
Bürgerkrieg im Kosovo, Bombenkrieg gegen Jugoslawien
Chronik eines angekündigten Krieges
Eine Chronik über moralisch umstrittene Ereignisse wird in der
Regel – sofern nicht bloße Gedächtnisstütze
– in der Absicht verfaßt und mit dem Interesse zur Kenntnis
genommen, die Frage "Wer hat angefangen?" zu beantworten,
darüber den Nachweis zu führen, daß das Schlimme und
Böse zumindest überwiegend von der einen Seite ausgegangen
sei und die andere mehr oder weniger nur re-agiert habe, und auf die
Art Haupt-, Neben- und Unschuldige festzustellen, Bösewichter und
Gute, tragisch Verstrickte und Opfer zu unterscheiden.
Dieses Bedürfnis wird mit der Chronik des Jugoslawienkriegs, die
wir auf den folgenden Seiten fortschreiben, [1] nicht bedient. Wir
entdecken nämlich unter den Akteuren dieses Krieges keine Partei,
die nicht selber an dem schuld wäre, was sie anrichtet – die
NATO bewirkt die Vertreibung der Kosovo-Albaner sowenig wie
Milošević die Verwüstung Serbiens durch NATO-Bomber; da
handelt schon jede Seite mit Wille und Bewußtsein
gemäß ihren Zielen. Und nicht nur das: Alle verantwortlichen
Figuren, vom Tschetnik-Kommandeur vor Ort bis zum NATO-General in
Brüssel und vom rest-jugoslawischen Präsidenten bis zum
kampfbereiten Großalbanier, wissen und reklamieren für die
Kriegsziele, denen sie dienen, gute Gründe: Rechtfertigungen, die
sich interessanterweise allesamt mit Vorliebe einer Chronologie der
sittlich relevanten Ereignisse bedienen und notfalls Jahrhunderte
zurück- oder Jahrzehnte vorgreifen, um zu belegen, daß sie
selber immer nur auf die Missetaten ihrer Gegner antworten –
womit sie tatsächlich doch bloß genau umgekehrt praktisch
beweisen, daß sie aus eigenem Ermessen und mit Überlegung
hinter dem stehen, was sie tun und ihren jeweiligen Opfern antun.
Deswegen folgt unsere Chronik keinem Reiz-Reaktions-Schema. Stattdessen
versucht sie, in dem Hin-und-Her der Verhandlungen und in der Aufnahme
und Eskalation der Kriegshandlungen die Ziele klarzustellen, die jede
der engagierten Parteien aus eigener Berechnung gegen die jeweils
anderen Parteien verfolgt. Einem Leser, der an Berichterstattung nach
dem Muster des Polizeiberichts gewöhnt ist – der Verbrecher
verübt Verbrechen, weil er ein Verbrecher ist, die 1. Person
Plural schießt als Pawlow'scher Wachhund der Gerechtigkeit
grundsätzlich nur, aber gezielt zurück, und von Interesse ist
allein die Trefferquote –, wird unser erläuternder Bericht
daher wie eine rechtfertigende Verharmlosung der Missetaten vorkommen,
die die ihm zuwidere Seite begangen hat, und als ungerechtfertigte
Anklage der Seite, mit der er sympathisiert. Uns kommt freilich
umgekehrt ein Nachrichtenwesen, das am Leitfaden der Chronologie
Schuldzuweisungen vornimmt, verkehrt und irreführend vor –
und verlogen außerdem, weil tatsächlich nie die
Feststellung, wer wirklich 'angefangen' hat, über den
Schuldspruch entscheidet, sondern die Parteilichkeit über die
Chronik. Und was Parteinahme betrifft, so müssen wir passen: In
unserer Buchführung über den Ablauf der Ereignisse haben wir
nicht den kleinsten Grund für Sympathie mit irgendeiner der
kriegführenden Seiten entdecken können.
Mitte Februar: Die Friedenskonferenz von Rambouillet
Seltsame Verhandlungen über ein serbisch-kosovarisches Abkommen zur Abdankung Jugoslawiens vor der NATO
Die internationale Staatengemeinschaft, gültig und verbindlich und
ohne vorherige Einzelbefragung ihrer Mitglieder repräsentiert
durch die vier einschlägig engagierten EU-Großmächte
Großbritannien, Frankreich, BRD und Italien sowie die USA, hier
vor allem in ihrer Doppeleigenschaft als Balkan-Kontaktgruppe, zu
welcher als sechstes Mitglied Rußland dazugehört und deren
Zuständigkeit für jedes Blutvergießen in Ex-Jugoslawien
eine feste Größe in der neuen europäischen
Friedensordnung darstellt, sowie als NATO, auf deren militärischem
Gewaltapparat diese Zuständigkeit faktisch beruht – die "Internationale Staatengemeinschaft" also beordert die
Regierung (Rest-)Jugoslawiens sowie eine aus allen kosovarischen
Staatsgründungsinitiativen zusammengesetzte Vertretung der
Kosovo-Albaner ultimativ, mit der Androhung von Luftkriegsaktionen
gegen die serbische Seite, zu einem Treffen in ein Schloß bei
Paris und nennt das "Einladung zu Friedensverhandlungen".
Das Treffen, das erklärtermaßen an die unter US-Diktat
abgewickelte Dayton-Konferenz zur Schaffung eines
bosnisch-herzegowinischen Gesamtsouveräns und zur Beendigung
bosnisch-serbischer Autonomiebestrebungen anknüpft, steht unter
der formellen Leitung eines Direktoriums aus Frankreich und
Großbritannien, hier in ihrer Eigenschaft als wichtigste und
tatkräftigste Militärmächte der Europäischen Union,
außerdem den USA und jenem österreichischen Diplomaten, den
die EU im Halbjahr zuvor unter Wiener Präsidentschaft als
Balkan-Zuständigen benannt hatte – man sieht, an
diplomatischem Feingefühl lassen Weltpolitiker es in den schweren
Stunden, in denen die Alternative Krieg oder Frieden auf dem Spiel
steht, keineswegs fehlen; gerade da entscheiden sich schließlich
die wesentlichen Fragen, nämlich die des weltpolitischen Status
von Nationen. Deswegen ist die BRD, der ein gütiges Schicksal den
EU-Vorsitz für das laufende Halbjahr anvertraut hat, auch ganz
wichtig und entsprechend gewichtig vertreten. Irgendwo wartet
überdies eine russische Delegation darauf, auf dem Laufenden
gehalten zu werden.
Die vorgeladenen Bürgerkriegsparteien fügen sich und treten
an. Auf jugoslawischer Seite allerdings ohne den Präsidenten:
Milošević möchte von vornherein demonstrieren, daß
die Souveränität Jugoslawiens, die er verkörpert, nicht
zur Verhandlung steht und sich deswegen auch nicht unter Druck
herbeizitieren läßt. Daß er solche Gesten nötig
hat, zeigt ein Zwischenfall, zu dem es unmittelbar vor Konferenzbeginn
kommt: Die serbischen Behörden weigern sich ein paar Stunden lang,
die "Delegation des Volkes der Kosovo-Albaner" ausfliegen
zu lassen. Einige Mitglieder der Delegation stehen in den
Fahndungsbüchern der jugoslawischen Polizei; sie sind als 'Terroristen' zu verhaften und können nicht einfach
von Flughäfen aus, die der Aufsicht Jugoslawiens unterstehen, die
Grenze passieren – diesem Rechtsstandpunkt suchen die
Behörden in Priština Geltung zu verschaffen. Hochmögende
Vertreter der Aufsichtsmächte, in diesem Zusammenhang als
OSZE-Vertreter unterwegs, intervenieren, und die serbische Seite gibt
nach. Sie nimmt hin, daß die Einberufer der Konferenz ihr eine
nach deren eigenen Vorstellungen und internen Machtverhältnissen
zusammengesetzte Albaner-Delegation als gleichberechtigten
Verhandlungspartner gegenüberstellen und für diese Mannschaft
auf diplomatischer Immunität bestehen. Eine ernste Kraftprobe
riskiert der jugoslawische Souverän an dieser Stelle also nicht,
nimmt stattdessen als "kleineres Übel" das praktische
Eingeständnis in Kauf, daß sein Recht aufhört, wo die "Internationale Staatengemeinschaft" ein Machtwort spricht
und seinen Staatsfeind zu einer Art völkerrechtlichem Subjekt und
zum legitimen Verhandlungs- und Vertragspartner erhebt.
*
Gegenstand der Konferenz ist ein Kosovo-Statut, das die Kontaktgruppe
ausgearbeitet hat und das die beiden vorgeladenen Parteien nach
Diskussion und Verständigung über ein paar dafür
freigegebene Formulierungen im Ganzen unverändert unterzeichnen
sollen. Die "Verhandlungen" zwischen den
Bürgerkriegsgegnern sind also die leicht irrwitzige Form, in der
sie die Vorgaben der Veranstalter übernehmen und anerkennen
sollen: Jugo-Regierung und Albaner-Delegation machen miteinander die
Unterwerfung unter einen Oktroi der Aufsichtsmächte aus; die
Anerkennung eines kosovo-albanischen Rechtssubjekts und -standpunkts
durch Belgrad ist ganz nebenher im Kauf mit drin. Die Inszenierung
spiegelt den Inhalt des zur Unterschrift vorgelegten "Abkommens" adäquat wider: Die beiden Seiten machen
miteinander aus, daß die NATO mit ca 30000 Mann und schweren
Waffen im Kosovo einrückt – die Möglichkeit einiger
zusätzlicher Truppen wird großzügig eingeräumt
– und dort alles darf, die beiden streitenden Parteien hingegen
gar nichts mehr: Die Staatsmacht zieht sich zurück, die
Aufständischen geben ihre Waffen ab, die NATO nimmt die Verwaltung
in die Hand und bestellt dafür nach ethnischem Proporz
zusammengesetzte Polizei- und andere Kräfte. In ein paar Jahren
sieht man weiter; formell soll die Provinz innerhalb der jugoslawischen
Staatsgrenzen verbleiben, faktisch einen eigenständigen "Staat im Staate" bilden. Bis dahin jedenfalls drücken
die Bürgerkriegsgegner die Herrschaft im Kosovo der NATO aufs Auge:
"Die Parteien bitten die Nato, eine militärische Streitmacht
zu bilden und anzuführen, die helfen soll, die Einhaltung der
Bestimmungen dieses Kapitels sicherzustellen. ... Die Parteien
vereinbaren, daß die Nato eine Streitmacht aufstellen und
stationieren wird (im folgenden KFOR), die aus Boden-, Luft- und
See-Einheiten bestehen kann und unter der Befehlsgewalt, den Direktiven
und der politischen Kontrolle des Nordatlantikrates gemäß
der Nato-Befehlskette operieren wird. ... Die Parteien gehen davon aus
und vereinbaren, daß die KFOR das Recht haben wird: a. die
Einhaltung dieses Kapitels durch alle Parteien zu überwachen und
sicherzustellen und sofort auf jede Verletzung zu reagieren und die
Einhaltung wiederherzustellen, wenn nötig mit militärischer
Gewalt. ... Die Parteien gehen davon aus und vereinbaren, daß
weitere Direktiven des Nordatlantikrats zusätzliche Aufgaben und
Verpflichtungen für die KFOR bei der Implementierung dieses
Kapitels schaffen können. ..." usw. (eine Blütenlese
aus Kapitel 7 des Vertragsentwurfs, auszugsweise veröffentlicht in
der FR, 16.4.)
Der Einfachheit halber wird der NATO auch im übrigen
Rest-Jugoslawien alles gestattet, was eine Besatzungsmacht so braucht;
wie man zwei Monate später aus der Frankfurter Rundschau
erfährt, hat man sogar schon an die Befreiung der Gehälter
des NATO-Personals von jugoslawischen Steuern gedacht – ein
schönes Beispiel für staatliche Fürsorgepflicht.
Insgesamt handelt es sich um die interessante völkerrechtliche
Neuerung eines Vertrags zwischen einem Staat und seinen Separatisten
– zivilrechtlich müßte man wohl sagen: –
zugunsten eines Dritten: Die Regierung macht mit ihren Terroristen aus,
daß sie ihr Souveränitätsrecht an die NATO abtritt, um
es von dieser als leeren Anspruch auf ihre alten Außengrenzen
zurückzubekommen – oder umgekehrt: Die Befreiungsbewegung
wird sich mit ihren Unterdrückern handelseinig, daß sie ihre
Waffen an die NATO abgibt, um von dieser unter dem Titel einer ethnisch
gerecht zusammengesetzten Polizei neu ausgerüstet zu werden. Oder
noch anders: Die zwei Parteien schließen miteinander einen
Unterwerfungsvertrag unter einen neuen Gewalthaber, der formell im
Gewand einer von ihnen gerufenen Garantiemacht eines Friedensvertrags
auftritt.
Diplomatisch entgegenkommend, präsentiert die "Internationale
Staatengemeinschaft" dieses
Vertragskunstwerk in zwei Abteilungen: Der "politische
Teil", an dessen Ausarbeitung sich im Rahmen der Kontaktgruppe
auch Rußland beteiligen durfte, regelt die spätere Status-
und Funktionszuweisung an den jugoslawischen Staat und an die
albanische Provinzautonomie im Kosovo. Der "militärische
Teil", an dessen Abfassung Rußland nur mit wirkungslosen
Protesten gegen die Entscheidungsbefugnis einer NATO-geführten
Streitmacht teilhatte, sieht – "bloß!"
heißt es sogar gerne – die "Implementierung"
vor, hat also die Rechte zum Inhalt, die die NATO im einzelnen aus dem
"Friedensschluß" zwischen den
Bürgerkriegsparteien erwirbt. Natürlich ist die
"Implementierung" die Hauptsache und daher für
Jugoslawien wie für die NATO der zentrale Streitpunkt, der
"politische Teil" nicht mehr als die Präambel dazu.
Dennoch versucht die jugoslawische Seite die diplomatische Konstruktion
einer Zweiteilung des "Vertrags" und den Schein eines
politischen Abkommens mit einem "Anhang" über
militärische Beihilfe zur Vertragserfüllung für sich
auszunutzen: Sie erklärt sich sofort und umstandslos bereit, die
"Prinzipien" des "politischen Teils" zu
unterzeichnen und mit den Albaner-Delegierten "auszumachen", daß
die Souveränität
Belgrads über die Provinz erhalten bleibt; über alles andere
ließe sich dann reden, über jede Spielart von Autonomie und
sogar über "Elemente" des "militärischen
Teils". So wäre der jugoslawische Souverän wieder
einigermaßen, zumindest formell, Herr des Verfahrens; die ihm
aufgezwungene Autonomieregelung, selbst wenn sie noch so weit ginge,
bekäme den Charakter eines freien Zugeständnisses. Die
Veranstalter der Konferenz sehen das genauso, durchschauen also gleich
die serbische Absicht und blocken den Vorstoß ab: Vorgezogene
Unterschriften unter Teile des Abkommens wären nicht "hilfreich",
sondern ein bloßes "Verzögerungsmanöver"; was die
Vertragsprinzipien
betrifft, so hätten beide Seiten "durch ihre Teilnahme eine
grundsätzliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit" bereits
hinreichend gezeigt, so daß da nichts vereinbart werden
müßte (vgl. SZ, 12.2.); vor jeder Unterschrift sei erst
Konsens über alles herzustellen. Und auszuhandeln sei dieser
Konsens ohnehin nicht in direkten Verhandlungen wie zwischen
Staatsmacht und abtrünniger Provinz – was die albanische
Seite sowieso nicht dulden würde –, sondern zwischen
gleichberechtigten Kontrahenten – was die serbische Delegation
verweigert; so läuft alles über das Konferenz-Direktorium.
Dessen Diplomaten tragen die Zettel mit den jeweiligen
Umformulierungsvorschlägen zwischen den getrennt tagenden
Delegationen hin und her und camouflieren selbstlos ihre Herrschaft
über das Geschehen als Laufburschendienst.
*
Die Verhandlungsgroteske geht ihren Gang. Die serbische Delegation
sucht weiter nach Wegen, wie sie dem Plan eines irgendwie autonomen,
aber noch zu Jugoslawien gehörigen Kosovo zustimmen und dabei die
abverlangte Abdankung zugunsten eines NATO-Protektorats über die
Provinz vermeiden könnte – und findet logischerweise keinen,
weil für die Konferenzleitung eben die "Implementierung" nicht Mittel für den Zweck eines
teilautonomen Kosovo ist, sondern die Konstruktion eines solchen
Quasi-Staatsgebildes das diplomatische Instrument für die
Durchsetzung seiner "Bedingung": die "Implementierung" durch die NATO. Die NATO stellt die
Verhältnisse klar, indem sie ihre Bombendrohungen für den
Fall einer Ablehnung des "militärischen Teils"
zunehmend verschärft, ohne die Frage zuzulassen, ob es nicht auch
andere Wege zur Sicherstellung eines "politischen"
Abkommens gäbe – mit der Alternative, nach solchen
Alternativen suchen zu müssen, droht sie nur bei Gelegenheit der
albanischen Delegation für den Fall, daß die dem "politischen Teil" nicht zustimmt. Ein Beobachter
resümiert:
"Die Serben haben nur noch eine eingeschränkte Wahl:
Entweder sie lassen Nato-Truppen zur Friedenssicherung ins Land –
oder aber sie lassen Nato-Luftangriffe über sich ergehen."
(SZ, 17.2.)
Die kosovo-albanische Delegation müht sich unterdessen an einer
ganz anderen "Front" ab: Sie ringt mit den Vertragsautoren
der Kontaktgruppe um Formulierungen bezüglich der für
später versprochenen Autonomie, die sich als Öffnungsklauseln
im Sinne staatlicher Souveränität interpretieren lassen. Weil
es den westlichen Aufsichtsmächten um die "Implementierung" geht
und nicht um die zu "implementierenden" "Details", stößt
sie damit auf wenig Gegenliebe, aber auch nicht auf strikte Ablehnung.
Letzteres nicht aus Sympathie für die "kosovarische
Sache", sondern wegen der Bedeutung, die die "Internationale
Staatengemeinschaft" einer Unterschrift der
Albaner-Delegation beilegt. Die Chefin aus Amerika bringt es
folgendermaßen auf den Punkt:
"US-Außenministerin Albright sagte, es gebe zwei Szenarien:
Wenn die Serben für das Scheitern der Verhandlungen verantwortlich
seien, würden logischerweise serbische Ziele bombardiert.
Ließen die Kosovo-Albaner die Konferenz platzen, würde ihnen
die internationale Unterstützung entzogen." (SZ, 12.2.)
Mit der Unterschrift der Serben und ohne die der Albaner bliebe alles
beim Alten – für die NATO wie die Befreier des Kosovo der "worst case". Mit der der Albaner und ohne die der Serben
wäre jedoch der in den Ultimaten der NATO schon vor
Konferenzbeginn definierte Eingriffstatbestand erreicht. Die Allianz
hätte den gewünschten Anlaß, ihr selbsterteiltes Recht
wahrzunehmen und Belgrad die Herrschaft über sein bisheriges
Staatsgebiet gewaltsam aus der Hand zu schlagen, wenn es sie schon
nicht freiwillig aus der Hand gibt. Weil es darum geht, gibt es mit der
serbischen Seite nichts zu verhandeln: Die Hoheits-"Frage",
die die NATO aufwirft, ist sowenig kompromißfähig wie das
Gewaltmonopol teilbar. Umgekehrt lassen sich für die
Meinungsverschiedenheiten mit den Kosovo-Albanern Kompromisse denken:
Was sie "hinterher" an Autonomie bekommen, ist allemal eine
Gewährung durch die Protektoratsmacht, egal was für
Wörter im unterschriebenen Text stehen. Unterschrieben haben will
man eben bloß dies: daß es Sache der NATO ist und bleibt,
den Separatisten und ihrer UÇK soviel Macht und Recht zuzuteilen, wie
sie es zu gegebener Zeit für opportun hält – und nicht,
was die Fanatiker vor Ort sich wünschen. Die sollen nicht meinen,
sie könnten die NATO für sich funktionali-sieren, wo die
gerade das umgekehrte Verhältnis einrichtet.
Eine albanische Unterschrift muß also her. Doch mit der tut die
Delegation sich schwer; die "Kräfte", die sie
vertritt, wollen eine richtige Staatsmacht; die UÇK will "Armee
des Staates Kosovo" (FR, 19.2.) und nichts geringeres sein; und
Verräter an der heiligen kosovarisch-albanischen Sache kann man
schon überhaupt nicht leiden. Die Konferenz "stagniert".
*
Die USA und ihre wichtigen EU-Partner nutzen die "Stagnationsfase", um sich mit ihrem sechsten
Kontaktgruppen-Mitglied Rußland über dessen Einwände
gegen die Bomben-Ultimaten der NATO und die Konstruktion der "Implementierungs"-Armee und deren Befugnisse ins Benehmen
zu setzen, d.h. ihm die gültige Reihenfolge nahezubringen: erst
zustimmen, dann teilnehmen. Die Sache ist NATO-Angelegenheit; dabei
bleibt es. Einmal unterwegs, läßt sich die Allianz durch den
Formalismus eines UN-Mandats, auf dessen "eigentliche"
Notwendigkeit Rußland immer wieder hinweist, schon überhaupt
nicht vom rechten Weg der ultimativen Drohung abbringen. Und was die
vorgesehene Besatzungsmacht für Serbiens Südprovinz betrifft,
so kommt ein anderes Kommando als das der NATO gleich gar nicht in
Frage. Bereit ist man zu einem Zugeständnis, das nichts kostet und
einen unnötigen Überschuß an völkerrechtlicher
Legitimation einbringt:
"Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wird gebeten, eine
Resolution unter Kapitel VII der Charta zu verabschieden, die die in
diesem Abkommen dargelegten Vereinbarungen, einschließlich der
Gründung einer multinationalen militärischen
Implementierungsstreitmacht, annimmt und bekräftigt." (aus
dem Vertragstext, FR, 16.4.)
So kann sich Rußland "einbinden" lassen, darf auch
konstruktive Vorschläge zur Ausgestaltung der Truppe, zum Beispiel
mit einer "OSZE-Komponente" oder gar mit einer eigenen
Beteiligung, einbringen und mag im übrigen auf eigene
diplomatische Rechnung versuchen, Milošević die Ausweglosigkeit
seiner Lage klarzumachen...
*
Kurz vor dem festgesetzten Ende der Konferenz spitzt sich die Lage zu:
"'Im Moment haben wir auf der Belgrader Seite eine
Regierung, die bereit ist, die verfassungsmäßige Einigung
auf ein selbstverwaltetes Kosovo zu akzeptieren, während die
Kosovo-Seite dies nicht tun will', sagte (der britische
Außenminister) Cook am Sonntag... 'In einer solchen
Situation würden Luftangriffe auf Belgrad nicht
helfen.'" (FR, 22.2.)
Dabei verweigern die Serben nach wie vor die Annahme des
großmütigen Angebots des Westens, ihnen die Last der Macht
über ihre "Unruheprovinz" abzunehmen:
"Das käme einer 'Besetzung durch die Amerikaner
gleich', sagte Serbiens Präsident Milutinović." (ebd.)
Glücklicherweise trifft die amerikanische Außenministerin
rechtzeitig in Rambouillet ein, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen:
Die Serben sollen sich überhaupt nichts einbilden, ohne "Implementierung" läuft nichts. Vielsagend der Hinweis:
"'Es wäre ein großer Fehler von
Milošević, unsere Absichten falsch einzuschätzen.'
... Sie bekräftigte die Drohung mit NATO-Luftangriffen.'"
(ebd.)
Die Albaner sollen sich aber erst recht nichts einbilden; deren
Unterschrift muß als erstes her. In ihrer politischen
Unbedarftheit sehen die allerdings immer noch nicht ein, warum sie der
NATO freiwillig hergeben sollen, worum sie in Kosovo bis zum Letzten
kämpfen, übrigens auch mit Anschlägen während der
Konferenz: Vor deren Urhebern können sie sich mit einem derartigen
"Verzicht" nicht blicken lassen. Also zitiert M. Albright
die albanische Delegation zu sich, diskutiert tatsächlich
stundenlang mit den jungen Gewaltbereiten von der UÇK und kann
immer
noch keinen einheitlichen Willen zur Vertragsunterzeichnung bewirken.
Die Konferenz vertagt sich um drei Wochen – und
entläßt die albanische Delegation mit dem Versprechen, in
der Unabhängigkeitsfrage könnte man nach der vorgesehenen
dreijährigen "Abkühlungsfase" immer noch
weitersehen:
"'Wir leben in einer dynamischen Welt, die in drei Jahren
ganz anders aussehen wird.'" (M. Albright, ebd.)
Die Kosovo-Albaner reisen ab, "ihr Volk zu befragen".
Die europäischen Gastgeber finden sich durch die forsche
Amerikanerin ein wenig düpiert. Immerhin haben sie 17 Tage lang
den Schein eines Verhandlungsprozesses inszeniert, der Angebote
für beide Seiten enthielte und von ihren genialen Diplomaten durch
beiderseitige Widerspenstigkeit hindurch in Richtung Kompromiß zu
steuern wäre. Nun stellt die große Schwester aus Washington
praktisch unverblümt klar, worum es – natürlich auch
den Europäern – wirklich geht: um die Unterwerfung
Jugoslawiens und einen kosovo-albanischen Beitrag dazu in Form einer
untertänig abgelieferten Unterschrift. Da hilft nur eins: den
wahrhaft Schuldigen benennen. Der steht für alle Alliierten
gleichermaßen fest: Milošević sperrt sich gegen die
Stationierung einer hilfreichen "NATO-Friedenstruppe";
deswegen drohen ihm Luftangriffe. Drei Wochen hat er noch Galgenfrist.
*
Die demokratische Öffentlichkeit ist mit dem Ausgang nicht
zufrieden. Sie mißt die Konferenz am Ideal einer perfekten, ohne
Widerstand und Verzögerung wirksamen Abschreckungspolitik und ist
entsprechend maßlos enttäuscht: Statt der friedlichen
Selbstentmachtung Jugoslawiens zuzustimmen und die NATO zur Besetzung
des Landes zu bitten, sei die serbische Delegation gänzlich
unbeeindruckt geblieben, in ihrer Unnachgiebigkeit nur verhärtet
– eine Beleidigung für jeden guten Demokraten:
"In Titos alter Villa in Dedinje dürften am Wochenende die
Korken geknallt haben. Denn Slobodan Milošević und seine
kommunistengetreue Gattin Mira hatten allen Grund zum Feiern. Wieder
einmal haben sie ein Ultimatum überstanden. Wieder einmal haben
sie den Westen vorgeführt. ..." usw. (der antiserbische
Knallkorken der FR, 22.2.)
Da muß ein Fehler unserer Verhandlungsführung vorliegen, den
in diesem Fall die Unnachgiebigkeit der Kosovo-Albaner auch belegt: Der
Westen tritt immer noch zu "unentschlossen", "konzeptionslos", eben "nachgiebig" auf.
Ausnahmsweise darf sich auch mal die "harte US-Lady" mit
ihren "persönlichen Diskussionen" als blamiert
betrachten. "Gewinner" der Konferenz ist natürlich
Milošević, denn er konnte es sich leisten, unsere "letzten
friedlichen Anstrengungen" zu ignorieren.
Sinn und Zweck der Konferenz erfassen diese Meinungsmacher also genau
– und sind voll dafür: Wenn die NATO droht, dann muß
ihren Diktaten widerspruchslos und ohne Verzögerung entsprochen
werden; geschieht das nicht, dann muß die Drohung schon deswegen
wahrgemacht werden, weil sie ausgesprochen worden ist; andernfalls
hätte sie sich als Papiertiger blamiert – der GAU für
eine Allianz mit Weltordnungsanspruch. Den "Triumf" des "uneinsichtigen Diktators" können wir also
unmöglich auf uns sitzen lassen: Der muß, eigentlich
postwendend, die in der Frase von den "Anstrengungen"
liegende Fortsetzung zu spüren kriegen: Das waren nun aber
wirklich die "letzten friedlichen...". Nachdem sie sich
zwei Wochen lang wie die letzten Friedensidealisten aufgeführt
haben, die sich nichts sehnlicher als eine "Verhandlungslösung" wünschen, kehren die
Kommentatoren nur um so enttäuschter und erbitterter zum Realismus
der Gewalt zurück, der ihnen selbstverständlich von der
Gegenseite aufgenötigt wird: Wenn der serbische Unterhändler
Milutinovic von einem "Meer von Blut" und von einem "europäischen Vietnam" spricht – also in
höchsten Tönen von dem, was er auf sich und seine Nation
zukommen sieht –, dann hört die Öffentlichkeit nur eine
Ankündigung von Gegenwehr und ist empört über diese neue
serbische Ungeheuerlichkeit, die selbstverständlich erst recht
gewaltsam niedergemacht werden muß. Die Drohung eines Feindes,
der mit dem Rücken zur Wand steht, weil man ihm sonst keinen Platz
läßt, schreckt sie dabei überhaupt nicht: Sie hat das
feste Vertrauen, daß ihre "blamierte" NATO noch
allemal das größere Blutbad anrichten kann.
Erste Märzhälfte: Zwischen zwei Friedenskonferenzen
Keine Pause
Bekanntlich herrscht im Kosovo seit dem 13. Oktober 1998 ein
Waffenstillstand. Das haben Holbrooke und Milošević damals so
ausgemacht. Seine Einhaltung überwacht die "OSCE
Verification Mission", d.h. sie listet möglichst genau auf,
wieviele "Verletzungen" und "Brüche" jeden
Tag passieren. Nach der Vertagung der Friedenskonferenz in Rambouillet
"hoffen" mehrere hochrangige Vertreter der NATO auf "Einhaltung des
Waffenstillstandes", d.h. sie gehen davon
aus, daß UÇK und serbische Streitkräfte sich nun erst
recht
um die Sicherung und Besserung ihrer Positionen kümmern werden. Da
haben sie recht. Serbien gibt den Schein einer Wahrung des
Oktober-Abkommens auf, hält sich an keinerlei
"Truppenbegrenzungen" mehr und geht gegen UÇK-Stützpunkte
vor, von denen aus während der vergangenen
Monate Anschläge verübt worden sind: Der Staat will seine
Provinz behalten und deswegen die Konferenzpause nutzen, um bei der
Wiederaufnahme der Verhandlungen von einer Position gewachsener
Stärke aus antreten zu können. Die UÇK versucht aus
ihren
genau gleichartigen Gründen dagegenzuhalten; freilich mit
schwächeren Mitteln.
*
Währenddessen unternimmt die NATO die praktischen Schritte, die
für die Umsetzung ihrer Drohungen gegen den jugoslawischen Staat
notwendig sind. Die Liste der anzufliegenden Ziele wird fertiggestellt,
die dafür voraussichtlich erforderliche Vernichtungskapazität
errechnet und bereitgestellt; die Mitgliedsmächte stellen
Einigkeit darüber her, welche Truppen in welcher Zusammensetzung
nötig sind, und regeln die Frage der Einsatzleitung. Im letzten
Oktober war der höchste Mobilisierungsgrad "act ord"
zwar erreicht, dann aber auf Eis gelegt und von der neuerlichen
Zustimmung aller 16 Partner abhängig gemacht worden; die
darunterliegenden Mobilisierungsstufen müssen nicht noch einmal
durchlaufen, der Beschluß zum aktiven Krieg muß aber neu
gefaßt werden. Das dauert seine Zeit; am 9.3., zwei Wochen nach
der Vertagung, treffen sich die Generalstabschefs, um eine Vorlage zu
erstellen, die dann erst noch von den NATO-Botschaftern im NATO-Rat
behandelt werden muß. Die demokratische Öffentlichkeit kann
mit der Sorgfalt der internen Bündnisdiplomatie, die
schließlich ziemlich unterschiedliche, wenn nicht konträre
Interessen abzugleichen hat, wie immer nichts anfangen und
schüttelt den Kopf angesichts der "Zögerlichkeit". Beruhigend wirkt aber, daß der
Truppenaufbau in Mazedonien schon beginnt, weil die vorhergehenden
Mobilisierungsstufen es erlauben, Streitkräfte schon einmal auf
Vorrat und ohne feststehende Verwendungsdefinition abzustellen.
Der Kriegsstimmung zuträglich ist die Veröffentlichung des
Berichts der "unabhängigen finnischen
Gerichtsmediziner", die das "Massaker von Račak"
untersucht haben. Dieses Massaker sei ziemlich eindeutig auf serbisches
Wüten zurückzuführen, serbische Proteste bestätigen
das nur; Zweifel sind zwar noch vorhanden, angesichts der
erdrückenden Beweislast aber unerheblich. "Schatten"
lassen die Finnen neutralerweise auch auf die UÇK fallen – die
verhindert immer noch die Vertragsunterzeichnung durch die
Kosovo-Albaner.
Der Deutsche Bundestag faßt den Beschluß, den es für
die Verlegung der Truppen nach Mazedonien braucht. Reibungsloser
könnte es kaum gehen. Die "taz" wundert sich ein
wenig, warum keinerlei Diskussion entstehen will, und findet die
Erklärung in einem Lernprozeß des deutschen Volkes: Es war
aufgrund seiner Vergangenheit gewöhnt, bei Militäreinsatz an
Krieg zu denken, den es für die "Ursache von Tod, Leiden und
Zerstörung" hielt; jetzt hat es aber kapiert, daß ein
Militäreinsatz das gerade Gegenteil ist, nämlich "die
Chance, das zu verhindern". Für diesen klaren Gedanken kann
man dankbar sein, denn er faßt denkbar kurz eine zwischenzeitlich
mal kompliziertere Debatte zusammen, die 1991 – so lange wird der
Balkan immerhin schon befriedet – zwischen "Pazifisten" und "Bellizisten" begann. Die CDU/
CSU bringt – ihren Pflichten als Opposition gehorchend –
ein paar Einwände vor, was Blättern, die ihr wohlgesonnen
sind, als eine leichte Verlegenheit auffällt. Natürlich will
sie den nationalen Konsens nicht aufweichen, der darauf gründet,
daß der erreichte Mobilisierungsgrad der NATO ein zig Mal
härteres Argument und viel verpflichtender ist als irgend ein "Auftrag", den "die Völkergemeinschaft" in
ihrer völkerrechtlichen Gestalt als UNO ewig nicht erteilen mag.
Wenn Schäuble von einer "sehr ungewöhnlichen
Entscheidungssituation" spricht, spielt er auf den Rollentausch
an: Denen, die noch vor einem Jahr als Opposition mit "Völkerrecht" und "UN-Mandat" hantierten,
kann er schlecht damit kommen, daß sie als Regierung gar nichts
mehr davon wissen wollen, sogar heftig dagegen verstoßen. Von
diesem Fortschritt kann sich die Opposition selbstverständlich
nicht ausschließen und stellt sich hinter die Regierung; ihren
kritischen Beitrag erbringt sie, indem sie einen neuen Beschluß
des Bundestags fordert, falls eine "neue
Entschlußlage" eintritt, sowie in Gestalt ihres
Verteidigungsfachmanns Rühe, der vor dem "Einsatz von
Bodentruppen" warnt und das für eine ganz heikle
Angelegenheit hält – aber das tut ja irgendwie jeder.
Für den Zwang zu bedingungsloser Geschlossenheit steuert
Außenminister Fischer das Argument bei, der serbische Feind
dürfe keine "Uneinigkeit im Bündnis wittern".
Etwas in der Art gibt es also; es nützt bloß Serbien nichts.
*
Europa und die USA entwickeln wie immer ihre eigenen "Initiativen". Amerika schickt den früheren
Präsidentschaftskandidaten Dole und die Sondergesandten Hill und
Holbrooke los. Doles Aufgabe als "alter Freund des kosovarischen
Volkes" ist es, der UÇK ihre Eigensinnigkeit auszureden. Das
Zwangsmittel, über das die USA verfügen, spricht er
unverblümt aus: Zu einer relevanten Kraft ist die UÇK doch nur
geworden, weil man sie dazu befähigt hat, das soll sie sich
merken, "sonst könne man ihr die Unterstützung auch
wieder entziehen". Hill und Holbrooke knöpfen sich
hauptsächlich Milošević vor mit der immergleichen
Botschaft: Nachgeben oder Bomben. In getrennten Missionen unternehmen
die OSZE in Gestalt ihres Vorsitzenden Vollebaek und der EU-Rat in
Gestalt seines Vorsitzenden Fischer "Anstrengungen",
Serbien zur "Einsicht in die Notwendigkeiten" zu bringen.
Im Zentrum ihre "Anstrengungen" steht – die Drohung
mit der NATO-Gewalt.
So kommt es zu einer Flut von "letzten Warnungen". Der
Öffentlichkeit bleibt der Widerspruch von Inhalt und Wiederholung
nicht verborgen, und sie gelangt zu dem Schluß, Milošević
würde die Westmächte "gegeneinander ausspielen"
– ihre Art, die Konkurrenz im Bündnis zu konstatieren und
falsch herum zu interpretieren. Wenn jede Mission ihre "letzte
Warnung" ausspricht, bekundet sie damit ja nicht ihre Ohnmacht,
sondern die Einigkeit im Bündnis gegenüber dem gemeinsamen
Feind. Nicht einig sind sie sich, wem die Federführung bei der
diplomatischen Verwendung ihrer Gewalt zustehen soll. Für die
Öffentlichkeit stellt sich das dar als ein Ringen zwischen denen,
für die jede "Verzögerung" von Übel ist, und
jenen, die vor "übereilten Schritten" warnen. Für
die forsche Tour sind mehr die USA zuständig, die auch die UÇK
letztlich für ein geringfügiges Problem halten, das sich in
der Zuspitzung der "Lage" von selbst erledigen wird,
wohingegen die Europäer öffentlich den Zweifel
äußern, das unbotmäßige Verhalten der UÇK
könne die Parteilichkeit gegen Serbien ins Zwielicht bringen. Sie
sind dann auch die besonders eifrigen Anwälte des
Ausschöpfens "letzter Möglichkeiten" und der
Suche nach "Verhandlungslösungen" – nicht, weil
sie sich vor dem Bombardement drücken wollten, sondern weil der
kriegerische Übergang sowieso und automatisch die USA
unumstößlich an die erste Stelle setzt. Deswegen wollen sie
ihren mit der Rambouillet-Konferenz unternommenen Versuch solange
verfolgen, wie es geht: Die bestimmte Drohung mit dem – von ihnen
mitgetragenen – Bombardement versehen sie mit dem Zusatz einer
unbestimmten Aussicht auf "bessere Beziehungen", wenn
Milošević sich ihrem Diktat beugt; wenn er anerkennt, daß
er Bestandteil ihres "Hinterhofes" ist und sich
entsprechend benimmt, wäre das ein lobenswerter Fortschritt.
Daß eine eigene EU-Delegation in Belgrad erscheint, ist das "Angebot", ein Zuschlagen Amerikas zu vermeiden, wenn
Serbien Europa die Einwilligung zum Einmarsch erteilt, und das "Versprechen", sich eben so eine Alternative verdienen zu
können – auf deren Beschaffenheit es freilich keinen
Einfluß hat.
Bei aller "Frustration", die Europa in letzter Zeit mit
einem "hegemonialen" Amerika durchmachen mußte und zu
der diese Konkurrenz um Überordnung im Bündnis und
Unterordnung des Feindes beiträgt – eine andere "Lösung" ist nie in Sicht als: Eskalation der Gewalt.
*
Für zwei Tage beansprucht der andere Schauplatz westlicher
Friedensstiftung auf dem Balkan die allgemeine Aufmerksamkeit: Ein
US-Richter, per Dayton-Vertrag zu dieser Entscheidung ermächtigt,
verwirft den Anspruch der bosnischen Serben auf die Stadt Brcko,
über die die zwei Hälften ihrer Teilrepublik
zusammenhängen, erklärt die Gegend bis auf weiteres zum
"neutralen Distrikt" – und läßt dabei "offen, ob
später – je nach Wohlverhalten der Republik
Srpska oder der Föderation – das Gebiet nicht doch noch
einer der beiden Seiten zugesprochen wird" (SZ, 8.3.). An
demselben 5. März setzt der Bosnien-Beauftragte Westendorp den
Präsidenten der Serben-Republik, Poplasen, mit der Begründung
ab, "der serbische Radikale habe sich der Umsetzung des Friedens
von Dayton widersetzt und unter Mißbrauch seiner Amtsstellung die
Regierungsbildung blockiert" (SZ, 6.3.).
Das Gewaltmonopol im ex-jugoslawischen Unruhegebiet liegt bei den
Garantiemächten des Dayton-Vertrags; und die richten ihre
Ordnungspolitik am Kriterium des "Wohlverhaltens", d.h. der
durch Botmäßigkeit zu beweisenden Funktionalität der
einander befehdenden Sub-Nationalismen für die
Staatskonstruktionen aus, die der Westen haben will, weil er sie so
beschlossen hat. Das ist der politische Inhalt beider Entscheidungen.
Ihr Zeitpunkt macht daraus zusätzlich einen Beitrag zu der "Denkpause" in Sachen Rambouillet-Abkommen: Solange die
Serben auf irgendetwas beharren, was im Westen dem Verdacht auf einen
eigenständigen Staatswillen – "Großserbien" – unterliegt, treffen sie auf den
machtvollen Widerstand der oberhoheitlichen Aufsichtsmächte;
Chancen auf politischen Erfolg ergeben sich allenfalls aus der
Preisgabe aller angemaßten oder nur vorgestellten
Souveränitätsrechte. Das dürfen sich nebenher auch die
Kosovo-Albaner merken.
*
Die Kämpfe im Kosovo werden immer heftiger. Die Bundeswehr
übt für den Einsatz. NATO-Generalsekretär Solana spricht
Serbien das Recht auf "Kriegsvorbereitung" ab – das
darf nur die NATO. Aufgrund des chinesischen Vetos erlischt das
UN-Mandat für Mazedonien; wen kümmert’s – jetzt
hat die NATO den Laden für sich allein. An der
jugoslawisch-mazedonischen Grenze ziehen alle Parteien immer
größere Streitkräfte zusammen. Serbien bereitet sich
vor und vermint die Grenze. "Die Flüchtlingsströme
schwellen an" – das ist aber noch nicht die "humanitäre Katastrofe". Die heben wir uns für
später auf.
*
Die USA, "die ihren Führungsanspruch auf dem Balkan stets
unterstreichen", erläutern ihren Bündnispartnern, wie
sie sich die Verwaltung des Protektorats Kosovo vorstellen. Die
militärische Leitung muß bei ihnen liegen, schon deswegen,
weil die Kompetenzen "in einer Hand" verbleiben
müssen, damit nichts "verpufft" (NZZ, 6.3.). Die
zivile Leitung kann Europa bzw. einem OSZE-Beauftragten überlassen
werden. Der EU-Ratsvorsitz reagiert mit einer Erklärung: Er
signalisiert "grundsätzliche Zustimmung", nur bei der "militärischen Absicherung der zivilen Fortschritte"
gebe es noch "Divergenzen" (ebd.).
