und
Sicherheitsrisiken, besonders im Umgang mit lokalen serbischen
Behörden oder Machthabern, mit der UÇK und Gruppen von
heimkehrenden Vertriebenen, erzwingen nach NATO-Ansicht ‚unified
command & control‘ wenigstens so sehr wie in Bosnien."
(FAZ, 11.6.)
Man möchte fast meinen, daß die NATO im Kosovo die
Planwirtschaft einführen will. Daß die Russen dabei nur
stören, ist auf alle Fälle klar. Weil eine Trinkwasser- und
Stromversorgung nur bei einem "einheitlichen Kommando" und
zwar dem der NATO zu haben ist – wahrscheinlich, weil
Militärbündnisse auf dem Gebiet die meiste Erfahrung besitzen
–, kümmert sich die NATO also auch darum, daß ihr
Kommando durchgesetzt wird. Die NATO beherrscht aber nicht nur die
Ableitung ihres Gewaltmonopols aus der Trinkwasserversorgung, sondern
auch die aus der Menschennatur: Der Berater aus Bosnien hat vorher
schon auf Grund der schlechten Erfahrungen, die er dort gemacht hat,
den nützlichen Rat beigesteuert, daß Flüchtlinge nichts
so sehr brauchen wie eine respektgebietende Staatsmacht – nicht
zuletzt zur Einschüchterung und Abschreckung ihrer eigenen
Gelüste. Westendorp:
"Wir müssen aus unseren Fehlern in Bosnien lernen. Ich habe
hier Autorität, aber keine Macht. Ich kann vorläufig Gesetze
erlassen, aber wenn die Machthaber hier die Gesetze nicht umsetzen
wollen, dann kann ich sie nicht mit Polizei oder Justiz durchsetzen...
Im Kosovo braucht man ein richtiges Protektorat... Wir alle wissen,
daß wir den Flüchtlingen eine sehr schnelle Rückkehr
ermöglichen müssen. Zugleich werden wir auch die Sicherheit
der Serben im Kosovo gewährleisten müssen. Dafür braucht
man eine starke, auch militärisch geschützte Macht... Die
entscheidende Frage ist, ob die Kosovo-Albaner in ihre Heimat
zurückkehren werden. Wenn sich die NATO auf faule Kompromisse
einläßt, wird das gewiß nicht der Fall sein. Ohne
einen effizienten Schutz durch NATO-Truppen und ohne die Errichtung
eines Protektorats mit weitgehenden Kompetenzen für den Chef der
künftigen Übergangsverwaltung wird es weder eine
Rückkehr der Vertriebenen noch eine Autonomie für die Albaner
im Kosovo geben." (SZ, 12.5.)
Erstens brauchen die Albaner ein NATO-Protektorat gegen die Serben,
zweitens die dort ansässigen Serben dasselbe wegen der Albaner,
drittens also darf man den Albanern deren Autonomie nicht selbst
überlassen – und das alles nur, damit die Flüchtlinge
auch zurückkehren können.
"Daß die Serben ihrerseits zu Opfern werden, gehört
zur langen blutigen Geschichte des Balkan. Aber diesmal muß es
nicht sein, denn es gibt einen neuen Faktor im Kreislauf von
Vertreibung, Mord und Rache: Die KFOR. Der obliegt es laut der
UN-Sicherheitsrats-Resolution, 'neue Feindseligkeiten
abzuschrecken, die UÇK zu entwaffnen, ein sicheres Umfeld zu
schaffen, in dem Flüchtlinge und Vertriebene zurückkehren
können und die internationale Zivilpräsenz operieren
kann'." (SZ, 11.6.)
Die Gründlichkeit der NATO hat also auch schon die serbischen
Flüchtlinge, die die rückkehrenden Kosovaren schaffen
möchten, in ihren Plan miteinbezogen und baut das
Flüchtlingsschutzprogramm konsequent aus. Man kann ihr also
wirklich nicht vorwerfen, daß dann später eine Lage
eintritt, in der die NATO sich damit entschuldigt, daß sie nun
wirklich nicht hinter jeden Serben im Kosovo einen Soldaten aufstellen
kann. Zumal die Rückkehr der Flüchtlinge auch nach der
Rückkehr noch ein Dauerprogramm darstellt. Auch das hat der
Bosnien-Aufseher Westendorp gemeinsam mit dem Interviewer der
Süddeutschen Zeitung schon vorhergesehen. Nachdem sie sich schon
darauf geeinigt haben, daß eine Rückkehr ohne ein
funktionierendes Protektorat nicht zu haben ist, taucht eine neue
Schwierigkeit auf, die das Protektorat am Funktionieren hindern
könnte:
"SZ: Wie wollen Sie im Kosovo ein funktionierendes Protektorat
einrichten, wenn Milošević weiter von Belgrad aus die Situation
destabilisieren kann?
W.: Das könnte ein Problem sein... Aber gewiß wird eine
Grundbedingung die Demokratisierung seines Regimes sein, das ist eine
der Bedingungen, welche die internationale Gemeinschaft an ihn stellen
sollte. Ich denke, daß ihm die wirkliche Opposition nach einiger
Zeit deutlich machen wird, daß seine Zeit vorbei ist.
SZ: Das klingt, als bräuchte man auch ein Protektorat in Belgrad.
W.: Ich denke, das geht wohl etwas zu weit. Ich sehe nicht, daß
die internationale Gemeinschaft jetzt dazu bereit ist." (SZ,
12.5.)