Was die leidige Frage der kosovarischen Unabhängigkeit angeht, ist
die NATO – wie man jetzt erfährt – den Kosovo-Albanern
während der "Stagnationsfase" im Rambouillet schon
einen wesentlichen Schritt entgegengekommen. Die einheimische
Bevölkerung darf sich nach einer Übergangszeit ein Parlament
wählen. Dieses Parlament erläßt Gesetze, die dem
jugoslawisch-serbischen Recht nicht unterliegen; nominell gehört
das Kosovo also noch zum Staatsverband, der hat dort bloß keine
rechtliche Handhabe mehr. Umgekehrt steht den Kosovaren "Selbstbestimmung" zu, aber kein eigener Staat: Jede
hoheitliche Gewalt steht unter NATO-Vorbehalt, und eine eigene
kosovarische Außenpolitik ist gleich ganz ausgeschlossen; welchen
Platz die Provinz in der künftigen "Gesamtordnung für
den Balkan" einnimmt, ist ganz und gar Angelegenheit der
Protektoratsmächte; die auch entscheiden, wann sie abziehen
– wenn überhaupt. So stellt der Westen einige
Täuschungen richtig, auf die er in der öffentlichen
Erklärung seiner Taten gleichzeitig überhaupt nicht
verzichtet: Es geht eben doch nicht, in einen Krieg zwischen
völkisch-nationalistischen Parteien einzugreifen, ohne für
den einen gegen den andern Nationalismus Partei zu ergreifen. Es geht
aber gut, in einen solchen Krieg einzugreifen, ohne daß die NATO
sich in den Dienst der unterstützten Partei und ihrer nationalen
Sache stellen würde: Sie funktionalisiert deren Nationalismus
für sich. Nämlich für ihr übergeordnetes Ziel, die
eigene hoheitliche Gewalt an die Stelle jugoslawischer
Souveränität zu setzen, bevor irgendetwas auf dem Balkan
weitergeht – was dann allenfalls weitergeht, ist
demgegenüber herzlich uninteressant.
*
Auch die Russen kommen diplomatisch noch einmal zum Zug. Sie werden
sich mit Belgrad einmal mehr über den "politischen
Teil" des Rambouillet-Abkommens einig, also die "Gewährung
weitgehender Autonomierechte für die
Albaner" (SZ, 13.3.). Das nützt bloß nichts, weil es
darum überhaupt nicht geht: Für den Westen ist das ganze
"politische Abkommen" ohne seine "Implementierung" durch eine
NATO-Truppe nichts wert. Das
sieht Milošević genauso: Mit der NATO-Truppe steht und
fällt die Hoheit über die Region; mit ihr entscheidet sich,
wer in Jugoslawien das Sagen hat: die "großserbische"
Macht, von der er angeblich "träumt", oder die
wirkliche Weltmacht. Nachdem die NATO mit ihrem Bomben-Ultimatum diese
"Frage" eröffnet hat, macht sie von so belanglosen
Fragen wie der Ausgestaltung und Sicherung kosovarischer
Provinzautonomie nichts mehr abhängig.
*
Der Stand vor der Fortsetzung der Konferenz: Die NATO bereitet sich
unverdrossen auf ihren "Einsatz zur Friedenssicherung" vor.
Sie besteht auf dem modernsten imperialistischen Recht, nämlich
vom Feind zur Besetzung eingeladen zu werden. Das entsprechende
Rechtsbewußtsein muß leider erst noch hergestellt werden: "Doch zu dieser Einladung wird sich Serbien ohne vorherige
Bombenangriffe der Nato kaum bereit finden." (FAZ, 16.3.)
Mitte März: Rambouillet II
Die Entscheidung
Nach drei Wochen wird die Konferenz von Rambouillet fortgesetzt. Beide
Seiten treten an und stellen in einem absurden Szenario von
Verhandlungen die Entscheidungen klar, zu denen sie mittlerweile
gelangt sind:
– Die Albaner haben zwischenzeitlich Einigkeit in ihren Reihen
geschaffen. Ihr radikaler Führer Demaçi, der die Verhandlungen von
Rambouillet grundsätzlich abgelehnt hatte, ist
zurückgetreten. Die UÇK-Kämpfer haben begriffen: Ihre einzige
Chance besteht in der Unterordnung unter die NATO. Diese Chance ist
einmalig; das ist ihnen nachdrücklich genug klargemacht worden:
"Besonders die Amerikaner hatten die UÇK bedrängt, durch
Unterzeichnung des Vertragswerks eine Konzentration des Drucks auf die
Serben durch die fortbestehende Drohung mit NATO-Luftangriffen zu
ermöglichen." (SZ, 15.3.)
Und weil "sich die jugoslawische Führung nach wie vor
weigert, eine NATO-Friedenstruppe von 28000 Mann auf dem Territorium
der Provinz zu akzeptieren", sind die UÇK-Kämpfer
verzichtsbereit und greifen zu:
"Die Kosovo-Albaner kündigten ihrerseits an, sie würden
das Interimsabkommen, das ihnen für drei Jahre weitgehende
Autonomie zusichert, unterzeichnen. Erst wenn die Serben eindeutig als
Alleinschuldige für das Scheitern einer Übereinkunft
identifiziert sind, kann die NATO ihre 400 Kampfflugzeuge zu
Repressalien gegen serbisch-jugoslawische Militärziele starten
lassen... Wiederum waren es am Montag die Amerikaner, die auf die
Albaner den stärksten Druck ausübten und sich gleichsam
für deren Wohlverhalten verbürgten." (SZ, 16.3.)
Madeleine Albright wird zitiert mit dem Versprechen, als Gegenleistung
hierfür "Hashim Thaci zum albanischen Gerry Adams zu
machen". Hierauf beschweren sich nicht die Nordiren, sondern die
UÇK. Sie besteht darauf, daß es sich bei ihr um eine
Befreiungsarmee und nicht um eine Bande von Terroristen handelt.
Dennoch leisten die Kosovo-Albaner schließlich die geforderte
Unterschrift unter den vorbereiteten Vertrag. Damit haben sie fürs
erste ihren Dienst für die westlichen Aufsichtsmächte
erfüllt.
– Die Serben treten in Paris mit dem gleichen Standpunkt an, mit
dem sie drei Wochen vorher Rambouillet verlassen haben. Sie sind
entschlossen, ihre Hoheit über Kosovo nicht aufzugeben. Sie gehen
auf den Formalismus von Verhandlungen und die "politischen"
Abmachungen ein, fordern eine Klärung, "wie die
substantielle Autonomie des Kosovo aussehen solle, sowohl was die
Institutionen der autonomen Provinz als auch was deren Vollmachten
angehe" (SZ, 17.3.99), widersetzen sich aber nach wie vor dem
vorgesehenen Besatzungsstatut. Die Aufsichtsmächte – allen
voran die USA – weisen diesen Standpunkt als nicht
verhandlungswürdig zurück, alle serbischen Vorschläge
werden als unzulässige "Verzögerungstaktik"
entlarvt. Für die jugoslawische Regierung gibt es keinen
Kompromiß auszuhandeln; auf dem Programm steht allein ihr
Verzicht auf eine Provinz ihres Staatsgebietes. Dazu ist sie nicht
bereit: die serbische Delegation verweigert die Unterschrift.
Damit stellt sie die westliche Öffentlichkeit vor ein Rätsel:
die "1 Millionen-Dollar-Frage" – meint die
Frankfurter Rundschau: "Was will eigentlich
Milošević?" Dem Frager könnte leicht geholfen werden:
Die serbische Führung handelt so verantwortungsbewußt, wie
das unter Staatsmännern allemal üblich ist. Sie ist schlicht
nicht bereit, ohne weiteres und kampflos, auf die bloße Androhung
von militärischer Gewalt durch die NATO hin, die Hoheit über
einen beträchlichen Teil ihres Staatsgebiets aufzugeben. Freilich,
wenn man von diesem ebenso banalen wie brutalen elementaren Inhalt
jeglicher Staatsräson im Fall Milošević nichts wissen will,
dann wird dessen Standpunkt in der Tat unbegreiflich. Dafür wird
die Sache aber moralisch sehr übersichtlich: Ein Mann, der nach
der fundierten Analyse der FR vom 20.3. weder auf "Zuckerbrot" – in Gestalt von Joschka Fischer –
noch auf die "Peitsche" – in Gestalt des US-Gesandten
Hill – in "unserem" Sinne reagiert, ist
offensichtlich nicht ganz zurechnungsfähig. Wenn Milošević
überlegener Abschreckungsmacht nicht weicht, also noch nicht
einmal die "einzige Sprache" kapiert, die er angeblich "versteht", nämlich die "der Gewalt", dann
leidet er unter "Realitätsverlust" und kann nur von
einem irrationalen Streben nach persönlicher "purer
Macht" getrieben sein.
Die serbische Staatsmacht jedenfalls reagiert auf ihre Erpressung durch
die NATO nach allen Regeln der Politik folgerichtig: Sie rüstet
sich ihrerseits und geht, wo sie kann, in die Offensive. Aus westlicher
Sicht ist dies ein weiterer Beweis für die Unerträglichkeit
des Belgrader Regimes:
"Es sieht so aus, als bereiteten sie sich auf einen Krieg vor,
während sie an Verhandlungen teilnehmen" (ein Sprecher des
US-Verteidigungsministeriums, FR, 18.3.).
Eine gelungene Klarstellung über die Verteilung von Recht und
Unrecht auf der Welt: Ultimativ Verhandlungen einfordern und
gleichzeitig eine effektive Kriegsmaschinerie in Gang setzen, das steht
ausschließlich den führenden NATO-Mächten zu. Bei denen
ist eine solche Doppelstrategie Ausweis ihres unerschütterlichen
Friedenswillens.
*
Die "Konstellation" für eine "militärische
Lösung" der Kosovo-Affäre durch die NATO ist damit
fertig. Die Serben lassen der Ordnungsmacht keine andere Wahl: Die NATO
muß sie fertigmachen, wenn sie glaubwürdig bleiben will. Was
die Albaner betrifft, so würde es sich eigentlich anbieten, ihre
UÇK zur quasi eigenen kämpfenden Truppe aufzubauen. Das
wäre
jedenfalls die konstruktive Korrektur der früheren Besorgnis, die
NATO "dürfe sich nicht zur Luftwaffe der UÇK machen
lassen": Sollen sich doch die Albaner zur Fußtruppe der
NATO machen. Schließlich hat der Westen mit dieser Taktik auf dem
Balkan schon gute Erfahrungen gemacht: Bevor der berühmte
Friedensschluß von Dayton zustandekam, flog nicht nur die NATO
Luftangriffe auf serbische Stellungen in Bosnien, sondern es war
gleichzeitig die von den USA aufgerüstete kroatische Armee auf dem
Marsch nach Bosnien. Genau da liegt jedoch das Problem: Anders als im
Fall Kroatien handelt es sich bei der UÇK nicht um die
reguläre
Armee eines regulären Staates; und mit dieser formellen fehlen
auch alle materiellen Voraussetzungen, um diese wüste Truppe zu
einem veritablen Stück NATO-Streitmacht herzurichten und
hochzurüsten – daß sie überhaupt über
gebügelte Uniformen, Handys und Panzerfäuste verfügt und
in den berühmten "Schluchten des Balkan"
nachdrücklich angeworbene Freiwillige gegen die serbische Armee
verheizen kann, ist schon westliches Werk, fürs Erste aber auch
alles, was die NATO-Mächte für ihre Untergrundkämpfer
tun und zulassen wollen.
*
Bei aller völkerverbindenden Kriegsentschlossenheit der NATO ist
beim Abschluß der Konferenz nicht zu übersehen, daß
die USA die Protagonisten eines Militäreinsatzes im Kosovo sind.
Wenn der US-Präsident am 20. März seiner Nation theatralisch
verkündet: "Längeres Warten bedeutet, daß den
Serben die Lizenz zum Töten erteilt wird", dann ist kein
Mißverständnis möglich: Die NATO-Führungsmacht hat
sich entschieden, ihre selbsterteilte Lizenz zum weltweiten
Ordnungsstiften und Kriegführen gegen Rest-Jugoslawien nunmehr
wahrzunehmen. Vorbehaltlos unterstützt wird sie von den Briten.
Die Deutschen sind mit ihrer auch unter Schröder und Fischer
alternativlosen NATO-Staatsräson ebenfalls dabei, legen als
EU-Führungs- und derzeitige -Präsidentschaftsmacht aber Wert
auf den Anschein einer eigenständigen europäischen Linie bei
der Herbeiführung des fälligen Übergangs. Frankreich und
Italien nehmen eine noch etwas weiter abweichende Position ein: Sie
wären eher bereit, den Serben diplomatisch entgegenzukommen; etwa
in der Frage, unter welchem Kommando die auswärtigen Truppen, die
die Provinz Kosovo unter Kontrolle nehmen sollen, offiziell
geführt werden – Konkurrenzgesichtspunkte gegen die
unangefochtene NATO-Führungsmacht bleiben eben auch in "schwerer Lage" noch lebendig.
"Sollte die Führung der Friedenstruppe durch die NATO in
Frage gestellt und diese statt dessen dem Kommando der Vereinten
Nationen oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit
in Europa unterstellt werden, sei die Zustimmung der Kosovo-Albaner zu
dem Vertrag hinfällig. Die Vertreter Rußlands und offenbar
Frankreichs und Italiens in der Kontaktgruppe haben für
dahingehende Wünsche Belgrads Verständnis, während die
Vereinigten Staaten, Großbritannien und Deutschland vom Prinzip
der Führung der Friedenstruppe durch die NATO nicht abweichen
wollen." (SZ, 17.3.)
In der Sache sind die Differenzen zwischen den westlichen Mitgliedern
der Kontaktgruppe allerdings nicht sehr bedeutend. Sie reduzieren sich
auf die beiden Seiten der Erpressung, mit der die Serben konfrontiert
werden: Die Südländer betonen am gemeinsamen Ultimatum das "Angebot", durch rechtzeitiges Einlenken und Unterwerfung
das Schlimmste abzuwenden; die andern erklären die "Angebotspolitik" für endgültig ausgereizt und
bestehen darauf, daß die Drohung endlich wahrgemacht werden
muß – sonst wäre es ja gar kein Ultimatum gewesen. Mit
den verteilten Rollen, in denen die verschiedenen NATO-Staaten
auftreten, wird immerhin zum Ende der Konferenz ein Schein von letzter
Unentschiedenheit vermittelt. Funktional und nützlich ist das
allemal – zumindest für die moralische Überhöhung
der banalen Wahrheit, um die es bei den "gescheiterten
Friedensverhandlungen" geht: Das "letzte Angebot" ist
der Auftakt zum Krieg gegen Serbien.
*
Dem Vollzug der "militärischen Strafaktion" stehen eigentlich nur noch zwei Hindernisse im Wege:
Da sind zum einen die Russen, die erstens die serbische Sache gerne
stärker unterstützen würden. Dafür haben sie
nämlich zweitens den übergeordneten Gesichtspunkt, daß
es in ihrem eigenen Interesse als Großmacht mit Anspruch auf
weltpolitischen Einfluß hoch an der Zeit wäre, der NATO ganz
generell ihre Schranken aufzuzeigen. Denn ihnen ist drittens klar,
daß die NATO in und an Jugoslawien einen Modellfall gewaltsamer
Ordnungsstiftung durchexerziert, für dessen Wiederholung die
hochgeschätzten Kontaktgruppen- und G8-Partner, wenn sie nur
wollen, in ihrem zerfallenden "Imperium" jede Menge
Anlässe finden, d.h. mit Leichtigkeit auslösen könnten;
deswegen empfiehlt sich eigentlich schon sehr dringend ein Einschreiten
gegen den Präzedenzfall, das zeigen würde, daß Moskau
sich eine derartige Behandlung ganz bestimmt nicht gefallen
läßt. Viertens geht es aber – noch – gar nicht
um die Zerlegung Rußlands, sondern bloß um Serbien und
daher für die russische Regierung um die pragmatische
Abwägung, wieviel Einsatz man sich die Abwehr westlicher "Übergriffe" an dieser Stelle wert sein lassen will
– nicht allzuviel, eigentlich gar keinen, ist fünftens der
eindeutige Beschluß der herrschenden Reformer, die ohne
westlichen Kredit mit ihren Reformen gleich am Ende wären. Zumal
sie sich sechstens eingestehen müssen, daß es mit ihren
Machtmitteln zur "Abschreckung" allzu weit gehender
NATO-Aktionen, selbst wenn sie etwas Derartiges überhaupt
versuchen wollten, unterhalb der von vornherein indiskutablen "Nuklear-Schwelle" nicht weit her ist. Weil sie siebtens
ihren Einfluß auf das Geschehen aber nicht vollends verlieren
wollen, mischen sie sich mit einer selbst für die eigenen
Diplomaten manchmal etwas unübersichtlichen Strategie der
Warnungen an die NATO und der Ermahnungen an die Belgrader Adresse ein;
raten den Serben, die das sowieso wollen, definitiv zur Unterzeichnung
des von Rußland mitverfaßten "politischen
Teils" von Rambouillet; verlangen von den westlichen Kollegen in
der Kontaktgruppe, die dazu überhaupt nicht bereit sind, Abstriche
beim "militärischen Teil"; fordern von
Milošević wiederum die Unterwerfung unter eine modifizierte
Friedenstruppe. Und geben damit ein Bild diplomatischer Hilflosigkeit
ab, das die NATO-Mächte nur in ihrem Entschluß
bestärken kann, sich überhaupt nicht irritieren zu lassen,
sondern am Fall Jugoslawien genau das durchzuziehen, was Moskau
befürchtet: seinen Anspruch auf Einfluß in Europa deutlich
zu blamieren und so um eine weitere wichtige Etappe
zurückzudrängen.
So bleibt als letztes retardierendes Moment der innerhalb des
westlichen Bündnisses und vor allem in den USA
geäußerte Zweifel, ob die gewaltsame Unterwerfung Serbiens
militärisch wirklich zum Nulltarif zu haben ist. Zu denken geben
da einerseits die Waffen des Feindes. Öffentlich macht man sich
Sorgen, ob Jugoslawien militärisch nicht doch ein weit wuchtigeres
Kaliber ist als der Irak. Freilich erinnert die Auflistung der
serbischen Waffenarsenale schon sehr an die entsprechende
Berichterstattung vor dem ersten Militärschlag gegen den Irak, als
auch schon besorgt gefragt wurde, ob Saddams Militär nicht doch zu
allerhand fähig sei. Das andere Bedenken gilt dem Ausmaß des
eigenen Einsatzes, das absehbarerweise für eine gesicherte
vollständige Entwaffnung des Feindes nötig werden dürfte:
"Einen Landkrieg im Kosovo, mit dem Ziel, mehrere zehntausend
Mann der jugoslawischen Truppen zu vertreiben, zieht niemand in
Erwägung. Dazu müßte die NATO 100.000 Mann aufbieten.
Das Risiko von 'irakischen Zuständen' auf dem Balkan
– erfolgreiche Luftoffensive, politisches Patt – ist
beträchtlich." (SZ, 18.3.)
"Das Vorgehen der serbischen Armeeführung zeigt, daß
man sich auf größere militärische Operationen
vorbereitet. Die NATO sollte erwarten, daß Belgrad nach den
angekündigten Luftangriffen seine Verbände einsetzen und auf
dem Kosovo vollendete Tatsachen schaffen wird. ... Um Serbien am
Einsatz seiner Landstreitmächte zu hindern, wären eigene,
überlegene Bodentruppen erforderlich. Doch die NATO hat sie nicht
bereitgestellt. Die in Mazedonien stationierten NATO-Einheiten –
unter ihnen auch Verbände der Bundeswehr – sind für den
Kampf gegen die serbische Armee nicht stark genug... Da eigene
Bodentruppen nicht zur Verfügung stehen, bleibt der NATO nur die
Möglichkeit, die Luftangriffe zeitlich und in Hinblick auf die
Zielplanung auszuweiten. Im Bündnis wächst die Einsicht,
daß man Luftangriffe sofort auch auf jene serbischen
Heeresverbände ausdehnen müßte, die im und um das
Kosovo herum zusammengezogen worden sind." (FAZ, 18.3.)
In Deutschlands Redaktionsstuben macht man sich nichts vor und
unterstellt eher den Profis in Brüssel verharmlosende
Selbsttäuschung – darüber, was unter dem Firmenschild "Kosovo schützen!" wirklich ansteht: Serbiens
Militärmacht zerschlagen, bis der Staat politisch definitiv "matt" gesetzt ist – was sonst!
*
Am 19. März verkündet der Sprecher des US-Präsidenten:
"Die militärischen Pläne für Luftangriffe auf
Ziele in Jugoslawien sind fertig." Und jeder, der es wissen will,
kann in übersichtlichen Schaubildern nachgucken, wieviele
Panzer
die NATO rund um Jugoslawien stationiert hat, und nachlesen, wie sich
die Jungs in Brüssel die "Enthauptung" der
jugoslawischen Luftabwehr und das weitere Procedere vorstellen.
Der US-Gesandte Holbrooke inszeniert derweil in Belgrad den Schein
einer allerletzten Verhandlungs-Chance: Er fordert Milošević mit
Verweis auf die militärischen Vorbereitungen der NATO zum letzten
Mal zur kampflosen Unterwerfung auf. Die öffentliche
Begründung für diesen letzten diplomatischen Akt stellt alles
klar: Die NATO will sich hinterher keinesfalls mangelnde
Friedensbemühungen nachsagen lassen – von wem auch immer; "der Geschichte" wahrscheinlich.
Am 20. März beginnt der Abzug des westlichen Botschaftspersonals
aus Belgrad und der Abtransport der letzten OSZE-Beobachter aus dem
Kosovo.
*
Die Öffentlichkeit zieht ihre "differenzierte
Betrachtungsweise", nach der auch die UÇK in Sachen Terror gegen
die Zivilbevölkerung nicht von schlechten Eltern ist, aus dem
Verkehr. Ab jetzt gibt es keine Stellungnahme mehr, in der nicht von
einer "leider notwendigen militärischen Aktion" zur "Verhinderung der humanitären Katastrofe, die die Serben im
Kosovo zu verantworten haben", die Rede ist. Die armen
Kosovo-Albaner sind also nicht vergessen: Während die
NATO-Kriegsvorbereitungen auf Hochtouren laufen, wird ihr "menschliches Leid" unter heftig zunehmendem Mitgefühl
ins Licht gerückt: Die "westliche Wertegemeinschaft"
muß einfach ihre Waffenarsenale in Position bringen, um diesem
geschundenen Menschenschlag zu helfen. Die große, mächtige
NATO kann es einfach nicht länger mit ansehen, wie im kleinen
Kosovo Albaner drangsaliert werden...
Was freilich, auch das wird nicht verschwiegen, nur halb so schlimm
wäre, wenn die NATO sich nicht so eindeutig auf ihr Ultimatum
festgelegt hätte. Daß er diesem Ultimatum nicht weicht,
stempelt Milošević endgültig zum Staatsverbrecher und
steigert die sittliche Empörung der tief ergriffenen
Öffentlichkeit ins kaum mehr Erträgliche: Wie lange
müssen wir uns das eigentlich noch bieten lassen?!
Ende März: Es geht los
"Fase 1"
Ab 24. März wird bombardiert. Die NATO schickt Cruise Missiles und
Spezialflugzeuge los, hauptsächlich zur Ausschaltung der
jugoslawischen Flugabwehr. Die Angriffe gehen darüber aber weit
hinaus; die Schäden sind beträchtlich und werden
weltöffentlich vorgeführt. Von Abwehr ist so gut wie nichts
zu bemerken; serbische Gegenschläge finden nicht statt. Alles
läuft nach Plan: "Fase 1" des angekündigten
Luftkriegs.
Dieser Anfangsfase schreiben die zuständigen NATO-Politiker eine
eigenständige politische Zwecksetzung zu: Man wolle
Milošević zum Einlenken zwingen, ihm quasi den nötigen
Anstoß geben, damit er endlich "zur Besinnung kommt"
und der NATO die Herrschaft im Kosovo überschreibt; er brauche "nur" zum Telefon zu greifen und anzurufen, "Herr
Milošević kennt alle Telefonnummern" (Außenminister
Fischer), dann wären die Flieger in Minutenschnelle zu stoppen,
und der Rambouillet-Friedensplan könne in Kraft treten. Das ist
eine schon arg dezente Umschreibung des Übergangs, der mit der
Eröffnung des Luftkriegs gemacht ist: Wenn Bomben fallen, geht es
nicht mehr um Einflußnahme auf die Berechnungen des Gegners,
darum, daß der seine verkehrten politischen Entscheidungen
korrigiert, sondern um Zwangsvollstreckung; dann will man dem
feindlichen Staat keine Wahl lassen, seine Handlungsfreiheit
zerstören, das eigene Diktat selber durchsetzen; die Abschreckung
hat versagt, also folgt der Vollzug des angedrohten "Schreckens". Das alles ist unterstellt, wird jedoch
verleugnet, wenn allen Angriffsflügen, bloß weil es die
ersten und die militärischen Ziele nach speziellen taktischen
Gesichtspunkten ausgewählt sind, ein politisches "nur"
mitgegeben wird: als wären sie noch gar nicht so gemeint; gar
keine ernstlichen, auf Fortsetzung berechneten
Entwaffnungsschläge, sondern eigentlich immer noch bloße,
freilich etwas demonstrativere Warnungen; als wäre die angedrohte
Zerstörung der jugoslawischen Staatsmacht noch gar nicht
losgegangen. Dieser Schein löst sich freilich sehr rasch auf in
eine zynische Variante der tatsächlich gelieferten Klarstellung:
Daß der "Herr Milošević" so lange
hochexplosive Luftpost von der NATO bekommt, wie er sie nicht
abbestellt – das ist der gerechte Hohn der stärkeren Seite
auf den unterlegenen Gegner, dem man keine Chance zur Gegenwehr
läßt und den man fertigmacht, damit und bis die Abschreckung
wieder wirkt.
Tatsächlich macht die Belgrader Regierung auch nicht die Probe
aufs Exempel und testet erst gar nicht das Versprechen des deutschen
Außenministers, eine telefonische Kapitulationserklärung
nach Bonn könnte ihr die begonnene Zerstörung ihrer
Staatsmacht ersparen. Sie eskaliert stattdessen ihren Krieg; vielleicht
sieht man es in Belgrad auch so, daß nunmehr im Kosovo der
endgültige Übergang fällig ist von der
staatspolizeilichen Terroristenbekämpfung zum richtigen, mit aller
taktisch notwendigen Härte geführten Anti-Guerilla-Krieg;
wenn sie den am Fall Vietnam oder an mittelamerikanischen Vorbildern
studiert haben, dann wissen die serbischen Militärs aus
erstklassiger Quelle, daß zum Kampf gegen eine
Volksbefreiungsarmee Terror gegen eine mit den Falschen
sympathisierende Zivilbevölkerung hinzugehört. Aus der
gewaltsamen "Befriedung" der südlichen "Unruheprovinz" wird jedenfalls ein Feldzug zur
Zerstörung dessen, worauf die UÇK sich als ihre Basis
verläßt: ihres Rückhalts bei der antiserbisch
eingestellten albanischen Bevölkerung.
So stellt sich schon nach den ersten Tagen heraus, daß auf
jugoslawischem Boden genaugenommen gar nicht ein Krieg stattfindet,
sondern zwei, und zwar höchst einseitige:
– Die jugoslawische Regierung kämpft um ihre Macht; aber gar
nicht gegen die NATO, die einen umfassenden Luftangriff auf die
militärische Substanz und die materiellen Grundlagen dieser Macht
startet – gegen deren Bomberstaffeln und Raketen kriegt sie keine "Front", geschweige denn eine Gegenoffensive, also gar
keinen Krieg in dem Sinn hin. Den führt sie im Kosovo; gegen einen
unterlegenen Gegner, der ihr das Gewaltmonopol dort mit
Guerilla-Methoden streitig macht; und sie führt ihn so "schmutzig", wie es immer zugeht, wenn eine von
nationalistischem Gerechtigkeitswahn erfüllte Truppe, aus
fanatisierten Freiwilligen zum großen Teil, "Säuberungen" durchführt.
– Die NATO kämpft "gegen Milošević", aber
gar nicht an der "Front", die der jugoslawische Staatschef
im eigenen Land gegen die albanischen Separatisten eröffnet
– in die Verlegenheit, als "Luftwaffe der UÇK" in
Erscheinung zu treten, kommen ihre Flieger gar nicht erst –,
sondern aus dem Luftraum heraus gegen sein ganzes Land. Das ist nur
konsequent; denn sie bekämpft gar nicht bloß den Gebrauch,
den der Präsident im Kosovo von seinen militärischen Mitteln
macht, sondern führt einen Krieg – nicht nur
buchstäblich "von höherer Warte aus" –
gegen die Souveränität, mit der er die Machtmittel seiner
Nation gebraucht. Durch deren Zerstörung versucht der Westen die
souveräne Staatsmacht Jugoslawiens selbst unter seine Kontrolle zu
bringen. Diesen Krieg führt die NATO so überlegen und so "sauber", wie es gar nicht anders zu erwarten ist, wenn die
Weltmacht der militärischen Spitzentechnologie in aller Ruhe und
ohne jede eigene Bedrängnis einem ihr gegenüber hilflosen
Gegner seine Ressourcen "wegoperiert" – sauber ist
hier das zynische moralische Gütesiegel für
Professionalität und Zielgenauigkeit beim Verwüsten.
Zwei in ihrer materiellen Qualität sehr unterschiedliche
Gewaltorgien laufen in Jugoslawien also nebeneinander her; gar nicht
gegeneinander wie in all den Kriegen – vom 1. Weltkrieg
angefangen –, die von der beeindruckten Öffentlichkeit als
Analogien herangezogen werden und dann doch nichts taugen, um sich
dieses neueste Balkangemetzel verständlich zu machen. Aufeinander
bezogen sind sie darüber, daß jede Seite sich mit ihrem
Vorgehen auf das der anderen bezieht – als Anlaß und guten
Grund für den Kampf, den sie jeweils führt. So trifft das
jugoslawische Militär im Kosovo mit seinen Aktionen nirgends auf
die NATO; ideell ist sie um so mehr zugegen – als böser
Aggressor, dessen Unrecht alles ins Recht setzt, was die Serbentruppen
dort anrichten. Umgekehrt trifft die NATO mit ihren Luftangriffen gar
nicht speziell auf Miloševićs "Massenmörder",
moralisch aber nur und immer auf "Kriegsverbrecher" –
die setzen mit ihren Brutalitäten alles ins Recht, was die
westlichen Flugzeuge in Jugoslawien an Zerstörung zuwege bringen;
und groß ist die Genugtuung, wenn es tatsächlich eine
Kaserne trifft, in der neulich noch eine Truppe untergebracht war, die
im Verdacht steht, ganz besonders grausam und so weiter, denn das
beglaubigt die moralische Verknüpfung des NATO-Kriegs gegen
Jugoslawiens Staatsmacht mit deren Krieg gegen abspaltungswillige
Kosovaren.
Mit dem Übergang zum Krieg legt die NATO auch allerlei politische
Rücksichten beiseite, die den westlichen Aufsichtsmächten
vorher durchaus wichtig waren: Bombardiert wird auch Montenegro mit
seinem als Parteigänger des Westens geschätzten
Präsidenten; denn auch da gibt es eine Infrastruktur, auf die die
jugoslawische Militärmacht sich abstützt. Mit diesem Vorgehen
gibt man selbstverständlich nicht den Anspruch auf, daß die
Teilrepublik in Opposition zu Belgrad bleibt; Versuche der
jugoslawischen Zentrale, das Adria-Ländchen "gleichzuschalten", werden als weiteres
Milošević-Verbrechen gegeißelt und unter die
zusätzlichen freiheitlich-demokratischen Kriegsgründe
verbucht, ohne daß mehr davon zu sehen ist als eine gewisse
massenhafte Empörung montenegrinischer Hauptstadtbewohner
darüber, von den NATO-Fliegern doch nicht in Frieden gelassen zu
werden.
*
Rußland ist damit konfrontiert und regt sich darüber auf,
daß die geschätzten Reform-, Kontaktgruppen-, G8- und
PforP-Partner seine ständig wiederholten Warnungen vor
militärischen "Alleingängen" schlicht
übergehen und damit seinen Anspruch auf Mitentscheidung über
Krieg und Frieden im allgemeinen – einschließlich des
Vetorechts im UN-Sicherheitsrat – sowie über die politische
Landkarte des Balkan im besonderen heftig blamieren. Premier Primakow
wird per Telefon mit der vollendeten Tatsache des Angriffsbefehls des
Generalsekretärs Solana an den Oberkommandierenden Clark
bekanntgemacht. Der Anruf erreicht ihn – ausgerechnet! – im
Flugzeug über dem Atlantik: Er ist als Bittsteller in Sachen
Kredit zum IWF und nach Washington unterwegs. Seine Reaktion auf den
Affront entspricht dem Kräfteverhältnis: Er läßt
sein Flugzeug umdrehen. Letzte Sorgen, ob die Russen sich angesichts
der NATO-Luftangriffe möglicherweise doch zu "unbedachten
Reaktionen" hinreißen lassen, werden mit Blick auf ihre
Finanznöte gering veranschlagt, trotz gewisser rhetorischer
Ausfälle: Den Willen, sich – gar noch wegen Serbien! –
entgegen aller bisherigen Reformpolitik als Großmacht wieder
aufzustellen und ein wirkungsvolles "Njet" einzulegen,
traut der Regierung niemand zu; und vor der Fähigkeit
Rußlands, nach all der Reformpolitik etwas dergleichen noch
zustandezubringen, fürchtet sich akut auch niemand im Westen. Die
offiziellen russischen Reaktionen bekräftigen fürs erste das
Vertrauen in Rußlands diesbezügliche Berechenbarkeit: Die
Fortführung der Reformpolitik hat Vorrang – statt in New
York führt der IWF-Chef die für den russischen Kredit so
nötigen Verhandlungen drei Tage später in Moskau, und die
Regierung meldet als Erfolg, daß sie sich mit dem Fonds einig
geworden sei – zu dessen Bedingungen, und vorbehaltlich
amerikanischer Zustimmung! Der öffentlichen Empörung nimmt
sich derweil der Präsident an und weist ihr den rechten Weg. Dabei
macht er, ganz Charaktermaske seines Staatswesens, seiner Rolle als
weltpolitischer Hanswurst alle Ehre. Souverän lehnt er es ab, sich
vom Westen in eine gewaltsame Konfrontation weit unterhalb der
Würde seiner Nation herabziehen zu lassen, und erringt einen
moralischen Sieg auf der ganzen Linie: "Wir könnten auch
anders, tun es aber nicht. Damit ist bewiesen, daß wir moralisch
höher stehen als der Westen." Sagt der Mann öffentlich!
Davon wird sich der Westen so schnell nicht erholen.
*
Die betroffenen Völker machen das, was Völker schon in
Friedenszeiten so unausstehlich macht und im Krieg erst recht
auszeichnet: Sie stellen sich geschlossen hinter das nationale
Anliegen, das sie Opfer kostet und zu Opfern macht. Staatsbürger
stehen eben ausgerechnet dann am treuesten zu ihrem Staat, wenn sich
handfest herausstellt, unter was für ein mörderisches
Kollektiv sie da subsumiert sind.
Beim serbischen Volk sieht das hauptsächlich so aus, daß es
seine gerechte Empörung über die NATO, moralisch angereichert
mit Erinnerungen an seinen letzten großen Krieg gegen Hitlers
Wehrmacht, zu einer patriotischen Heldenpose verarbeitet: Symbolisch
als Zielscheibe gekennzeichnet, stellt man sich zu Rock-Musik auf
öffentlichen Plätzen und eventuell gefährdeten
Brücken auf und genießt die umfassende nationale Einigkeit,
die auch kein Oppositioneller mehr stören mag – fürs
Vaterland sind sie im Ernstfall alle, wenn sie schon nur um des
Vaterlands willen gegen Milošević waren. Eine Minderheit von
Abkommandierten und Freiwilligen betätigt ihr patriotisches Ethos
aktiv an der Front, die die serbische Staatsmacht eröffnet, und
drangsaliert Albaner, ohne noch groß Unterschiede zu machen
– im Krieg schlägt Nationalismus unweigerlich in die
situationsgemäße Form von Rassismus um. Umgekehrt sieht sich
die UÇK ihrerseits durch die NATO-Offensive zum Zuschlagen gegen
serbische Feinde im Kosovo ermuntert. Es ist also kein Wunder,
daß im Kosovo die Massaker zwischen Serben und Albanern zunehmen
– mit eindeutigem Übergewicht patriotischer Heldentaten auf
der besser ausgerüsteten Seite.
*
Die Betreuung der rechten Gesinnung funktioniert in den
Heimatländern demokratischer Gesittung situationsgemäß
natürlich ganz anders; modellhaft in der BRD.
– Der ersten Aufgeregtheit darüber, daß
tatsächlich erstmals seit dem verlorenen Weltkrieg deutsche
Soldaten wieder bei einer richtigen Schießerei mittun, folgt eine
Gewöhnungsfase, die schneller absolviert ist als die Fase 1 des
NATO-Luftkriegs. In Erinnerung an neulich noch sehr lebhafte Bedenken
– gegen NATO-Kampfeinsätze erstens überhaupt, zweitens "out of area", drittens ohne UNO-Mandat; viertens noch
einmal extra gegen deutsche Beteiligung, fünftens auch noch
ausgerechnet auf dem Balkan, und das alles sechstens unter
rotgrüner Anleitung – notieren die Medien einen "epochalen Einschnitt" – und schon ist mit dem Gestus
einer gewissen Verwunderung das soeben noch "Undenkbare"
als der neue Normalfall quittiert und abgehakt. Letzte Bedenken gegen
den ersten NATO-Einsatz "out of aera" so ganz ohne
UNO-Mandat steuert bloß noch der OSZE-Experte ausgerechnet von
der CDU, Wimmer, bei, der sich nach dem Motto "Wo kommen wir hin,
wenn das Schule macht?" ein bißchen um die "Stabilität" auf der Welt sorgt. Ansonsten herrscht
Sachlichkeit in der Kriegsberichterstattung: "Sind alle Tornados
wieder sicher gelandet? Wie fühlen sich unsere Piloten? Wie
verkraftet Scharping die enormen Belastungen seines Amtes?" Und
alle anständigen Deutschen sind stolz darauf, wie durch und durch "normal" Deutschland jetzt zu seinem Militär steht,
und daß es seine "Nachkriegszeit" nun definitiv
überwunden hat. Sogar die Engländer – wird erfreut
berichtet – haben erkannt, daß es sich viel besser mit
deutschen Kampfjets im Verbund luftkämpfen läßt als
gegen sie...
– Daß dieser Luftkrieg unendlich gerecht ist, das ist schon
in den Wochen von und seit Rambouillet zur nationalen
Selbstverständlichkeit geworden; nicht umsonst haben sich alle
kritischen Energien auf die vorwurfsvolle Frage gerichtet, warum es
nicht endlich losgeht und wie lange wir denn noch zusehen wollen, wie
Milošević "mordet". Im Lichte des nunmehr erfolgten
Kriegsübergangs sind aber doch noch ein paar zusätzliche
Klarstellungen fällig. Erstens schlägt genaugenommen nicht
die NATO zu, sondern Milošević selbst gegen sein eigenes Volk,
weil er dem Westen keine Wahl gelassen hat. Zweitens kann gar nicht
genug betont werden, daß der Westen auch reaktiv keinerlei Krieg
führt. Man hat es nämlich gar nicht mit einem ehrbaren Feind
zu tun, sondern mit einem Verbrecher, für dessen Missetaten 'Krieg' schon ein viel zu hoher Ehrentitel wäre
– für Serben gilt derzeit, wie immer für den Feind: "Soldaten sind Mörder!" Folglich ist das, was die NATO
veranstaltet, eine "Kampagne" zur internationalen
Verbrechensbekämpfung. Weil das bei den bunten Bildern von
gewaltigen Bombentreffern vielleicht nicht immer sichtbar wird,
muß das Sensorium dafür geweckt werden. Wenn zum Beispiel
der Bayerische Rundfunk, der in der Vergangenheit wirklich nicht als
übermäßig NATO-feindlich aufgefallen ist, seinen ersten
Sonderbericht unter den Titel "Bomben auf Belgrad" stellt,
dann muß der Staatssekretär des Verteidigungsministeriums
doch einmal "in aller Deutlichkeit" anmahnen, daß der
Ausdruck "Bomben auf..." eine ganz und gar
irreführende Bezeichnung für diesen Akt unendlicher
Großherzigkeit darstellt. Drittens führt die NATO schon
gleich "keinen Krieg gegen die serbische Bevölkerung".
Um diese Botschaft glaubwürdig 'rüberzubringen',
besinnt sich die amerikanische Außenministerin sogar auf ihre
längst verschütteten Serbisch-Kenntnisse und hält eine
ergreifende Fernsehrede an die serbische Bevölkerung. Falls die
sich doch durch die eine oder andere NATO-Bombe in ihrer Lebensplanung
irgendwie gestört sieht, dann muß sie eben zur Kenntnis
nehmen, daß sie das Pech hat, auf einem Territorium zu hausen,
das von einem "Unmenschen" beherrscht wird, dessen
Herrschaft die NATO definitiv beenden will. Wenn das Jugo-Volk dann
immer noch ganz volksgemäß zu seiner Führung steht, so
können sich westliche Volksgenossen soviel Unvernunft nur durch
eine völlig hermetische Propaganda erklären, mit der der "Despot Milošević das Volk entmündigt" –
womit noch einmal mehr klar bewiesen wäre, wie gerecht der Kampf
der "westlichen Wertegemeinschaft" gegen diesen "Tyrannen" ist... So wird der NATO-Luftkrieg ideologisch
mit einem umfassenden Dementi auf den Weg gebracht: Weder NATO- noch
überhaupt Krieg noch gegen die Serben – was einerseits
verräterisch genug ist wie jedes Dementi. Andererseits trifft
diese Rechtfertigung auf zynische Weise die Sachlage: Tatsächlich
ist der NATO-Krieg einstweilen ein ganz einseitiges Draufschlagen. Und
solange es dabei bleibt, die NATO keine Soldaten an eine Front gegen
die jugoslawische Armee schickt, ist die Imagination eines
internationalen Polizeimanövers die angemessenste Art von
Kriegswerbung.
– Diese Manier, die Heimatfront mit schierer
Verbrechensbekämpfungsmoral statt mit Hurrapatriotismus zu
betreuen, hat Konsequenzen: Die Öffentlichkeit stürzt sich
begeistert auf das offizielle Angebot – und stößt sich
schon nach den ersten Bombennächten an dem nicht zu
übersehenden Befund, daß die Aktionen der Allianz und deren
angegebener Zweck, Milošević den Massenmörder im Kosovo zu
stoppen, gar nicht recht aufeinander passen – tatsächlich
führt ja die NATO ihren, Serbien seinen Krieg. Zweifel kommen auf;
allerdings nicht an der Gerechtigkeit der NATO-Bomben oder an dem
moralischen Sinn des Unternehmens, sondern an der Angemessenheit der
Mittel. In dem Punkt besteht die Nation aus lauter
Bedenkenträgern; doch von denen verfällt keiner auf den
wirklich nicht schwierigen, aber offenbar sittlich unmöglichen
Schluß, daß, wenn das angewandte Mittel dem angegebenen
Ziel so eklatant widerspricht, vielleicht das Ziel ein ganz anderes als
das angegebene ist. Lieber erklärt man besserwisserisch die
NATO-Führung für "kurzsichtig", die Militärs
für "borniert", die Politiker für "blauäugig", als daß man sich von dem
schönen Schein trennt, Krieg gegen Jugoslawien würde allein
um Leben und Gesundheit der Kosovo-Albaner geführt. Alle
Problematisierungen münden zielstrebig in Vorschläge, wie
dieser edle Zweck besser zu erreichen – gewesen –
wäre. Und das ist für die amtierenden Befehlshaber und
obersten Sprachregler eine schöne Vorlage, um auf ihr besseres
Wissen zu pochen, die ernste Mühe herauszukehren, die sie sich mit
ihrer Entscheidung gegeben haben, und alle Vorwürfe an ihre
Kritiker zurückzureichen. Der Außenminister berichtet
glaubwürdig aus seinen Gesprächen mit Milošević, der
habe seine "Aufräumaktion" im Kosovo "von langer
Hand geplant", hätte damit sogar gedroht – und schon
ist bewiesen, daß die NATO nicht etwa kaltlächelnd in Kauf
genommen hat, daß da ein Staatspräsident mit seiner Art von
abschreckendem Gewaltmonopol ernst machen würde, sondern schon
längst profylaktisch hätte tätig werden müssen und
eigentlich mal wieder viel zu langmütig war. Um so härter
muß man jetzt zu Werke gehen. So läßt sich dem
Bedenken, die "Fase 1" des Luftkriegs hätte der albanischen
Bevölkerung erst einmal mehr geschadet als genützt, sogar
Recht geben – als Begründung für die ohnehin
vorgesehene und fällige Einleitung der nächsten "Fase".
– Zu alldem steuert der demokratische Journalismus in seiner
berufsspezifischen Selbstbezogenheit gleich zu Beginn des Krieges noch
einen ganz eigenen Aspekt in Sachen Feindbild bei: In zahllosen
unvoreingenommen-überparteilichen Sonderberichten werden die
Verhältnisse in Jugoslawien besichtigt und dabei durchgängig
an dem süßen Maßstab gemessen, den die eigene
Regierung mit der Sprachregelung "Kein Krieg in dem Sinn!"
vorgegeben hat: ob nämlich die serbische Administration weiterhin
zivile Umgangsformen pflegt; speziell natürlich mit den wichtigen
Persönlichkeiten, die eigens unterwegs sind, um das zu
überprüfen. Jeder ausgewiesene West-Korrespondent, jeder
abgeschaltete Telefonapparat gilt als erneuter Beweis für die
Abartigkeit des Milošević-Regimes, das sich nicht "unparteiisch" auf die schmutzigen Finger sehen lassen
will. Leute, denen seit Monaten zum Kosovo-Konflikt nichts anderes
einfällt als die durchgesetzten westlichen Sprachregelungen, sind
zutiefst entrüstet, wenn sie – nachdem der Westen den
Übergang zum Bomben gemacht hat – als "Kriegshetzer" in Serbien unerwünscht sind. Mit ihrer
Entfernung vom Kriegsschauplatz, teilen sie in gedämpfter
Stimmlage mit, ist jede "objektive Berichterstattung" aus
Serbien gestorben. Denn die Serben, die betreiben nichts als "übelste Kriegspropaganda" – da kennen unsere
abgeklärten Journalisten sich aus, die selbstverständlich bei
jedem Interview mit einem NATO-General von Verständnis dafür
triefen, daß "die NATO nicht alles erzählen kann, was
Journalisten interessiert."
*
Die NATO verliert ihr erstes Kampfflugzeug; ein US-Tarnkappenbomber
stürzt ab, abgeschossen von der serbischen Luftabwehr. Das
Erschrecken ist groß, weil doch versprochen war, daß
– bei aller Gefährdung unserer tapferen Flugzeugbesatzungen
durch den Bösen in Belgrad – eigentlich gar kein Krieg
stattfindet; schon gar nicht ein solcher, in dem die Militärmacht
der NATO sich mit irgendetwas entfernt Gleichrangigem auseinandersetzen
müßte. Diesen Standpunkt politmoralischer
Unvergleichlichkeit hat sich die Öffentlichkeit gerne mit Bildern
von einer genauso unvergleichlichen technologischen Überlegenheit
illustrieren lassen, hat an die Unverwundbarkeit der eigenen Luftflotte
geglaubt – und nun das!
Bei näherer Betrachtung bleibt die Katastrofe jedoch in Grenzen,
auch ohne allzuviel europäische Schadenfreude darüber,
daß es den Stolz der Ami-Luftwaffe getroffen hat (die Aktien des
Herstellers sinken, immerhin...). Denn zum einen wird der Pilot sofort
aus Feindesland gerettet – offenbar beherrschen die
US-Streitkräfte den serbischen Luftraum perfekt, nicht zuletzt
dank ihrer Besatzungstruppen im selbstgeschaffenen Nachbarstaat
Bosnien. Zum andern einigt man sich unter Kennern darauf, daß der
Abschuß – wenn es überhaupt einer war und nicht doch
Materialermüdung – nur ein Zufallstreffer der Serben gewesen
sein kann.
Immerhin bleibt eine Lehre: Ganz wehrlos ist der serbische
Staatskriminelle offensichtlich noch nicht. Die Kampagne muß also
nicht nur weitergehen: Es wird Zeit für eine Eskalation.
Kurz vor Ostern: "Fase 2"
Mit mehr Bomben die humanitäre Katastrofe eindämmen!
Am 27. März eröffnet die NATO die Fase 2 ihres Luftkriegs.
Nach der Schwächung der serbischen Luftabwehr geht es jetzt um die
Vernichtung der Kriegsfähigkeit des Staates insgesamt.
"In der zweiten Fase ihrer Luftangriffe will die Allianz neben
Kasernen, Radarstellungen und Luftabwehrgeschützen nun auch
Truppenverbände, Artilleriestellungen und Panzer zumal in der
Südprovinz Kosovo angreifen." (FAZ, 29.3.)
Militärisch gesehen ist das die logische Fortsetzung der Angriffe
der 1. Fase: Wozu sonst hätte man die feindliche Luftabwehr
niedergekämpft und die Lufthoheit über Jugoslawien errungen,
wenn nicht dazu, im nächsten Schritt den übrigen
militärischen Kräften des Feindes zuzusetzen. Politisch
läßt sich mit dem Fortgang des Luftkriegs aber noch ein
wenig mehr anfangen:
– Daß man jetzt verschärft weitermacht,
läßt sich ganz leicht so interpretieren, daß die NATO
sich bislang zurückgehalten hätte; und das darf so verstanden
werden, als wären die ersten Angriffswellen nicht mehr gewesen als
ein wohlmeinendes Angebot an Jugoslawiens Regierung, jederzeit damit
wieder aufzuhören. Erst und allein deren bösartige
Hartnäckigkeit zwingt die NATO nun dazu, den nächsten Schritt
zu tun.
– Daß die Luftschläge sich jetzt, zumindest offiziell,
auf die Albaner-Provinz konzentrieren, beglaubigt den guten Zweck der
Unternehmung; daß es nämlich nur darum ginge, dem brutalen
Unterdrücker die Waffe aus der Hand zu schießen. Mit Bomben
und Raketen wird nunmehr also die "humanitäre
Katastrofe" abgebremst, deren Verhinderung, das gesteht die NATO
mittlerweile gerne ein, wohl eher mißlungen ist.
So empfiehlt die NATO der Menschheit ihren Krieg als fortgesetzte gute
Tat – und stiftet damit doch auch ein bißchen mehr Klarheit
über ihr wirkliches politisches Kriegsziel. Daß es nur darum
gegangen wäre, den Präsidenten Jugoslawiens zu erschrecken,
kann man vergessen. Die NATO ist entschlossen, dem jugoslawischen Staat
die Herrschaftsgewalt über seine Albaner-Provinz zu nehmen und ihm
die Unterwerfung unter die Oberhoheit der "Internationalen
Staatengemeinschaft" aufzuzwingen. Weil der Staat sich nicht
fügt, macht die NATO ihn kaputt. Daß das Kosovo zum Zwecke
seiner Rettung nun auch noch durch NATO-Bomben verwüstet wird,
seine Einwohner von drei Seiten terrorisiert werden, ist nicht zu
vermeiden: bei dem Ziel. Die NATO kalkuliert da wie die Serben: Besser
ein kaputtes Land als die falsche Herrschaft darüber.
*
Die jugoslawische Regierung eskaliert ihren Krieg. Nach der Logik des
Anti-Guerilla-Kampfes geht sie gegen das sympathisierende Umfeld ihres
Bürgerkriegsfeindes im Kosovo vor und verschärft ihre
Vertreibungspolitik. Sie widersteht damit demonstrativ dem politischen
Ziel der NATO-Angriffe, ohne nach wie vor diesen Angriffen selbst
militärisch irgendetwas entgegensetzen zu können. Sie
"verteidigt" ihre Herrschaft über das Kosovo, indem
sie sie bürgerkriegsmäßig an denen vollstreckt, die die
NATO zu ihren Schützlingen – und die sie, komplementär
dazu, zu Staatsfeinden erklärt. Sie bekämpft nicht bloß
die Rebellion der UÇK, sondern behandelt die albanische
Bevölkerung der Provinz insgesamt ziemlich unterschiedslos als
UÇK-Basis und Quasi-NATO-Volk – als wären die
Leutchen
wirklich ein Teil der feindlichen Macht. Gegen die NATO richtet der
jugoslawische Staat damit gar nichts aus – außer daß
er deren Kriegsideologie von der Verhinderung einer humanitären
Katastrofe blamiert; dafür dezimiert er sein kosovarisches Volk
und verwüstet mit eigenen Truppen seine "Wiege": den
so ungemein und ganz besonders "heiligen" Südwesten
seines Zuständigkeitsbereichs.
Einen sittlich einwandfreien Grund für ihr Vorgehen konstruiert
sich die Belgrader Regierung so gut wie ihr Gegner: Die Luftangriffe
der NATO ließen ihr keine andere Wahl. Nicht wenige der vor Ort
agierenden Soldaten und Milizionäre führen sich entsprechend
auf, nämlich so, wie moralische Menschen eben zu reagieren
pflegen, wenn ihre Obrigkeit sie im Namen ihrer "heiligen
Sache" zum Töten kommandiert: Sie machen sich ihren Auftrag
mit einem aberwitzigen Feindbild plausibel, empfinden am Ende einen
soliden rassistischen Haß und überwinden damit jede Hemmung
beim Niedermachen des Staatsfeinds. Sie bewähren sich damit als
passende Funktionäre des Kriegsgeschäfts; vom
abgeklärten Standpunkt der Unterscheidung zwischen sachlich
gebotener und überflüssiger Brutalität aus betrachtet
begehen sie jedoch Kriegsverbrechen. Das Flüchtlingselend erreicht
neue Dimensionen.
*
An Bildern von Flüchtlingen aus dem Kosovo kann sich die
demokratische Öffentlichkeit nicht sattsehen. Immerhin sind sie
der leibhaftige Beweis für die Gerechtigkeit der eigenen Sache. An
ihrer anschwellenden Zahl macht sich zwar nach wie vor das Bedenken
fest, die NATO würde mit ihrem Vorgehen womöglich mehr Unheil
auslösen als verhindern; mit dem Vorhaben, die "humanitäre Katastrofe" zu verhindern oder zu stoppen
oder wenigstens einzudämmen, wäre sie ersichtlich
gescheitert. Doch weil dieser Zweifel nicht dem Vorhaben, sondern
dessen Erfolg gilt, läßt er sich allemal leicht umdrehen und
kehrt dann immer zum unabweisbaren edlen Motiv zurück, für
dessen Realisierung die Zweifler ja auch kein besseres Rezept wissen.
Und weil sich jeder Zweifler auf die Absurdität festlegen
läßt, einerseits als betroffener mitleidiger Mensch,
andererseits vom Standpunkt des größten
Militärbündnisses aller Zeiten, wie als ideeller Befehlshaber
der NATO-Streitmacht, nach Rezepten zu suchen, bleibt es bei dem "Rezept", zu dessen Anwendung sich die hilflosen
NATO-Befehlshaber mangels Alternativen schon längst durchgerungen
haben: Draufhauen! Dies einmal akzeptiert, gilt für die Betreuung
der nationalen Stimmungslage die Maxime: Je elender das Elend, desto
unanfechtbarer die unanfechtbar gute Absicht. Die vorgezeigte Tatsache
serbischer Bürgerkriegsgreuel wird zunehmend identisch mit der "Schlußfolgerung", daß dagegen Bomben –
vielleicht kein wirksames, aber auf jeden Fall – das einzige
Hilfsmittel wären. Also wird vorgezeigt. Unverhohlene Begeisterung
kommt auf, bei Bundes- und anderen Pressekonferenzen, wenn ein zutiefst
empörter leibhaftiger Minister von richtig eindeutigen Massakern
berichten kann. Nicht Erleichterung, sondern ebenso unverhohlene
Enttäuschung macht sich breit, wenn ein serbisches "KZ" dann doch keines war; doch das trübt die Stimmung
nur vorübergehend: Wer will bei so vielen Beweisen schon den
einzelnen Beweis auf die Goldwaage legen – das wäre doch
zynisch!
Das Verbrechen, das nachgewiesen wird, heißt – auf der
mittlerweile erreichten Stufe – "ethnische
Säuberung". Ein interessanter Vorwurf insofern, als es
eigentlich in der Natur von Kriegen liegt, daß da Völker
– Staats-"Ethnien" – gegeneinander gehetzt und
mit Gewalt solange drangsaliert werden, bis der Staatswille, dem sie
als Basis und Berufungstitel dienen, zusammenbricht oder aufgibt.
Feinfühlige Gemüter finden es aber höchst bedeutsam, ob
die "ethnische" Manövriermasse eines Staates mit
Waffengewalt direkt niedergemacht und vertrieben oder "nur"
mit Bombenterror unter nicht aushaltbare Lebensbedingungen versetzt
wird; sie werden angesichts dieser schönen Alternative nicht zu
Feinden einer Staatenwelt, in der derlei Alternativen gestellt werden,
sondern werden zu Parteigängern der "humanitäreren" "Lösung". So rechnet
auch das deutsche Publikum es seinem Militär hoch an, wenn es die
Tötung und Vertreibung eindeutig ausgewiesener Zivilpersonen nicht
direkt bezweckt, sondern bloß als "Kollateralschaden"
[2] in Kauf nimmt. Umgekehrt sprechen die im Kosovo zu beobachtenden
und selbstverständlich objektiv und unnachsichtig ermittelten
Brutalitäten nicht gegen etwas so Anständiges wie einen
anständigen Krieg im allgemeinen, sondern belegen die besondere
Bestialität der serbischen Führung, mit der die sich aus dem
Kreis der zu gerechtem Krieg befugten Mächte ausschließt.
Auc diesen "Schluß" beherrschen übrigens alle
kriegführenden Parteien: Da versäumt es keine Seite, die
Kriegstaten ihres Gegners für die eigene Propaganda zum
völkerrechtswidrigen Verbrechen aufzubereiten; auch die
jugoslawische Regierung klagt für jedes zivile Opfer die "NATO-Nazis" an. Freilich sitzen bei der Konkurrenz die
Herren der Bomberflotten mit ihrem Aufschrei "Völkermord im
Kosovo!" eindeutig am längeren Hebel. Speziell der deutsche
Verteidigungsminister holt den denkbar dicksten moralischen Hammer der
Neuzeit hervor, wenn er seine Jungs in den Kampf schickt: "Die
Fratze unserer eigenen Vergangenheit sieht uns an!" Die
Bundeswehr im anti-faschistischen Kampf – wer kann da noch
moralische Bedenken haben?! So wird das "Nie wieder!" der
bundesdeutschen Nachkriegsmoral konstruktiv richtiggestellt.
Jenseits aller Argumentationskünste ist die deutsche
Öffentlichkeit aber überhaupt beeindruckt von der
Führungsstärke ihrer Regierenden. Reihum wird dem deutschen
Trio Schröder, Fischer, Scharping eine "Statur"
bescheinigt, die man denen bis neulich noch "nicht zugetraut
hätte". "Schröder – der
Schickimicki-Kaschmir-Kanzler", "Scharping – der
Verlegenheits-Verteidigungsminister", "Fischer – der
über den Wolken schwebt und seine Partei nicht im Griff
hat", "das Regierungsprogramm – eine Ansammlung von
handwerklichen Fehlern" – alles vergessen, alles Schnee von
gestern. Heute kann unsere kritische Öffentlichkeit nur den Hut
ziehen vor der geballten staatsmännischen Aura, die diese Figuren
plötzlich umgibt. Es bewahrheitet sich offensichtlich wieder
einmal, daß nichts einer Regierung mehr öffentlichen Repekt
einbringt als ein respektabler Krieg.
*
In den letzten Märztagen versuchen die Russen erneut, sich als
Vermittler ins Spiel zu bringen. Aus gutem Grund: Rußland selbst
ist unmittelbar betroffen durch die NATO-Aktionen. Die Art und Weise,
wie sich der Westen über die UNO und damit über das
Sicherheitsratsmitglied Rußland hinwegsetzt, wie er demonstrativ
unbeeindruckt von allen russischen Einwänden seinen Krieg geplant
hat und abwickelt, zusammen mit der eigenen Hilflosigkeit
gegenüber dieser Provokation muß in Rußland für
Unruhe sorgen. Allen Verantwortlichen ist klar, daß sie mit einer
NATO-Linie konfrontiert sind, nach der die russische Föderation
mit ihren "Nationalitäten-Konflikten" und "bürgerkriegsähnlichen Zuständen" Gefahr
läuft, selber als ein einziger Sumpf von potentiellen
Ordnungsfällen besichtigt zu werden. Gleichzeitig ist nicht zu
übersehen, daß Rußland dieser westlichen Linie nichts
entgegensetzt. Die russische Öffentlichkeit bekommt das
natürlich mit und sieht sämtliche ererbten Urteile über
die NATO bestätigt.
Folgerichtig wendet sich die innerrussische "Stimmung" als
erstes schärfer denn je gegen die prowestliche "Reformerriege". Und die reagiert: Der vom Westen jahrelang
als "Radikalreformer" hofierte russische
Ex-Ministerpräsident Gaidar versucht sich als Vermittler in
Belgrad, stößt dort mit seinen Profilierungsversuchen
allerdings nicht auf Gegenliebe. Ernster nimmt die serbische
Führung den darauf folgenden Vermittlungsversuch des amtierenden
russischen Ministerpräsidententen. Eben deswegen ist dessen
Initiative allerdings auch von Anfang an zum Scheitern verurteilt: Nach
geltendem Verdikt der NATO gibt es mit Milošević nichts zu
vermitteln. So werden Primakows Bemühungen allseits höflich "begrüßt", man "wünscht ihm viel
Erfolg", wenngleich man "nicht davon ausgeht, daß er
angesichts der bisherigen Haltung Miloševićs etwas
Substanzielles erreichen werde". So kommt es dann auch. Primakow
reist direkt aus Belgrad zum deutschen Bundeskanzler und erfährt
von Schröder, was vorher schon feststand: Die "Angebote aus
Belgrad" sind keine, die einer Überprüfung durch die
NATO würdig wären. Der Bombenkrieg kann "leider"
nicht eingestellt werden. Präsident Jelzin, der seine
früheren Einladungen als Nummer 8 zum Katzentisch der
G7-Konferenzen offensichtlich immer noch weit ernster nimmt, als sie je
gemeint waren, beantragt daraufhin ein G8-Treffen zum Kosovo-Konflikt.
Für diesen Einfall erntet er aus Deutschland herablassendes
Schulterklopfen nach dem Motto: "Wir danken dem russischen
Präsidenten für sein sicher gut gemeintes Engagement".
Die Antwort der USA fällt weniger wohlwollend aus: Dem russischen
Präsidenten wird lapidar mitgeteilt, daß es sich bei den
G8-Mächten schlicht und einfach nicht um das zuständige
Gremium für den Kosovo-Krieg handle. Das wäre ja auch noch
schöner, wenn die NATO Rußland als Veto-Macht im
UNO-Sicherheitsrat übergeht, bloß um es dann wieder als
minderbemitteltes G8-Mitglied am Verhandlungstisch zu haben.
Daraufhin wird die russische Regierung demonstrativ richtig böse:
Schon damit das erzürnte Volk hinter ihr bleibt, setzt sie sich an
die Spitze des Volkszorns und mobilisiert unter dramatischer
Begleitmusik 1 Schiff ihrer Schwarzmeerflotte. Das soll in der Adria
nachschauen, was da eigentlich passiert. Und die diplomatischen
Beziehungen zur NATO-Zentrale in Brüssel werden auch eingestellt
– da soll noch einer meinen, Rußland besäße
keine Machtmittel mehr und wüßte sich nicht zu wehren!
*
Drei US-Soldaten werden von den Serben gefangengenommen – nach
serbischen Angaben auf dem Gebiet des Kosovo, laut USA im mazedonischen
Grenzgebiet. Große Empörung auf Seiten der NATO; eine
Verletzung des Völkerrechtes wird angeprangert; darauf verwiesen,
daß die Jungs im Rahmen eines UNO-Mandats in Mazedonien unterwegs
waren – daß das Mandat gerade erst nach einem chinesischen
Veto ein stilles Ende gefunden hat, findet niemand beachtlich. Die
Berufung auf UNO und Völkerrecht ist in der gegebenen Lage
überhaupt ein gelungener Witz – keiner der abgeklärten
Journalisten lacht. Wenn es der eigenen guten Sache dient, dann sind
UNO-Mandate, Völkerrecht und so doch wieder ganz brauchbare
Berufungstitel – genau das ist schließlich jener "wahre Geist des Völkerrechts", dem jetzt endlich zum
Durchbruch verholfen wird.
Ganz nebenbei findet ein bißchen Aufklärung darüber
statt, wie recht verstandener Humanismus funktioniert: Die Sorge um die
körperliche Unversehrtheit der drei US-Soldaten übertönt
für ein bis zwei Tage ziemlich eindeutig die westliche Aufregung
über sämtliche toten Albaner. Die gehören eben doch noch
nicht zur NATO-Rasse.
*
Ostern naht, und der Papst in seiner berufsbedingten Borniertheit
plädiert für eine Waffenruhe während des Festes der
Auferstehung. Unser aufgeklärter Außenminister zeigt ihm
allerdings, was eine multikulturelle Harke ist:
"Es kann nicht angehen, daß die Christen Ostern feiern und
die Moslems weiter massakriert werden." (J. Fischer)
Die Bombardierung Serbiens durch die westliche Wertegemeinschaft geht
also weiter – und rechtzeitig zu Ostern verkündet die NATO,
daß der Übergang zur Fase 3 ihrer Kriegsplanung unmittelbar
bevorsteht, weil Milošević immer noch nicht nachgegeben hat. Da
können sich die Christen und Moslems in der Kriegsregion aber
freuen. Nebenbei mehren sich die Hinweise – alle Experten sind
sich da einig –, daß die NATO wohl um den Einsatz von
Bodentruppen nicht herumkommen wird, weil nämlich eine böse
Soldateska noch nie bloß aus der Luft definitiv ausgeschaltet
worden sei. Die offizielle NATO sieht das einstweilen noch anders.
Anfang April: "Fase 3"
Luftkrieg total und die "zweite Front" der NATO
Am Tag 9 ihrer "Kampagne" geht die NATO zu Fase 3 über.
"Fase Drei der Angriffe soll nun auch allgemeine
militärische Ziele nördlich des 44. Breitengrades ins
Zielkreuz der Kampfflugzeuge bringen. Belgrad selbst, Hauptstadt und
Nervenzentrum von Miloševićs Machtapparat, dürfte nicht
länger von massiven Luftangriffen verschont bleiben." (Der
Spiegel, 5.4.)
Und nicht nur Belgrad:
"Kein Platz in Jugoslawien sei nun mehr sicher vor Angriffen,
sagte der britische Verteidigungsminister George Robertson." (SZ,
1.4.)
Bombardiert wird, systematisch und nach Plan, alles, was ein Staat zum
Funktionieren braucht, was insofern also kriegswichtig ist und deswegen
ein legitimes strategisches Ziel abgibt: Regierungsgebäude,
Brücken, Kraftwerke, Raffinerien, Telefonnetze, Saatgut-, Chemie-,
Autofabriken, Tabaklager, Brauereien...
"Wir durchschneiden systematisch die Lebensadern der
Kriegsmaschinerie von Milošević." (der britische
Verteidigungsminister) "Wir nehmen uns die Ziele der Reihe nach
vor und machen kaputt, was Milošević lieb hat." (ein
US-Geschwaderführer)
Daß das, wovon Miloševićs Macht lebt, zugleich und
untrennbar Existenzbedingung der Leute ist, "gegen die wir keinen
Krieg führen", die aber nun mal in dessen Herrschaftsraum
leben und arbeiten, das hat man in Brüssel nicht etwa
übersehen. Im Gegenteil, man weiß und will, was man tut:
"Die Zerstörung von Industrieanlagen und
Versorgungseinrichtungen als wichtiger Infrastruktur soll die
staatliche Handlungsfähigkeit begrenzen." (NZZ, 6.4.)
Im modernen Gemeinwesen sind die Grundlagen staatlicher Macht und die
Mittel und Bedingungen des zivilen Lebens eben keine verschiedenen
Dinge; letztlich ist das Staatsvolk mit allen seinen funktionalen
Betätigungen Basis der politischen Herrschaft, und
angriffswürdig ist insofern im Prinzip das gesamte lebende und
tote Inventar der Nation. Doch eben weil das so ist, findet die NATO es
um so wichtiger, fürs demokratische Publikum säuberlich
zwischen "militärischen Zielen", die zum Abschuß
freigegeben sind, und "zivilen Objekten", die – nach
Möglichkeit – verschont bleiben und höchstens aus
Versehen erwischt werden, zu unterscheiden. Schließlich soll erst
gar niemand auf die verwegene Idee kommen, an den Zerstörungen,
die die westlichen Bomber in Jugoslawien, und denen, die serbische "Brandschatzer" in Albaner-Siedlungen im Kosovo anrichten,
gäbe es irgendeine entfernte Ähnlichkeit. So wird die Moral,
die in jedem toten Kosovo-Albaner die verbrecherische Absicht erkennt,
in den eigenen Bombenanschlägen aber nichts als edle Motive
wahrnehmen will, mit Präzisionswaffen bedient, die mitten in
Belgrad ein Hauptquartier des Feindes in seine Bestandteile zerlegen
und die Kinderklinik direkt daneben stehenlassen – wenn die
Bomben auf die Bergbaustadt Aleksinac in einem Wohngebiet statt in der
Kaserne einschlagen, dann beweist die Fehlzündung nur erst recht
die eigentliche umweltschonende Absicht; und die Schuld trifft sowieso
Milošević, der aus perfider Berechnung Sozialwohnungen direkt
neben Militärbaracken bauen läßt. Andererseits versagt
sich die kultivierte Öffentlichkeit der bombenkriegführenden
Nationen aber auch nicht völlig eine berechtigte Genugtuung
über die zerstörerische Wucht westlicher Wunderwaffen: Zwar
will selbstverständlich niemand den Balkan so wie seinerzeit
Vietnam "in die Steinzeit zurückbomben". Aber immerhin:
"Die Bomben haben Serbien jetzt schon um 20 Jahre zurückgeworfen." (Der Spiegel, 5.4.)
*
An der Ausweitung des Aktionsradius ihrer Luftwaffe, darauf legen die
NATO-Verantwortlichen großen Wert, ist selbstverständlich
niemand anders als Milošević selber schuld: Der Verbrecher gibt
nicht nach –
"Doch der Diktator sitzt ungerührt in seinem Bunker, seine
Mordbanden wüten weiter im Kosovo" (Der Spiegel, 5.4.)
–; deswegen bleibt der Allianz nichts anderes übrig, sie
muß eine weitere selbstgesetzte Schranke in ihrer
Luftkriegführung aufheben. Daß die NATO planmäßig
voranmacht, soll also rückwirkend bedeuten, daß sie sich
bisher zurückgehalten hat; und diese Zurückhaltung will
wieder so verstanden sein, als wäre jeder Eskalationsschritt aufs
Aufhören berechnet: Politik des Bündnisses wäre es, so
US-General Colin Powell, "dem Gegner die Entscheidung zu
überlassen, wann er genug geprügelt worden ist" (SZ,
6.4.).
Freilich bleibt es Sache der NATO zu entscheiden, wann sie die
Forderungen für akzeptiert erachtet, zu deren Erfüllung sie
die Belgrader Regierung hin-"prügeln" will. Und da ist
mittlerweile klar: Die – fiktive – Chance, mit einem Griff
zum Telefon und der Zusage einer Unterschrift unter das Vertragswerk
von Rambouillet das NATO-Bombardement abzustellen, hat Milošević
mittlerweile verspielt. Die Unterschrift wird zwar nach wie vor
verlangt; ohne Unterwerfung unter das Recht des Westens auf Besetzung
des Kosovo samt Bewegungsfreiheit in Rest-Jugoslawien usw. kommt der
Präsident nicht davon. Daß das dem Westen reichen
könnte, um mit der Zerstörung der jugoslawischen Staatsmacht
aufzuhören, wird mittlerweile aber höchst offiziell in
Zweifel gezogen. Kritische Publikumsfragen, ob den Kosovo-Albanern denn
jemals wieder ein Leben unter Belgrader Hoheit und mit serbischen
Nachbarn zuzumuten sein könnte, geben dem deutschen
Außenminister z.B. Gelegenheit, "erkennen" zu lassen, "daß ein Autonomie-Status Kosovos innerhalb des
jugoslawischen Staatsverbandes als Ziel des Rambouillet-Vertrages
illusorisch geworden sein könnte"; und auch der Chef der
Allianz "US-Präsident Bill Clinton erwägt, Kosovo von
Serbien abzuspalten" (FR, 1.4.). "Rambouillet ist
tot", aber die Serben müssen selbstverständlich alles
unterschreiben, und insofern bleibt der Vertragstext auch noch
gültig: Mit dieser feinen Dialektik stellen die maßgeblichen
NATO-Politiker ihr Kriegsziel klar. Es geht darum, daß die
jugoslawische Regierung sich unterwirft; unter was, das zu definieren
behalten die Sieger sich vor – klarer läßt sich der
Anspruch auf bedingungslose Kapitulation kaum fassen.
Zweifelhaft ist ein ganz anderer Punkt: ob anständige
NATO-Größen überhaupt noch bereit sein können, die
Kapitulation Jugoslawiens von einem Herrn Milošević
entgegenzunehmen. Der deutsche Außenminister hat da jedenfalls
Bedenken, auch wenn er im Dienst der Nation natürlich alles tut
und die blutigsten Hände schüttelt: eine "extrem
schwierige moralische Frage" tue sich da auf; im Grunde komme der
Mann als "Partner für eine politische Lösung"
kaum mehr in Frage (SZ, 7.4.); denn eigentlich gehöre er nicht an
den Verhandlungstisch, sondern "vor das Kriegsverbrechertribunal
in Den Haag". Über die kriegerische Stimmungsmache hinaus
ernstgenommen, hieße das freilich, daß die NATO sich ihren
"Ansprechpartner" in Belgrad für eine solide "Friedenslösung"
selber installieren muß; was
wiederum nichts geringeres bedeuten würde als die Übernahme
und Wahrnehmung der Oberhoheit über den ganzen jugoslawischen
Staat: die Einrichtung eines umfassenden Besatzungsregimes. Offizielle
Linie des Westens ist das – einstweilen – nicht. Doch
immerhin deutet sich da an, in welchem Sinne sich die
Friedensbedingungen, die die Allianz Jugoslawien stellt, jederzeit
verschärfen lassen, wenn es opportun erscheint. Das Bündnis
wahrt seine Freiheit zu entscheiden, wann Belgrad "genug
geprügelt worden ist".
*
Bis auf weiteres vollstreckt die NATO ihren Beschluß,
planmäßig zu zerschlagen, worauf die Aktionsfähigkeit
der jugoslawischen Regierung beruht. Selbstredend geschieht das nur aus
edelsten Motiven; doch wie das beim Kriegführen so ist: Das Mittel
für den guten Zweck enthält schon den ganzen politischen
Zweck in sich. Der jugoslawische Staat muß wehrlos gemacht und
unterworfen werden; allein auf der Grundlage ist die "Internationale Staatengemeinschaft" bereit, einen
politischen Verkehr mit Belgrad wieder aufzunehmen.
Dieser Zustand läßt allerdings auf sich warten. Die erste
Zwischenbilanz der Wirkungen, die mit der Bombardierung Jugoslawiens
erzielt worden sind, enttäuscht den maßlosen Anspruch, das
Land müßte eigentlich schon nach den ersten
Bombennächten am Ende sein und klein beigeben. Zur
Entkräftung einer solchen Erwartungshaltung reichen
militärische Autoritäten wie der General Naumann nun
Klarstellungen über die Art der Kriegführung nach, zu der die
NATO angesichts des serbischen Durchhaltewillens gezwungen sei. Weil
das serbische Militär jahrzehntelang "zum langanhaltenden
Widerstand gegen einen überlegenen Gegner im eigenen Land"
ausgebildet worden sei, für diesen Zweck über eine "dezentrale", auch "unterirdische" Nachschub-
und Stützungspolitik verfüge und somit selbst "hohe
Verluste" ohne Beeinträchtigung seiner "Kampffähigkeit" hinnehmen könne, sind die Serben
auch lediglich durch einen "langwierigen Abnutzungskrieg"
zur Kapitulation zu bewegen, ein schneller Erfolg der gezielten
Luftkriegsoperationen sei hingegen unrealistisch. (FAZ, 13.4.99)
Daß auf der anderen Seite die NATO bei ihrer
Zermürbungsstrategie konsequent auf die Überlegenheit ihrer
eingesetzten Kriegstechnologie setzt und dabei das Risiko eigener
Verluste gering halten will, hält die Debatte am laufen, ob das
bislang angewandte Mittel überhaupt das rechte sei. Experten
werden befragt, und die werden sich zum x-ten Mal darüber einig,
daß "Kriege noch nie bloß aus der Luft gewonnen
worden" sind. Skeptische Anhänger der Kriegsmoral, wonach es
allein um die Rettung der armen Verfolgten im Kosovo ginge, sehen sich
in ihren Zweifeln am versprochenen Effekt der Bomben bestätigt und
stimmen in den Vorwurf ein, die NATO hätte es an den nötigen
Vorbereitungen zu einer regelrechten bewaffneten Invasion des Kosovo
fehlen lassen; nun führte sie, aufgrund ihrer von Milošević
durch gnadenloses Aushalten aufgedeckten Fehlkalkulation, zuwenig Krieg.
Den Vorwurf läßt die Allianz nicht auf sich sitzen: Erstens
hat man selbstverständlich schon alles durchkalkuliert, zweitens
und vor allem aber die Möglichkeiten des Luftkriegs noch lange
nicht ausgereizt. Was das Erste betrifft, so wird die
Öffentlichkeit mit Zahlen zwischen 100000 und 200000
bekanntgemacht: Soviele Soldaten wären nötig, um in den "Schluchten des Balkan" klarzukommen, nach Belgrad
durchzumarschieren und von da aus ein gesichertes Protektorat Kosovo zu
installieren. Kaum jemand wundert sich, daß Kriegsszenarios
für ein solches Ziel bereits erarbeitet worden sind, als die
jugoslawische Armee noch nicht einmal ihre "von langer Hand
vorbereitete" "Operation Hufeisen" zur
Entvölkerung des Kosovo entworfen hatte, um dessen Verhinderung
oder Abwehr es bei der Intervention der NATO angeblich doch bloß
geht. Die öffentliche Wißbegier zielt in eine ganz andere
Richtung: ob ein äquivalentes Ergebnis nicht auch mit deutlich
weniger Aufwand zu erreichen wäre; vor allem ohne den
kriegsmäßigen Einsatz von Bodentruppen. Dabei ist
stillschweigend allemal vorausgesetzt, daß natürlich
Bodentruppen erforderlich sind, um der serbischen Staatsmacht ihre
Herrschaft über ihre "Unruheprovinz" abzunehmen; eben
dies ist ja der ganze Inhalt des "militärischen Teils"
von "Rambouillet", und die dafür nötigen 30000
Mann Besatzungstruppen stehen auch schon längst, in Mazedonien vor
allem, zur "Implementierung" bereit. Nur sollte die
Besetzung zum militärischen Nulltarif vor sich gehen, auf
Einladung des okkupierten Landes. Eben diese Einladung ist
unterblieben; bislang hat sie sich auch noch nicht herbeibomben lassen.
Also muß "es" eventuell doch anders gehen:
"Voraussetzung für die Stationierung von Bodentruppen sei
ein Umfeld, das den Einsatz erlaube, sagte Albright dem
US-Fernsehsender NBC. Dies lasse sich aber nicht nur dann schaffen,
wenn Jugoslawiens Präsident Slobodan Milošević einem
Friedensabkommen zustimme." (SZ, 6.4.)
Sondern wie?
"Nach einem Bericht der Sunday Times planen westliche
Militärs ... bereits eine Invasion mit 60000 Soldaten im Kosovo,
sobald die Luftabwehr Belgrads zerstört sei." (ebd.)
– davon wäre immerhin die Hälfte schon vor Ort. Nur
darf eine solche oder ähnliche Invasion mit Bodentruppen nicht zu
einem regelrechten Bodenkrieg ausarten, in dem dann auf einmal nicht
bloß Serben und Albaner sterben, sondern – eben wie in
einem richtigen Krieg – auch NATO-Truppen verheizt würden
und außerdem am Ende die Russen doch noch ungemütlich werden
könnten. An dem Programm hält die Allianz unbeirrt fest: Ihre "Kampagne" führt sie strikt von einer Position der
Stärke aus durch; so überlegen, daß sich dem serbischen
Feind gar keine Chance zu wirksamer Gegenwehr bietet. Irgendwann geht
man natürlich mit einer "Friedensstreitmacht" ins Land
rein; aber erst, wenn der Gegner entweder doch zur Kapitulation
hingebombt oder sein Militär durch Luftangriffe so mürbe
gemacht ist, daß bei der Invasion nichts mehr groß
schiefgehen kann. Das mag dauern; aber um ihres angestrebten
Bombenerfolgs willen hat die NATO keine Eile. Nötigenfalls, so die
ersten Hinweise aus Amerika, könne man den Luftkrieg noch
monatelang fortführen und auch noch bedeutend steigern – man
glaubt ja gar nicht, wie sehr die alliierten Bomber sich immer noch
zurückhalten!
Versäumt oder aufgeschoben wird deswegen aber auch nichts in
Sachen Invasionsvorbereitung. Zum einen gibt es Kommando-Unternehmen
und eine Kooperation mit UÇK-Amateuren im Kosovo, die einstweilen
zumindest die Effektivität des Luftkriegs bedeutend steigern
– und selbstverständlich nicht an die große Glocke
gehängt werden. Zum andern geht der militärische Aufbau, der
mit der Bereitstellung der inskünftigen
Implementierungs-Streitmacht bereits begonnen hat, zügig voran
– unter dem Etikett Flüchtlingshilfe.
*
Dieselbe "Logik", mit der die NATO die albanische
Bevölkerung im Kosovo zum Schutzobjekt ihres Bombenkriegs gegen
Jugoslawien erklärt, ohne sich mit der Verteidigung auch nur eines
Albaniers die Finger schmutzig zu machen, wendet die jugoslawische
Staatsführung umgekehrt an: Sie behandelt ihre albanischen
Untertanen im Kosovo als ein Volk von NATO-Agenten und treibt sie aus
dem Land, ohne sich dadurch auch nur einen einzigen Bombenschaden zu
ersparen, geschweige denn der NATO auch nur den geringsten Schaden
zuzufügen. Die Last mit den unversorgten Flüchtlings- und
Vertriebenenmassen haben die armseligen Zufluchtsländer Mazedonien
und Albanien. Die wird denen auch nicht abgenommen; sie bleiben damit
aber auch nicht allein. Der Westen hilft, baut Zeltlager, schafft
Betreuer herbei – und errichtet so seine "zweite
Front".
Dieses Etikett fällt der demokratischen Öffentlichkeit in den
NATO-Ländern ein, und es gefällt ihr gut. Denn es
schließt zusammen, was in diesem Krieg so schwierig
zusammenzubringen ist: die gigantische militärische
Machtentfaltung des Westens über Jugoslawien und deren angebliche
rein "humanitäre" Intention, von der in der
Realität so gar nichts wiederzufinden ist, weil sich nämlich
stattdessen das Kriegselend explosionsartig vergrößert.
Endlich stimmt die fiktive Rechnung einmal: Das NATO-Militär ist
tatsächlich und sichtbar dafür gut, die Katastrofe
wenigstens zu managen, die der Vertreibungskrieg der Serben im Kosovo
an der mazedonischen und albanischen Grenze schafft; es steht im
Einsatz gegen menschliches Leid, an dem Milošević schuld ist
– also wahrhaftig an der Front, die der Verteidigungsminister
für die eigentliche NATO-Front ausgibt, wenn er auf seinen
Pressekonferenzen glaubwürdig mit Bildern von unglücklichen
Flüchtlingen und erschlagenen Opfern wedelt. Da macht es gar
nichts weiter aus, trübt jedenfalls nicht den guten Eindruck,
daß die so humanitär engagierten NATO-Nationen zwar ihre
Truppen vor Ort durchaus mit einer großen Pionierübung auf
Trab halten, ansonsten aber die materielle Betreuung dieser "zweiten Front" der privaten Mildtätigkeit ihrer
Bevölkerung überlassen: Der wird nachdrücklich das
Angebot unterbreitet und die sittliche Pflicht nahegebracht, sich
– ein jeder ganz persönlich und da, wo er am
allerpersönlichsten ist, nämlich vermittels seines Kontos
– an jener Affäre zu beteiligen, vor der niemand seine Augen
verschließen darf, nachdem die NATO selbst es nicht mehr
fertigbringt "wegzuschauen"; mit einer guten Tat
nämlich für jenen hochanständigen Kriegszweck, den die
Luftwaffe des Westens eingestandenermaßen so unzureichend
verwirklicht. Und das Angebot schafft sich seine Nachfrage. Nirgends
kommt die Überlegung auf, weshalb alles, was tatsächlich zur
Linderung der "humanitären Katastrofe" auf dem Balkan
geschieht, mitleidigen Spendern überlassen bleibt, während
gleichzeitig "die Nato tagtäglich rund eine halbe Milliarde
Mark für ihre militärische Machtdemonstration ausgibt"
(Der Spiegel, 5.4.). Daß es den reichen Mitgliedern der
Balkan-Kontaktgruppe womöglich eine halbe Milliarde Mark –
sagen wir: – pro Woche hätte wert sein können,
Kosovaren und Serben so mit "Entwicklungshilfe" zuzudecken,
daß ihnen die Lust auf Bürgerkrieg vergangen wäre
– auf so eine absurde Idee kommt erst recht und zu Recht niemand.
Jeder versteht, daß ein Staat Bomben und für Bomben immer
genug übrig hat, beim Geldverschenken aber der Gipfel der
Großzügigkeit schon fast überschritten ist, wenn die
EU-Finanzminister sich überlegen, Mazedonien und Albanien ihren
Schuldendienst in Höhe von 330 Millionen Mark im Jahr – ganz
nebenbei erfährt man das jetzt mal, daß diesen
Elendsländern fortwährend Zinsen abgeknöpft werden!