Genau einen Monat später stößt die Süddeutsche wieder auf dasselbe Problem:
"Zu oft wurden sie getäuscht vom serbischen Diktator, als
daß sie einer Vereinbarung trauen wollten, die seine Unterschrift
trägt. 'Solange Milošević Präsident ist und Befehle
gibt, ist nichts sicher'." (SZ 12.6.)
Nach all der Umsicht und Sorgfalt, die die NATO bei der
Rückführung der Flüchtlinge an den Tag gelegt hat, ist
anzunehmen, daß sie sich auch um dieses letzte Risiko für
ihre Schützlinge weiterhin kümmert.
*
Das Ende des Kriegs ist die Eröffnung einer Nachkriegszeit. Die
geht los mit der Unzufriedenheit der Siegermächte: Schon beim
Abzug der jugoslawischen Armee kommt Mißstimmung auf, daß
Rest-Jugoslawien immer noch zu viele Waffen und Soldaten besitzt. Wie
nach jedem Krieg beschäftigt sich die kritische
Öffentlichkeit damit, die während des Kriegs
veröffentlichten Erfolgsmeldungen zu zerfleddern und die
behaupteten Trefferquoten in Zweifel zu ziehen. Die
Luftüberwachung der NATO hätte sich sogar durch einfache
Plastikplanen an der Nase herumführen lassen. Außerdem ist
Milošević immer noch nicht gestürzt.
-----
[1] Vgl. GegenStandpunkt 2-99, S.149. Dort ist auch
erläutert, was eine Chronik im Allgemeinen leistet und die unsrige
im Besonderen bestimmt nicht: Bebilderung einer Parteinahme ist im
GegenStandpunkt nicht zu haben.
[2] Wenig später wird beim Internationalen Gerichtshof in
Den Haag eine Klage des Kriegsgegners abgelehnt – nämlich
Eilanträge der Bundesrepublik Jugoslawien gegen zehn NATO-Staaten
zur Unterbrechung der Luftangriffe. Bei der Gelegenheit erläutert
das Gericht liebevoll den Charakter des Völkerrechts, das in
diesem Fall keineswegs als verpflichtendes Gesetz über der
Staatenwelt in Anspruch genommen werden kann, weil es voll und ganz auf
der Zustimmung der Souveräne beruht: "Erstens: Ein Staat
darf nur gegen andere klagen, soweit er die Gerichtsbarkeit des
Tribunals auch gegen sich selbst anerkennt. Der NATO-Angriff begann am
24. März. Damals hatte sich Belgrad noch nicht der Jurisdiktion
des Gerichts unterworfen. Es tat dies erst am 25.4. zusammen mit der
Einreichung der Klage. Zweitens: Den Haag ist nur zuständig, wenn
auch der beklagte Staat die Gerichtsbarkeit akzeptiert. Dies kann
allgemein geschehen oder nur für bestimmte Fälle." (SZ,
4.6.) Spanien und die USA haben sich dabei von vorneherein auf den
Standpunkt gestellt, daß sie die Entscheidung darüber, wann
und wo ein Völkermord vorliegt, autonom fällen und ihre
Entscheidungsfreiheit nicht irgendeiner Konvention opfern: "In
den Verfahren gegen Spanien und gegen die Vereinigten Staaten stellte
der Internationale Gerichtshof fest, daß beide Staaten
zulässigerweise Vorbehalte gegen die Völkermordkonvention
erhoben hätten, die die Zuständigkeit des Gerichts insgesamt
ausschlössen." (FAZ, 4.6.) Deutschland und etliche andere
NATO-Staaten dagegen "haben sich bisher nicht generell dem
Tribunal unterstellt." Vermutlich hat sich Rest-Jugoslawien
ebensowenig dem Internationalen Gerichtshof für Kriegsverbrechen
auf dem Balkan unterstellt, das nützt ihm aber wenig angesichts
der Mächtekonstellation, die dieses Stück Völkerrecht
für bindend erklärt. Im Fall der anderen NATO-Mächte
beruft sich die jugoslawische Klage darauf, daß "sie jedoch
Mitglied der Völkermordkonvention sind. Deswegen der absurd
anmutende Vorwurf Belgrads, die NATO begehe einen Genozid." (SZ,
4.6.) Das Gericht kann beim besten Willen keine Vergleichbarkeit
zwischen Völkermord und einem hochanständigen Krieg
entdecken: "Die Anwendung von Gewalt gegenüber einem Staat
könne für sich genommen kein Völkermord sein.
Außerdem scheine es den NATO-Luftangriffen an der von der
Konvention vorausgesetzten Absicht gegenüber einer
Bevölkerungsgruppe als solcher zu fehlen." Nachdem die NATO
gegen die Insassen Rest-Jugoslawiens eigentlich gar nichts Böses
im Schilde führt, sondern sie auch nur in ihrer Eigenschaft als
Staatsmaterial eines verbrecherischen Staatsführers mit ihrem
Krieg überzieht, und das flächendeckend und gerecht,
ungeachtet ihrer Rasse und Herkunft, verbietet sich die Einstufung als
Völkermord und es gibt nichts daran auszusetzen. Hier liegt also
ein gänzlich anderer Fall von Völkerrecht vor, der beweist,
daß es in dieser Rechtssphäre entscheidend darauf ankommt,
ob man zu dessen befugten Anwendern oder in die Staatenkategorie von
dessen Objekten gehört.
[3] Dies Kapitel erklärt "Waffengewalt im gemeinsamen
Interesse" gegen einen Staat für legitim, sofern von ihm
eine "Bedrohung des Friedens" ausgeht.
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