– zu stunden. Im Grunde macht sich also gar niemand etwas
darüber vor, wofür ein menschenrechtlich engagierter Staat
Geld übrig hat und wofür ganz gewiß nicht. Aber als
Dementi des humanitären Anliegens, für das die
NATO-Mächte angeblich einzig und allein einstehen, wenn sie
beträchtliche Summen in die Verwüstung eines Feindeslandes
stecken – so mag das liebe Volk es eben doch nicht verstehen,
wenn es aufgerufen wird, jene "zweite Front" mit Spenden zu
alimentieren, an der sich die NATO-Truppen mit ihrem
Überschuß an Zeltmaterial und den notorischen "Decken" aufbauen. Es läßt sich rühren
– und außerdem von dem gar nicht einmal dezent
vorgebrachten Hinweis überzeugen, daß die armseligen
Hungerleider, wenn man ihnen denn nicht "vor Ort" hilft,
unweigerlich Mittel und Wege finden, um "zu kommen": zu
uns, wo unser Boot doch schon längst voll ist. Denn darin sind
sich die demokratischen Abendländler mit den Serben offenbar
einig: Da, wo sie sind, ist für Albanesier kein Platz... Doch so
darf man selbstverständlich gar nicht vergleichen;
schließlich wird bei uns auf niemanden in dem Sinn Jagd gemacht;
abgeschoben werden nur illegal Zugewanderte, und das nach Recht und
Gesetz und nach Jugoslawien nur auf Anordnung von Gerichten, die sich
bis März dieses Jahres bei der Behandlung von Kosovo-Albanern auf
die verbindliche Auskunft des Auswärtigen Amtes zu stützen
hatten, von staatlicher Repression gegen die albanische Volksgruppe als
solche könne in Serbien weder insgesamt noch regional die Rede
sein... Wie dem auch sei: In der Heimat steht sie, die "zweite
Front" der NATO.
Ironischerweise hat dieses wohlmeinende Etikett allerdings noch eine
ganz andere, von niemandem so gemeinte, dafür viel handfestere
Bedeutung.
*
Flucht bzw. Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo ist das Hauptmittel
bzw. die Hauptwirkung des Krieges, den die jugoslawische Staatsmacht
gegen die UÇK und deren "Umfeld" um die Behauptung ihrer
Souveränität über ihr Staatsgebiet führt. Die NATO
erkennt darin aber noch mehr, eine noch weiter gehende strategische
Absicht: Belgrad wolle seine wackligen Nachbarstaaten im Süden
durch Überforderung ihrer Infrastruktur und ihrer Ressourcen "destabilisieren", Mazedonien überdies durch eine
Verschiebung der völkischen Verhältnisse zugunsten –
ausgerechnet! – der albanischen Minderheit, die dort auch schon
auf dem Sprung sein soll, von Beschwerden über kulturelle
Entrechtung und ihrem passiven Widerstand zu offener Rebellion
überzugehen.
"Das Elend der Vertriebenen dient den Serben als Waffe.
Angriffsziel ist die politische Stabilität der Nachbarstaaten
– und die ist leicht ins Wanken zu bringen." (SZ, 6.4.)
Ein eigentümlicher Maßstab wird in dieser Diagnose an den
balkanischen Kriegsschauplatz angelegt: als müßten
eigentlich alle Herrschaftsverhältnisse ringsum völlig intakt
bleiben, wenn Jugoslawiens Armee den Separatismus einer ganzen Provinz
niederkämpft und das westliche Militärbündnis selber
darin gar keine "innere Angelegenheit" der jugoslawischen
Staatsmacht sieht, sondern auf diese einen umfassenden Angriff
eröffnet. Und ein wenig eigenwillig fällt die Diagnose auch
aus: als wäre die Region bis neulich noch ganz in Ordnung gewesen
und könnte weiterwursteln wie bisher, wenn es nur die Vertriebenen
nicht gäbe. Vornehm wird davon abgesehen, daß der
NATO-Aufmarsch selbst diese Länder längst aufgemischt hat:
Immerhin sind sie zur Etappe einer schon vor Kriegsbeginn ziemlich
gewaltigen Implementierungs-Streitmacht des Westens hergerichtet worden
und stehen als Quasi-NATO-Gelände feindlich zu ihrem Nachbarn, ob
sie wollen – wie Albanien – oder nicht – wie es wohl
eher für Mazedonien zutrifft. Und was den bislang kritischsten
Teil der "Krisenregion" betrifft, so findet die NATO nichts
weiter dabei, mit ihrer SFOR-Truppe eine Eisenbahnlinie zwischen
Serbien und Montenegro an einer Stelle zu sprengen, wo sie kurz
über das Territorium der Republik Bosnien führt, und so zu
demonstrieren, daß auch dieser nun wirklich alles andere als
stabile Staat eine mobilisierbare Streitmacht gegen die jugoslawische
Armee beherbergt. Der Effekt jedoch, daß von einem halbwegs
normalen Staatsalltag auf dem Balkan nirgends mehr die Rede sein kann,
wird mit Blick auf die Flüchtlingsströme, die sich zeitweilig
katastrofenartig an den Grenzen stauen, allein dem Belgrader Feind zur
Last gelegt, als besonders perfide Kriegslist. So begründet er
eine weitere NATO-Reaktion – Milošević läßt der
Allianz schon wieder keine Wahl: Um die Anrainerstaaten zu "stabilisieren", muß sie dort verstärkt
vorantreiben, was sie ohnehin seit längerem tut und plant,
nämlich ihre Truppenpräsenz erhöhen und Albanien und
Mazedonien dazu befähigen, ihrer Funktion als Frontstaaten gerecht
zu werden.
Mit den Flüchtlingsmassen, die angeblich erst die politische
Unsicherheit in die Umgebung des Kosovo hinaustragen, hat dieser Aufbau
einer "glaubwürdigen" Besatzungsarmee an der
Südgrenze Jugoslawiens insofern zu tun, als sie dafür als
Anlaß herhalten dürfen. Bei ihrer Betreuung hat das
Militär Vorrang vor allen bloß zivilen Hilfsorganisationen
– und vor den Betroffenen sowieso: Vor allem andern müssen
viel mehr Soldaten ins Land; mit Waffen selbstverständlich, weil
sie ja die von den Flüchtlingen ausgehende "Destabilisierung" in den Griff kriegen sollen. Die
Initiativen der verschiedenen Nationen werden zur NATO-Aktion "Allied Harbour" zusammengefaßt: 10000 Soldaten
kommen nach Albanien – enorm viele für die Zahl der
Flüchtlinge, selbst wenn die sich tatsächlich auf bis zu
einer halben Million aufaddieren sollte, befindet eine in Sachen
Flüchtlingshilfe versierte Öffentlichkeit; und Bildreporter
vor Ort wundern sich, nicht ohne ein gewisses Augenzwinkern, über
die Natur des eingeflogenen "Hilfsgeräts", das mehr
auf die "robuste" Besetzung von feindlichem Gelände
als Einsatzzweck schließen läßt. Daß der Einsatz
der "Apache"-Hubschrauber, die offiziell zur Effektivierung
des Luftkriegs gegen serbische Bodentruppen disloziert werden, selbst
den Übergang zu im Feindesland operierenden
Unterstützungsverbänden beinhaltet, haben sie ihrem Publikum
schließlich immer wieder erklärt:
"Zum ersten Mal werden Kampfeinheiten des amerikanischen Heeres
in den Konflikt eingebunden. Mit dem Hubschrauber werden gepanzerte
Bodentruppen auf dem Balkan stationiert, und in Albanien wird die
Infrastruktur für einen Landkrieg aufgebaut." (SZ, 7.4.)
Aus ihrer offensiven Zwecksetzung machen die NATO-Verantwortlichen aber
auch gar kein Geheimnis: Bei allem demonstrativen Mitleid mit dem
Elend, das sich da in den beiden ärmsten Ländern Europas
akkumuliert, und bei aller Sorge um deren wankende "Stabilität" lehnen sie die eine Maßnahme, die
diesen Ländern wirklich Entlastung bringen könnte, den
Transfer auch nur eines nennenswerten Teils der ankommenden Massen in
ihre besser ausgestatteten Staaten strikt ab. Da nützt es gar
nichts, wenn "Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation Cap
Anamur, der mit seinen Helfern im mazedonischen Grenzgebiet arbeitet,
... die Bundesregierung (beschwört), sofort mehr Flüchtlinge
ins Land zu lassen. Wer auf eine EU-Quotenregelung wartet, findet sich
mit massenhaftem Sterben ab..." (SZ, 6.4.): Ein erster
Beschluß der EU-Innenminister, bis zu 100000 Menschen
vorübergehend aufzunehmen, wird so gut wie gar nicht umgesetzt
– kaum daß die federführende
Präsidentschaftsmacht Deutschland ihr Kontingent von 10000
Flüchtlingen abholt –; und das nicht etwa aufgrund
wirklicher oder vorgeschützter logistischer Schwierigkeiten.
Begründet wird die allgemeine Zurückhaltung mit einer schon
wieder höchst ehrenwerten politisch-moralischen Überlegung:
Man würde Miloševićs Vertreibungspolitik besiegeln, sich
gewissermaßen zu deren Komplizen machen, wenn man die zahllosen
Elendsgestalten aus dem Balkan herausbringen würde; den "ethnischen Säuberungen" der Serben wäre nur
dadurch wirksam zu begegnen, daß deren Opfer "heimatnah" abgestellt werden, damit man sie demnächst
ohne Verzögerung in ihre Heimatdörfer zurückführen
kann, in die sie doch alle unbedingt wieder zurückkehren wollen
– was selbstverständlich ohne massiven militärischen
Schutz nicht geht...
Gewiß bedient dieses Argument, und zwar sehr perfekt, die
fortbestehende Fremdenfeindlichkeit der zum Mitleid mit den
Vertriebenen aufgerufenen und entschlossenen christlichen
Abendländler und ist auch so gemeint. Vor allem aber spricht es
Klartext über die politische und strategische Funktion, für
die die NATO ihrerseits diese Massen verplant: Sie sind nicht mehr
bloß der ideelle Berufungstitel, unter dem die Allianz die Hoheit
über das Kosovo beansprucht und seine Besetzung vorbereitet,
sondern die menschliche Manövriermasse dafür; als
Quasi-Staatsvolk für den vorgesehenen Quasi-Staat unter
NATO-Protektorat werden sie verfügbar gehalten –
"Wir würden uns selbst eines schweren Versäumnisses
schuldig machen, wenn wir nicht bei den vertriebenen Menschen helfen,
und zwar in den Staaten, bei denen sie Zuflucht suchen
mußten." (Verteidigungsminister Scharping); "Italiens
Premier Massimo D’Alema rief in Tirana die Flüchtlinge dazu
auf, sich nicht in Europa zu zerstreuen." (SZ, 6.4.)
Diese Flüchtlinge werden in den Auffanglagern vor Ort gebraucht.
Ihre unhaltbare Lage dort baut den gewünschten Druck auf, ihre
Heimführung durch bewaffnete Kräfte so bald als möglich
in Angriff zu nehmen. Der Katalog der Bedingungen, die Milošević
mindestens zu erfüllen hat, bevor an eine Einstellung der
NATO-Bombardements allenfalls zu denken sei, die Liste der westlichen
Kriegsziele also wird um den Posten "Rückkehr der
Flüchtlinge und Vertriebenen" erweitert und sogleich mit dem
Hinweis versehen, daß eine Rückkehr den armen Leutchen nach
all den erlittenen Schrecken nicht zuzumuten sei ohne den
vollständigen Abzug bewaffneter serbischer Kräfte und eine
starke NATO-Truppe – daß sie in ein von der jugoslawischen
Armee und der NATO-Luftwaffe gemeinsam verwüstetes Land und das
entsprechende absolute Elend "repatriiert" würden,
spielt dabei wiederum gar keine Rolle; warum sollte es auch.
Entscheidend ist, daß in den "heimatnahen" Zeltlagern
die erforderliche Menschenmenge bereitsteht, um im Gefolge der so oder
so herbeizubombenden Befreiung des Kosovo die militärische
Okkupation des Landes durch seine zivile Wiederinbesitznahme zu
vervollständigen und jeden serbischen Anspruch darauf praktisch
zunichte zu machen. Und auch die noch gar nicht aus dem Land
vertriebenen Flüchtlinge werden als mögliche strategische
Gelegenheit besichtigt: Für sie könnte man, aus der Luft und
mit Einsatzkommandos – Fallschirmjäger sind bereits vor Ort
–, "Schutzzonen" schaffen, die dann schon mal mitten
im Kosovo befreites NATO-Gebiet markieren. Entsprechende Pläne
werden aus der Brüsseler Einsatzzentrale lanciert – und die
grüne Tageszeitung aus Berlin wäre auf alle Fälle schwer
dafür:
"... darf die NATO keinen Tag mehr zögern: Im Kosovo
muß ein sicheres Gebiet für die Flüchtlinge geschaffen
werden. Egal, wie man diesen Einsatz der Truppen nennt – je
früher sie eingesetzt werden, desto besser." (taz, 8.4.)
Jedenfalls weiß die Allianz der besorgten Aufsichtsmächte
Miloševićs zynischen Versuch zu vereiteln, die
Nachbarländer zu "destabilisieren": Sie macht, ganz
unzynisch, aus den vertriebenen Kosovaren einen Faktor zur "Stabilisierung" des Kosovo-Protektorats, das sie plant.
Sehr gut verträglich mit dieser Zielsetzung, das versteht sich am
Rande, ist die Freiheit, die sich die immer massiver vor allem in
Albanien auftretende Guerilla-Armee UÇK herausnimmt: Sie rekrutiert
unter den Vertriebenen alle wehrfähigen Männer. Der
offiziellen Greuelpropaganda zufolge dürfte es diese
Menschengattung unter den Flüchtlingen zwar gar nicht mehr geben,
weil sie schon von den Serben aussortiert und umgebracht oder ins KZ
gesteckt worden ist. Doch wundersamerweise stellt sich immer wieder
– keineswegs zur Erleichterung ihrer demokratischen Freunde
– manch totgesagter Albaner als durchaus lebendig heraus. So
fischt denn auch die UÇK Freiwillige und Unfreiwillige aus dem
Flüchtlingsstrom – und schickt sie gleich wieder mit einer
Kalaschnikow ins Kosovo zurück.
*
Während die NATO ihre Kriegführung intensiviert –
speziell in der Kosovo-Hauptstadt Priština setzt sie der
schändlichen "Politik der verbrannten Erde" der Serben
ihre "gutgemeinten Bombardements" entgegen (SZ, 3.4.), so
daß wirklich niemand ungeschoren davonkommt –, unternimmt
die Belgrader Führung diplomatische Initiativen, die ersichtlich
auf eine Bremsung des Kriegsgeschehens berechnet sind. Noch vor Ostern
landet Milošević den Coup und präsentiert sich der
Weltöffentlichkeit in einvernehmlichem Gespräch und
händeschüttelnd mit dem einstigen Hauptfeind serbischer
Herrschaft über das Kosovo, dem "gemäßigten
Präsidenten" Rugova; gemeinsam fordern sie ein Ende der
NATO-Luftangriffe. Es folgen Gespräche zwischen anderen Belgrader
Regierungsvertretern und Rugova, demonstrativ in dessen angeblich
zerstörtem Haus in Priština ins Bild gesetzt, in denen es
um "ein vorläufiges Abkommen über die Bildung von
Kosovo-Selbstverwaltungsorganen im Rahmen Serbiens und
Jugoslawiens" gehen soll sowie um "gemeinsam mit dem
UN-Flüchtlingshilfswerk und dem Internationalen Roten Kreuz"
zu ergreifende "Maßnahmen zur Rückkehr der
Flüchtlinge" (SZ, 7.4.). Zusätzlich kündigen die
Regierungen Serbiens und Jugoslawiens gemeinsam zum bevorstehenden
orthodoxen Osterfest die einseitige Einstellung "aller Aktionen
der Armee und der Polizei im Kosovo gegen die Terroristen der
UÇK" (ebd.) an. Und es bleibt nicht bei Ankündigungen:
Schlagartig versiegen die Flüchtlingsströme; Vertriebene
werden von der serbischen Polizei wieder zurück in Richtung Heimat
dirigiert. Nach russischen Meldungen soll Jugoslawien sogar "unter
Bedingungen den Rückzug seiner Truppen aus dem
Kosovo" angeboten haben, wenn nämlich auch die NATO ihre
Stellungen in Albanien und Mazedonien räumt. Als letztes kleines
Friedensangebot ist die Übergabe der drei gefangengenommenen
US-Soldaten an eine hochrangige Delegation aus Zypern im Gespräch.
Mit diesen unübersehbaren "Signalen" bekundet die
jugoslawische Regierung, diplomatisch unmißverständlich,
ihre Bereitschaft einzulenken, ohne zu kapitulieren. Sie beantragt
einen Verhandlungsfrieden, der ihr wenigstens die Besetzung erspart und
formell die Herrschaft über ihr Staatsgebiet beläßt.
Doch damit ist sie schon in Rambouillet nicht durchgekommen; noch viel
weniger schafft sie das jetzt. Nach zwei Wochen Krieg hat ihr
Verständigungsgesuch schon deswegen keine Chance, weil es als
Angebot daherkommt, das die Gegenseite mit einer wie auch immer
beschaffenen Gegenleistung honorieren sollte. Die NATO-Mächte
nehmen es jedenfalls als Gelegenheit, die Unverhandelbarkeit ihrer
Friedensbedingungen klarzustellen. Punkt für Punkt
zerpflücken sie den Belgrader Vorstoß:
– Miloševićs demonstrative Verständigung mit Rugova
ist weniger als gar nichts wert. Wenn die Fernsehbilder nicht
überhaupt bloß eine Fälschung sind, dann steht der
Albaner unter Drogen oder wird erpreßt oder beides. Und sollte es
tatsächlich so sein, daß da der völkische Führer
jener diskriminierten Mehrheit, für deren Selbstbestimmungsrecht
die NATO doch Bomben wirft, aus Respekt vor dem überlegenen
Machtbeweis der Zentralgewalt und aus Sorge um sein Volk um Frieden
bettelt, dann ist der Mann für die UÇK ein Verräter und
für die NATO nicht ernst zu nehmen. Auf alle Fälle
müßte er zuallererst von den Jugoslawen nach Brüssel
überstellt werden; frühestens dann kann man weitersehen.
– Der einseitige Waffenstillstandsbeschluß ist für die
NATO nichts weiter als das, was er für die serbische Seite
natürlich auch ist: eine Propagandaaktion, die der Allianz die
Legitimation ihrer fortgesetzten Bombenangriffe bestreiten und sie mit
ihrer Ablehnung einer österlichen Waffenruhe moralisch ins Unrecht
setzen soll – ein widerlich berechnender Schachzug also, der
außer dem Verweis auf die schon eingetroffenen
Flüchtlingsmassen überhaupt keine Antwort verdient.
– Das Angebot eines Truppenrückzugs werten die Politiker der
Allianz einerseits als Finte, andererseits als erstes
Schwächezeichen und damit als Beweis, daß sie mit ihrem
Bombenkrieg doch schon recht erfolgreich und jedenfalls auf dem rechten
Weg sind. Schon deswegen darf überhaupt nicht in Frage kommen, was
sowieso kein maßgeblicher Befehlshaber erwägt, nämlich
auch nur die geringste Aufweichung der aufgestellten
Kapitulationsforderungen.
– Ein Geschäft mit den gefangenen US-Soldaten
läßt die alliierte Weltmacht schon überhaupt nicht mit
sich machen. Die sind doch gerade in ihrer Gefangenschaft dafür
gut, dem amerikanischen Fernsehzuschauer ein "menschliches
Gesicht" des fernen Krieges zu vermitteln. Ganz unmöglich
ein Deal, mit dem auch nur der kleinste und matteste Schein von
Menschlichkeit auf den Belgrader Diktator fiele.
– Was schließlich die ausbleibenden Flüchtlinge und
die wieder heimgeschickten Vertriebenen betrifft, so drängt sich
dem Westen der allerschlimmste Verdacht auf – man kann noch nicht
einmal genau sagen welcher. Sind sie einfach "verschwunden"? In "die Wälder"
abgedrängt dem Hungertod preisgegeben? Ist ihr Schicksal so
grausig, daß die NATO, deren US-Satelliten das Geschehen im
Kosovo punktgenau überwachen, mit der Wahrheit hinter dem Berg
hält, weil ein heiliger Kreuzzug gegen die serbischen
Menschenfresser sonst nicht mehr aufzuhalten wäre? Das behauptet
nicht gerade, insinuiert aber um so wirkungsvoller – weil ohne
Beweispflicht – kein geringerer als der deutsche
Verteidigungsminister mit seinen beredten Beschwerden über die
mangelhafte Informationspolitik der NATO-Sprecher. Oder – das
wird "im Westen vermutet" (SZ, 9.4.) und allgemein für
das Wahrscheinlichste gehalten – versteckt sich die feige
serbische Soldateska hinter den Albanern, die sie bis eben noch
vertrieben hat, um sich freies Schußfeld zu verschaffen, als "menschlichen Schutzschilden" gegen NATO-Angriffe? In
Hamburg weiß man die Antwort:
"Milošević erlaubt den Menschen nicht, sich in Sicherheit
zu bringen. Er will verhindern, daß die NATO in einem
leergefegten Kosovo rücksichtslos bombardieren kann." (Der
Spiegel, 12.4.)
Waren eben noch die schrecklichen Vertreibungen das "schlimmste
Verbrechen seit Stalin" und ein leergefegter Kosovo der absolute
Horror, löst nun das Gegenteil Entsetzen aus: Jetzt will
Milošević unseren Bombern die freie Bahn vermasseln. Da wird er
sich aber verrechnen...!
Insgesamt liegt also nichts weiter vor als ein schäbiger und
untauglicher Versuch des Feindes, sich dem festen Griff der Allianz der
Guten zu entwinden. Deren Chefs erteilen Milošević eine
entsprechend entschlossene Abfuhr. "Erschreckend schnell",
findet ARD-Kommentatorin Jochimsen und befürwortet eine Testpause:
"Vielleicht ist der Diktator Milošević genug
geprügelt worden – das heißt nicht er, sondern sein
geschundenes Volk, gegen das wir ja angeblich keinen Krieg führen,
auch wenn in der vergangenen Nacht eine Wohnsiedlung in Flammen
aufgeht... Warum können wir eigentlich nicht einen oder drei Tage
die Luftangriffe aussetzen?" (Tagesthemen, 6.4.)
Ja, warum nicht? Weil das entsprechende Gesuch aus Belgrad eine
einzigartige Kombination aus Schwäche und Kriegslist ist; ein
Beweis, daß Milošević zwar wankt, aber immer noch nicht
nachgeben will; ein Versuch des Mannes, davonzukommen und weiter mit
Jugoslawien Staat zu machen. In Berlin durchschaut man die Berechnung
sofort:
"Statt gedemütigt und verhandlungsbereit in der Ecke zu
stehen, riß Milošević das Gesetz des Handelns an sich...
Er verkündigt einseitig eine Waffenruhe..., beläßt aber
seine mordenden Marodeure im Kosovo." (WamS, 11.4.)
So bestätigt der Chef des jugoslawischen Reststaates gerade mit
seinen diversen "Friedensangeboten" auf nachdrückliche
Weise das Urteil, das die NATO-Mächte schon lange über ihn
und sein Treiben gefällt haben und das ihrem Entschluß
zugrundeliegt, ihn in spezieller Weise ihrer Aufsicht zu unterwerfen:
Weil Milošević in dem Krieg, den die NATO gegen ihn führt,
dagegenhält und nicht gleich die Waffen streckt und sich ergibt,
beweist er einmal mehr seine Widerspenstigkeit gegenüber der
Zuständigkeit, die die Bündnis-Mächte für die
Ordnung auf dem Balkan beanspruchen. Damit verscherzt er sich zu Recht
auch noch die letzten Sympathien im Westen:
"Das Waffenstillstandsangebot aus Belgrad hat Frankreichs
Position eher noch verschärft. Präsident Chirac spricht
jedenfalls nicht mehr von 'Präsident
Milošević', sondern von dem Diktator, der durch seine
Truppen 'gezielt Schrecken' verbreitet." (Die Welt,
9.4.)
An der militärischen Tagesordnung der Allianz bringt das serbische "Angebot" deswegen ohnehin nichts durcheinander:
"Die NATO hat nach eigenen Angaben in der Nacht zum Dienstag ihre
bislang schwersten Luftangriffe auf Jugoslawien geflogen." (ND,
7.4.)
"Unbeeindruckt von den Vorschlägen aus Belgrad flog die NATO
in der Nacht zum Mittwoch ihre bislang wohl massivsten Angriffe auf
Ziele in Jugoslawien." (Welt, 8.4.)
Und so weiter. Damit man die gute Absicht der NATO-Bomben auch
überall richtig versteht, sorgen die nebenbei für eine
praktische Kritik serbischer Falschmeldungen:
"Neben Benzinlagern wurde die Rundfunksendeanlage bei Priština getroffen." (AP, 10.4.)
*
Je wüster das Vorgehen der NATO, um so drastischer die
Sprachregelungen – "systematischer Massenmord" ist
noch der geringste Vorwurf, der auf Bundespressekonferenzen und
NATO-Briefings gegen Milošević erhoben wird; Hitler-Vergleiche
werden zu kleiner Münze, herausgegeben von den gleichen Stellen.
Das gibt der Öffentlichkeit zu denken:
"Tag für Tag erklären Premiers, Kanzler und Minister,
daß die Kriegsführung Miloševićs nichts anderes sei
als eine Wiederkehr der aus Nazi-Zeiten bekannten Vertreibung und
Ausrottung. Wenn das alles stimmt" – für die SZ
jedenfalls stimmt das –, "dann darf kein Handel geschlossen
werden mit dem Protagonisten des 'blutigen Nationalismus'
(Fischer). In der Logik eines Balkan-Stabilitätspaktes liegt der
Sturz von Slobodan Milošević." (SZ, 7.4.)
Ein "Sturz" des legitimen jugoslawischen Präsidenten?
War da nicht mal was mit dem "Wählerwillen", der immer
und überall respektiert gehört? Ohne dessen Votum kein guter
Staat zu machen geht? War wohl etwas anders gemeint. Etwa so: Ein
Präsident, den die verbündeten Demokratien des Westens nicht
legitimieren, kann nicht demokratisch legitimiert sein. Von da aus
ergibt sich dann ganz von selbst der einzig richtige Blick auf die
Politkultur seines Landes. Fest steht jedenfalls: Der Mann muß
weg. Und diesen Gedanken denkt das verständige Publikum ganz
selbständig und unbefangen zuende: Wenn schon alles Böse auf
dem Balkan – jedenfalls seit 1991 – an Herrn
Milošević liegt: Wieso nieten wir ihn dann nicht einfach um? Das
wäre doch viel effektiver, einfacher, umweltschonender und vor
allem humaner als so ein ewiger Bombenkrieg, gegen dessen wirkliche
Opfer wir doch gar keinen Krieg führen! Warum, statt einem guten
Killerkommando, der ganze Umstand mit den Luftangriffen? Die
Leserbriefspalten der freien Presse schütteln verständnislos
den Kopf.
Diese ehrliche Volksmeinung ist eine sehr gerechte Quittung für
die kriminalistischen Sprachregelungen, die die NATO-Sprecher
fortwährend ausgeben. In der Tat: Wieso Krieg, wenn eigentlich ein
Menschenrechts-Gerichtshof zuständig ist und Interpol gefragt
wäre? Ehrlicherweise müßten die NATO-Krieger ihr
Publikum dahingehend aufklären, daß sie in Wirklichkeit eben
doch keinen Staatsverbrecher, sondern eine Staatsräson
bekämpfen: einen Staatswillen, der keineswegs bloß von einem
falsch gepolten oder durchgeknallten Individuum, sondern von einem
ganzen Herrschaftsapparat getragen wird und sogar das Staatsvolk nicht
nur unter seiner Knute, sondern mit sämtlichen "guten
Gründen" eines soliden Patriotismus auf seiner Seite hat.
Ihr ganzer aufgeblasener Moralismus der internationalen
Verbrechensbekämpfung würde sich zurückkürzen auf
den banalen Umstand, daß der Westen nicht ertragen will, was der
jugoslawische Staat an gewaltsamer Selbstbehauptung probiert: Weil er
dagegen vorgeht, nur deswegen, ist Krieg und nicht ein Attentat sein
Mittel der Wahl; am Ende benötigt er womöglich sogar
Milošević den Verbrecher wieder als Signatar einer richtigen
nationalen Kapitulationserklärung.
Zu sachgemäßen Erläuterungen dieser Art finden sich die
amtierenden Meinungsmacher der NATO freilich nicht herausgefordert; die
haben mit der Kriminalisierung ihres Feindes genug zu tun. Der Aufgabe,
wohlmeinende Ratschläge zum grenzüberschreitenden
Tyrannenmord in die richtigen Bahnen zu lenken, nämlich
dahingehend zu belehren, daß – ungeachtet allen moralischen
Eifers – zwischen Staaten andere Arten der gewaltsamen Abrechnung
als eben kriegerische nun einmal nicht in Frage kommen, nehmen sich
stattdessen freischaffende Meinungsbildner an. Bemerkenswerterweise
solche, die als erprobte Reaktionäre Erfahrung darin haben,
moralische Hetze gegen jedes beliebige "Reich des
Bösen" mit pragmatisch berechnendem Umgang mit dem
verteufelten Gemeinwesen zu verknüpfen, und die deswegen auf der
Unterscheidung von politisch-militärischem Geschäft und
politmoralischem Überbau bestehen: Die Welt greift die Frage auf: "Milošević töten?" und antwortet mit einem
wohlüberlegten "Nein!" Denn:
"Je mächtiger ein Diktator ist, um so eindeutiger auch ist
er der einzige Verhandlungspartner für einen Waffenstillstand,
für einen Kompromißfrieden... Milošević ist
Washingtons einziger potentieller Partner. Er allein kann einen
verlustreichen Bodenkrieg vermeiden helfen, so makaber es klingt.
Tötete die NATO Milošević – wer folgte ihm dann?
Zoran Đinđić, der Bürgerrechtler? Nein. Ihm folgte
wahrscheinlich Vojislav Šešelj, ein hartgesottener, bedingungslos
entschlossener Nationalist wie Milošević, aber ohne dessen in
Dayton erkennbar gewordenes politisches Gespür. ... Internationale
Politik ist ein zynisches Geschäft, aber in seinem Zynismus
wiederum ist dieses Geschäft rational. ... Milošević
töten? Rache ist kein guter Ratgeber. Und einen Prozeß
bekommt er, wenn alles gut geht, eines Tages so oder so." (Die
Welt, 8.4.)
Fragt sich nur, ob das all die schlauen Staatsbürger
überzeugt, die eigentlich gar nicht auf Rache aus sind, sondern
einfach die billigere Lösung wünschen – ohne Krieg und
ohne Flüchtlinge, für die man spenden muß, damit sie
wenigstens jenseits der Adria bleiben...?
*
Natürlich gibt es in Deutschlands pluralistischer
Öffentlichkeit auch andere Meinungen und besorgte Anfragen zum
problematischen Sinn des Krieges, der keiner sein soll. Der kritische
Teil davon meldet sich über Ostern, in Anknüpfung an die
Tradition der pazifistischen Ostermärsche, zu Wort und findet da
sogar genügend Resonanz, um öffentlich wahrgenommen zu
werden. Verlangt wird – der Bombenkrieg ist gerade ein paar
Nächte alt und der Schein erledigt, die NATO hätte bloß
eine Show abziehen wollen, um dem Belgrader Diktator einen
Mordsschrecken einzujagen – eine "politische"
anstelle der "militärischen Lösung". Sehr fromm,
dieser Wunsch; ungefähr genauso wie der Protestruf "NATO
raus aus Jugoslawien!", wo die Allianz gerade 'reingeht': Der kritische Friedensaufruf ignoriert ganz
einfach den Übergang, der mit der Kriegsentscheidung
tatsächlich geschehen ist. Ab dann geht es nämlich nicht mehr
um Kompromisse, sondern um die Vernichtung der Machtposition, von der
aus der Gegner bislang verhandelt, sich auf Erpressungen eingelassen
und seinen Vorteil gesucht hat; also um ein Ziel, das sich mit
Verhandlungen und Erpressungen logischerweise gar nicht erreichen
läßt. Das wiederum bedeutet überhaupt nicht, daß
"die Politik abgedankt" hätte: Es ist die Politik des
Westens, der es um dieses anspruchsvolle Ziel geht; die Militärs
mit ihrer Zerstörungs-"Logik" werden dafür als
Instrument in Anspruch genommen und sind wohl nie weiter davon
entfernt, die Politiker zu "überspielen", als wenn sie
diesen Auftrag übernehmen, den Politikern eine neue
Geschäftsgrundlage für ihren Umgang mit einem widerspenstigen
Souverän zu verschaffen. Es ist schon leicht absurd: Ausgerechnet
an die Politiker, die sich bei ihren Militärs gerade eine neue
Ausgangsbasis für ihre Balkanpolitik bestellt haben, ergeht zu
Ostern der Appell, sie sollten das Heft "wieder" in die
Hand nehmen; und das auch noch um so dringlicher, je eindeutiger eben
diese Politiker klarstellen, daß sie gar keine andere politische
Lösung anstreben als genau die, mit Jugoslawien neu ins
Gespräch zu kommen – nach erfolgter Kapitulation und auf
keinen Fall anders.
In der politischen Kultur der BRD langen jedoch schon solche
süßen Anträge, um der rotgrünen Obrigkeit
Ärger und Sorgen zu machen. Und zwar aus den schlichtesten
Gründen der demokratischen Herrschafts-Arithmetik: Die guten
Menschen, die da gegen kriegerische und für "politische
Lösungen" eintreten, waren bislang als Wähler bei den
Grünen zu Hause, sehen sich nun, da ihr Vorkämpfer den
Moralapostel eines NATO-Krieges gibt, parteipolitisch heimatlos, wenn
nicht gar verraten, und lassen mit ihrem Protest die
bündnisgrüne Parteileitung um ihre ohnehin dahinschmelzende
Basis fürchten. Dies um so mehr, als mit der PDS eine Alternative
bereitsteht. Dieser Verein hat sich nämlich aus der
DDR-Vergangenheit seiner Mitglieder und Adressaten wenigstens noch ein
gewisses Ressentiment gegen jenes große Militärbündnis
bewahrt, das immerhin 40 Jahre lang bereit war, sich die Befreiung des
Ostblocks notfalls dessen atomare Vernichtung kosten zu lassen;
außerdem betrachtet man von Osten her Europas politische
Landkarte in mancher Hinsicht noch immer aus ein bißchen anderer
Perspektive als die altgedienten NATO-Bürger. So müssen gute
deutsche Demokraten mit Bedauern feststellen, daß die ehemaligen
Untertanen des Zonen-Regimes nach ihrem Geschmack viel zu friedfertig
und völkerfreundschaftlich gestimmt sind. Entsprechend eindeutig
kann die Partei der alternativen deutschen Biografien gegen den
NATO-Krieg auftreten, kommt damit auch enttäuschten
Friedensbewegten aus der grünen Basis glaubwürdig vor –
und wird dadurch zwar noch lange nicht stark. Die Grünen aber
haben ein Problem; und das ist mit der Polemik des Außenministers
gegen widerwärtige "Zweckpazifisten", für die er
– anders als für seine "innerlich zerrissenen"
linientreuen Parteifreunde – keinerlei Respekt empfinden kann,
überhaupt nicht erledigt. Die Lösung soll ein Sonderparteitag
bringen, auf dem die drängende Kontroverse zwischen Antikriegs-
und Antivölkermord-Moralisten ausdiskutiert werden darf: Die
Gesinnungspazifisten in der Partei sollen gehört, gewürdigt,
anerkannt, kurz: integriert werden. Zeitpunkt: Mitte Mai. Offenbar
hält die Parteileitung den Krieg für ein milieuspezifisches
Gewöhnungsproblem.
Vielleicht meint sie auch, bis dahin wäre der Bombenkrieg
erfolgreich vorbei. Von NATO-Offiziellen hört man dazu allerdings
andere Prognosen: Sie ermahnen einander und ihre Völker zu einem "langen Atem".
*
Die Verantwortlichen haben den. Der Verteidigungsminister jedenfalls.
Der findet sogar noch mitten in seinem arbeitsreichen Kriegsalltag und
zwischen seinen Pressekonferenzen über die jüngsten
serbischen Greueltaten und die guten Werke der NATO-Flieger die Zeit,
wegweisend über den Tag hinaus zu denken:
"Wir brauchen einen schnelleren Bundeswehrumbau. Die geplanten
50000 Mann Krisenreaktionskräfte reichen auf keinen Fall
aus." (Scharping im WDR)
Das ist konsequent gedacht. Schließlich hat die NATO mit ihrem
gegenwärtigen Einsatz gegen Rest-Jugoslawien einiges in der Region
aufgerührt. Also ist auch über den Tag des Kriegsendes hinaus
die eine oder andere neue "Krise" auszurufen, auf die die
NATO angemessen zu "reagieren" hat. Eben dafür will
die Bundeswehr, deren Struktur ursprünglich für einen anderen
Einsatz – den großen gegen die große Sowjetunion
– konzipiert war, gut gerüstet sein. Auch insofern hat die "Kampagne" jetzt ihr Gutes: Sie deckt gnadenlos die
Defizite auf, die dem Einsatz der Bundeswehr als vollwertige
Interventionsstreitmacht noch im Wege stehen.
Rund ums orthodoxe Osterfest: Bewegung an der diplomatischen Front
Die konzertierte Aktion "Wir holen die Russen wieder ins Boot!"
Der Krieg geht in die dritte Woche – Zeit für die
NATO-Mächte, sich ausdrücklich und öffentlich mit der
Frage zu befassen, worauf sie mit ihren Bomben eigentlich wirklich
hinauswollen. Die Berichte über notleidende Albaner, die durch die
Verwüstung Jugoslawiens wunderbar errettet werden –
sollten... –, behalten natürlich ihren prominenten Rang und
Stellenwert: als "humanitäres" Stichwort für die
längst fällige Debatte unter den weiter blickenden
politischen Strategen der Allianz, was sie mit der Balkanregion
insgesamt demnächst anzufangen gedenken.
Bevor jedoch die "Friedenspläne" der NATO in all ihrer
Schönheit auf den Tisch kommen, und mitten hinein in die rasanten
westlichen Fliegerangriffe und die – natürlich nur "angebliche" – Feuerpause der jugoslawischen Armee im
Kosovo, melden sich massiv und drastisch die Russen zu Wort. Der
kommunistische Duma-Vorsitzende Selesnjow, von Verhandlungen mit
Milošević zurück, verkündet nach einem Gespräch
mit Jelzin, der Präsident habe die Atomraketen wieder auf
westliche Ziele umprogrammiert; Belgrad habe außerdem vor, die
Aufnahme in die russisch-weißrussische Union zu beantragen, und
mit deren Zustandekommen könne Rußland dann Truppen in
Jugoslawien stationieren. Der Kremlchef persönlich warnt in einer
Fernsehansprache den Westen:
"Treibt uns nicht in militärische Aktionen. Andernfalls ist
ein europäischer Krieg so gut wie sicher und vielleicht sogar ein
Weltkrieg. Wir können nicht erlauben, daß die Nato
Bodentruppen einsetzt, Jugoslawien übernimmt und es zu ihrem
Protektorat macht."
Er erinnert an Rußlands vitales Interesse an einem "freien
Zugang zum Mittelmeer", spricht vom "serbischen
Brudervolk" und vermeldet im Stile einer Großmacht, die
eine ihr gehörige Einflußsfäre verteidigen will: "Wir können Jugoslawien nicht hergeben." Ein erstes
russisches Aufklärungsschiff kreuzt in der Adria, weitere
Kriegsschiffe werden angekündigt. Nicht zu überhören:
Moskau will mit seinen Einwänden, der NATO-Krieg richte sich gegen
legitime russische Interessen, vom Westen endlich wahr- und
ernstgenommen werden.
Die bisherigen diplomatischen Vorstöße des Kreml –
Primakows Vermittlungsversuch sowie eine weitere Initiative, durch
Verhandlungen mit Milošević und Rugova eine Einigung zwischen
Belgrad und den Kosovo-Albanern anzubahnen – sind ja von der
Allianz gründlich torpediert worden; die "inständige
Bitte" Jelzins, das Waffenstillstandsangebot Belgrads "nicht gleich von Anfang an zu verwerfen", wurde mit
verstärkten Bombardements beantwortet; Klagen der Regierung
über Schwierigkeiten mit einer wachsenden "kommunistischen
und nationalistischen Opposition" und einer zunehmend
westenfeindlichen Stimmung in der Bevölkerung wurden mit
Gleichgültigkeit quittiert. Statt dessen führen die
NATO-Strategen, ungerührt von russischen Einwänden, ihre
Debatte über die Entsendung von Bodentruppen, um Serbien
niederzuringen, und einigen sich – vorläufig – darauf,
die Zerstörung der serbischen Macht "bloß" aus
der Luft noch viel gründlicher voranzutreiben...
Moskau sieht sich also der Gefahr ausgesetzt, durch den Krieg gegen
Jugoslawien um seinen letzten politischen Einfluß in
Südosteuropa gebracht und in seiner Position als führendes
Mitglied der Staatengemeinschaft überhaupt beschädigt zu
werden. Der Krieg drängt Rußland praktisch an den Rand des
Geschehens und droht es in genau den Status einer unbeachtlichen
Randgröße zu versetzen, den die vorauseilende westliche
Öffentlichkeit seit Beginn des Krieges der "gefallenen
Supermacht" als den ihr einzig angemessenen zuschreibt: "auf die Bedeutung einer Regionalmacht zurückgeworfen"
(Handelsblatt, 16.4.) und vom Westen als "Quantité
négligeable betrachtet" (FAZ, 8.4.). "Die Position
der einstigen Supermacht wird einfach ignoriert"; für die
NATO tun sich damit "neue geostrategische Perspektiven"
auf. Das ist allen Beteiligten und versierten Betrachtern des
Geschehens also gleich klar, daß ziemlich grundsätzliche
Fragen der "strategischen" Weltordnung auf die Tagesordnung
geraten, wo es angeblich doch bloß um ein wenig bewaffnete
Flüchtlingshilfe ging, und den drangsalierten Kosovaren eine
geopolitische Bedeutung zukommt, von der sie sich gewiß nichts
träumen lassen. Dabei lassen die welterfahrenen Interpreten der
westlichen "Kampagne" in ihren Diagnosen und Kommentaren
auch keinen Zweifel daran, daß diese tiefere Bedeutung des
Kosovo-Krieges keineswegs darin aufgeht, bloß aufzudecken, was
sowieso der Fall und jedem Durchblicker schon lange bekannt ist:
daß Rußland als Weltmacht nicht mehr zählt. Was den
Krieg so weit über seinen Schauplatz hinaus brisant macht, das
sind nach allgemeiner Einschätzung die Drangsale, die die
NATO-Bomben den Russen bereiten; dadurch nämlich, daß sie
den "Zustand" russischer Bedeutungslosigkeit erst
herbeiführen, den man im Westen so gern als längst
eingetretene und nicht mehr zu übersehende Sachlage verbuchen
möchte. Die Herabstufung Moskaus zur unbeachtlichen Nebenfigur auf
dem Balkan und überhaupt in Europa, seine Ausmischung aus allen
wichtigen Entscheidungen, nämlich denen über Krieg und
Frieden: das will erst einmal gemacht und immerzu sichergestellt sein;
das sind keine verläßlichen Randbedingungen, sondern erst zu
erzielende Wirkungen des NATO-Kriegs. Indem sie ihn an Rußland
vorbei und unter souveräner Nicht-Beachtung russischer
Einsprüche und Beschwerden führen und untereinander den
Ausgang verhandeln, den das Ganze nehmen soll, stellen die westlichen
Großmächte Rußland ins europa- und weltpolitische "Abseits". Und dieser Effekt zählt nun wirklich nicht
zu den unbeabsichtigten "Kollateralschäden" oder
besser "-erträgen" der NATO-Bomben: Die Allianz
weiß, was sie tut, und will es auch, wenn sie sich als Monopolist
in Sachen Ordnung auf dem europäischen Kontinent und in der Frage
der Ermächtigung zum Krieg überhaupt aufführt. Mit ihren
Militäraktionen ringt sie der einstigen Weltmacht ihren
Einfluß ab, erzwingt ein weiteres Stück Macht- und
Einflußlosigkeit und nutzt dafür Rußlands bereits
eingetretene Schwäche aus. Dem Land den Status einer Ex-Weltmacht
zuzuweisen, ist ein "geostrategisches" Ziel des
Kosovo-Kriegs der NATO.
Freilich, wenn die Russen das so sehen und sich Sorgen machen, "daß die USA einseitig eine neue Weltordnung errichten und
dabei UNO und OSZE dauerhaft entmachten wollen", dann können
die Kenner der neuen Weltlage in solchen Reaktionen nur "fast
paranoide Züge" von "Angst" erkennen (Der
Spiegel, 19.4.), "Hysterie und Ohnmachtsgefühle" (NZZ,
6.4.) und ähnlich unvernünftige Anwandlungen. "Legitime
weltpolitische Interessen" können den Russen nach dieser
Lesart schon deswegen nicht bestritten werden, weil ihnen Interessen
dieser Art überhaupt nicht zustehen. Moskau ist da nun allerdings
etwas anderer Meinung; schließlich hat es auf dem Balkan ein
vitales Interesse zu verteidigen, nämlich das: als
mitentscheidende Ordnungsmacht, vor allem für Südosteuropa,
respektiert zu werden. Die Regierung sieht sich mit einem westlichen
Vorgehen konfrontiert, das ihr dieses Interesse glatt bestreitet
– und besinnt sich in der Lage darauf, daß sie irgendwo
doch immer noch Mittel hätte, um eine solche Herausforderung zu
beantworten. Sie legt also Einspruch ein und droht, den Umständen
entsprechend theatralisch, mit einer möglichen Eskalation der
Gewalt, zu der sie immer noch fähig sei und an der der Westen kein
Interesse haben könne. Und prompt sieht die Welt kurzzeitig ein
wenig anders aus. Für einen Augenblick stellt man sich vor,
daß die Russen sich doch noch einmal aufstellen könnten:
"Kann Boris Jelzin einen dritten Weltkrieg auslösen? Wie
gefährlich ist seine Armee? Wie viele Atomraketen hat
Rußland?" (BamS, 11.4.)
Muß sich der Westen etwa doch noch von russischen Einwänden
beeindrucken lassen? So lautet einen geschlagenen Tag lang die
öffentliche Frage. Und so kommt unvermutet zur Sprache, daß
es eben doch keine automatische Gegebenheit einer neuen Weltlage ist,
daß Rußland die Eskalation der NATO-Gewalt auf dem Balkan
hinnehmen muß, sondern westliches Programm, bei dem laufend mit
Rußlands Einspruch kalkuliert wird. Die ganze humanitäre
Wohltat der NATO-Bomben in Jugoslawien wird von der "geostrategischen" Frage überschattet: Will
Rußland wirklich die Konfrontation mit dem Westen – oder
läßt es sich letztlich weiterhin gefallen, was es bisher
schon nicht hat abwenden können? Und was ist, falls die Warnung
ernst gemeint sein sollte? Steht dann der Westen die Konfrontation
gemeinschaftlich durch, oder läßt er sich womöglich
auseinanderdividieren? – Vielleicht ist Krieg gegen Jugoslawien
ja doch etwas anderes als eine etwas größer angelegte
Polizeiaktion gegen einen Massenmörder...
*
Nach kurzem Erschrecken ist in den westlichen Hauptstädten
Entwarnung angesagt. Man ist sich schnell einig darüber, daß
keine ernstzunehmende Kriegsdrohung, sondern "nichts weiter als
Säbelrasseln" vorliegt (BamS, 11.4.), "die
Inszenierung einer politischen Seifenoper" (FAZ, 10.4.), in der "der ewige Kreml-Patient" – gestern noch 'unser
Mann im Kreml' – "wieder den
entscheidungsfähigen Staatsmann mimt" (SZ, 12.4.). Wieder
nichts als Ausdruck der "verletzten Selbstwertgefühle"
einer "gefallenen Supermacht"; der "Rückzug auf
die letzten Reliquien der einstigen Supermachtrolle: die
Atomraketen" (HB, 16.4.) – so lautet die
sachverständige Auskunft. Die Kenner winken ab: Bei näherem
Hinsehen liegt gar keine ernsthafte Drohung vor, sondern allenfalls
eine auf die etwas schwierigen innenpolitischen Verhältnisse
berechnete Geste, um den "Aufregungen an der inneren Front"
zu begegnen. Und was Rußlands Mittel angeht, da gilt weiterhin:
"Aus der einst so glorreichen Roten Armee ist das geworden, was
Militärs einen 'Sauhaufen' nennen." (ein Experte
aus dem Bonner Institut für strategische Studien) "Wer den
IWF um neue Kredite bittet, kann nicht die säbelrasselnde
Großmacht markieren. Den Bruch mit dem Westen kann sich Moskau
schlicht nicht leisten." (NZZ, 10.4.)
Solche beschwichtigenden Einschätzungen entstammen weniger einer
neuerlichen kritischen Untersuchung der russischen Verhältnisse
als den Sprachregelungen der NATO-Offiziellen: Sie geben deren Tenor
wieder. Die Regierungen der kriegführenden Nationen machen mit
betont gelassenen Stellungnahmen deutlich, daß sie sich durch den
russischen Interventionsversuch nicht irritieren lassen. Dabei ist es
keineswegs so, daß sie sich der kompletten Ohnmacht
Rußlands sicher wären. Sie setzen darauf, daß die
kaputtreformierte Macht, durchaus in gerechter Einschätzung ihrer
mittlerweile herbeiregierten und -gewirtschafteten Schwäche, vor
allem aber aus dem Interesse heraus, den "Weg der Reformen"
weiterzugehen und deswegen mit den Herren des Weltkredits nicht zu
brechen, nicht willens ist, gegen die NATO-Aktion ernsthaft
Gewaltmittel einzusetzen. Dieser Wille wird auch sofort ausgelotet, um
ihn zu bekräftigen: Man läßt die Kontakte nicht
abreißen. Die Deutschen übernehmen den Part, Moskau die
Wertschätzung des gesamten Westens zu versichern, sofern es sich
nur in die hergestellte Lage richtig einsortiert, und ihm seine
Wichtigkeit, ja Unentbehrlichkeit als europäischer Ordnungsfaktor
zu bescheinigen – ohne mit der darin enthaltenen Klarstellung
Anstoß zu erregen, wer wem in Europa mittlerweile eine "Funktion" zuerkennt. Der bayrische Ministerpräsident
Stoiber persönlich stellt sich um dieser guten Sache willen der
verhaßten rotgrünen Bundesregierung als Emissär zur
Verfügung und verbindet den Besuch im Fußballstadion in Kiew
mit einem Zwischenstopp in Moskau. Solche verbindlichen Gesten sind
freilich auch nötig. Schließlich fügt der Westen gerade
der Politik der Ausbremsung des Kreml in Europa und in der UNO eine
weltöffentliche Blamage seiner starken Worte hinzu: Man ist
demonstrativ unbeeindruckt und gibt damit allen naßforschen
Einschätzungen praktisch recht, die Moskaus Warnung gleich als "Theaterdonner" abgebucht haben.
Und aus Moskau kommt prompt die Bestätigung. Jelzin dementiert:
Nein, eine atomare Drohung liegt nicht vor, auch keine Absicht, mit
Waffenlieferungen zu intervenieren. Ein entsprechender Duma-Antrag wird
von Jelzin kategorisch zurückgewiesen. Statt dessen – so
wird präzisiert – handelt es sich um eine
nachdrückliche Warnung, im Falle einer NATO-Bodenoffensive
könnte man sich, gegen den eigenen Willen, schließlich doch
zum Eingreifen genötigt sehen – also, im Klartext: jetzt
noch nicht; dann, wenn die NATO zur Besetzung Serbiens übergeht,
wenn es also nach allen Regeln diplomatischer Erpressung und effektiver
Kriegsführung für ein erfolgreiches Eingreifen längst zu
spät ist, dann vielleicht aber schon. Vor allem aber, das sagt der
erste Mann im Kreml glatt öffentlich, sei sein Auftritt der
innenpolitischen Drohung geschuldet, sich "entweder gegen die
Nato zu stellen oder ein Amtsenthebungsverfahren zu riskieren".
All diesen Verlautbarungen ist unschwer das vorrangige Interesse zu
entnehmen, einen Kampf um weltpolitische Berücksichtigung um jeden
Preis zu vermeiden. Denn so sehr Moskau sich angegriffen sieht: Vor die
Notwendigkeit, bewaffnet Widerstand gegen das Vorgehen der NATO zu
leisten, will es sich nicht gestellt finden. Ob sich die Befehlshaber
der Nation zu den "militärischen Abenteuern", in die
sie sich auf keinen Fall "hineinziehen lassen" wollen,
schon gar nicht mehr in der Lage sehen – außer zu dem
absurdesten aller "Abenteuer", einer ernstlichen "atomaren Abschreckung" –, kann dahingestellt und den
Befehlshabern selbst überlassen bleiben. Die Regierung jedenfalls
stellt Kalkulationen an, in die das Bewußtsein eigener
Schwäche ebenso eingeht wie die Entschlossenheit, an einer
politischen Linie festzuhalten, mit der sie Rußland in eine
Defensive hineinbugsiert hat, aus der es in diesem Rahmen wirklich
keinen Ausweg gibt. Ein reformfreundliches Massenblatt bringt diesen
Standpunkt der Hilflosigkeit auf den Punkt:
"Wie können wir denen gegenüber mit dem Säbel
rasseln, von denen wir erwarten, daß sie – was für uns
lebenswichtig ist – die Schulden abschreiben?" (Argumenty i
Fakty, 14.4.)
Eine schöne Friedensdividende für Rußland:
Kriegsdrohungen unterbleiben wegen unbezahlbarer
Schuldendienstverpflichtungen; den Gläubiger verärgert man
nicht mit bewaffneter Gegnerschaft... So läuft die theatralische
Drohung auf ein schon ziemlich verzweifeltes Gesuch hinaus: Der Westen
möge der russischen Staatsführung die Zwangslage ersparen,
offen eingestehen zu müssen, daß sie mit ihrer
Grundentscheidung für die Rolle des entgegenkommenden
Juniorpartners der westlichen Weltmacht und des folgsamen
Schuldnerstaats die Preisgabe jedes machtvollen weltpolitischen
Einflusses bis hin zu ihrer südosteuropäischen "Haustür" eingeleitet und längst bis zu dem Punkt
getrieben hat, wo sie für die Geltung ihrer vitalen Interessen mit
eigenen Mitteln gar nicht mehr einstehen kann – jedenfalls nicht,
ohne gleich auch noch die Rest-Existenz Rußlands als politisches
und ökonomisches Sorgeobjekt der kapitalistischen Weltmächte
aufs Spiel zu setzen. Rußland kassiert eine Niederlage im Ringen
um seine Rolle als europäische und Welt-Friedensmacht und
beantragt mit seinen zurückgenommenen Kriegsdrohungen die
Konzession, diese Niederlage nicht auch noch anerkennen und quittieren
zu müssen, vielmehr pro forma noch im Spiel bleiben zu
dürfen. Es gesteht damit ein, daß russische
Einflußnahme nur noch genau so weit reicht, wie der Westen sie
duldet. Weltpolitisch hängt Rußland davon ab, "welche
Rolle die verbliebene Weltmacht USA ihm noch zugestehen will",
wie es ein Kommentator bündig formuliert.
*
Die angesprochene Weltmacht sieht das genauso und will erstmal und
einerseits überhaupt nichts zugestehen. Öffentlich
erklären die Amerikaner, daß die Russen auf dem Balkan "bestenfalls nutzlos" sind. Die erbetene Konzession wird
versagt, die Warnung aus dem Kreml übergangen. Statt dessen
übermittelt die amerikanische Seite vorsorglich einer russischen
Regierung, die sich schon durch die Rekrutierung von einigen tausend
Freiwilligen für die serbische Seite, veranstaltet durch die
Schirinowski-Partei, in ihrem bekundeten Verständigungswillen
kompromittiert wähnt, die Gegenwarnung, "daß jeder
Versuch, in militärisch signifikanter Weise zu intervenieren, sehr
ernste Konsequenzen haben könnte", also als feindliche
Einmischung in eine ausschließlich der NATO zustehende
Interessensfäre angesehen und entsprechend geahndet würde.
Offensiv und erpresserisch stellen die USA selber einen Zusammenhang
her zwischen den Versuchen der russischen Regierung, an ihre
niedergewalzten Einflußinteressen zu erinnern, und den
hoffnungslosen Abhängigkeiten, in die dieselbe Regierung sich mit
ihrer Unterwerfung unter die politische Ökonomie des Kredits
verwickelt hat:
"Selbstverständlich würde eine russische Hilfe für
Belgrad die öffentliche Unterstützung des Westens für
Kredite an Rußland untergraben." (IHT, 13.4.)
Mitten in einem Krieg wird Rußland ganz offen als ein Staat ge-
und behandelt, der sich politisch, als eigenständige Macht, mit
ein paar finanzpolitischen Notwendigkeiten kleinkriegen
läßt. Wie zur weltöffentlichen Vorführung dieses
neuen Kräfteverhältnisses trumpft auch noch ausgerechnet der
Ex-Verbündete und frischgetaufte NATO-Winzling Ungarn gegen den
übermächtigen Patron von einst auf und statuiert ein Exempel
an einem bescheidenen zivilen Hilfskonvoi für die Kriegsopfer auf
serbischer Seite, mit dem Rußland seine Sympathien für
Belgrad auf eine dermaßen symbolische Art bekundet, daß es
einer glatten Absage an wirkliche und wirksame Hilfe für
Jugoslawien gleichkommt: Die Lastwagen werden an der ungarischen Grenze
drei Tage lang aufgehalten, weil, so die Begründung, einige
gepanzerte Fahrzeuge sowie Tanklaster den Embargobestimmungen der UN
zuwiderliefen; erst nach langwierigen Verhandlungen und ohne die
monierten Fahrzeuge wird der Konvoi schließlich durchgelassen.
Freiheiten gegenüber der UNO sowie Hilfe für Kriegsopfer
– was eben, man sieht es an dem Fall, nie eine bloß
humanitäre Tat ist, sondern immer ein Bekenntnis
einschließt, auf welcher Seite man überhaupt Opfer und
welche man mehr als Täter wahrnimmt –, das hat alleinige
Domäne der NATO-Alliierten zu bleiben, die in Albanien und
Mazedonien für die humanitären Bedürfnisse der dortigen
Kriegsopfer den Aufmarsch ihrer Soldaten ganz passend finden.
Rußland muß sich deshalb vom neuen NATO-Mitglied Ungarn ein
wenig schikanieren lassen – und läßt seine
Empörung nicht an der NATO, sondern am ungarischen
Außenminister aus; er wird ausgeladen.
*
Es bleibt also dabei: Der Krieg der NATO wird planmäßig
weitergeführt, und von dem Programm, dadurch Rußland aus der
Verantwortung für die weitere "Entwicklung" auf dem
Balkan auszumischen, werden keine Abstriche gemacht. Gerade im Sinne
dieses Programms ist es andererseits jedoch erforderlich, sich auf die
russische Regierung in ihren vom Westen bereiteten Drangsalen
einzulassen. Wenn man Rußland als eigenständigen welt- und
europapolitischen "Faktor" eliminieren und perspektivisch
zum freien Betätigungsfeld westlicher Interessen herrichten will,
dann darf man es weder sich selbst überlassen noch mit seinen
Wortmeldungen einfach ignorieren – man muß es Zug um Zug
auf den ihm zugedachten Status festlegen. Das schließt die
Notwendigkeit ein, sich darum zu kümmern, daß die
Zuständigen in Moskau der verheerenden Staatsräson, die sie
ihrem riesigen "Reich" verpaßt haben, durch alle
Niederlagen hindurch unverwüstlich treu bleiben, Alternativen
weder probieren noch zulassen und nicht selber durch eine Alternative,
nämlich irgendwelche unhandlichen "Retter
Rußlands" ersetzt werden. Unter diesem komplexen
Gesichtspunkt kommen die NATO-Mächte nicht umhin, das Moskauer
Gesuch um Rücksichtnahme doch ernst zu nehmen.
Denn das ist ja nicht zu übersehen, daß das gewaltsame
Vorgehen der NATO in Jugoslawien das Land in Aufruhr versetzt. Zwar
nicht in den einer spontanen Mobilmachung für gewaltsame
Gegenmanöver, geschweige denn für den "Weltkrieg", vor dem Jelzin meint warnen zu müssen.
Die Regierung sucht aber doch unterhalb dieser "Schwelle"
nach Mitteln und Wegen, ihren Warnungen an den Westen Nachdruck zu
verleihen. Und je aussichtsloser die Lage, in die sie sich durch die
Rücksichtslosigkeit der NATO gebracht sieht, um so heftiger
gerät der innenpolitische Streit um den richtigen nationalen Weg.
Die Duma regt sich auf, stellt andererseits um der nationalen
Geschlossenheit willen ihre Hochverrats-Anklage gegen den
Präsidenten zurück, findet aber wiederum Gefallen an dem
diplomatischen Vorstoß Belgrads, seiner Isolierung zu entkommen
und mit Rußland und Weißrußland einen slawischen
Dreibund aufzumachen; so manifestiert sich immerhin der oppositionelle
Standpunkt, daß eine slawisch-patriotische Alternative dringend
geboten sei. In gleichem Geist reisen orthodoxe Betbrüder zum
Osterfest nach Belgrad. Dagegen wiederum, das kann in der
weitläufigen Föderation gar nicht ausbleiben, formiert sich
einiger abweichender Sub-Nationalismus: Gegen die "slawische
Bruderhilfe" steht auf einmal die "moslemische
Solidarität", mit den von Serbien unterdrückten
Kosovo-Albanern nämlich. So treten all die Gegensätze
verschärft und zugespitzt hervor, die sowieso schon am russischen
Überrest der einstigen Sowjetunion zerren und den Staat
zerreißen.
Für den Westen ist das alles kein Grund, sein Vorgehen zu
überdenken oder gar zu mäßigen, wohl aber Veranlassung,
sich um die Berechenbarkeit der russischen Politik Sorgen zu machen;
genauer: um die Erhaltung der Macht der Reformer, auf deren
Berechnungen bisher noch immer Verlaß war, aber auch um deren
berechenbare Grundsatztreue. Deshalb wird den Russen dann doch eine
Konzession gewährt: Initiativen werden gestartet, die nach
allgemeiner Auskunft dem Ziel dienen sollen, "die Russen wieder
ins Boot zu holen", nachdem man sie gründlich ausgebootet
hat. Nach drei Wochen Krieg, und nachdem sie alle diplomatischen
Bemühungen Moskaus nachhaltig torpediert haben, erklären sich
die NATO-Oberen, allen voran die notorischen deutschen Anhänger
des Dogmas, "daß ohne die Russen nichts geht"
(Schröder, Fischer, Stoiber), bereit, ein "gemeinsames
Dach" für eine "tragfähige politische
Lösung" zu suchen, in die Rußland "einbezogen" werden soll. Zwei Tage nach Jelzins
öffentlichem Auftritt rufen so ziemlich sämtliche NATO-Chefs
in Moskau an, Bonn schickt einen Staatssekretär zur "Vorbereitung eines G8-Treffens" nach Rußland, der
OSZE-Vorsitzende trifft den russischen Außenminister,
NATO-Außenminister und EU-Sondergipfel verkünden die frohe
Botschaft: "Rußland soll bei der Suche nach diplomatischen
Auswegen mithelfen." (US-Außenministerin Albright, NZZ,
13.4.)
*
Mit seinem neuen Angebot an Rußland, "wieder
mitzumachen", will der Westen so verstanden sein, daß er
Moskau die Bereitschaft abhandeln muß, aber auch will, einer "internationalen Regelung" zuzustimmen, sich an einer
Friedenstruppe fürs Kosovo zu beteiligen und auf einem G8-Treffen
die Modalitäten zu vereinbaren – so als hätten
ausgerechnet die Russen ein herzliches Einvernehmen der Kontaktgruppe
gekündigt, und als hätten sie nicht genau das von Beginn an
vergeblich verlangt, was jetzt ihnen abverlangt wird. Freilich: genau
dasselbe ist es nicht. Die westliche Diplomatie tut zwar so, als ginge
es ihr darum, daß Rußland überhaupt "wieder
mitmacht"; tatsächlich drängt der Westen aber darauf,
daß es sich bereitfindet, zu den Konditionen und im Sinne der
NATO mitzutun. Was als Perspektiven einer "tragfähigen
internationalen Lösung" ins Spiel gebracht wird, ist nur die
Neuauflage dessen, was Rußland schon in Rambouillet abgelehnt
hat; eine Variante geht über die Rambouillet-Vorlage sogar noch
hinaus, nach der Belgrad mehrere Tausend Mann jugoslawischer Polizei
und Grenztruppen im Kosovo konzediert werden sollten:
"Serbien müßte sich praktisch darauf einlassen,
daß das Kosovo durch eine schwach bewaffnete internationale
Friedenstruppe faktisch verwaltet wird, während sich dort kein
einziger bewaffneter Serbe mehr befände und zwanzigtausend
Nato-Soldaten um das Kosovo herum in Albanien und Mazedonien
stationiert wären." (FAZ, 13.4.)
Selbst die FAZ merkt an, daß Milošević diesen Vorschlag,
den der deutsche Staatssekretär den Russen unterbreitet,
schwerlich akzeptieren könne. Das braucht er aber auch gar nicht,
weil die mit Rußlands Beteiligung anvisierte Lösung "nicht unbedingt die Form einer Übereinkunft mit Belgrad
annehmen müsse. Vielmehr könnte der UNO-Sicherheitsrat den
Rahmen fixieren" (der französische Verteidigungsminister
Richard laut NZZ, 17.4). Wäre das erst einmal erreicht, dann
könnten die Russen noch viel weiter gehende nützliche Dienste
leisten:
"Ein russischer Emissär hätte dem Serbenführer vor
allem klarzumachen, daß die Nato nicht klein beigeben wird",
weiß die FAZ schon am 7.4.. Angeboten wird Moskau dafür die
Beteiligung an einer Truppe, bei der es nach den Worten des
NATO-Generalsekretärs
"nicht auf die Bezeichnung ankomme... Tatsache sei, daß die
Nato-Länder in jedem Fall das Rückgrat dieser Truppe stellen
würden." (NZZ, 13.4.)
Das ist also der Kern der neuen Initiative 'Wir holen die Russen
zurück ins Boot!': Moskau soll im Voraus die 'Lösung' absegnen, die die NATO Jugoslawien
aufoktroyieren will; es soll damit rückwirkend auch die
NATO-Luftangriffe ins Recht und sich mit seinem Widerstand dagegen ins
Unrecht setzen – "das moralisch legitime Eingreifen der
Nato-Allianz wenigstens nachträglich völkerrechtlich klar
sanktionieren" (NZZ, 17.4.), heißt das. Und es soll sich
eine solche Berücksichtigung seiner Größe dadurch
verdienen, daß es dem Mann in Belgrad klarmacht, daß er auf
russische Unterstützung nicht rechnen kann. Mit seinen "besonderen Beziehungen" darf es Milošević die
Kapitulationsforderung verdolmetschen und ihn zur Unterwerfung unter
die neu formulierten Kapitulationsbedingungen bewegen, in denen
für Rußland garantiert keine mitbestimmende Rolle vorgesehen
ist. Dazu sind die 'bestenfalls nutzlosen' Russen herzlich
eingeladen; dafür müssen sie aber auch ihre "Verweigerungshaltung" und "Blockade des
Sicherheitsrats" aufgeben und beweisen, "daß sie mehr
können, als protestierend im Abseits zu stehen", in das der
Westen sie manövriert hat. So wären sie dann "berechenbar": fest eingebunden als Helfershelfer bei der
Durchsetzung eines NATO-Kriegsergebnisses, das ihre Bedeutungslosigkeit
für die "Ordnung auf dem Balkan" besiegelt.
Diesen wunderbaren Friedens- und Einbeziehungsplan muß man den
Russen in der Tat erst einmal "schmackhaft machen" –
und dafür wird einiges getan. Für den guten Zweck, sich der
Dienste Moskaus bei seiner weltpolitischen Marginalisierung zu
versichern, überwindet sich Amerikas Eiserne Lady und trifft sich
in Oslo mit ihrem russischen Kollegen; das ist schon sehr viel
Entgegenkommen. Die Sache ist Washington darüberhinaus – so
hört man – die Zustimmung zu dem ausgehandelten
4,8-Milliarden-Dollar-Kredit des IWF zur Bedienung der russischen
IWF-Schulden wert; "Schmiergeld" sagt der ARD-Korrespondent
dazu. Außerdem wird für diesen Fortschritt zum Frieden auch
die UNO wieder ins Spiel gebracht, ohne daß Washington von seiner
Überzeugung abrückt, daß mit "neunzehn
demokratisch legitimierten Regierungen gegen zwei
Veto-Mächte" eigentlich die Sache erledigt ist. Der
Generalsekretär wird in Europa herumgereicht. Der hat sich
inzwischen nämlich die NATO-Lesart vom serbischen "Massenmörder" und "ethnischen
Säuberer" zueigen gemacht und die diplomatisch zubereiteten
NATO-Forderungen in einen eigenen "Friedensplan der
internationalen Gemeinschaft" umgeschrieben, welcher prompt ein
anerkennendes Nicken der NATO-Chefs findet. Damit hat sich Kofi Annan
nach seinen anfänglichen Beschwerden über die NATO also doch
noch als möglicher Vollzugsgehilfe für das Ergebnis, das der
Westen herbeibombt, qualifiziert, wird zum EU-Gipfeltreffen eingeladen
und darf die Russen eindringlich zu konstruktiver Mitarbeit auffordern.
Damit niemand und schon gar nicht Milošević soviel westliches
Entgegenkommen mißversteht und weil es schließlich
weiterhin darum geht, Serbien zu zerlegen, beschließt die NATO
zeitgleich demonstrativ die Veranderthalbfachung ihres Geräts
für den Luftkrieg; US-Präsident Clinton kündigt
entsprechende Schritte sowie die Mobilisierung von 30000 Reservisten an.
*
Gleichwohl ist das Angebot an die russische Adresse keine Zumutung,
sondern eine einmalige Chance für einen, der ohnehin nichts mehr
zu sagen hat – finden die Beobachter:
"In dem Moment, da Moskau als Machtfaktor erstmals offen
mißachtet wurde, da seine Sicht der Dinge keine Rolle mehr zu
spielen scheint, bietet sich die Chance, eine einzigartige Rolle zu
spielen ... als glaubwürdiger Unterhändler in Belgrad."
(FAZ, 8.4.)
Und die Russen zeigen sich an der Absurdität eines diplomatischen
Angebots, das ihnen die Rolle des Dolmetschers der westlichen
Kapitulationsforderung an Milošević anträgt, wahrhaftig
brennend interessiert. In ihrem unerschütterlichen Bestreben, die
kriegführende Allianz dazu zu bewegen, sich mit ihnen doch
irgendwie diplomatisch ins Benehmen zu setzen, entdecken sie darin
nämlich eine Chance, aus der Verlegenheit gegenüber der
Kriegsentschlossenheit der NATO herauszukommen und sich endlich wieder
ins Spiel zu bringen. In ihrem Willen, einer Konfrontation aus dem Wege
zu gehen, versteigen sie sich dabei zu einer ziemlich verwegenen Sicht
der Lage: Nicht sie sind von der NATO blamiert worden, die NATO hat
sich in die peinliche Lage manövriert, ihre Ohnmacht eingestehen
zu müssen:
"Der Widerstand Miloševićs hat alle Karten
durcheinandergebracht. Daraus ergibt sich die Schlußfolgerung,
daß die Nato sich in eine Sackgasse verrannt hat." (Sergej
Karaganow, Vorsitzender des russischen Rates für Außen- und
Verteidigungspolitik, Argumenty i Fakty, 14.4.) "Die Nato hat
verstanden, daß sie einen gravierenden Fehler gemacht hat... Aber
sie weiß nicht, wie sie das gegenüber der
Öffentlichkeit zugeben soll." (derselbe, HB, 16.4.)
Also wird Rußland gebraucht, um der NATO aus der Verlegenheit zu
helfen und für sie einen Kompromiß auszuhandeln:
"Jetzt hängt es von Rußland ab, ob die Nato aus dem
Krieg herauskommen wird, ohne das Gesicht zu verlieren. Über
inoffizielle Kanäle geben die Mitgliedsländer der Allianz
Moskau schon zu verstehen, daß sie auf Moskau als Mittler bei der
Beendigung der Schlachten hoffen." (derselbe, Argumenty i Fakty,
14.4.) "Wir bieten die Formel an, bei der weder die Nato noch die
USA ihr Gesicht verlieren." (Moskaus Bürgermeister Luschkow,
Der Spiegel, 19.4.)
So stellen sich Rußlands Politiker auf die Ohnmacht ein, die sie
erfahren: Sie konstatieren ein Verhandlungsinteresse der anderen Seite,
das es gar nicht gibt, und bieten sich als ehrliche Makler an, als ob
ausgerechnet daran Bedarf wäre. Um sich für diese Rolle zu
qualifizieren, deuten sie schon einmal an, daß sie in
Wirklichkeit ganz und gar nicht den Standpunkt von den "serbischen Brüdern und Schwestern" vertreten, sondern
Vergehen Miloševićs kennen, die eine internationale Aufsicht
erfordern; allerdings eine solche mit serbischer Zustimmung bzw.
– viel wichtiger – mit gebührender russischer
Beteiligung. Pech nur, daß das westliche Militärbündnis
der entschiedenen Auffassung ist, daß seine Glaubwürdigkeit
mit der Kapitulation Miloševićs und einem eindeutigen
NATO-Kommando steht und fällt. Dem soll sich Rußland
anschließen und sonst nichts.
Das teilt US-Außenministerin Albright ihrem russischen Kollegen
Iwanow bei ihrem Treffen am 13.4. in Oslo mit. Und darüber wird
man sich dann doch nicht einig, obwohl Rußland "im Prinzip
bereit ist, einem Großteil der amerikanischen Vorschläge
zuzustimmen. 'Aber wir können doch nicht erklären,
daß wir einfach den Plan der Nato annehmen.'" (Iwanow
laut FAZ, 15.4.) Die Russen "bewegen" sich, aber immer noch
nicht so weit, daß eine "internationale Lösung"
in Sicht wäre. Weil Moskau sich immer noch sträubt, sich zum
Vollzugsorgan der NATO machen zu lassen, gibt es vorläufig auch
keine Basis für ein G8-Treffen.
Zuende sind die "Bemühungen" damit allerdings nicht.
Die westliche Allianz signalisiert ihr fortbestehendes lebhaftes
Interesse, den Krieg mit einer Diplomatie zu verknüpfen, die auf
die laufende Überprüfung hinausläuft, wie Rußland
sich mit den westlichen Fortschritten abfindet. Moskau seinerseits gibt
es zu denken, daß es für die NATO offensichtlich nichts zu
verhandeln, aber auf dem Kriegsschauplatz dafür um so mehr zu
erledigen gibt: Vielleicht hat man sich selber wirklich noch nicht
genug bewegt?! Westliche Beobachter können wohlwollend
feststellen, daß "Rußlands Scharfmacher milde"
werden (SZ, 15.4.) und der Kreml die westliche Unerbittlichkeit mit
neuen Annäherungsbemühungen quittiert. Jelzin
präsentiert in bewährter Manier einen neuen Mann: Er entzieht
Iwanow, der sich in den Augen des Westens und damit auch des Kremlchefs
als "Vermittler" disqualifiziert hat, die Verantwortung
für die Angelegenheit und beauftragt Tschernomyrdin als
Sonderbevollmächtigten mit der Suche nach "unorthodoxen
Lösungen" – einen Mann, so heißt es
erwartungsvoll im Westen, "der sich breiter internationaler
Anerkennung" erfreut. Als Zeichen des guten Willens sagt Jelzin
die angekündigte Flottenverlegung in die Adria ab und verspricht,
für Bewegung beim starrköpfigen Serben zu sorgen:
"Wir können Milošević nicht fallen lassen, wir wollen ihn enger an uns drücken" (FAZ, 20.4.),
und zwar dadurch, daß man ihn jetzt auch öffentlich
kritisiert und zu mehr Entgegenkommen gegenüber der "Internationalen Gemeinschaft" auffordert. Er soll
Rußland die unbefristete Fortsetzung der Blamage ersparen,
daß allen russischen Einwänden zum Trotz die
Kriegführung der NATO ungerührt voranschreitet. Und wenn er
genauso "stur" bleibt wie die NATO, dann soll seine am Ende
ja doch unabwendbare Niederlage nicht gleich auch noch eine komplette
Niederlage Rußlands bedeuten. Deswegen legt der
Kreml-Präsident beim "enger an uns drücken" viel
Wert auf demonstrative Distanz: Alle Initiativen für eine
russisch-weißrussisch-südslawische Dreier-Allianz werden
zurückgewiesen; entsprechende Anträge und Beschlüsse
verschwinden erst einmal wieder in der Versenkung.. Der Russe "bewegt" sich also weiter. Auf Linie ist er zwar noch
nicht. Aber mit seinen vergeblichen Bemühungen, sich als
nobel-unparteiischer "Vermittler" wieder ins Spiel zu
bringen, bleibt Rußland eingebunden in ein Programm, das seine
Einflußnahme auf Europas Geschicke gründlich zusammenbombt
– kein geringer Ertrag der westlichen Kriegsdiplomatie.
*
Die jugoslawische Regierung ihrerseits stellt sich mittlerweile darauf
ein, daß sie von der russischen Regierung mit ihren
diplomatischen Manövern nichts für sich Konstruktives und
schon gar keinen materiellen Rückhalt zu erwarten hat, sondern
allein gegen die NATO steht. Unmittelbar nach ihrem rechtgläubigen
Osterfrieden kehrt sie daher zu ihrer strategischen Linie zurück,
ihre Herrschaft über das Kosovo gegen den Westen zu verteidigen,
indem sie die angeblich längst besiegte UÇK mitsamt ihren
menschlichen Ressourcen eliminiert, die als abtrünniges bis
feindliches Volk klassifizierte Bevölkerung aus dem Land treibt
und Armeestellungen gegen potentielle Invasionsversuche ausbaut. So
können die demokratischen Kriegsberichterstatter vom Entsetzen
über die grauenhafte Stille an den Grenzübergängen zum
Kosovo wieder auf Empörung über die erneut Vertriebenen und
das überhandnehmende Flüchtlingselend umschalten. Weil
außerdem im Zuge der jugoslawischen Grenzsicherung auch
Schießereien an der albanischen Grenze mit UÇK-Freischärlern
stattfinden, ergibt sich die Gelegenheit zu Schlagzeilen, die die
Fortschritte der NATO-Planung passend begleiten: "Serben dringen
in Nordalbanien ein – Westen spricht von 'beachtlicher
Eskalation'". Das schreit ja regelrecht nach angemessener "Implementierung"...
*
Auch sonst stellen sich Deutschlands Demokraten auf den Krieg als neue
Sorte Normalzustand ein: "Der Abnützungskrieg kann
dauern." (Außenminister Fischer) Die Rufer nach einer
schnellen Erledigung der nationalen Siegespflicht müssen sich also
noch etwas gedulden. Daß uns die täglichen "schrecklichen Bilder" noch für einige Zeit nicht
erspart bleiben, das hat natürlich der Mann in Belgrad zu
verantworten, liegt aber auch daran, daß Demokraten, wie man
mittlerweile ja nun weiß, kein Blut sehen können: "Wenn Demokratien so skrupellos vorgehen könnten, wie
Milošević, wäre der Krieg schnell zu beenden."
(Staatsminister Verheugen) An welche Mittel mag der Mann wohl denken,
noch über den täglich eskalierten, allenfalls vom schlechten
Aprilwetter getrübten Bombenterror hinaus? Auf jeden Fall ist
klar: Die bisherige Steigerung der Bombardements ist nach wie vor eine
einzige, aus demokratischer Skrupelhaftigkeit gebotene, aber zunehmend
schweren Herzens geübte "Selbstbeschränkung"
– sie kann also gar nicht schnell und entschieden genug weiter
vorangehen.
*
In dem Zusammenhang paßt es wie bestellt: Der großen
Regierungspartei steht zum 12. April eine große Prüfung ins
Haus. Ihre kriegspolitische Reifeprüfung nämlich: Sie hat
– nach dem Rücktritt ihres Vorsitzenden Lafontaine, der mit
dem westlichen Bombenwerfen noch gar nichts zu tun hatte – den
mittlerweile zum ersten deutschen NATO-Kampagnen-Kanzler
herangewachsenen Schröder zu ihrem neuen Chef zu machen. Und das
mit einem anständigen Ergebnis, weil sich daran nun nicht mehr
bloß das Maß an Vertrauen so ganz im allgemeinen
entscheidet, das die deutsche Sozialdemokratie in ihren erfolgreichen
Wahlkämpfer setzt, sondern ganz speziell ihre Bereitschaft, die
kriegsentwöhnte Nation endlich wieder an das blutrünstige
Ideal eines gerechten Militäreinsatzes gegen jedes beliebige "Reich des Bösen" heranzuführen – also ihre
Regierungsfähigkeit in schwerer Zeit. Dementsprechend darf die
Frage nach der richtig wahrgenommenen nationalen Verantwortung der SPD
noch ein Mal die Gemüter erregen, um dann gefälligst korrekt
beantwortet zu werden. Andernfalls drohen nämlich "große Schwierigkeiten", wie der Kanzler, guter
demokratischer Sitte folgend, Partei und Öffentlichkeit vorweg
verkündet.
Das Ergebnis steht damit fest. Um so größer ist die
Spannung: Wie wird die Partei die Herausforderung bewältigen, sich
für einen Kriegskurs auszusprechen, den sie längst
beschlossen hat? Sie macht es sich nicht leicht. Die Erinnerung wird
wachgerufen an die alte Pazifismus-Debatte zwischen der von Kanzler
Schmidt damals so apostrofierten bloßen "Gesinnungsethik", die "Gewalt" als
unverantwortliches Mittel der Politik ablehnt, und der von dem
seinerzeit regierenden Popper-Jünger reklamierten "Verantwortungsethik", die ein Ja zur NATO-Abschreckung mit
Atomraketen gebot. Die Fronten haben mittlerweile gewechselt. Der
Altbundeskanzler gehört jetzt zu den Bedenkenträgern und
erinnert die Genossen im Vorfeld des Parteitages glatt daran, daß
Krieg nicht um humanitäre Anliegen und "Mitleid"
geführt wird, sondern um nationale Herrschaftsinteressen; und da
vermag er die rechte deutsche Berechnung nicht zu erkennen:
"Es ist ein Fehler, einer Supermacht zu folgen, die meint, es sei
in ihrem Interesse, auf aller Welt den Frieden zu erhalten, in Bagdad
und in Belgrad." (SZ, 3.4.)
Auf dem Parteitag selbst kommt Schmidts einstiger gesinnungsethischer
Widerpart, Erhard Eppler, mit einer "historischen Rede" zu
Wort, in der von nationalen Interessen überhaupt keine Rede ist
– außer in Gestalt einer einzigen, alles überragenden
Pflicht: der zum Krieg. In dankenswerter Klarheit teilt Eppler mit, was
nach seiner Auffassung damals so entschieden gegen die Aufstellung von
NATO-Raketen sprach und was heute genauso entschieden den Einsatz von
NATO-Missiles und -Fliegern gebietet: die deutsche Verantwortung, die
sich mit den Kräfteverhältnissen wandelt.
"Damals standen zwei atomar ausgerüstete Weltmächte
einander gegenüber, die sich gegenseitig vielfach auslöschen
konnten. Krieg bedeutete für Mitteleuropa Tod, und Frieden
bedeutete Leben."
Deutschland drohte zum Opfer einer kriegerischen Konfrontation zu
werden, die andere, mächtigere Nationen auf seinem Rücken
auszutragen gedachten – für verantwortliche Deutsche vom
Schlage Epplers ein einziges Weltuntergangsszenario. Heute dagegen ist
die eine Weltmacht nicht mehr da und die andere nicht zu fürchten,
weil Deutschland nicht mehr Kriegsschauplatz, also Betroffener ist,
sondern mächtiger Mitveranstalter, und Krieg "bedeutet
Tod" nur noch in ausgewählten Landstrichen
Südosteuropas. Unter solchen Voraussetzungen sieht alles anders
aus:
"Im nächsten Jahrhundert wird sich die Frage stellen, ob es
gelingt, daß jeder und jede, der oder die das Recht des
Stärkeren in Anspruch nimmt – ob das ein Vergewaltiger, ein
Raubmörder oder ein Diktator ist –, irgendwann erfahren
muß, daß es noch Stärkere gibt." (Eppler, SZ,
14.4.)
Mit der Eskalationsskala von "Gewaltverbrechen", die von
einem Unterschied zwischen privat und öffentlich überhaupt
nichts mehr wissen will, bekennt sich der Mann umstandslos dazu,
daß sich die Moral politischen Handelns aus überlegener
Gewalt speist: Weltmacht gebietet Aufsicht über alle politischen
Umtriebe, die schwach genug sind, um von den Allerstärksten
wirksam als 'verbrecherisch' eingestuft zu werden. Der "Wortführer der Friedensbewegung" hat seinen Frieden
mit der NATO so gründlich geschlossen, daß er ihren Anspruch
auf ein Weltgewaltmonopol in eine säkulare sittliche Pflicht der
Weltgemeinschaft zum Zuschlagen übersetzt und Zweifel, ob Cruise
Missiles wirklich als Abwehrwaffe gegen ethnische Massenvergewaltiger
erfunden worden sind und jemals eingesetzt werden, sich von selbst
verbieten. Sicher, wenn man ihn fragen würde, hätte er diese
globale Strafverfolgungs-Idylle "am liebsten natürlich durch
ein Gewaltmonopol der UN" sichergestellt. Weil und solange es das
aber nicht gibt, muß eben die NATO stellvertretend beweisen,
daß "Milošević das Recht des Stärkeren"
zu Unrecht "für sich in Anspruch genommen" hat.
Beifall. Es folgt die Wahl Schröders zum Parteivorsitzenden; mit
einem "ehrlichen" Ergebnis, weil es schließlich, wie
jeder bemerkt, gerade jetzt um Führung geht. Der "Kriegskanzler" – nach Auskunft der demokratischen
Öffentlichkeit inzwischen eher ein Lob – zeigt sich
zufrieden mit sich und seiner Partei, die es schafft, tatsächlich "ohne jede Spur von Hurra-Patriotismus" unerbittlich
für den kollektiven westlichen Bombenkrieg gegen Jugoslawien zu
sein.
*
Drei Tage später demonstrieren die verantwortlichen deutschen
Demokraten im Bundestag auch überparteilich Geschlossenheit gegen
falsche Friedensfreunde. PDS-Mann Gysi hat den Verbrecher in Belgrad
besucht – Pfui! Abgrundtief ist die allgemeine Empörung
über diesen Versuch einer alternativen deutschen
Außenpolitik:
"Sie müssen langsam aufpassen, daß Sie nicht von der
fünften Kolonne Moskaus zur fünften Kolonne Belgrads
werden." (Schröder) "Weißwäscher für
eine neue Politik des Faschismus." (Fischer)
Wie schon die SED, so vergeht sich die PDS heute schon wieder an den
höchsten Werten der Nation und steht auf der Seite ihrer Feinde
– ab "nach drüben", nach Belgrad, fällt da
den "Alt-68ern" ein, die so etwas Ähnliches seinerzeit
selber zu hören bekommen haben. Und was das Schlimmste ist –
da kennen sich Politprofis aus: Die PDS treibt ihr böses Spiel nur
aus niedersten demokratischen Beweggründen, nämlich um
Wähler zu locken. Wenn sie gegen den Krieg ist, ist sie gar nicht
gegen Krieg; sondern für das Böseste, was gerade PDSler sich
vorstellen können: Faschismus; und ihre Nörgelei an unseren
guten Bomben ist purer "Zweckpazifismus". So drückt
man also heute unter rotgrünen Demokraten die alte, ewig junge
staatstragende Erkenntnis aus: Kriegsgegner sind Staatsfeinde aus
Berechnung. – Manches geht eben auch ohne Hitler.
Mitte April: Diplomatische Vorstöße aus Deutschland, Antworten made in USA
Fischer-Plan, Clinton-Realität und ein Haufen von Kollateralschäden
Um, wie er sich ausdrückt, "die politische Initiative
zurückgewinnen", tritt Mitte April der deutsche
Außenminister gleich mit zwei "Konzepten" hervor: Mit
einem "Friedensplan für das Kosovo" und einem
"Stabilitätspakt" für den ganzen Balkan. Was
seinen "Friedensplan" betrifft, so will er mit ihm endlich
wieder politisch tätig werden. Der Mann hat offensichtlich Nerven.
Schließlich war er an vorderster Stelle der politischen
Initiative des Westens dabei, Milošević mit Krieg zu
überziehen. Das scheint ihm irgendwie entfallen zu sein. Nach vier
Wochen jedenfalls kommt ihm der Bombenkrieg durch und durch unpolitisch
vor – eine namenlose "Logik des Krieges", eine sich
einfach so vor sich hindrehende "Kriegsspirale" entdeckt er
auf dem Balkan. Die hält er nicht aus, die muß er "brechen",
und wie sich das "Schweigen der
Waffen" einfinden könnte, die nicht zuletzt auf sein
Geheiß hin tätig sind, macht er dann bekannt: Ihm schwebt
vor, alles, was die NATO mit ihrem Krieg durchkämpft, mit einem
"Plan" zu verwirklichen. Der politische Zweck, der gegen
Milošević gewaltsam durchgefochten wird, ließe sich auch
friedlich erreichen, genau dann nämlich, wenn – so sein
origineller Einfall – der Kriegsgegner aufgibt. Um ihm diesen
Schritt nahezulegen, denkt sich Fischer den passenden diplomatischen
"Vorstoß" aus. Der zielt zweifellos auf "Frieden", weil er
sowieso nur die offiziellen Kriegsziele
zu Bedingungen erklärt, die vorhanden sein müssen, damit der
westliche Werteverein gegen Rest-Jugoslawien Frieden gibt: Auszug
Jugoslawiens aus dem Kosovo und zeitgleicher Einmarsch der NATO
erübrigen eine Weiterführung des Kriegs. Und zu einem –
zur Ehre des Urhebers fest mit seinem Namen verknüpften –
"Plan" wird dieser furchtbar schlaue Einfall darüber,
daß in ihm auch noch die prozeduralen Vorgaben definiert werden,
nach denen die Umsetzung des westlichen Diktats von Milošević zu
vollziehen sei: In sechs Stufen und zeitlich feststehender Abfolge der
einzelnen Übergabeschritte hat Milošević dem Westen das
Kosovo abzutreten.
Freilich wird aus den hinlänglich bekannten fünf Punkten des
NATO-Forderungskatalogs schon ein bißchen etwas anderes als
bloß sechs Stufen, wenn ein Fischer zu dem Zweck Hand an sie
anlegt, "eine nationale deutsche Initiative" (FAZ, 15.4.)
aus der Taufe zu heben. Da will schon der deutsche Außenminister
zeigen, wie gut er sein Handwerk versteht, so daß sein
schöner Plan einige nicht ganz unbedeutende Modifikationen an der
offiziell geltenden Beschlußlage der NATO anbringt:
– Unter deutscher Leitung soll in 'Stufe 1' ein
G8-Ministertreffen die westlichen Kriegsziele in eine
Sicherheitsratsresolution der UNO "umgießen".
Rußland ist also bei der Übergabe des Kosovo an die
westliche Kriegsallianz und bei der praktischen Umsetzung der einzelnen
Schritte des Souveränitätswechsels, die in Bestandteile eines
UN-Friedensprozesses 'umgegossen' werden, von Anbeginn mit
dabei. Und zwar auf der richtigen Seite ein- und untergeordnet.
– Über diese Resolution soll dann in 'Stufe 2'
der Weltsicherheitsrat beschließen. Die Allianz, die vor Ort
längst tätig ist, legt also Wert darauf, sich von der UNO
nachträglich auch noch als internationale Streitmacht für das
Kosovo engagieren zu lassen, und das entsprechende Mandat bestellt sie
sich. Auf Grundlage der praktisch in die Tat umgesetzten
menschenrechtlichen Selbstmandatierung der NATO spricht ja nichts
dagegen, sich zur Komplettierung der Legitimationsgrundlage des eigenen
Tuns auch noch den Segen der Institution zu verschaffen, die das alte
Völkerrecht hütet – zumal inzwischen auch deren
Generalsekretär eingesehen hat, daß an dem Respekt vor dem
neuen NATO-Völkerrecht kein Weg vorbeiführt, will er
überhaupt noch als diplomatische Instanz anerkannt sein. Das
wäre auch ein eleganter Weg, Einvernehmlichkeit mit Rußland
herzustellen, dazu auch noch mit China, wobei man von der Zustimmung
dieser Macht zum eigenen Vorhaben der Einfachheit halber gleich ausgeht
– wenn nur Rußland "mit im Boot" ist. Wenn der
Sicherheitsrat die Kriegsziele der westlichen Allianz auch noch unter
Berufung auf Kapitel VII der UN-Charta – 'friedenserzwingende Maßnahmen' und so –
rückwirkend in Auftrag gibt, ist der Geist des Völkerrechts
endlich richtig erfaßt.
– Die so auch noch weltgemeinschaftlich mandatierte Armee soll
nach exakten Einsatzregeln in Jugoslawien einmarschieren und dabei
unter einheitlichem Kommando stehen, was an sich nicht überrascht.
Etwas überraschend ist, daß "darauf verzichtet wird,
schon jetzt festzulegen, wer die neue Friedensstreitmacht anführen
soll. Sie soll zudem für viele Teilnehmer offenstehen, vor allem
natürlich für Rußland, dessen Mitwirkung die deutsche
Regierung dringend wünscht." (NZZ, 15.4.) Daß für
die Anführerschaft der gewünschten "robusten"
Truppe dann irgendwie doch nur die NATO in Frage kommen kann, darf ein
Sprecher Fischers hinterher erklären. Also doch keine
Überraschung.
– Diese Resolution soll in 'Stufe 3' der Führung
in Belgrad "übermittelt" werden. Falls diese
fristgerecht ihr Territorium freizuräumen beginnt, erfolgt eine
24-stündige Unterbrechung der Luftangriffe; falls sie den
Rückzug planmäßig fortführt, werden die
Bombenangriffe sogar dauerhaft suspendiert – auch nicht
überraschend, da andernfalls ja auch die zeitgleich
nachrückenden eigenen Truppen unter Beschuß geraten.
Mit diesem diplomatischen Wurf verschafft sich Fischer hierzulande
große Beachtung. Niemand wundert sich, wie wenig da vom "Elend der Menschen im Kosovo" – immerhin der
offiziell verlautbarte Kriegsgrund der NATO – die Rede ist;
keiner ist darüber verblüfft, daß alle "humanitären Katastrofen" pünktlich mit dem
Einmarsch der NATO und der Rückkehr der Flüchtlinge in den
von ihr gemeinsam mit den Serben verwüsteten Kosovo beendet sind.
Auch entspricht das öffentliche Gewicht, das diesem Plan
augenblicklich zugesprochen wird, nicht gerade dem, das die Nation
selbst in der Front der westlichen Kriegsallianz tatsächlich
besitzt. Für größenwahnsinnig hält den deutschen
Außenminister deswegen aber keiner, wenn der mal kurz
aufschreibt, wie sich das Kräfteverhältnis zwischen den
Mächten der Welt zu verteilen hat. Davor bewahrt ihn der Umstand,
daß die politische Sache, von der er redet, überaus real und
dazu auch sehr eindrucksvoll unterwegs ist. Es ist nämlich die
weltpolitische und völkerrechtlich verbindliche Position, die sich
der Westen gerade praktisch mit seinem Krieg erkämpft, der Fischer
den Maßstab entnimmt, an dem entlang er dann recht
freihändig dekretiert, wie die Frage der Aufsicht über das
Kosovo zu regeln ist. Aus der exklusiven Zuständigkeit für
alle Belange der Weltordnung, die der Westen sich herausnimmt und in
seinem Krieg höchst real dokumentiert, leitet er in Form seiner "Initiative" das Gebot ab, daß und wie sich
konkurrierende Ordnungsinteressen dem Monopolanspruch der NATO
unterzuordnen haben. Rußland natürlich an erster Stelle, so
daß diese Ex-Weltmacht nicht nur praktisch durch die NATO,
sondern auch aus dem Büro des deutschen Außenministers
erfährt, welche weltpolitische Rolle für sie vorgesehen ist:
Ihr höchstförmliches Plazet dürfen die Russen den
Vorhaben des Westens nachreichen – nicht, weil der irgendeines
von ihnen doch noch von russischer Billigung abhängig machen
wollte; sondern weil deren Absegnung der einzig konstruktive Beitrag
ist, mit dem Rußland in dem engen Boot namens Weltpolitik noch "mit dabei" sein darf. Auf dieselbe Weise erfreut sich auch
der ganze Rest der Staatenwelt seiner "Einbindung" durch
den deutschen Außenminister. Die Weltgemeinschaft in Gestalt
ihrer UNO braucht sich bei dessen Kompetenzverteilung in Sachen
Weltordnungspolitik gar nicht ausgeschlossen vorzukommen; in der
Bedeutung, die ihr durch die NATO zugewiesen wird, hat sie durchaus
noch eine Perspektive: Sie darf sich die Angelegenheiten, die die NATO
exklusiv auf ihre Agenda setzt, anschließend auch noch zu den
Ihren machen und ihnen auch noch mit dem alten Hut des
Völkerrechts zusätzlich den Rang weltweit anzuerkennender
Verbindlichkeit verleihen. Damit macht sie garantiert nichts verkehrt.
Allergrößte Beachtung findet der "Fischer-Plan"
bei denen, die den Krieg der Nation einerseits politisch
mitverantworten, andererseits aber doch auch noch von Bedenken geplagt
sind, ob denn die Politik auch wirklich alles unternommen habe, die
Ziele des Kriegs gegen Milošević ohne Krieg durchzusetzen. Bei
den Grünen, aber auch in der SPD regt sich nach Bekanntwerden des
Anhangs zum Rambouillet-Abkommen gar der Verdacht, die NATO hätte
das Belgrader 'Nein!' zum Vertrag absichtlich provoziert,
und Bedenken dieser und ähnlicher Art nimmt Fischers "Vorstoß" den Wind aus den Segeln. Kaum ist er
veröffentlicht, zieht ein "hörbares Aufatmen"
durch seine Partei. Keine Rede vom 'Kriegstreiber', auch
keine anderen friedenssehnsüchtigen Nörgeleien am Herrn
Minister mehr; statt dessen macht die Rede vom Strohhalm die Runde, den
man für den Frieden doch ergreifen müsse und der –
Fischer sei Dank! – nun doch bereitliege. Ihren ungeheuerlichen
Verdacht, die NATO könne ihren Krieg glatt gewollt haben, zieht
die Grünen-Fraktion daher als "nicht gerechtfertigt"
(FAZ, 16.4.) zurück, nur ein gewisser Scheer von der SPD zeigt
sich diesbezüglich "weniger einsichtig" (ebd.). Den
macht dann Scharping fertig, unter "lang anhaltendem Beifall der
Fraktion" (ebd.).
*
In etwa zeitgleich mit dem Plan für einen Frieden in Jugoslawien
heckt das Ministerium Fischers einen "Stabilitätspakt"
für die Zeit nach dem Krieg aus. Der betrifft den gesamten Raum
Südosteuropas, für den sich die EU als "Impulsgeber" u.a. in folgender Weise verdient machen will:
"Es geht darum, einen wirksamen Prozeß in Gang zu setzen,
der durch Demokratisierung, Schaffung wirtschaftlichen Wohlstands und
verstärkte regionale Kooperation die Voraussetzungen für eine
stabile und friedliche Entwicklung Südosteuropas schafft... Eine
der wesentlichsten Aufgaben der internationalen Staatengemeinschaft in
der Region besteht darin, die zugespitzte Entscheidungssituation
zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und dem Erhalt der
Einheit multiethnischer Staaten zu entschärfen. Dabei gilt es, den
Grundsatz der Unverletzlichkeit der Grenzen zu wahren... Wegen seines
ausgeprägten Interesses (...) sollte Deutschland mit seinen
Partnern in der EU die Initiatorenrolle übernehmen (...)
Länder haben Beitrittsperspektive (...) Flankierung durch eine
Geber- und Wiederaufbaukonferenz, Volks- und Staatsgrenzen
überschreitende Wirtschafts- und Bildungsprojekte, Investitionen
in die Infrastruktur... Minderheitenschutz ... Institutionenbildung ...
Medienfreiheit... Rüstungskontrolle... Aufbau und Stärkung
konkurrenzfähiger und international vernetzter
privatwirtschaftlicher Strukturen... Wirtschafts- und
Gesetzgebungsberatung, Aus- und Weiterbildung von
Führungskräften in Politik und Wirtschaft, Förderung des
privaten Sektors." (aus: Stabilitätspakt für
Südosteuropa)
Ein fröhliches Zusammenleben der Völkerschaften innerhalb
aller Grenzen, in die es sie verschlagen hat; eine solide
Infrastruktur, saubere Toiletten, Autobahnen und Internet; ein
bürgerliches Rechtswesen mit komplettem Instanzenzug,
öffentlich-rechtlicher Meinungspflege und demokratischen Eliten,
auf die gehört wird; eine florierende Privatwirtschaft mit
geschulten Managern, ja sogar der Mittelstand wird nicht vergessen: Was
für ein Paradies! Ein großes Kombinat von vielen
süßen Vielvölkerstaaten à la Tito, aber ohne die
grauenhafte kommunistische Arbeiterselbstverwaltung;
selbstverständlich alle mit kontrollierter Rüstung und
astrein demokratisch regiert; dann noch alle feinen Zutaten der 'blühenden Landschaften', die in der alten deutschen
Ostzone gedeihen: so in etwa stellt man sich im deutschen
Außenministerium die politische Zukunft auf dem Balkan vor. Da
wird gerade ein Großteil der Region, von der hier so anheimelnd
die Rede ist, in Schutt und Asche gelegt, und es ist noch gar nicht
abzusehen, was in ihr oder in den Ländern ringsum an Grundlagen
des Reichtums und des Überlebens überhaupt demnächst
noch alles kaputtgehen wird; da sind in der gesamten Region so gut wie
alle Ethnien heftig und ziemlich unbeirrbar auf der Suche nach einer
ihnen endlich gebührenden staatlichen Heimat; da haben recht viele
dieser Gebilde, die dort Staaten sind – schon ohne
Kriegsflüchtlinge, mit denen aber erst recht –, politisch
wie ökonomisch Bestandsprobleme der ernsteren Art, und es soll
dort auch Völker geben, denen eher nicht Medienvielfalt, sondern
alle Grundlagen eines geregelten Erwerbslebens abgehen, und auch das
schon seit längerem – aber was heißt das alles schon
für einen deutschen Außenminister. Der schickt einfach ein
paar Volkshochschulen und Führungskräfte aus hiesigen
Wachstumsschmieden vorbei – und schon ist Albanien für ihn
ungefähr so beieinander wie ein neues Bundesland. Der hat auch
einen todschicken Namen für sein
demokratisch-marktwirtschaftliches Idyllenleben auf dem Balkan: "Zivilgesellschaften" möchte er dort schaffen. Das ist
der Beitrag einer Macht, die gründlich mit dafür gesorgt hat,
daß das zivile Leben im alten Jugoslawien aufgehört hat; die
nicht nur alle Staatsgründungskriege mit diplomatischem Wohlwollen
begleitet, sondern schon auch anders und praktisch, mit Geld und Waffen
dafür gesorgt hat, daß aus den Provinzen Kroatien und
Bosnien richtige Staaten werden; die jetzt selbst unterwegs ist und mit
ihren Bomben ihren speziellen Beitrag zur 'Destabilisierung' der Region leistet – und auf die
Lage, die man dort hergestellt hat, bezieht man sich dann extrem
konstruktiv und will für "nachhaltige Befriedung"
sorgen.
Dabei ist dem deutschen Außenminister zweierlei klar: Für
eine "stabile Ordnung" auf dem Balkan braucht es erstens
ein ordentliches Gewaltmonopol, und zweitens nicht irgendeines, sondern
eines, das von den richtigen demokratischen Fachleuten dorthin
exportiert wird. Ganz selbstverständlich geht er davon aus,
daß Deutschland – und in seinem Gefolge der Rest der EU
– das Subjekt einer neuen Balkanordnung ist, und die Ordnung, die
er in ihren Grundrissen in seinem "Stabilitätspakt"
ausplaudert, klärt dann darüber auf, wie der Balkan für
dieses Subjekt zurechtgemacht gehört: In allem, was die Staaten
und Völker dort sind, tun und je hingekriegt haben, begründen
sie in seiner Optik ein einziges Problem, dessen Lösung die
maßgeblichen politischen Subjekte – Deutschland mit seinem "ausgeprägten Interesse" voran – an ihnen zu
vollziehen haben. Dabei setzt sich der unbedingte Wille, sich den
Balkan zu unterwerfen, nicht nur großzügig über die
Frage nach dem Realismus der eigenen Projektionen hinweg.
Ausdrücklich bezieht er sich auch auf das Zerstörungswerk,
das der Krieg gerade anrichtet, als positive Grundlage des angemeldeten
Ordnungsbedarfs und trägt sich als "Marshall-Plan für
den Balkan" vor. Ungefähr so, wie die Alliierten seinerzeit
Hitlers Deutschland, so bombt der Westen heute Jugoslawien also nur
deswegen zusammen, um es anschließend wieder "aufbauen" zu können – wenn sie es noch
könnten, würden sich die Herren Morgenthau und Marshall
gemeinsam über diesen Witz totlachen.
Allerdings – bei aller interessierten Ignoranz gegenüber den
Grundlagen ihrer politischen Projekte und bei aller Verlogenheit ihrer
moralischen Zweckbestimmung, die unter der Überschrift 'Aufbau & Hilfe' laufen: Von einer, und zwar einer
absolut unerläßlichen Bedingung für den Erfolg ihres
politischen Engagements wissen die deutschen Strategen der neuen
Balkanordnung schon noch zu berichten, und die hat es in sich:
"Die NATO muß mittel- und langfristig in Südosteuropa
präsent bleiben, ...bei der Friedenserhaltung, aber auch bei der
Friedensschaffung. So wird das Konfliktmanagement der internationalen
Gemeinschaft in den Krisenländern der Region weiterhin darauf
angewiesen sein, Blutvergießen mit der Androhung und – als
letztem Mittel – mit dem Einsatz von Gewalt abzuwenden."
(ebd.)
Erst muß die westliche Allianz Südosteuropa erobern; dann
muß sie ein Besatzungsregime auf Dauer einrichten; und wenn das
alles erledigt ist: dann kann es losgehen mit den 'Civil
Societies', mit denen man dann in "20 bis 40 Jahren"
rechnen darf. Mit dem Verweis auf die allererste und unabdingbare
Bedingung für alle guten Werke, mit denen sie demnächst den
Balkan zu beglücken gedenken, bringen die Autoren des
"Stabilitätspakts" den imperialistischen Gehalt des
Krieges auf den Punkt, den keiner – und schon gar keiner der
vielen Bedenkenträger – entdecken kann: Für Deutschland
und seinen europäischen Anhang ist der Krieg der erste große
Schritt, sich die unumstrittene und unbestreitbare Ordnungskompetenz im
südlichen Europa zu verschaffen. Er ist die genau passende und
schon praktisch vollzogene Konsequenz genau dessen, was Fischer seinem
Publikum so nett als Frage der Entscheidung fürs richtige Ambiente
zum richtigen Wohlfühlen in Europa vorlegt: "Es geht um die
Entscheidung, in welchem Europa wir in Zukunft leben wollen". Das
ist natürlich keine Frage, denn wir haben uns da schon
entschieden. wir wollen nur in einem Europa leben, das unter unserer
Regie steht. Lieber bomben wir da einen Staat in Grund und Boden, als
daß wir einen Falschen regieren lassen, in unserem Europa. Wenn
wir mit dem fertig sind, zimmern wir mit unserem kapitalistischen
Handwerkszeug zusammen, was wir für ein Europa wollen, und weil
das unsere Zukunft ist, lassen wir in dem garantiert nichts entstehen,
was außerhalb unserer Aufsicht liegt! Und weil den Strategen des
deutschen Imperialismus von heute diese Methode der politischen
Zukunftsgestaltung offenbar irgendwie bekannt vorkommt, schreiben sie
in ihren "Stabilitätspakt" auch noch selbst hinein,
woran sie sich aus gutem Grund erinnern. In Form eines Dementi
natürlich, denn ihr Vorgehen hat selbstverständlich "nichts
mit einer 'Balkankonferenz' im Stile des 19.
Jahrhunderts zu tun", und entschieden zurückzuweisen ist die
"unberechtigte Befürchtung" der dortigen Staaten, "zum Objekt
europäischer Ordnungspolitik gemacht zu
werden." Richtig zu differenzieren ist da auch alles andere, was
den Stil der Balkankonferenzen des 21. Jahrhunderts betrifft. Was denn
den militärischen Einmarsch der NATO in den Balkan von Hitler oder
Stalin unterscheide, will Der Spiegel von Fischer wissen, und der
weiß es glatt: "Die Herren wollten imperiale
Einflußpolitik betreiben. Unser Ziel aber ist es, den
südlichen Balkan an das Europa der Integration
heranzuführen." Der Herr von heute macht doch keine
Einflußpolitik mehr. Im Bedarfsfall erzwingt er in einem Winkel
seines Europa mit Waffengewalt die Herrschaft, die nach seinem
Geschmack ist. Dann bittet er die restlichen Führer seines Europa
zum Gipfeltreffen, um sich von ihnen bestätigen zu lassen,
daß seine Methode der Integration südlicher
europäischer Randgebiete Konsens auch aller anderen guten
Europäer ist. Das zeigt, daß er überhaupt keine
imperialen Gelüste hat. Den Rest an diplomatisch wertvoller
Zustimmung bringt dann noch der Segen der Weltgemeinschaft, den ihm der
eigens dazubestellte UN-Generalsekretär erteilt. So geht gutes
Herrschen.
Nur die wichtigste Partei dieser Gemeinschaft hat er nicht so recht auf seiner Seite.
*
Der Präsident der Weltmacht läßt die Pläne
Fischers als ehrenwerte, aber belanglose Fingerübung,
gewissermaßen als Proseminararbeit des deutschen Lehrlings im
Imperialismus-Kolleg einordnen – "nützlicher
Denkansatz" und "Nahrung für Denkspiele" (FAZ,
15.4.) nennt man Fischers Produkt in NATO-Kreisen. Aus gebotenem
Anlaß stellt die Führungsmacht des Westens klar, wie
innerhalb dieses 'wir' die Kompetenzverteilung aussieht
– und die Geführten fügen sich: Schröder
verleugnet die Bedeutung dieser "Initiative" – wenn
es gar kein speziell deutsch-europäischer Vorstoß war, dann
kann der auch nicht blamiert sein; Fischer reklamiert allgemeine
Zustimmung der Verbündeten – die er für die Hauptteile
seiner Vorschläge trivialerweise auch hat, weil es ja die
gemeinsamen Kriegsziele sind. Also: keine Friktionen in der Allianz! So
beugt sich Europa im allgemeinen, Deutschland im besonderen wieder
einmal der bitteren Erfahrung, daß der Krieg die USA an die erste
Stelle rückt und die Partner der USA zu einer Vasallenrolle
verurteilt. Die Weltmacht widmet sich der praktischen Durchführung
des Abschreckungsregimes, auf dem die ganze politische Initiative
Fischers beruht und aufbaut, und treibt die politische Leitung des
Kriegsgeschehens gemäß der Devise voran: "Erstens
muß der Luftkrieg gegen Jugoslawien gewonnen werden"
(NATO-Sprecher Shea, 15.4.), und dann kommt zweitens lange Zeit gar
nichts. Die Eskalation des Krieges auf allen Ebenen – das ist die
Realität zu Fischers Plänen:
– Materiell entsendet die NATO weiteres Gerät nach Albanien
und stockt ihre bereits dort befindlichen Truppen auf; Mitte April sind
bereits 4000 von den insgesamt geplanten zusätzlichen 8000 Mann
vor Ort. Der Einsatz von Kampfhubschraubern und Raketenartillerie gegen
die jugoslawische 3. Armee im Kosovo und andere Bodenziele wird
beschlossen; Fachkenner fragen sich, ob mit diesen
Kampfunterstützungskräften des Heeres nicht "die
Grenzen des Luftkrieges überschritten" (FAZ, 16.4.) werden.
In den USA werden 32000 Reservisten einberufen, um die
Vergrößerung des Luftangriffspotentials um weitere 300
Flieger reibungslos zu bewältigen; unter ihnen vermehrt
Tankflugzeuge, "damit wir in der Luft sind, wann immer wir
wollen, Tag und Nacht" (ein NATO-Sprecher). Zugleich werden in
den USA die "Zweifel am Sinn des Krieges" lauter –
nämlich an der Art, in der er bislang geführt wird. Weil
Milošević zeitgleich mit dem NATO-Krieg aus der Luft im Kosovo
noch immer seinen eigenen führt, vermißt man schon seit
längerem Pläne, "die die serbische Nation etwas mehr
traktieren denn als bloßes Bombenziel" (IHT, 11.4.). Jetzt
avanciert der so früh laut erklärte Verzicht auf den Einsatz
von Bodentruppen zum Grundfehler der westlichen Kriegsführung,
denn er habe Milošević "ein Gefühl eigener
Unverwundbarkeit" (IHT, 14.4.) vermittelt und ihm so die
Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo überhaupt erst möglich
gemacht. Nach deswegen so unglaublich "frustrierenden
dreiwöchigen Luftschlägen" (ebd.) wäre der
Einmarsch mit Bodentruppen nunmehr wirklich der einzig senkrechte "approach" und die einzig "doable mission"
fürs Militär. Um das Kosovo "den Albanern
zurückzugeben".
– Strategisch betreibt die NATO genau das, was sie
Milošević vorwirft: Die Ausweitung des Kriegsschauplatzes.
Albanien wird zur NATO-Etappe, die Regierung überstellt offiziell
ihren Luftraum, alle Häfen und die gesamte Infrastruktur der
Kriegsallianz. Die postiert ihre Truppen im Land natürlich
ausschließlich zu dem strategischen Zweck, "die
humanitäre Hilfe zu intensivieren", währenddessen der
Premierminister des Landes vermeldet, daß "harte
Militärschläge gegen Miloševićs Tyrannei zur Zeit die
größte Hilfe für Albanien" seien. Die
Rot-Kreuz-Spezialisten der NATO lassen sich natürlich nicht bitten
und entwerfen die ersten Szenarien, wie von Albanien aus im
benachbarten Kosovo Brückenköpfe zu errichten wären. Im
strategisch ebenfalls gut gelegenen Nachbarstaat Mazedonien sind zwar
schon Truppen stationiert, doch verweigert die Regierung in Skopje
– bislang noch – von ihrem Boden aus offensive Aktionen
gegen Jugoslawien. Da hat man also noch zu tun. Reibungslos dagegen
verläuft die restliche strategische Einkreisung Serbiens. Kroatien
hat man selbstverständlich auf seiner Seite, Bosnien-Herzegowina
ist man, was die Streitmacht angeht, gewissermaßen selbst. Von
Bulgarien, Rumänien und der Slowakei erhält man Transitrecht
für allerlei humanitäre Korridore, unter anderem auch
für Bomberflotten. Da die ihre Päckchen zwischenzeitlich
recht nah an der ungarischen Grenze abwerfen, wird auch die dort
lebende ungarische Minderheit zusammen mit der Budapester Regierung in
Aufregung versetzt. Freilich ist auch das nur der "Preis der
Humanität", den in diesem Fall das frische NATO-Mitglied
Ungarn zu entrichten hat. So etwas wie eine "verspätete
NATO-Prüfung" (SZ, 20.4.) des Newcomers, der in seinem "Spagat zwischen Bündnistreue und eigenen
Sicherheitsinteressen" (ebd.) endlich beweisen darf, was ihm
wirklich wichtig ist. Eine nette Aufforderung in dieselbe Richtung
ergeht auch vom Alt-Mitglied in Bonn, von wo aus der Kanzler den
unhaltbaren Zustand anspricht, daß durch ungarische Pipelines
angeblich noch immer russisches Erdöl nach Jugoslawien
fließt. Das prompte Dementi aus Ungarn lenkt den Blick dann von
ganz allein auf den einzig noch verbliebenen weißen Flecken im
strategischen Gürtel, den die NATO um ihren Kriegsgegner legt.
Noch immer erhält der Feind kriegswichtigen Nachschub übers
Meer – ein Skandal, der nur über eine Seeblockade zu beheben
ist. Gleich darauf machen die ersten Vorstellungen die Runde, wie man
russischen Tankern das Abdrehen nahelegen könnte. Am besten mit
friedlicher Waffengewalt.
– Was das Kriegsziel betrifft, so hat man sich Mitte April in den
Kreisen der NATO offenbar doch darauf verlegt, das Anspruchsniveau ein
wenig zu erhöhen. Während die Kooperation zwischen NATO und
dem internationalen Tribunal für Kriegsverbrecher zu ersten
– noch inoffiziellen – Ergebnissen kommt, wird an politisch
maßgeblicher Stelle – aber gleichfalls nicht offiziell
– laut darüber nachgedacht, daß die Übernahme des
Kosovo – wie auch immer: nach noch so langem
Zermürbungskrieg, mit oder ohne Bodentruppen – letztlich
nicht alles sein kann. Was immer die NATO dem Tyrannen von Belgrad an
Schäden zufügt, auf welche räumliche Dimension auch
immer sie seinen Machtbereich verkleinert: Er selbst wäre "immer noch an der Macht, als Kleinfürst über ein
belagertes Kleinfürstentum inmitten eines mehr oder weniger
zerstörten Serbien." (NZZ, 17./18.4.) Immer
nachdrücklicher wird der Zweifel geäußert, ob "Milošević ein geeigneter Verhandlungspartner sein
kann" (Kanzler-Berater Steiner, SZ, 20.4.). Schwer die Frage
also, ob man die in Belgrad amtierende Regierung überhaupt noch
als ein politisches Subjekt anerkennen soll – und sei es auch nur
dazu, von ihm die Kapitulation entgegenzunehmen. Ohne einen
tödlichen Schlag gegen das jugoslawische Machtzentrum –
oder, besser noch: gleich gegen Milošević persönlich
– ist ein Ende des Kriegs mittlerweile nicht mehr nur für
mitfiebernde Leserbriefschreiber undenkbar. Fischer überlegt noch
immer, wie er es mit dem Schütteln der Hand halten soll, an der "so viel Blut klebt", da denken andere schon konstruktiv
weiter, freilich schon noch stellvertretend für die offizielle
NATO. "Statt ihre Kräfte mit langwierigen und verlustreichen
Kämpfen in schwierigem Gelände an der Periferie zu
vergeuden", sollte sie sich doch zum einzig richtigen Schritt
entschließen: "Angriff auf Belgrad, vorgetragen mit
mechanisierten Großverbänden von Ungarn, Kroatien und
Bosnien aus durch die Ebene." (NZZ, 17./18.4.) Fulda-gap
andersherum: Das wäre sie doch fast schon wieder, die gute alte
NATO-Vorneverteidigung...
*
Während die NATO ihren Krieg eskaliert, macht ihr Adressat gleich
doppelt in der für ihn typischen Art auf sich aufmerksam. "Serben dringen in Nordalbanien ein", wird am 14.4.
vermeldet. Der Vorgang, der Reporter vor Ort ganz große
Rätsel aufgibt – "steht eine Invasion bevor?" -,
besteht der Sache nach in einer nicht besonders aufregenden, schon gar
nicht umwerfend neuen Routineaktion des laufenden Kriegsgeschehen. Die
serbische Armee bekämpft die UÇK; wenn sie von albanischem Gebiet
aus provoziert wird, auch über die Staatsgrenze hinweg –
eher kein Fall fürs Kapitel 'Greueltaten'. Ebensowenig
wie der Umstand, daß sie an der Grenze Minen verlegt. In
Jugoslawien ist die Eskalation der Debatte um den Einsatz von
Bodentruppen eben auch registriert worden, also bereitet man sich auf
die Abwehr einer Invasion vor. Das allerdings ist ungeheuerlich. Der
Westen spricht von einer "beachtlichen Eskalation" und von
einem "sehr schweren Vorgang" (Clinton). Scharping entdeckt
sogar – schon wieder lacht keiner – einen "Bruch des
Völkerrechts", so daß alle Indizien beisammen sind,
die einen serbischen Versuch zur Ausweitung des Krieges beweisen. So
bereitet man die eigene vor.
Dann die nächste skandalöse Tat: "Die Flüchtlinge
bleiben aus!" Wie schon im Zuge der Belgrader
Osterfest-Initiative zur Dämpfung des Kriegsgeschehens wird die
Fluchtbewegung gestoppt. Und wie damals ist schon wieder die
Unterbindung des Verbrechens ein neues Verbrechen. Denn warum die
Serben das tun, "wissen wir nicht". Im übrigen ist es
uns scheißegal, ob Milošević mit der demonstrativen
Unterlassung seines Hauptverbrechens – Vertreibung zwecks
Völkermord und Destabilisierung der Nachbarländer – auf
uns Eindruck machen will. Wir sind jedenfalls ausschließlich
davon tief beeindruckt, daß dort, wo gestern noch tausende
über die Grenze kamen, heute "unheimliche Stille"
herrscht – und wissen daher sofort, daß das die typische
Heimtücke von Milošević ist. Der kann also denken, planen,
tun und lassen, was er will: er liefert in jedem Fall immer nur weitere
Gründe für seine fällige Entmachtung.
Eine gute Tat ist im Zusammenhang mit den Flüchtlingen noch
besonders zu erwähnen: Deutschland hat sein Kontingent von 10000
Mann, die es bei sich aufnehmen wollte, ausgeschöpft! Allerdings
hat nicht jeder, der eingeflogen wurde, auch aufgenommen werden
können. Denn bei aller Empörung über die ethnischen
Säuberungen im Kosovo: Sauberhalten muß man die eigene
verstaatlichte Ethnie schon auch. Deswegen haben "schwerkriminelle Elemente und kriminelle Albaner aus
Kosovo" (Beckstein) auf unserem Boden nicht einmal in den
Containern etwas verloren, in denen wir den Rest ihrer Verwandschaft
vorübergehend einlagern, und gehören dorthin
zurückverfrachtet, wo ihr natürliches Biotop ist.
*
Mittlerweile häufen sich die Berichte, in denen von
größeren Kollateralschäden der westlichen
Kriegführung die Rede ist. Für nicht so viele wie
Jugoslawien, aber für "etliche Jahre in ihrer Entwicklung
zurückgeworfen" hat der Krieg der NATO nämlich auch die
umliegenden Staaten, und zwar so gut wie alle:
Dem südlichen Nachbarn Albanien wollte zwar schon vor dem Krieg
keiner eine besondere ökonomische Perspektive nachsagen. Jetzt, wo
dieses Gebilde ohne jedes geregelte Staats- und Wirtschaftsleben von
den Westmächten zum Schauplatz ihrer Truppenaufmärsche und
anderer humanitärer Exzesse in Zeltlagern auserkoren ist, machen
sich nicht einmal die verwegensten Trottel vom IWF mehr Illusionen
über die Rückkehr dieses "Armenhauses Europas"
auf den "Wachstumspfad" und diagnostizieren lieber gewisse
Probleme mit einer "Haushaltslage". In Mazedonien leidet
man schon seit längerem unter den Sanktionen, die der Westen gegen
Rest-Jugoslawien verhängt hat. Jetzt addiert sich zu dem bereits
weggefallenen Viertel des gesamten Außenverkehrs noch der Verlust
des Exportgeschäfts hinzu, das mangels Transitmöglichkeit
durch Jugoslawien nicht mehr stattfindet – und schon kann sich
auch Kroatien neben dem herben Rückgang im Geschäft mit
Touristen über den ausbleibenden Billig-Stahl aus Mazedonien
beklagen. Der östliche Nachbar Bulgarien legt zwar Wert auf die
Feststellung, daß es ihm vor allem auf den Wirtschaftsverkehr mit
der EU ankommt. Pech für die "westorientierte
Ausfuhrwirtschaft", daß die NATO-Bomben nicht nur alle
Schienen- und Straßenverbindungen in die bevorzugte
Himmelsrichtung unterbunden, sondern zusammen mit der letzten
Brücke in Novi Sad auch den Schiffsverkehr auf der Donau komplett
zum Erliegen gebracht haben. Pech für den Staat auch deshalb, weil
der Europa-Asien-Transport zu den wichtigeren seiner wenigen
verbliebenen Produktionszweige gehört – "die
bulgarische Wirtschaft rechnet mit monatlichen Verlusten von 260
Millionen Dollar, wenn der Krieg andauert." (FAZ, 9.4) Wenn aus
Rumänien die Befürchtung laut wird, der Krieg könne
womöglich den letzten, doch noch irgendwie investitionsbereiten
Geldanleger vom Aufkauf der letzten noch halbwegs zu privatisierenden
Betriebe abschrecken und darüber den Staatshaushalt um seine
absehbar letzten Einkünfte bringen, so weiß man über
dieses Land auch schon eine Menge. Zu den höflich so titulierten "indirekten" Wirkungen zählen auch noch Fragen des
Klimas, auf das je bekanntlich die Geldmärkte besonders
empfindlich reagieren, so daß "selbst solide Länder
wie Ungarn bereits große Probleme haben, auf den internationalen
Märkten Kapital aufzunehmen" (HB, 3.5.) – was sie aber
in ihrem fest etablierten Status einer Schuldnernation tun müssen,
um weiter "solide" heißen zu dürfen. Daß
schließlich per "indirekter Wirkung" ein
bißchen "Rückfall für die ganze Region"
angesagt ist, liegt daran, daß die beteiligten Staatswesen zwar
nicht so einen prächtigen Binnenmarkt wie die EU unterhalten, aber
auch ein Stück weit von ihrem regionalen Austausch leben, so
daß sie die chirurgisch genauen Schläge der NATO zwar
bestaunen dürfen, aber auch als weitere Unbrauchbarmachung ihrer
eigenen Geschäftsgrundlagen verbuchen müssen. Griechenland
und die Türkei schließlich liegen zwar nicht so nahe am
Kriegsschauplatz; dafür liegt der aber – mitsamt dem
großzügig gesperrten Luftraum darüber – zwischen
ihnen und den Zentren, mit denen sie viel touristische und andere
Geschäfte abwickeln. Allein das reicht schon: "Nach Angaben
des Wirtschaftsministeriums hat die Kosovo-Krise Griechenland bisher
Kosten von rund 1,3 Milliarden DM verursacht." (ebd.)
Ach ja, auch die jungen Demokratien in den Reformländern rings um
Jugoslawien haben im Krieg einiges durchzumachen. Das betrifft nicht
nur die Haltbarkeitsfrage eines Staates wie Mazedonien, in dem
dieselben Ethnien, die sich gleich nebenan an die Gurgel fahren, zu
einem Staatsvolk zusammengewürfelt sind. Aus diesem Staat, aber
auch aus einigen anderen Nachbarländern ist zu hören,
daß es dort um das hohe Gut der demokratischen Konsensfindung
zwischen Regierung und Regierten überhaupt nicht gut bestellt ist.
Da leisten die Regierungen – leicht widerstrebend,
selbstverständlich oder begeistert – den jeweiligen Beitrag,
den die NATO ihnen abverlangt, schließen sich Sanktionen an,
öffnen ihren Luftraum oder stellen ihr Hoheitsgebiet anderweitig
strategisch zur Verfügung – und haben dabei, Polen
ausgenommen, ihr Volk mehrheitlich gegen sich! In einem Land sollen es
sogar bis zu 95% der Bevölkerung sein, die sich weder mit dem
Krieg der NATO noch mit der Parteinahme der eigenen Nation für ihn
einverstanden geben, was aber selbstverständlich auf die
maßgeblichen 0,01‰ der Bevölkerung in dieser wie in
den übrigen Demokratien nicht besonders Eindruck macht. Wenn die
alterprobten Mutterländer der Demokratie ihren Krieg führen,
wissen alle guten jungen Demokraten nämlich augenblicklich, was
von ihnen verlangt ist, und entsprechend walten sie ihres Amtes.
Selbstverständlich ohne vorher ihre geschätzten Völker
um Entscheidungshilfe zu bitten. Die haben dafür hinterher die
Freiheit, sich zu denken, was sie wollen.
Doch selbstverständlich gibt es auch gute Nachrichten. In Albanien
holt die UÇK immerhin auch viel arbeitslose Jugend von der
Straße; ganz neu aufgezogen wird der Geschäftszweig namens
Truppenbetreuung, die bekannten Banden stellen sich, wie man hört,
schon auf ihn um und schaffen im Handel mit Prostituierten viele neue
Arbeitsplätze für weibliche Flüchtlinge; außerdem
gibt es endlich ordentlich asfaltierte Straßen und
Aufmarschplätze, die das Land behalten darf. Neben Ländern,
die vom Krieg gar nicht betroffen sind – Slowenien, das ja schon
gar nicht mehr auf dem Balkan ist, und Bosnien-Herzegowina, wenn man
einmal von der serbischen Teilrepublik absieht –, gibt es auch
solche, in denen westliche Wirtschaftshilfe schon unterwegs ist. Der
Staatssekretär Kolbow (SPD) hat sich beispielsweise schon "Zugang zum regelmäßig tagenden Krisenstab der
makedonischen Regierung verschafft" (FAZ, 17.4.). Das ist der
allererste riesige Schritt hin zu "Investitionen in
Mazedonien", freilich auch nur der Auftakt für ein
naturgemäß furchtbar langfristiges Projekt, so daß die
Caritas vorübergehend einspringt und für Wachstum in
Mazedonien sorgt: "Um nach Möglichkeit Neid und dem Abbau
von Spannungen vorzubeugen", verteilt sie "Hilfsgüter
auch an arme slawische Mazedonier." Und dann ist da noch diese
humanitäre Schenkung, mit der schon wieder Deutschland angenehm
auf sich aufmerksam macht. Wie man erfährt, war an der alten DDR
keineswegs alles grundverkehrt, denn auf dem Posten, mit dem die
Hungerstaaten Albanien und Mazedonien auf deutschen Konten in der
Kreide stehen, finden sich doch glatt – neben vielen anderen,
versteht sich – "DDR-Altschulden". 13 Mio. im ersten,
17 Mio. im zweiten Fall, und weil die Albaner so arm sind, wollen die
Deutschen ihnen diese Schulden doch tatsächlich erlassen! Und den
Dienst an den übrigen Schulden glatt stunden! Doch irgendwo hat
jede Großherzigkeit ihre Grenzen, und weil Mazedonien doch nicht
ganz so arm ist, bekommt es die Zinsdienste an DDR-Schulden nur
gestundet. Für beide zusammen ergibt das Moratorium eine Schenkung
im Wert von exakt 8 HARM-Raketen.
*
Geld spielt natürlich auch im Rest Europas eine Rolle. Das
kriegerische Engagement hindert die beteiligten Staaten sowie ihre
interessierte Öffentlichkeit aus den Abteilungen Wirtschaft und
Wissenschaft nicht daran, schon jetzt in die sorgenvolle Be- und
Hochrechnung der Kriegskosten einzusteigen. Nach gut drei Wochen Krieg
werden allein die Kosten für Deutschland zwischen 1,2 und 3
Milliarden DM taxiert. Die Schäden in Rest-Jugoslawien belaufen
sich auf 13, 24 oder 180 Milliarden DM, je nach Quelle und
Berechnungsweise, und die Kosten, die auf die nationalen und die
EU-Haushalte durch den Kreditbedarf der ruinierten Anrainerstaaten
zukommen, gelten als derzeit nicht abschätzbar, in jedem Fall aber
als "gigantisch". Nicht ganz billig also das Ideal eines
europäisch-gemeinsam stabilisierten Südosteuropa. Die Rolle
eher untergeordneter Mit-Macher im NATO-Krieg kostet seine Betreiber
jetzt schon einiges, und es kostet sie etliches mehr, wenn sie im
nachfolgenden Frieden mit ihrem famosen Euro-Kredit ihre
Weisungskompetenzen auf ihrem Balkan praktisch wahrnehmen. Da
können sie dann bei der lokalen Elendsverwaltung und der
militärischen Aufsicht über die im Krieg aufgemischten
Armenhaus-Protektorate noch so sehr "sparen" wollen und auf "Stabilität" ihres Euro achten: Die weltweit
tätigen Finanzprofis jedenfalls haben von den monetären
Konsequenzen des imperialistischen Großprojekts ihre eigene
Auffassung. Wenn sie aktuell und langfristig die Finanzmärkte
durch den Krieg "gefährdet" sehen und den Euro
gegenüber dem Dollar "geschwächt" – weil "die Bezahlung des Friedens" wohl eher den Europäern
zur Last fallen werde und die Unruhe doch "eher im
europäischen Hinterhof" stattfinde –, dazu noch einen
handfesten Streit zwischen den USA und Europa um die derzeit noch
hauptsächlich von den Amerikanern vorgeschossenen Kosten des
Krieges erwarten, ahnen sie "hard budgetary times" (IHT,
17./18.4.) für Europa – und tragen ihrer Ahnung vorsorglich
dadurch Rechnung, daß sie für den Euro zeitweilig nur mehr $
1.05 hergeben.
Verteidigungsminister Scharping, von Amts wegen noch mit der
Führung des Krieges befaßt, hält allen Berechnungen
entgegen, daß "jetzt nicht die Zeit sei, über Zahlen
zu sprechen" (SZ, 14.4.). Damit liegt er richtig. Er weiß
genau, daß dann, wenn es erst einmal zu zwischenstaatlichen
Tätlichkeiten kommt, der kleinkrämerische Standpunkt des
Geldes keine Gültigkeit mehr hat, Kriege also viel zu gewichtige
Staatsanliegen sind, um ihre Führung von der Frage ihrer
Finanzierung abhängig zu machen. Freilich weiß er auch,
daß man sich die Mittel fürs Kriegführen auch leisten
können muß, der Krieg, der keine Finanzierungsfrage sein
darf, eben doch auch eine einzige Frage seiner Finanzierung ist.
Über "Zahlen" spricht Scharping daher lieber
später, dann nämlich, wenn der erste Krieg gewonnen ist und
die nächsten vorzubereiten sind. Als Planziffern seines Budgets
– von dem er jetzt schon weiß, daß es "massiv"
erhöht werden wird – haben die Kosten
des Krieges, die gar keine sein dürfen, dann die ihnen angemessene
Form: Der kapitalistische Ausnahmefall Krieg wird zur Routine der
Haushaltsführung; als ein Posten unter vielen anderen im Haushalt
verbucht, sind seine Kosten so normal wie alle anderen, für die
der Staat die Produzenten des Reichtums zur Kasse bittet. Daß der
ausnahmsweise nicht zum Zweck seiner Vermehrung einkassiert, sondern
zweckmäßig vernichtet werden soll, schafft dann die
folgenden, aber auch ganz gewöhnlichen "Haushaltsprobleme", die
mit der gleichfalls bekannten "Gegenfinanzierung" zu lösen sind.
*
In der vierten Kriegswoche ist dann ein richtig klassischer
Kollateralschaden zu verzeichnen: 75 Tote und 26 Schwerverletzte
bleiben nach dem Bombardement eines Flüchtlingstrecks zurück.
Solches konnte bei dem von der NATO mit "großer Geduld und
langem Atem" (General Wilby) durchgeführten Projekt, die
serbische Militärmacht aus der Luft zu zerschlagen, gar nicht
ausbleiben. Zu diesem Projekt nämlich gehört zu diesem
Zeitpunkt schon längst, nicht nur die militärischen Einheiten
zu zerstören. Auch die Kasernen, in denen sie wohnen; die
Raffinerien, aus denen sie mit Treibstoff versorgt werden; die
Brücken, über die sie fahren; die Fabriken, die sie mit
Fahrzeugen, Tabak und Schnaps beliefern; die Straßen, auf denen
diese Lieferungen unterwegs sind; die Behörden, die sie und den
Rest des im Krieg befindlichen Landes dirigieren; die
Telekommunikationsanlagen, die sie dafür benutzen: das alles steht
mit auf der Abschußliste. Aus militärischer Sicht ist das
ganze Land mit dem gesamten sachlichen und menschlichen Inventar, das
im jugoslawischen Staatswesen seinen funktionellen und damit
kriegswichtigen Platz hat, ein zweckmäßiges Ziel der
NATO-Bomben – überhaupt haben die Flächenbombardements
der jüngeren Kriegsgeschichte von Dresden bis Haiphong ja gezeigt,
daß ab der Eröffnung eines Krieges eigentlich gar keine
Bombe auf das gegnerische Land danebengehen kann.
Nur hält die NATO auch nach mehrwöchigen Luftangriffen
erstens an der Sprachregelung fest, es sei gar kein Krieg, der da unten
stattfinde – "dies ist kein Krieg. Es geht nicht darum, ein
Land zu besiegen. Dies ist eine Operation mit militärischem
Charakter zur Erreichung politischer Ziele." (Solana, El
País, 23.4.) Zweitens legt sie daher ungebrochen Wert auf den
– dank ihrer waffentechnischen Überlegenheit billig zu
habenden – Schein, mittels "chirurgischer
Schläge" ein "verbrecherisches Regime" seiner
Mittel zur Drangsalierung der Kosovaren zu berauben. Wenn dann drittens
Marschflugkörper, Laserbomben und Stealth-Bomber mit ihrer
"smarten" High-Tech-Sprengkraft ihre Ziele im engeren Sinn
verfehlen; wenn sie Wohngebiete oder Eisenbahnzüge des Feindvolkes
flachlegen oder gar einen Flüchtlingstreck der humanitär
adoptierten Kosovaren treffen – dann riecht das allerdings schon
ein wenig nach Krieg und paßt so gar nicht gut zusammen mit dem
schönen Bild vom Bombardieren für einen guten Zweck. Also
will diese unerwünschte Nebenwirkung bewältigt sein, und die
NATO stellt klar, wer für solche Vorkommnisse die Verantwortung
trägt. Es war gar kein Flüchtlingstreck, den sie
bombardierte: "Die Nato beharrte zunächst darauf, nur einen
Militärkonvoi beschossen zu haben. Das Pentagon verbreitete
Berichte, daß Militärs herausgesprungen seien und Zivilisten
angegriffen hätten". Vielmehr waren es die Serben, die einen
Flüchtlingstreck bombardierten: "Der deutsche
Verteidigungsminister Scharping behauptete, serbische Artillerie habe
das Feuer auf die Flüchtlinge eröffnet, um so die Nato
beschuldigen zu können" (SZ, 16.4.). Es war jedenfalls nicht
die NATO – was ganz viele Augenzeugen bestätigen, die
– wenn etwas, dann: – serbische Tiefflieger gesehen haben.
Es war bestenfalls etwas vollkommen anderes – was ein
US-Fliegeroffizier zu verstehen gibt, der die versammelte Weltpresse
auf ihre Fragen nach dem Angriff auf den Konvoi hin stundenlang mit
Videos über seinen Angriff auf zwei Traktoren in einer ganz
anderen Gegend unterhält. Dann war da vielleicht doch was: Am 15.
April kommt ein halbes, bewußt unklares "Geständnis", man
habe versehentlich "ein
ziviles Fahrzeug getroffen". Wenn etwas war, dann jedenfalls
etwas überhaupt nicht Verwerfliches: Es könnten sich "im oder
um den Konvoi herum serbische Polizei- oder
Militärfahrzeuge befunden haben. Die Allianz betonte, es handele
sich um vorläufige Ergebnisse ihrer Untersuchung, die
weitergehe." (SZ, ebd.) Am 16.4. weist die NATO "die
Verantwortung für den Tod von 75 Flüchtlingen
zurück" (SZ, 17./18.4.), am 19. April lanciert sie,
daß Serben die Szene manipuliert hätten (SZ, 20.4.) –
was Reporter des El País und des Independent, die während
der Angriffe vor Ort waren, definitiv ausschließen –,
räumt dann ein, daß bei dem Einsatz am fraglichen Tag
"möglicherweise Zivilisten ums Leben gekommen seien",
läßt aber "bestreiten, daß bei dem Einsatz etwas
schief gelaufen sei." (SZ, 20.4.) Tags darauf "vollendet" sie "mit
einem wahren Bombardement von
Grafiken, Video-Ausschnitten und militärischen Abkürzungen
das Nachrichtenwirrwarr." (SZ, 21.4.) So funktioniert der Dialog
zwischen der NATO und Bedenkenträgern, die in einem beschossenen
Flüchtlingstreck ohnehin nicht die Leichen, sondern in den Leichen
"nicht weniger als die Glaubwürdigkeit der Nordatlantischen
Verteidigungsallianz" (SZ, 21.4.) am Boden liegen sehen. Wenn die
am Ort der Bombardierung amerikanisch beschriftete Bombentrümmer
herumliegen sehen, lassen sie geradezu flehentliche Töne
hören, die Propaganda-Abteilung der NATO möchte doch noch
mehr dafür tun, um bei ihnen und dem Rest der Welt den Glauben ans
Gute der NATO zu retten:
"Nein, ich gehe nicht davon aus, daß die Straße des
Todes und ihre schrecklichen Leichname eine Bedrohung für die
Propaganda der Nato darstellen, wohl aber für ihre Moralität.
Die Allianz sagt uns unablässig, sie repräsentiere 'uns', die Guten, die Moralischen, die Anständigen,
und daß wir gegen Lüge und Mord stünden. Also muß
die Nato auch auf die Anklagen antworten, um unser aller willen."
(aus einer Reportage des Independent, El País, 18.4.)
Und mit dieser solidarischen Sorge kommen die westlichen
Öffentlichkeitsarbeiter bei ihrem Kollegen im NATO-Dienst genau an
den Richtigen. Den Antrag auf Bestätigung, daß man zum
richtigen Lager gehört und deshalb auch eine letztlich
unanfechtbar korrekte Sichtweise von der Führung dieses Lagers
verlangen kann, erledigt Mr. Call-me-Jamie souverän. Mit
detailreiche Ausführungen bringt dieser Schmierlappen ihnen die
Schwierigkeiten der Zielerfassung nahe, wenn jugoslawisches
Militär sich immer in der Nähe ziviler Einrichtungen
aufhält, das Wetter schlecht ist oder "unsere Jungs"
wegen der serbischen Abwehr aus großer Höhe bomben
müssen. Das ist die einfach beste Art, den Glauben an die
humanitäre Qualität der NATO-Einsätze angesichts der
Leichen, die sie zurücklassen, zu bekräftigen: Man verwickelt
Wankelmütige in eine öffentliche Debatte um die
Schwierigkeiten, die man dabei hat. Dabei weiß der Chef-Sprecher
auch noch den Ernst der Lage immer mit passenden Scherzen aus dem
anglo-amerikanischen Kasinomilieu aufzulockern – und die
versammelten Journalisten quittieren mit Glucksen, wenn er ihnen
von
der hoffnungslosen Unterlegenheit des Gegners berichtet und davon,
daß in Jugoslawien das Licht ausgeht, wenn die NATO es
"ausknipst". Auf diese Tour verpflichtet er die ohnehin
nicht Widerstrebenden auf den gemeinsamen Standpunkt der erfolgreichen
Kriegsführung und versäumt es dabei nie, bei jeder sich
bietenden Gelegenheit gegen den Feind zu hetzen: Der muß sich bei
seinen Taten ja von niemandem befragen lassen, so daß es neben
den vereinzelten Fehlern der NATO – die man durchaus
einräumt – vor allem dessen Greueltaten sind, die die freien
Journalistenkollegen aufzudecken haben. Das finden die Kollegen dann
"wacker", wie Jamie sich da schlägt, "professionell" sowieso,
irgendwie sogar "heldenhaft" (SZ, 20. und 21.4.).
Die Botschaft, auf die es ankommt, versteht man mit diesem "Wirrwarr", in das sie eingepackt ist, also ausgezeichnet:
Grundsätzlich will die NATO in Sachen 'Kollateralschaden:
Flüchtlingstreck' mitgeteilt haben, daß Blutbäder
dieses Kalibers ausschließlich den Serben zuzutrauen sind. Wenn
es aber doch ein "mishit" der NATO gewesen sein sollte,
sind die Serben trotzdem an den Toten schuld, weil sie sich als "legitime Ziele" in der Nähe der Flüchtlinge
aufgehalten haben. Und wenn auch das nicht der Fall sein sollte,
"tragen für die Umstände des Vorfalls Jugoslawiens
Präsident Slobodan Milošević und seine Polizei die volle
Verantwortung... Ohne Herrn Milošević gäbe es keine
Verbrechen, keine Bomben, keine Toten." (Kevin Bacon, Sprecher
des US-Verteidigungsministeriums, Der Spiegel, 19.4.)
Die gnadenlos kritische Öffentlichkeit, die voller Stolz
verkündet, daß sie "bei jeder Bombe, die danebengeht,
sofort die Legitimationsfrage" aufwirft, bekommt von der NATO
also, wonach sie verlangt – nämlich die unverwüstlich "guten Motive" mitgeteilt, die NATO-Menschenrechtsbomben
nun einmal haben. Wenn so feststeht, daß jeder tote Zivilist
– ob Serbe oder Kosovar – auf ein und denselben
Übeltäter Milošević verweist, dann steht auch die NATO
als der wahre Leidtragende der Opfer fest, die sie schafft, und
muß
"als Politik, die das Recht auf ihrer Seite weiß, ... mit
der Spannung zwischen guten Motiven und üblen Schäden
fertigwerden – auch in solchen Extremfällen, wo es Menschen
trifft, die geschützt werden sollen." (SZ, 21.4.)
Und dann kann sich das öffentliche Mitgefühl vollständig
denen zuwenden, denen der entgleiste Präzisionskrieg am meisten zu
schaffen macht: den Politikern und Militärs, die auf die Frage, ob
ihnen nicht bald "die Bombenziele" ausgingen, kühl mit
dem Hinweis auf den Umfang der abzuarbeitenden Ziellisten antworten.
Dem Vernehmen nach sind die nämlich dazu verurteilt, "rat-
und willenlos weiterzubomben", und zwar durch eine Heimtücke
von Milošević, dem "Taktiker". Ursprünglich
nämlich hatte sich die NATO absichtsvoll weit "entfernt von
Wohngebieten und anderen zivilen Einrichtungen" gehalten.
"Doch statt sich, wie von den Bündnismilitärs geplant,
Schritt für Schritt zur Vernunft bomben zu lassen, zwang der
Taktiker Milošević dem Westen sein Gesetz des Handelns auf. Er
griff zu (...) einer beispiellosen Vertreibungskampagne. Die Bilder von
panischen Flüchtlingen ... Morden und Vergewaltigungen...
serbische Soldateska... zwangen die NATO zum strategischen
Umschwenken... die Bombenplaner erweiterten weit eher als geplant ihre
Ziellisten. Nun gerieten auch Industrieanlagen, Ministerien und
Kasernen ins Visier, die nahe an oder sogar in Wohnquartieren lagen.
Das erhöhte drastisch die Gefahr von
Kollateralschäden." (Der Spiegel, 19.4.)
Dieses absurde Bild von der NATO im Zwangsgriff des Serben, der seine
Kosovaren vertreibt, um den Westen schnellstmöglich auch zur
Zerstörung ziviler Ziele zu "zwingen", steht dann
gleich neben anderen Artikeln, die fachkennerisch das sehr funktionelle
Zusammenwirken von planvoll ausgeweitetem Luftkrieg einerseits und
diversen zur Auswahl stehenden Bodenkriegs-Szenarien andererseits
besprechen – so schützt man die Vernichtungstätigkeit
des Freiheits- und Ordnungsbündnisses, die in ihrem
gewöhnlichen kriegsmäßigen Verlauf ihre Opfer fordert,
vor Kollateralschäden an der humanitären Moral, in deren
Namen es unterwegs ist.
Treffer gegen "militärische Ziele" gehen also in
Ordnung, egal, was sie treffen, weshalb es sich die Öffentlichkeit
im Zuge der Abarbeitung der toten Flüchtlinge zunehmend
einleuchten läßt, daß es viel mehr Militärisches
im Zivilen zu bombardieren gibt, als man sich das laienhaft so gedacht
hatte. Recht gelassen schon verfolgt man inzwischen die Zerstörung
von Brücken, Kraftwerken, Raffinerien und Fernsehsendern –
wenn dabei Zivilisten zu Tode kommen, hält sich die Kritik an der
Treffsicherheit des westlichen Raketenfeuers sehr in Grenzen, die zu
Beginn des Krieges noch dessen "Sauberkeit" vor Augen
stellen sollte. Die wachsende Zahl der zivilen Opfer lehrt eben
Realismus – und provoziert die entsprechenden Stellungnahmen von
Leuten, denen man noch nie etwas vormachen konnte: Die "tragischen"
– also irgendwie
schicksalhaft-unausweichlichen – Vorkommnisse "machen
Selbstverständliches und gern Verdrängtes drastisch deutlich:
'Chirurgische' Präzision gibt es im Krieg niemals zu
100 Prozent." (SZ, 17.4.) Überhaupt zeigen sie, daß
die "chirurgischen Angriffe ein Mythos sind" (ein
pensionierter US-General, Der Spiegel, 19.4.) und diese weisen
Einsichten sind natürlich schon wieder Steilvorlagen für die
NATO-Sprecher. Ein "Wunder" sei es geradezu, daß "so etwas" wie
die Bombardierung des Flüchtlingstrecks "nicht schon früher
passiert" sei, gar kein Wunder ist
es also, daß die "Intensivierung der Luftangriffe
unweigerlich zum Verlust weiterer Leben von unschuldigen Menschen
führen" werde (ebd.). Obwohl sich die NATO bei der
Verwüstung Jugoslawiens einer in militärischer Hinsicht schon
fast nicht mehr verantwortbaren Zurückhaltung befleißigt: Es
sei "sogar mehrfach vorgekommen, daß Flugzeuge mit der
ganzen Bombenlast zu ihrem Stützpunkt zurückkehrten, weil das
Ziel wegen schlechter Wetterlage nicht klar genug zu identifizieren
war" (Bundeswehr-Oberst Schelzig, ebd.), Generalsekretär
Solana bietet zum selben Sachverhalt nicht nur "mehrfach",
sondern sogar "muchas veces" an, und Scharping
schießt wie immer mit einer Quote von "über 50
Prozent" den humanitären Vogel ab.
Soweit Nebenschäden an der Glaubwürdigkeit der
Nato-Propaganda immer noch nicht ausgeräumt sind, findet deren
Reparatur im übrigen praktisch statt: Mit der punktgenauen
Zerstörung von Parteigebäude und Privatvilla des Belgrader
Verbrechers macht die NATO-Luftwaffe ihre Fehlwürfe wieder gut.
Ganz praktisch betreibt das Bündnis so die Saddam-Husseinisierung
von Milošević und wird sich mit ihrer Öffentlichkeit wieder
von Herzen einig: "Die Schlinge um den Tyrannen zieht sich
enger." Ein schönes Angebot an eine Öffentlichkeit, die
die Eskalation des Krieges natürlich mitbekommt und sich so ihre
kritischen Gedanken macht – nach wie vor mit Vorliebe in Richtung "Tyrannenmord". Die moralische Ächtung des Regimes
treibt neue Blüten, auch offiziell und praktisch mit der Sammlung
von Material fürs Kriegsverbrecher-Tribunal. Die Bundesregierung
steigert sich dabei so fanatisch in die Anschuldigungen des Kollegen in
Belgrad als verbrecherischer Wiedergänger Hitlers hinein,
daß die konservative Opposition sich immer wieder veranlaßt
sieht, zu Mäßigung und "kühlem Kopf" zu
raten. Offenbar hat sie den Eindruck, daß die rot-grüne
Mannschaft das übliche und funktionelle Maß an Denunziation
überschreitet: Am Ende braucht man für Jugoslawiens
Kapitulation doch noch einen Milošević.
*
Am Rande des Krieges sorgt eine Meldung für Irritationen. Noch
wenige Tage vor dem Start der ersten NATO-Bomber heißt es in
einem "Lagebericht" des Auswärtigen Amtes:
"Kosovo-Albaner unterliegen bei ihrer Rückkehr ins
Heimatland weiterhin keiner Gruppenverfolgung. Die schwierige
humanitäre Situation hat sich etwas entspannt. Die
Wahrscheinlichkeit massiver staatlicher Repressionen ist insgesamt als
gering einzuschätzen" (FR, 30.4.).
Geschrieben am 17. März, etwa zur Eröffnung von Rambouillet
II, eine Woche vor Beginn der militärischen Handlungen; nun, am
29. April zieht das Amt den Bericht als "nicht mehr
adäquat" aus dem Verkehr. Verspätete Korrektur einer "Fehleinschätzung", die einigen Albanern das Leben
kostete, wie Kritiker mutmaßen? Keineswegs. Die erste Berechnung,
die hiesige Flüchtlingspolitik mit anklopfenden Untertanen fremder
Nationen anstellt und je nach Ausgang über "Schicksale" entscheidet, wird – vorübergehend
– durch eine zweite ersetzt, und beide gehorchen derselben
Maxime: Die Regel der Abweisung wie die Ausnahme der Aufnahme von
Flüchtlingen haben unseren Interessen zu dienen.
Die entlarvende Absicht der Veröffentlichung des Papiers wird von
Staatsminister Volmer unterlaufen, indem er den gemeinen Verdacht
augenzwinkernd einfach bestätigt: Ja, die Einschätzung "entsprach nicht der empirischen Wahrheit, sondern war aus
innenpolitischen Gründen von der alten Regierung so verfaßt
worden". Was bisher bloß Zyniker behaupteten, kann er mit
berufenem Munde nur beglaubigen: Die Einschätzung der "Menschenrechtslage" in aller Herren Länder und der
daraus folgende Umgang mit Asylanträgen richtet sich nach der
politischen Absicht, wonach denn sonst. Daß landeskundige Beamte
erst die Bleihaltigkeit der Luft, die Zahl der Verhaftungen ohne
Haftbefehl, die Foltergewohnheiten, die Länge der
Flüchtlingsströme, etc. "analysierten", um dann
eine Rangliste mehr oder minder schurkischer Staatsgewalten zu
erstellen, deren Opfer unseres Schutzes bedürften: Das ist eine
gepflegte Legende für naive Gemüter, die sich zwar herrlich
zur Begründung praktizierter Flüchtlingspolitik eignet, auch
zur Verwechslung des deutschen Imperialismus mit einem
Wohltätigkeitsverein, die Entscheidung über Aufnahme oder
Abschiebung geht freilich genau andersherum.
"Vor Asylgerichten sind die Lageberichte des Auswärtigen
Amtes so etwas wie eine Bibel" (FR) – und deren 1. Gebot
lautet dogmatisch: Du sollst ablehnen! Ausländer kann Deutschland
keine gebrauchen. Die, die schon hier sind, sind uns schon zu viel.
Die, die noch rein wollen, werden durch einen Ring "sicherer
Drittländer" abgeschirmt oder aus der Oder gefischt. Die,
die trotzdem kommen, werden von Asylrichtern sortiert. Hergelaufene
Hungerleider, die in ihren nationalen Armenhäusern nicht noch
massenhafter Treibjagd unterliegen, sind sowieso nur
"Wirtschaftsflüchtlinge"; ihre "Rückkehr" wird nicht nur
befürwortet, sondern
staatlich betrieben. Bleibt der kleine Rest, bei dem wir die
Möglichkeit übertriebener "staatlicher
Repression" in Betracht ziehen. Wieviele davon Asyl erhalten,
hängt von den zitierten "innenpolitischen
Gründen" ab: Die Nachfrage nach verfolgten Gästen aus
anderen Kulturkreisen pendelt z. Zt. bekanntlich um die 3% des
Angebots. Welchen erlesenen Volksgruppen dieses Privileg zukommt, hat
mit persönlichen Notlagen oder der Heftigkeit des heimischen
Staatsterrors jedenfalls nichts zu tun – und ist bei diesen
Besucherzahlen fast schon egal. Die Zeiten, als die "Bibel"
des Auswärtigen Amtes fremden Herrschaften durch die Blume des
Asylrechts ein diplomatisches Urteil über deren
"Rechtmäßigkeit" mitteilte, sind passé;
heute ist im Grunde jeder Asylant einer zuviel. Selbst den
Kosovo-Albanern hat es ja nichts genutzt, daß sie vor der Knute
eines erklärten Hauptfeindes des Westens flohen, dem die NATO seit
Oktober ’98 mit Krieg droht.
Denn natürlich haben die Experten der alten und neuen Regierung
gewußt, daß die serbische Obrigkeit ernsthaft mit
Vertreibung aus dem Kosovo und die NATO in Rambouillet ultimativ mit
Bomben auf ganz Jugoslawien droht – nur ist das kein triftiger
Grund, Leuten, die wir in unserem zivilen Alltag am liebsten von hinten
sehen, eine Dauerkarte im Asylantencontainer zu spendieren; deshalb
wurde die "Einschätzung der Lage", deren schöne
Tradition rot-grüne Friedenspolitiker gewohnheitsmäßig
fortführten, kurz vor Ultimo erneuert. Widersinnig erscheint der "Bericht" – von ethnischen Säuberungen keine
Spur – sowieso nur aus rückwärtiger Ansicht. Dabei
fällt die Erklärung für die scheinbare Ignoranz,
Menschen in eine Gegend zurückzuschicken, wo sie gleich zwei Mal
Krieg erwartet, so einfach wie brutal aus: Das nationale Dogma vom "vollen Boot", das fremdrassige Passagiere nur schwer
aushält, war eben höherrangig als das kleinliche Bedenk, die
Abgeschobenen womöglich ihrem Henker ausgeliefert zu haben;
für den Fall wissen wir halt erst Ende April, was Milošević "seit Januar planvoll betreibt" (Fischer). Ohne das
berechnende Mitleid, das die Kosovaren sich heute durch ihre Rolle als
ohnmächtige Opfer des Kriegsgegners verdienen, ist dieses
völkische Kollektiv nämlich auch nichts anderes als die
übrige Ausländerschar: Ein Haufen Bittsteller, darin eine
ständige Gefahr für das Boot Deutschland, die es
einzudämmen und zu verkleinern gilt. Von wegen also:
menschenverachtende "Ignoranz". So geht
Flüchtlingspolitik in Friedenszeiten.
Jetzt ist Krieg. Und da bricht sich die alte Heuchelei – wir
versenden überzählige Menschenmassen gewissenhaft nur in "sichere Gegenden mit entspannter humanitärer
Situation" – mit der zweiten, aktuellen Verlogenheit, die
den NATO-Krieg seit der ersten Rakete unvermeidlich begleitet: Wir
bomben zwecks "Vermeidung der humanitären Katastrofe, der
Genozid muß gestoppt werden". Also wird die erste Lüge
– "keine Gruppenverfolgung im Kosovo" – aus dem
Verkehr gezogen. Einstweilen.
Serbien vertreibt seine Albaner, der Westen bestreitet ihm das Recht
dazu. Da lautet das 2. Gebot: Du sollst die Opfer deines Feindes an die
große Glocke hängen! Das allerdings zieht einen kleinen
Folgeschaden nach sich. Zur Beglaubigung des eigenen humanitären
Engagements muß man nämlich einige der Opfer bei sich
aufnehmen, und dabei kann man nicht vorsichtig genug sein: Während
Volmers und Schilys Kollegen von der militärischen Front die
Gruppenverfolgung serbischer Uniformträger und deren Infrastruktur
in Angriff nehmen und dabei nur eine schlechte Bedingung kennen, die
sie bremst – das Wetter –, steht der Materialeinsatz an der
humanitären Front, die Betreuung des "unendlichen
Leids", unter jeder Menge Konditionen. Das liegt am politischen
Zweck der Aktion. Die Fürsorge gilt eben einer Spezies Mensch,
für die auch unter widrigsten Umständen gilt: Der
Flüchtling ist und bleibt eine Last, seine Aufnahme eine Gunst,
deren Gewähr wir unter vielerlei aufschlußreiche Vorbehalte
stellen.
Erstens nehmen wir 10000 Flüchtlinge auf – und keinen
müden Kosovaren mehr. Die Kontingente, die gewissenhafte
Schreibtischtäter in Bonn bewilligen, wachsen keineswegs mit dem "endlosen Exodus", den Miloševićs Soldaten
produzieren; die täglichen Nachrichten melden keine "bislang
heftigsten Luftbrücken, die Vertriebene nach Duisburg und Sylt
bringen". Zu Recht: Das soll ja auch der Sonderfall bleiben. Also
werden sie in den Camps säuberlich aufgeteilt in die Masse, die "ortsnah" auf ihre wohlverdiente Re-Deportation in eine
verwüstete Heimat warten darf, und eine Minderheit, die wir
unrasiert und fern der Heimat in jene Auffanglager tun, die der "Asylkompromiß" von ’94 sukzessive
entvölkert hat.
Das hat zweitens kontrolliert zu passieren. "Wilde
Zuwanderung" können Freunde der Planwirtschaft wie unser
sozialdemokratischer Innenminister weder leiden noch dulden: Alles, was
über das Zehntausender-Pack hinaus den Weg findet und heimlich bei
Verwandten unterschlüpft statt sich registrieren zu lassen, macht
sich verdächtig: Für den Aufbau "mafiöser
Strukturen", denen der Albaner und seine Sippschaft bekanntlich
zuneigt, lassen wir unser offenes Haus nicht mißbrauchen.
Drittens muß es dabei gerecht zugehen. Die "Lastenverteilung", die allen Herbergsvätern in Europa
und Übersee sofort einfällt, ist geradezu ein Gebot der
Menschlichkeit. Nicht nur, daß sie den Flüchtenden sofort
ihre schönsten Plätze wie Guantanamo Bay, Zirndorf oder die
australische Wüste anbieten, sie lassen ihre Hilfsbereitschaft
sogar von der Zuvorkommenheit anderer anstacheln. Vorbildlich erneut
der Deutsche: "Schily gegen Aufnahme weiterer
Flüchtlinge" (SZ, 30.4.) – zufällig der gleiche
Tag, an dem der alte "Kosovo-Bericht" eingestampft wird
–, "erst müssen die anderen europäischen
Länder ihre Schuldigkeit tun"; etwas später: "Bonn nimmt weitere 10000 Flüchtlinge auf" (7.5.),
verbunden mit dem weisen Junktim, "5000 Vertriebene sofort und
weitere 5000 dann aufzunehmen, wenn die anderen ihre Aufnahmezusagen
erfüllt hätten".
Denn das darf man viertens nie vergessen: Flüchtlinge sind Kosten.
"1000 bis 1500 Mark pro Monat", das kann sich fix zu einer "Belastung
des Haushalts in Milliardenhöhe"
(Beckstein, bayerischer Innenminister) addieren: Eine unvorstellbare
Summe, nicht zuletzt angesichts der Kosten für den NATO-Einsatz,
die einen gewaltigen Nachtragshaushalt erfordern – da muß
sich das Futter für das menschliche Strandgut des Krieges schon
extra rechtfertigen; z. B. dadurch, daß "die deutsche
Hauptlast" auf die alliierte Kriegskasse angerechnet wird.
Fünftens sollen die Eingeflogenen die Heimatfront bei Laune
halten. Wo die Idealisten von Hilfe langsam an der Glaubwürdigkeit
des angegebenen Kriegsziels zweifeln ("verzweifelten Menschen
helfen") – statt endlich nicht mehr an das Kriegsziel zu
glauben –, widerlegen die Bilder von 5000 Ankömmlingen den
Eindruck, Deutschland habe kein Herz für Flüchtlinge. Obwohl
wir, wie gesagt, mit der muslimischen, leicht ins Mafiöse
spielenden, albanischen Mentalität an sich wenig anfangen
können, sind sie als gerettete Leidtragende serbischer
Unrechtsherrschaft ausnahmsweise willkommen. Dann wollen wir aber auch
echte Invaliden sehen, wenn wir sie abknipsen – und beim ersten
Schwung, der in Nürnberg ankommt, vermißt Bayern glatt "das erwartete Leiden": So wird unsere imperialistische
Mildtätigkeit schon wieder schamlos ausgenutzt.
*
Was der Generalsekretär noch am 8.4. ausschließt: den
Einsatz von Bodentruppen in Jugoslawien – "die
internationale Gemeinschaft ist nicht bereit, auf dem Boden gegen die
Serben Krieg zu führen" –, gibt er keine drei Wochen
später seinem Militärstab zur Planung in Auftrag. Begleitet
wird die offizielle Klarstellung, daß da 'nicht
bereit' wohl im Sinne von 'noch nicht ganz fertig
vorbereitet' gemeint war, von der in den Mitgliedsländern
der Allianz zunehmend heftig und kontrovers diskutierten Frage, ob denn
der Einsatz von Bodentruppen wirklich notwendig sei. Das Verlogene,
zumindest Irreführende dieser Fragestellung besteht erstens darin,
daß die feststehenden Kriegsziele der NATO
selbstverständlich und von Anbeginn diesen Einsatz vorsehen.
Selbst im Falle eines "Friedensabkommens" mit
Milošević ist die geplante Machtübernahme im Kosovo das
Werk einer "robust" kämpfenden Streitmacht von rund
30000 Mann, und die übrigen Szenarien der NATO – die, wie
man beiläufig erfährt, seit Sommer 1998 bereitliegen und
jetzt eben "auf den neuesten Stand" gebracht werden sollen
– sehen für die "Befreiung des Kosovo" auf Basis
einer "Feuerpause" 60000 bis 80.000, für einen
Einmarsch unter Kriegsbedingungen 200000 Soldaten vor. Ohne Infanterie
kommt die NATO also gar nicht zu dem Frieden, den sie im Kosovo haben
will. Zweitens bereitet sich ein Teil dieser Mannschaft, die das Kosovo
– und womöglich auch etwas mehr als nur das – besetzen
soll, schon längst vor Ort auf ihren Einsatz vor; und unter den
verwegensten Vorwänden – erst zum Bau von Zelten, dann zum
Schutz derselben, dann zur Pflege der Apache-Hubschrauber, dann zum
Aufbau eines Fernmeldenetzes und dann auch noch zur Wartung der
humanitären Infrastruktur, für die es dringend deutsche
Pioniere braucht – wird die in Albanien und Mazedonien
dislozierte NATO-Truppe Schritt für Schritt aufgestockt. Drittens
wird für den Abtransport der Flüchtlinge aus grenznahen
Auffanglagern gesorgt, mit der Begründung, man müsse sie aus
der Reichweite der serbischen Artillerie bringen. Die hat sich
allerdings noch gar nicht bemerkbar gemacht, so daß schon wieder
nur die NATO sich den Kriegsschauplatz freiräumt, mit dem sie
plant. Viertens versteht man sich in dieser Debatte um die
mögliche Eskalation des Krieges auf dem Boden generell darauf, die
Kriegsplanung des Westens als eine einzige, nämlich durch die
Unnachgiebigkeit des Gegners erzwungene Reaktion vorzustellen: Ein
einziges "Debakel" seien die vierwöchigen Luftangriffe
angesichts des nach wie vor nicht zur Kapitulation bereiten
jugoslawischen Tyrannen, ein Ende des Kriegs sei so einfach "nicht zu erkennen" – weswegen die NATO um eine
Änderung ihrer Kriegsstrategie doch gar nicht herumkommen kann.
Das allerdings stellt die Sache, die beim 'Pro & Contra
Bodentruppen' gewälzt wird, vollends auf den Kopf. Dieses
Hin-und-Her ist ja selbst schon ein einziges Zeugnis der Freiheit, die
die NATO sich bei ihrer Planung und Durchführung des Krieges
herausnimmt. Da wird im Westen so freihändig über den Sinn
und Zweck der Landstreitkräfte herumräsoniert, weil sich die
NATO selbst in der – für eine kriegführende Partei
überaus luxuriösen – Position weiß, deren Einsatz
nach eigenem Ermessen kalkulieren zu können. Ihr Ideal eines neuen
Kriegstyps – von dessen Realismus bereits ihre Überlegenheit
in der Luft zeugt –, nämlich den Krieg möglichst ohne
irgendeine Art von Verlusten oder gar Niederlagen zu gewinnen, verfolgt
die westliche Allianz auch beim Einsatz ihrer Bodentruppen. Bei dem
gibt sie sich so unentschlossen und beinahe zögerlich, nicht weil
Kriegsherren in Diensten der Humanität das Leben ihrer Soldaten
über alles ginge, sondern weil sie die Opfer eines Landkrieges gar
nicht zu erbringen braucht. Sie schwächt ihren Gegner aus der
Luft, so lange und so nachhaltig, wie sie es für nötig
hält – und kalkuliert daneben das Maß an Bodenkrieg,
das zur Vollendung des aus der Luft so perfekt angefangenen Werkes
angesichts der verbliebenen gegnerischen Kräfte wohl noch
nötig sein möchte. Dabei drängt sie niemand zur Eile,
der Gegner des so einseitig geführten Krieges schon gleich nicht
– im Gegenteil, arbeitet doch die Zeit, während der die
Bomben fliegen, nur für sie und ihre Kriegsstrategie,
möglichst ohne eigene Verluste in Jugoslawien einzumarschieren.
Diesen Einmarsch hätte man natürlich schon gerne ganz ohne
Risiko gehabt, am liebsten ja bekanntlich in Form einer Einladung durch
Milošević. Natürlich zieht man es auch jetzt noch immer
vor, unter offiziell erklärter Zustimmung der Serben
einzumarschieren, vielleicht würde man sogar die Panzer in
UNO-Lichtblau lackieren, um Milošević zur entsprechenden –
dann vermutlich seiner letzten – Amtshandlung und Unterschrift zu
bewegen. Doch wenn der Bodenkrieg so billig, nämlich ganz ohne
Krieg am Boden, nicht zu haben ist, wird er von der NATO eben für
sie möglichst billig geführt – wann und wie das der
Fall sein wird, wird sie demnächst bekanntgeben.
Überlagert wird die diesbezügliche Beschlußfassung
allerdings von einer Kontroverse derer, die sich zu ihr durchzuringen
haben. An der Debatte, ob man nun mit dem Einsatz von Truppen das Ende
der serbischen Herrschaft beschleunigen soll oder doch lieber nicht,
beteiligen sich einige Mitglieder der Allianz ganz offiziell –
und mischen sich mit Stellungnahmen ein, die schon wieder ihren Streit
um die Rangordnung im Bündnis offenlegen. In Deutschland herrscht
parteienübergreifender Konsens, daß "Bodentruppen eine
nicht absehbare Eskalation bewirken" (Schäuble), einen "langwierigen Partisanenkrieg" (Scharping) nach sich ziehen
und überhaupt die Beschlußgrundlage des gegenwärtigen
Krieges verletzen würden. Weil man hierzulande bei der politischen
Ausnutzung einer gelungenen militärischen Abschreckung doch noch
stärker ist als bei deren militärischer Herbeiführung,
möchte man lieber weiter bei einer Kriegsstrategie bleiben, die
den Gegner zur Kapitulation zwingt, ohne ihm eine Chance zu wirksamer
Gegenwehr zu bieten. NATO-Partner Großbritannien hingegen
schließt sich einem in der Führungsmacht verbreiteten
Meinungsbild an und tritt offen und entschieden für das Ziel ein,
die Hoheit über Jugoslawien insgesamt in die Hand zu nehmen und
der Herrschaft von Milošević mit einer richtigen Invasion ein
Ende zu bereiten: In Europa liegt die entscheidende Stärke dieser
Macht, mit der sie Deutschlands Schwergewicht auszubalancieren sucht,
eben nach wie vor in ihrer Militärmaschinerie und ihrer
konkurrenzlosen Waffenbrüderschaft mit der überlegenen
Supermacht. Die deutsche Bundesregierung besteht dabei zugleich so
entschieden auf ihrem Imperativ 'Kein deutscher
Sonderweg!', daß der – während seines Amtes an
transatlantischer Vasallentreue wahrlich nicht zu übertreffende
– Ex-Verteidigungsminister Rühe in der Bundestagsdebatte zum
Thema "50 Jahre NATO" mahnend darauf hingewiesen haben
möchte, Bündnistreue könne doch nicht das einzige sein,
was für die deutsche Staatsräson zählt. Und
überhaupt sind da ja noch die Russen, die von den deutschen
Fachmännern fürs Einbinden auch noch als gewichtiges Argument
gegen den Bodenkrieg in Stellung gebracht werden. Der würde Moskau
am Ende vielleicht doch noch zu "Reaktionen provozieren"
– und womöglich alles aufs Spiel setzen, was man an williger
Unterordnung dieser Macht unter das eigene Kriegsprogramm schon
erreicht hat!
Fast ein kleines Zerwürfnis also – "mit der Einigkeit
der Allianz über die Kosovo-Strategie könnte es schon beim
NATO-Gipfel vorbei sein" (SZ, 20.4.) –; aber erstens nur
fast. Und zweitens nützt es nach wie vor den Serben nichts.
Ende April
Vorwärts zum 50. Geburtstag der NATO!
Der NATO-Gipfel zum 50. Jahrestag der Gründung des Bündnisses
steht bevor. Die kriegführenden Parteien diskutieren in seinem
Vorfeld einen neuen Eskalationsschritt, um Jugoslawien seiner Mittel
zum Aushalten der NATO-Schläge zu berauben. Das Land soll durch
eine Seeblockade endgültig von lebenswichtigen Gütern,
insbesondere der Ölnachfuhr abgeschnitten werden. Das, so Clinton,
sei man den eigenen Bomberpiloten schuldig: "Wie sollen wir
rechtfertigen, daß wir die Leben unserer Piloten bei der
Bombardierung von Raffinerien riskieren, wenn wir gleichzeitig die
Belieferung mit Öl über die See hinnehmen." Allen ist
klar: Milošević zwingt die NATO mit seinem verbrecherischen
Starrsinn auch noch dazu, die "Militäraktion gegen den
Diktator in Belgrad" auf die Adria auszudehnen. Allerdings
erfährt man auch, daß sich ein solcher NATO-Beschluß
nicht nur gegen Milošević richtet, sondern gewisse "völkerrechtliche Probleme" aufwirft. Damit steht ja
die Zumutung im Raum, daß alle Nationen ihre
Geschäftsbeziehungen mit – oder gar
Unterstützungsleistungen für – Jugoslawien dem
NATO-Ansinnen opfern sollen, das Land vom Nachschub abzuschneiden.
Darüber will die NATO mit ihrer ohnehin versammelten Kriegsmarine
wachen. Und das verstößt – da nicht von der UNO
beschlossen – gegen die laut Völkerrecht garantierte "Freiheit der Meere"; es handelt sich folglich um einen
kriegerischen Akt gegen Länder, die diese Freiheit für sich
in Anspruch nehmen. Zu diesen Ländern gehört neben ein paar "schwarzen Schafen" in den eigenen Reihen schon wieder und
vor allem: Rußland. Also steht die Frage im Raum, ob, wieweit und
wie man die Russen dazu bringen will, von Lieferungen Abstand zu
nehmen, die von der NATO als Feindhilfe definiert werden. Noch so ein
Klärungsbedarf bezüglich des Status der Russen, den der Krieg
für die NATO 'mit sich bringt'!
*
Eine neuerliche russische Verhandlungsinitiative, die auf den
NATO-Gipfel Eindruck machen soll, läßt die NATO totlaufen.
Pünktlich zum Reisetermin von Tschernomyrdin nach Belgrad
bombardiert sie die Residenz von Milošević und setzt ihre
Bombardements auf Belgrad auch während der Verhandlungen fort! Was
das Ergebnis der Initiative angeht, geben sich die USA von vornherein "skeptisch", die Europäer versprechen, auf jeden Fall
alles "sorgfältig zu prüfen", und die
Öffentlichkeit weiß schon vorher Bescheid: "Mit jedem
Angebot sät Milošević den Spaltpilz aus." (FAZ,
24.4.) Dann doch kurzes Aufhorchen: Nach Aussagen des Russen hat
Milošević die Zustimmung zur Stationierung einer "internationalen Truppe" gegeben. Wie die geartet sein
soll, darüber äußern sich Milošević und
Tschernomyrdin allerdings abweichend: unbewaffnet und keinesfalls mit
NATO-Beteiligung, sagt der eine; mit militärischer Ausstattung,
der andere. 'Also wieder nichts', hört man aus
berufenem Munde. Die NATO ist der Richter und bekräftigt zum
soundsovielten Male: Unter der Erfüllung ihrer Bedingungen geht
nichts, alles andere wären "unannehmbare Forderungen".
Es geht eben gar nicht um eine – wie auch immer bewaffnete
– "internationale Truppe", sondern immer nur um das
eine: das Kommando der NATO, möglichst mit russischer Zustimmung.
Also wieder 'keine wirkliche Bewegung' – auf der
Seite, die sich zu "bewegen" hat. So werden die Russen von
der NATO in ihrer Machtlosigkeit vorgeführt: Da sie den Serben
nicht substantiell helfen, können sie auch keinen Druck auf sie
ausüben. Und anzubieten haben sie den Serben schon gleich nichts;
die NATO läßt nämlich keinen Raum für eine
russische Vermittlung, an die Milošević irgendwelche für
sein Land brauchbaren Berechnungen knüpfen könnte. Die
deutsche Regierung dankt anschließend ungerührt den Russen
für ihr "konstruktives Bemühen" und nimmt sie
gegen die Wirkungen ihrer eigenen Kriegshetze in Schutz: "Es ist
nicht gerecht, Rußland als eine Macht zu besprechen, die Patron
eines notorischen Verbrechers ist. Rußland ist unser Partner,
Partner Europas, der NATO und der USA." (Staatssekretär
Stützle) Ein verräterisches Lob, das einer Verpflichtung
Rußlands gleichkommt.
*
Die NATO trifft sich zum 50.jährigen Jubiläum, und die Welt
ist beeindruckt: "statt Gala normaler Anzug, kein Überflug
der Air Force, keine jubilierenden oder gar triumfierenden
Musikklänge" (NZZ, 26.4.); "Aus der Frack-Gala wurde
ein Arbeitstreffen" (Der Spiegel, 26.4.). Die Chefs des
"Bündnisses für Frieden, Stabilität und
Freiheit" "arbeiten" – so heißt das in
der Öffentlichkeit, wenn sich die Kriegsmacher feierlich und
demonstrativ über ihr weiteres Vorgehen auf dem Balkan und
über "den Kurs der NATO für das 21. Jahrhundert"
(Bulletin der Bundesregierung Nr. 24, '50. Jahrestag der
NATO') verständigen. Bei dieser Arbeit geben die
versammelten Staatschefs und ihre kritischen Begutachter einige
erhellende Auskünfte darüber, worum es ihnen bei ihrem
schweren Geschäft wirklich zu tun und warum der Krieg im Kosovo
unerläßlich ist. Die tagtäglich bemühten
humanitären Verpflichtungen, derentwegen die NATO nicht anders
kann, als Jugoslawien zusammenzubomben, treten jedenfalls von der
Bühne ab, wenn ihre versammelten Vorsteher die entscheidenden
"Zukunftsaufgaben" der Allianz formulieren und ein neues "Strategisches
Konzept des Bündnisses"
beschließen.
*
Dieses Konzept beginnt mit einer kritischen Lagebeurteilung:
"Sicherheitspolitische Herausforderungen und Risiken
Zu diesen Risiken gehören Ungewißheit und Instabilität
im und um den euro-atlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung
regionaler Krisen an der Periferie des Bündnisses, die sich rasch
entwickeln könnten... Ernsthafte wirtschaftliche, soziale und
politische Schwierigkeiten ... ethnische und religiöse
Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder
fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von
Menschenrechten und die Auflösung von Staaten können zu
lokaler und selbst regionaler Instabilität führen.
Verbreitung von ABC-Waffen und ihrer Trägermittel... Die weltweite
Verbreitung von Technologien, die zur Herstellung von Waffen genutzt
werden können, kann ... es Gegnern erlauben, sich hochwirksame
luft-, land- und seegestützte Offensiv- und Defensivsysteme,
Marschflugkörper und andere fortgeschrittene Waffensysteme zu
verschaffen... Sicherheitsinteressen des Bündnisses können
von anderen Risiken umfassenderer Natur berührt werden,
einschließlich Akte des Terrorismus, der Sabotage und des
organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr
lebenswichtiger Ressourcen. Die unkontrollierte Bewegung einer
großen Zahl von Menschen, insbesondere als Folge bewaffneter
Konflikte, kann ebenfalls Probleme für die Sicherheit und
Stabilität des Bündnisses aufwerfen." (Bulletin)
Das unsägliche Leid, das allen voran ausgerechnet unser fürs
Militär zuständige Minister so eindringlich beschwört,
wird hier einmal so betrachtet, wie es sich für das
Kriegsbündnis gehört, "strategisch" nämlich:
als ein Fall von gestörter Ordnung; und prompt gerät es auf
eine Stufe mit Gebietsstreitigkeiten, Terrorismus und anderen
zwischenstaatlichen Gewaltaffären. Wie diese gelten auf einmal
auch Flüchtlingsbewegungen als ein Problem nicht für die
Menschen, sondern für das Bündnis, für seine Sicherheit
und die – von ihm garantierte – Stabilität. Die lange
Liste "sicherheitspolitischer Herausforderungen" dementiert
ganz nebenbei auch die aktuelle Kriegspropaganda, nach der es sich bei
Milošević um einen ziemlich außergewöhnlichen
Verbrecher handeln soll: Nein, davon gibt es viele. Wie viele –
bzw. wovon alles die NATO sich betroffen, also herausgefordert
fühlt, womit sie rechnet und wofür für sie
zuständig sein will, das teilt diese Liste mit
wünschenswerter Deutlichkeit mit.
Die Herren des einzig vernünftigen Wirtschaftssystems sorgen
erstens für dessen weltweite Verbindlichkeit und rechnen zweitens
fest damit, daß die Befolgung seiner Rechnungsweisen in der
engeren und weiteren Periferie "ernsthafte wirtschaftliche
Schwierigkeiten" bewirkt. Die führen die NATO-Strategen
– die ex-sozialistischen Staaten Eurasiens sind angesprochen
– entweder auf die Durchführung der System-Reformen
zurück, auf die sie überall dringen, oder auf deren
Unterlassung, die sie nicht dulden. Die katastrofalen Zustände,
die der Kapitalismus in seinem Hinterhof schafft, interessieren die
NATO als Gefährdungen der politischen Stabilität. In weiser
Voraussicht geht sie davon aus, daß besagte Zustände nicht
nur Armut und Hunger schaffen, sondern Staaten zerstören bzw.
Versuche der gewaltsamen Selbsterhaltung solcher Staaten provozieren:
Soziale Konflikte, Bürgerkrieg mit nationalistischen und
rassistischen Parteiungen, Gebietsstreitigkeiten – alles das
begründet ein Eingriffsrecht der NATO. "Das
Bündnis", dem in den Augen der Öffentlichkeit quasi
naturnotwendig "die Rolle des militärischen Nothelfers
zuwächst" (SZ, 23.4.), weitet die Gelegenheiten und die
Rechtstitel seiner Zuständigkeit erheblich aus. Die Verteidigung
der Landesgrenzen der Bündnispartner wird nur erwähnt, um zu
den eigentlichen neuen Aufgaben überzugehen.
Mit den beschworenen Formen stabilitätsbedrohender "Gewalt"
– "Terrorismus", "organisiertes Verbrechen",
"Menschenrechtsverletzungen" – erklärt die NATO
den Gebrauch der Staatsgewalt anderswo zum Objekt ihrer Aufsicht,
gleichgültig, ob dieser die inneren Verhältnisse oder
äußere Streitigkeiten anderer Nationen betrifft; sie
behält sich die Unterscheidung zwischen erlaubtem und unerlaubtem
Nationalismus, zwischen legitimer Aufrechterhaltung der
öffentlichen Ordnung und Unterdrückung, zwischen Staat und
Verbrechen anderswo vor. Die Allianz erklärt damit die Ordnung und
Stabilität der Staatenwelt zu ihrem Besitz, den sie zu verteidigen
verspricht, wo immer sie ihn gefährdet sieht. Und der Fall liegt
immer öfter vor, davon geht die Allianz aus. Sie begutachtet so
ziemlich den ganzen Globus unter dem Blickwinkel, ob er diesem Anspruch
genügt, und prompt sortiert sich die 'Staatengemeinschaft' ganz automatisch in lauter Zonen
unterschiedlicher Stabilität: in Partner und gefährliche
Kandidaten für Terror und Unsicherheit; in Regionen, wo elementare
Interessen an der freien Verfügbarkeit wichtiger Ressourcen
für den Weltmarkt und seine Subjekte zu sichern sind, und andere,
wo vornehmlich mit Hungersnöten, Flüchtlingen und anderen
Störungen zu rechnen ist; in Fälle staatlicher
Insubordination, wo für unpassend befundene lokale oder regionale
Machtambitionen unterwegs sind, und nicht minder problematische
Zustände von Aufruhr und Durcheinander, wo es generell an einer
gefestigten und verläßlichen Staatsadresse überhaupt
fehlt. Kurz: Das Bündnis sieht sich einer Welt voller aktueller
und potentieller Herausforderungen an seine Aufsichtsgewalt
gegenüber. Die Ziele seiner Gewaltaktionen reichen damit aber auch
über die gewaltsame 'Inbesitznahme' von Ölquellen
und anderen Rohstoffen hinaus, in der Kritiker den 'eigentlichen', den 'imperialistischen' Zweck
der NATO dingfest machen wollen. Das NATO-Programm geht davon aus,
daß die für das kapitalistische Wachstum in den
Führungsnationen 'lebenswichtigen' Reichtumsquellen
längst in der Verfügung ihrer ökonomischen Subjekte
sind; sie macht sich also bestenfalls für eine Art 'Besitzstandswahrung' stark und startet keine Form von
Beutezügen, wie Linke meinen, die die Lüge von den
humanitären Gründen des NATO-Eingreifens mit der Suche nach
– wie sie es verstehen – niederen, 'handfesten
materiellen' Motiven kontern wollen und deswegen aus dem
NATO-Programm immer nur das Schlagwort von den "lebenswichtigen
Ressourcen" zitieren. Der Gegenstand der Sorge, dem die
westlichen Sorgen gelten und dem die Militärallianz ihre Gewalt
widmet, ist von vornherein höherer Natur: Es geht um die Kontrolle
der Machtverhältnisse in der Welt; dabei ist deren Benützung
für kapitalistischen Reichtum, der durchgesetzte Weltmarkt,
allemal als selbstverständlich unterstellt.
Weil die NATO-Staaten beanspruchen, die ausschließliche
Garantiemacht der ihnen gemäßen Stabilität der
Staatenwelt zu sein, können sie es nicht dulden, daß
Herrschaften, die sie für unzuverlässig halten,
überhaupt über moderne und "hochwirksame"
Machtmittel verfügen. Bei Ländern, die dem
Stabilitätsexport der NATO eventuell Hindernisse in den Weg legen
könnten, ist schon der Besitz solcher Waffen das Verbrechen, das
Kriegsakte rechtfertigt. Massenvernichtungsmittel der ABC-Kategorie,
Marschflugkörper und alle Technologien, die ihre Herstellung
ermöglichen, gehören ihnen weggenommen, damit allein die NATO
darüber verfügt und ihr Gewaltmonopol vervollständigt.
Die umfassende, präventive Kontrolle anderer Mächte zerlegt
die neue Programmatik sehr nett in friedfertige Prävention und
kriegerische Unterwerfung, die ansteht, sobald die friedliche
Unterordnung verweigert wird:
"...die neuen Aufgaben ('core missions'), die neben
die traditionellen Ziele "stabiles sicherheitspolitisches
Umfeld", transatlantische Verklammerung und kollektive
Verteidigung treten. Die in der alten Fassung von 1991 genannte 'strategische Balance' hat sich wegen der
militärischen Gewichtsabnahme des vormaligen Gegners erledigt. Die
zusätzlichen Aufträge lauten 'Krisenbewältigung' und 'Partnerschaft',
wobei letzteres eher Prävention meint, ersteres hingegen die
Optionen – bis hin zum Kampfeinsatz wie in Kosovo –, wenn
der Versuch der Vorbeugung gescheitert ist. Beides steht, auch auf
Drängen der Deutschen, unter der Überschrift 'Erhöhung der Sicherheit und Stabilität des
euro-atlantischen Raums'. Das ist zugleich ... die Antwort auf
die Frage nach der 'area', also dem Gebiet, das die Allianz
als ihren Zuständigkeitsbereich betrachtet. Eine genaue Abgrenzung
des 'euro-atlantischen Raums' fehlt." (FR, 27.4.)
Richtig, für die Aufgaben muß natürlich auch der
Bereich programmatisch entschränkt werden, den die NATO ihrer
Zuständigkeit unterstellt. Diese wird "auf eine unbestimmte
Zone um das eigentliche Bündnisgebiet ausgedehnt... – fest
steht nur, daß es sich dabei um eine Art Pufferzone um das
Bündnisgebiet, nicht aber um eine beliebig dehnbare
Größe handelt." (NZZ, 26.4.) "Interventionen
sind enge Grenzen gesetzt," so der deutsche Kanzler; "out
of area or out of business", so dagegen ein amerikanischer
Offizieller. "Keineswegs weltweit", so die
Öffentlichkeit, die sich schon einmal daran macht, die "beschränkte Reichweite" durchzuspielen: "Bis
nach Südostasien, zum Beispiel, reicht der Raum gewiß nicht.
Eine Zuspitzung der Lage am Golf gäbe dagegen sicherlich
Anlaß zu einer Debatte um Interessensabwägung. Die NATO
versteht sich also nicht als Weltpolizist auf Abruf: Über ihre
Einsätze wird im Konsens und nur von Fall zu Fall
entschieden." (FAZ, 27.4.) Weil der Umkreis des Eingreifens im
Bündnis souverän und nur nach eigenen
Opportunitätserwägungen beschlossen wird, soll also bei der
programmatischen Ausweitung der offiziellen NATO-Zuständigkeit
eine heilsame Zurückhaltung in Weltaufsichtsfragen vorliegen! Eine
gelungenes Zeugnis dafür, wie selbstverständlich der NATO die
Rolle des "Weltpolizisten" in allen "euro-atlantischen" und damit weltpolitisch entscheidenden
Fragen zuerkannt wird. Berufene Stellen machen auch keinen Hehl daraus,
daß sie Rußland schon einmal ideell in den
Zuständigkeitsbereich der NATO miteinbeziehen und an eine "Zone der Stabilität" denken, "die sich von
Vancouver bis Wladiwostok erstreckt." (Solana, FAZ, 24.4.)
Festgeschrieben wird ferner das Recht der NATO auf "Selbstmandatierung zur Gewalt", wenn ein ihrer Meinung
nach dringender Ordnungsbedarf vorliegt, den Rußland und China
nicht unterschreiben wollen. "Wir brauchen den Sicherheitsrat
nicht." (Solana) Vorgetragen wird diese Auffassung mit einem Ja
zur Rolle der UNO, das sie zugleich zur Bedeutungslosigkeit verurteilt:
"Von einer generellen Selbstmandatierung ist nicht mehr die Rede.
Die NATO anerkennt die grundlegende Verantwortung des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen für die Aufrechterhaltung des Friedens und
der Sicherheit in der Welt ausdrücklich an, damit auch die Rolle
Rußlands und Chinas. Von dieser Bindung soll es Ausnahmen geben
dürfen...., sonst könnte bei einer Selbstblockade des
Sicherheitsrates nicht gehandelt werden." (FAZ, 27.4.)
Die Mitwirkung des Sicherheitsrats ist also im Regelfall geboten und
erwünscht; soweit er eben zustimmt, und nicht eine Ausnahme
gemacht werden muß, weil diese Zustimmung nicht zustande kommt.
Die Entscheidung über Ausnahme und Regel behält sich die NATO
vor – soviel ist allen klar: "Das ist
Auslegungssache." (FR, 27.4.) "Aktionen außerhalb des
Bündnisgebietes müßten einen inhaltlichen und
geografischen Zusammenhang zur NATO haben und in der Regel mit einem
UN-Mandat ausgestattet sein" (SZ, 26.4.), so verdolmetscht der
deutsche Kanzler den Anspruch, immer dann, wenn sich die NATO einig
wird, zur Tat zu schreiten. Selbstverständlich läßt
sich das auch als dringender Antrag auf eine "grundlegende Reform
der UNO" ausdrücken: "Der Sicherheitsrat sei die
falsche Institution für das Gewaltmonopol im 21. Jahrhundert. Er
blockiert sich selbst aus nationalen Interessen." (der
Außenminister der Nation, die dort ungerechterweise immer noch
nicht mit Sitz und Stimme vertreten ist, SZ, 26.4.) Wessen nationale
Interessen gemeint sind, braucht nicht mehr gesagt zu werden.
Entsprechend ausgreifend werden die neuen Anforderungen an die Gewaltmittel des Bündnisses definiert:
"Die neue NATO wird größer, fähiger und flexibler
sein; sie bleibt der kollektiven Verteidigung verpflichtet und wird
dazu befähigt, neue Missionen zu unternehmen, darunter die
Konfliktprävention und die aktive Teilhabe an Operationen des
Krisenmanagements." (Bulletin)
Das Bündnis erteilt sich selber und seinen führenden
Mitglieder den Auftrag, sich mit entsprechenden Rüstungs- und
militärischen Kooperationsprogrammen zu wappnen. Die USA fordern
von Europa mehr Beiträge für eine NATO unter ihrer
Führung – "Ein stärkeres Europa sichert eine
stärkere NATO." (Verteidigungsminister Cohen, IHT, 23.4.).
Und Europas Macher nehmen die Forderung an, weil sie an die
Stärkung ihrer Position im Bündnis denken. In Deutschland
darf der Alt-Präsident Weizsäcker einer Kommission vorsitzen,
die den deutschen Nachholbedarf in Richtung 'Schnelle
Eingreiftruppe' projektiert.
Schließlich kommen auch Bedenken zur Sprache und zur Geltung. Sie
betreffen die Rollenverteilung zwischen den wichtigen Nationen im
Bündnis. Das Beistandsversprechen, daß "kein einziger
Verbündeter darauf angewiesen ist, sich bei der Bewältigung
elementarer sicherheitspolitischer Herausforderungen allein auf seine
eigenen nationalen Anstrengungen zu verlassen" (Bulletin),
heißt ja umgekehrt auch, daß die weltpolitischen Ambitionen
Europas im Rahmen einer "euro-atlantischen Sicherheitsstruktur,
in der die NATO eine zentrale Rolle spielt", keine autonome
Angelegenheit der EU-Macher, sondern automatisch immer auch Sache der
NATO sind. Von ihr werden sie begutachtet, in ihrem Rahmen betrieben
und entschieden, d.h. stets unter Einschluß und unter dem
bestimmenden Einfluß der amerikanischen Supermacht. Wo die NATO
in den Rang des umfassend zuständigen weltpolitischen Subjekts
erhoben und die Konzession für die nationale Benutzung
militärischer Gewalt gemeinschaftlich zugesprochen oder verweigert
wird, macht sich das Handikap der europäischen Mitmacher geltend,
die amerikanische Dominanz bei diesem Geschäft anerkennen zu
müssen. Um so wichtiger sind die Bemühungen um eine
Stärkung des eigenen Gewichts im Bündnis und um Einfluß
auf seine Prioritätensetzungen. Frankreich betont daher immer
wieder seine Entschlossenheit, "daß die NATO nicht zum 'Weltpolizisten', zum imperialen Instrument der
amerikanischen Hypermacht werden dürfe" (Chirac, SZ, 23.4.).
Und Fischer assistiert: "Wer die NATO zerstören will,
muß sie überfordern... Gefolgschaft auf Pfiff geht
nicht." (SZ, 26.4.) Die Öffentlichkeit mit ihrem durch die "humanitäre Katastrofe im Kosovo" keineswegs
getrübten Gespür für die entscheidenden "strategischen" Belange der Nation nimmt gebührend zur
Kenntnis, daß unsere Führung im Verein mit der
französischen Regierung auf dem Gipfel nicht zuletzt gegen
amerikanische Dominanz angekämpft und "Kompromisse"
erzwungen hat. Ihren Bedenken, Europa könnte "zum Hilfstrupp
des mächtigen US-Sheriffs werden, der im global village nach
seiner Facon Ordnung schafft" (FR, 27.4.), so erfährt man,
ist die besagte "Begrenzung" des Wirkungskreises der NATO
auf eine, im jeweiligen Fall erst noch näher zu definierende, "euro-atlantische" Einflußsfäre geschuldet.
Dort, wo sich europäische Mächte von vornherein nur als
untergeordnete, aber nicht hauptseitig zur Sicherung ihres eigenen
Einflusses tätige Mitmacher begreifen, da wollen sie sich zu einer
kollektiven Eingreifverpflichtung nicht bereit finden – und da
hat Amerika auf ihr auch gar nicht bestanden. Bis zum nächsten
Entscheidungsfall darf also "interpretiert" werden:
"Die USA haben seit Monaten darauf bestanden, das Einsatzgebiet
geografisch nicht zu begrenzen... Die Europäer interpretieren den
Text in ihrem Sinne und betonten, daß die mehrfache
Erwähnung des 'euro-atlantischen Raums' in den
Gipfeldokumenten für eine geografische Beschränkung des
Einsatzspektrums der Allianz spreche." (SZ, 26.4.)
Mit der "Beschränkung auf den euro-atlantischer Raum"
fordern die EU-Vorreiter eine Benutzung der gemeinsamen Kriegsmaschine
für europäische Interessen; in demselben Sinn setzen sie die
Möglichkeit eines "gesicherten EU-Zugriffs auf
Planungskapazitäten der NATO" auch ohne Beteiligung der
Amerikaner zur Verwirklichung ihrer "selbständigen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik" im neuen Dokument durch.
Die eigenartige Konzession, daß das Bündnis seinen
europäischen Mitgliedern auch eine nicht gemeinsame Benutzung der
gemeinsamen Kriegsmittel erlauben kann, ist ein Eingeständnis: die
"europäische außenpolitische Zusammenarbeit" mit
ihrer "sicherheits- und verteidigungspolitischen Dimension"
ist den anvisierten imperialistischen Herausforderungen des
nächsten Jahrhunderts ohne Amerikas Duldung und Unterstützung
nicht gewachsen. Von der Art sind die Leiden, die Europas Macher nicht
ruhen lassen.
Das also sind die größeren Perspektiven, in die sich die "humanitäre Hilfsaktion" auf dem Balkan einordnet und
in deren Licht sie für alle Begutachter prompt einen anderen,
höheren Sinn macht. Die Verantwortungsträger für
Freiheit und Frieden landen jedenfalls ganz woanders als ausgerechnet
bei den Leiden unterdrückter Kosovo-Albaner, wenn sie die Fragen
einer der NATO obliegenden Verantwortung für einen Friedenszustand
auf dem Balkan behandeln, der ihrer Meinung nach diesen Namen verdient.
Ihr militärisches Vorgehen ist der erste gemeinsame Anwendungsfall
der strategischen Ordnungsansprüche, die das
Militärbündnis reklamiert und in seinem strategischen
Zukunftskonzept programmatisch niederlegt. Sie verhelfen mit ihrer
überlegenen Gewalt nicht anderen zu ihrem nationalen Recht; sie
bringen ihr eigenes Aufsichtsrecht gegen eine regionale Macht zu
Geltung; weil die sich dagegen sträubt, wird sie entmachtet und
zerschlagen. Die NATO kämpft auf dem Balkan also ihre bestimmende
Rolle für das "21. Jahrhundert" exemplarisch durch.
Das ist die Botschaft des Gipfels. Und die wird bestens verstanden. Die
einen nehmen den Balkankrieg als Vorlauf: "Das neue
Strategiekonzept ... war im Entwurf exakt auf einen Konflikt wie den im
Kosovo zugeschnitten. Jetzt werden die sicherheitspolitischen
militärischen Leitlinien bereits angewandt, bevor sie
verabschiedet sind." (SZ, 26.4.) Andere sehen in den
beschlossenen neuen Richtlinien umgekehrt nur noch die Regelung eines
längst fälligen programmatischen Nachholbedarfs
gegenüber der politischen Wirklichkeit: "Die Allianz
führt bereits außerhalb ihres Kerngebietes Krieg ... gegen
einen souveränen Staat, ohne Mandat der Vereinten Nationen und in
offenem Widerspruch zur eigenen, strikt defensiven Doktrin." Das
kommt jetzt "verspätet" in Ordnung: "De facto
handelt es sich nur darum, den Buchstaben der Realität
anzupassen." (NZZ, 24.4.) Dabei kämpfen die Macher der
Allianz zugleich um ihre jeweilige Lesart der NATO-Rechte und
Pflichten. Für Washington stellt sich "die Intervention in
Kosovo als Präzedenzfall dar,... daß sich die NATO keine zu
engen Fesseln anlegen lassen sollte, wolle sie glaubwürdig
bleiben," sowie als Beweis der amerikanischen "Dominanz in
einem Konflikt mitten in Europa, bei dem vitale Interessen der USA
bestenfalls am Rande tangiert werden." (NZZ. 26.4) Europa
seinerseits entnimmt dem Kosovo-Konflikt die Botschaft, "daß eine Kraftanstrengung nötig ist, um ein
Bündnis von gleichrangigen Partnern auf beiden Seiten des Atlantik
zu erreichen." (General Naumann, SZ, 23.4.)
Auch dafür finden sie vollstes öffentliches Verständnis.
Es geht, da kennt sich die Öffentlichkeit nur zu gut aus, um
Höheres als das vielbeschworene Schicksal der Menschen da unten,
wenn sich die NATO-Oberen zum Krieg entschließen. Sie statuieren
im Kosovo ein Exempel. Die öffentlichen Sorgen richten sich auf
dessen Gelingen. Es dürfen keinesfalls Zweifel an der
Entschlossenheit und Fähigkeit zur erfolgreichen Gewaltanwendung
aufkommen; denn die "Glaubwürdigkeit" und Zukunft des
Bündnisses selbst steht damit auf dem Spiel: "Das Geschehen
im Kosovo wirft nicht nur die Frage nach der Zukunft dieser Menschen
auf, sondern auch die, ob es die NATO hinnehmen muß, von
Milošević als ohnmächtig vorgeführt zu werden. Es geht
um Rang und Funktion des Bündnisses am Vorabend seines 50.
Geburtstags." (FAZ, 21.4.) "Die NATO kann diesen
Kriegsschauplatz nur als 'Sieger' verlassen, weil sonst
ihre Glaubwürdigkeit als Ordnungsfaktor und ihre Fähigkeit
zur Stabilitätsprojektion in den Osten hinein in einem Maß
beschädigt würden, das nicht nur für den Balkan
gefährliche Folgen hätte." (FAZ, 23.4.) Sie darf
keinesfalls den Eindruck aufkommen lassen, daß sie "als
mächtigster Militärverband der Welt sich – leider,
leider – nicht zuständig fühlt, wenn der Südosten
Europas in Flammen aufgeht... Nun wartet so manch anderer
Möchtegern-Milošević gespannt auf den Ausgang des
Dramas." (SZ, 24.4.) Macht verpflichtet, und zwar über das
Kosovo hinaus – da lassen die Begutachter keine 'Beschränkung' gelten. Das ist ihr Echo auf die
Gipfelbotschaft.
Und das trifft durchaus den Zweck der Veranstaltung. Nicht "Hilfe",
sondern der 'Glaubwürdigkeits'beweis überlegener Macht steht
an, pflichten die Zuständigen bei: Die Feuerkraft vor Ort –
ein Dokument für die Haltbarkeit der NATO; jede Bombennacht
– ein Beleg ihrer Zukunftsfähigkeit; die Vorführung der
Machtlosigkeit der Gegenseite – die einzig NATO-gemäße
Verwirklichung des feinen "Wunsches, mit allen Völkern in
Frieden zu leben und jede internationale Streitigkeit mit friedlichen
Mitteln beizulegen" (Bulletin). Für den Beweis, daß
die Allianz die Anerkennung ihres Willens erzwingen will und zu
erzwingen vermag, ist Erfolg auf dem Schlachtfeld eine Pflicht, zu der
sich die Verantwortlichen wechselseitig anhalten: "Die Allianz
muß und wird sich durchsetzen." (Solana) "Wir werden
siegen, weil wir siegen müssen." (Schröder)
Unübersehbar ist aber auch : Die Kriegsveranstalter schlagen sich
mit dem Problem herum, daß sie über die Fortführung
ihres "humanitären Unternehmens" unterschiedlicher
Auffassung sind, weil es ihnen um den Ertrag zu tun ist, den das
Gemeinschaftswerk für die jeweiligen Macher und Mitmacher
erbringt. Daher sehen sie sich auch nach dieser Seite zu einem Beweis
bemüßigt: Es darf keinesfalls auch nur der Eindruck
entstehen, ihre Konkurrenz um Verantwortung für Kriegsverlauf und
Kriegsergebnis könnte dem gemeinsamen erfolgreichen Zuschlagen im
Wege stehen oder gar dem Feind Handhaben bieten. Deswegen bekunden alle
Beteiligten auf dem Gipfel ihren Willen, sich nicht "auseinanderdividieren zu lassen": "Wir werden die
Geschlossenheit und Einigkeit der Allianz unter Beweis stellen"
(Solana); "klare Botschaft der Einheit und Entschlossenheit,
unsere Luftschläge so lange durchzuführen, wie es nötig
ist" (Clinton); "ein eindrucksvolles Bild der
Geschlossenheit" (Schröder); "Entschlossenheit und
Geschlossenheit der Allianz, mit aller Entschiedenheit ihre Ziele
durchzusetzen" (Fischer).
*
In diesem Geist verständigen sich die NATO-Oberen auf ihrem Gipfel
geschlossen und entschlossen dann auch im Einzelnen über die
Fortführung ihres vorbildlichen Werks auf dem Balkan. Die
Führungsmacht zeigt sich insgesamt zufrieden, "daß die
Allianz zugestimmt hat, den Luftkriegs gegen Jugoslawiens Truppen im
Kosovo zu intensivieren, die ökonomischen Sanktionen gegen Serbien
zu verschärfen und eine wachsende Rolle der NATO bei der
europäischen Sicherheit auf dem Balkan zu
institutionalisieren." (IHT, 27.4.) Zufrieden sind auch die
Deutschen wegen der "Übernahme des Fischer-Plans"
– eigentlich nichts als die Erneuerung der alten
Kapitulationsforderungen, angereichert mit der Perspektive einer neuen
Balkan-Ordnung unter Regie der Sieger; zufrieden vor allem mit der
Intensivierung des Luftkriegs, weil damit die Frage nach den
Konditionen einer Besetzung des Kosovo vertagt, der Übergang zum "Bodenkrieg" vorerst abgelehnt ist. Zufrieden ist auch die
britische Regierung, die sich für Bodenkrieg stark gemacht hat,
weil jetzt härter zugeschlagen wird. Der britische Beitrag in
Gestalt von Kampfjets wird verstärkt, um die "vierundzwanzigstündige Bombardierung Serbiens zu
gewährleisten". So bestärken sich die Konkurrenten mit
ihren jeweiligen Bedenken und nationalen Sorgen wechselseitig in der
Fortführung ihres Krieges.
Und die versammelte Öffentlichkeit wünscht gutes Gelingen
für die weitere Arbeit der NATO und widmet sich wieder der
kritischen Begutachtung, wie das aktuelle Tagwerk vor der Haustür
Europas vorankommt.
*
Auch an anderen "strategischen Nahtstellen" sind auf dem
Gipfel Fortschritte zu verzeichnen. Staaten aus dem geostrategischen
Feld, das Rußland mit der GUS vergeblich als seinen
Einflußbereich zu organisieren versucht, finden sich ziemlich
vollständig im Rahmen des euro-atlantischen Partnerschaftsrats,
ferner als regionale GUAM-Gruppe (Georgien, Ukraine, Aserbeidschan,
Moldava, sowie inoffiziell Usbekistan) und unter Albrights Leitung noch
einmal als zu befriedende Kaukasus-Region (Georgien, Armenien,
Aserbeidschan) auf dem Gipfel ein. Auch in diese Richtung wird also
entschieden vorangearbeitet: Diese Länder gehören schon zum
"euro-atlantischen Raum", ihre nationalen Belange, ihre "regionalen und
ethnischen Konflikte" sind
Verhandlungsgegenstand von "Nebengipfeln". Die
Zuständigkeit der Allianz als "magnetischer Pol, auf den
sich die anderen Staaten der Region ausrichten" (Der Spiegel,
26.4.), erstreckt sich also längst selbstverständlich auf
"Moskaus Hinterhof". Seine Betreuung stützt sich im
Unterschied zum Fall Jugoslawien auf den Willen der beteiligten
Länder, die sich vom machtvollen Bündnis ein Vorankommen
ihrer jeweiligen Sache versprechen. Sie fällt also ganz unter das
Kapitel "Partnerschaft" und ist insofern in jedem Fall eine
unzweifelhaft friedliche und selbstverständliche Sache. Russische
Bedenken sind daher völlig unangebracht. Von einem
"Umzingelungsszenario, das man in Moskau wahrzunehmen
glaubt" (FAZ, 28.4.), kann überhaupt keine Rede sein.
*
Daß die Russen nicht im gebotenen Rahmen der "Partnerschaft
für den Frieden" am Gipfel teilnehmen, findet nur
beiläufig Aufmerksamkeit. Wenn aus Moskau die Meldung eingeht,
daß die Botschaft des NATO-Gipfels dort klar und eindeutig
verstanden wird – "Die NATO bestimmt willkürlich die
Anwendung von Gewalt und mißt sich das Recht zu, wie der Herrgott
zu bestimmen, 'was auf der Welt richtig ist und was
nicht'... Sie nivelliert praktisch vollkommen die Rolle der
UN." (der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses der
Duma, Lukin) –, dann zeugt die Stellungnahme von einer verkehrten
"Wahrnehmung der NATO als einer Militärorganisation, die
zumindest potentiell auch für Rußland bedrohlich sein
könnte" (FAZ, 28.4). Und sie beweist die
Orientierungslosigkeit der Russen: "Das Land findet seinen Platz
nicht" – es will sich nämlich nicht mit dem Platz
abfinden, den das westliche Bündnis ihm zuweist.
Ein Teil der russischen Öffentlichkeit sieht das irgendwie schon
wieder selber so und beklagt, daß die Regierung bei einem
Ereignis gefehlt hat, "das auf lange Sicht das Schicksal Europas
und der Welt bestimmt, ob uns das gefällt oder nicht... Die
Situation, in die Moskau sich selbst gestellt hat, ist analog jener,
die sich 1919 auf der Pariser Friedenskonferenz herausgebildet hatte...
Während man in Moskau auf das Bewußtsein und die
Solidarität der Proletarier aller Länder hoffte, teilten sie
in Paris die Welt auf. Rußland war für Jahrzehnte aus der
Reihe der Großmächte vertrieben." (Izvestija, 23.4.)
Die russische Entmachtung soll also, so der überaus konstruktive
Ratschlag, durch die Teilnahme an einem Programm verhindert werden, das
den Ausschluß Rußlands aus dem Kreis zuständiger
Mächte systematisch vorantreibt!
*
Auf und neben dem Gipfel gehen die öffentlichen Bekundungen, die
Russen seien zum Mitmachen eingeladen, heftig weiter. Insbesondere die
Deutschen dürfen zum wiederholten Mal ihrer "festen
Überzeugung" Ausdruck verleihen, daß "ohne
Rußland" nichts geht. Nicht ohne Grund. Denn der Gipfel
beschließt eine Eskalation, die auf Konfrontation mit den Russen
zielt: das Embargo gegen Jugoslawien. Gerade weil das eine
Herausforderung für Rußland ist, die sogar direkte
bewaffnete Konfrontation einkalkuliert – "Wenn er nicht
beidrehen will, muß man ihn aufhalten" (Chirac, SZ 26.4.)
–, kommt es darauf an, das Einvernehmen zu wahren. Eine
schöne Klarstellung, was ins Haus steht, wenn sich demonstrative
diplomatische Umarmungen häufen: Man vergewissert sich des 'Partners', den man als potentiellen Gegner ins Auge
faßt, um so mehr, je entschiedener man jede substantielle
Rücksicht ablehnt, je schärfer mithin der Konflikt ist, auf
den man zusteuert.
Das südosteuropäische Umfeld
In ihrer Eigenschaft als neue Mitglieder oder als Aspiranten auf eine
Mitgliedschaft und Mitmacher im Programm "Partnership for
Peace" dürfen auch alle jugoslawischen Nachbarstaaten beim
Gipfel in Washington dabeisein. Passenderweise erhalten sie dort gleich
neue Gelegenheiten, ihre Qualifikation für diesen Status unter
Beweis zu stellen: Neue An- und Aufträge der NATO liegen vor, was
die Öffnung des Luftraums für Angriffsoperationen, die
Nutzung ihrer Länder für NATO-Bodentransporte,
Stützpunkte und die Übernahme von Flüchtlingen angeht
sowie die geschlossene Durchsetzung des Ölembargos. Die
entsprechenden Entscheidungsprozesse mit zuweilen turbulenten
Parlamentssitzungen und Volksaufmärschen dokumentieren auf der
anderen Seite vor allem die Betroffenheit, mit der sich die lokalen
NATO-Partner herumschlagen. Darüber sortieren sie sich in lauter
unterschiedliche Fälle von zuverlässigen Mitmachern bis zu
potentiellen Aufsichtsfällen. Auch deshalb bekunden die
Kriegsherren Verständnis für die jeweiligen Nöte ihrer
lokalen Helfershelfer; Unzuverlässigkeit wird aber nicht geduldet,
d.h. bestraft. Die NATO legt Wert auf Geschlossenheit, das gilt in
erster Linie für die neuen Mitglieder.
Die gewohnt kritische Öffentlichkeit läßt es sich nicht
nehmen, die krasse Wende von der Propaganda für NATO-Beitritt oder
-assoziierung, nach der es sich um ein großzügiges Geschenk
endgültiger und nachhaltiger Friedenssicherung in Osteuropa
handeln sollte, zur NATO-Aktivität nachzuvollziehen. Das
dürfte nun ja wohl allen klar sein, daß die NATO nicht zum
Schutz kleiner Nationen erfunden worden ist, sondern ein Stück
neuer Weltordnung samt aller dazugehörigen Lasten nach Osteuropa
exportiert. Kritisch hinterfragt werden folglich die Motive der neuen
Mitglieder, ob die die von ihnen verlangten Dienstleistungen auch als
ihre "Gleichberechtigung" zu würdigen wissen? Ob sie
die neuen Kriegslasten, bekannten Kollateralschäden und sonstigen
Kriegsfolgen, mit denen die NATO die Jugoslawien-Anrainer eindeckt,
auch folgsamst als Beitrag zur "Wahrung gemeinsamer Werte"
begreifen, zu dem sie sich in "früheren Bekenntnissen"
verpflichtet haben?
"Wie ernst sind ihre Schwüre, sich nicht nur unter den
NATO-Schirm zu stellen, sondern sich gleichberechtigt an den Aktionen
der Allianz zu beteiligen? Die Luftangriffe der NATO verlangen den
politischen Führern nur wenige Tage nach der Aufnahme ihrer
Länder den Tatbeweis ab, daß die früher abgegebenen
Bekenntnisse zu Mitverantwortung für den Frieden in Europa und zur
Wahrung gemeinsamer Werte keine leeren Versprechungen waren."
Die in den ersten Kriegswochen veranstaltete Musterung der
osteuropäischen Mitmacher anhand aktueller und möglicher
NATO-Anträge hat höchst unterschiedliche Grade von
Linientreue zutagegefördert:
"Mit einer klaren Linie und breiter Unterstützung für
die in Brüssel gefaßten NATO-Beschlüsse durch Regierung
und Präsident machte Polen in diesem Test bisher eine deutlich
bessere Figur als Tschechien." (NZZ, 3.4.)
Dort gibt es nämlich Kommunisten mit 11% im Parlament, die allen
Ernstes die friedenstiftende NATO als "militanten Verein",
der Völkerrecht bricht, in den Schmutz ziehen. Als weitaus
problematischer aber gilt die Lustlosigkeit der regierenden
Sozialdemokraten, die sich darauf herausreden wollen, der
Kriegsbeschluß sei vor ihrem Beitritt zu diesem Verein gefallen.
Das läßt sich die NATO nicht bieten und nötigt Zeman
öffentlich zum Rückzug.
"Prags Botschafter bei der NATO mußte jüngst in der
Öffentlichkeit eingestehen, daß man in Brüsseler
NATO-Kreisen wegen dieser Wankelmütigkeit und einem Mangel an
Solidarität der politischen Klasse in der Tschechischen Republik
irritiert sei." (FAZ, 15.4.)
Scharping reist an, um den Tschechen klarzumachen, daß sie
gefälligst den Kosovo-Krieg als seine persönliche
Wiedergutmachung dafür zu verstehen haben, daß er 1968 beim
Einmarsch des Warschauer Pakts nur ohnmächtig "die Faust in
der Tasche ballen" konnte. Auch der ehemalige
Ministerpräsident und jetzige Parlamentspräsident Klaus,
dessen Partei die Minderheitsregierung toleriert, ist übel
aufgefallen, indem er der NATO die Flüchtlingsströme aus dem
Kosovo in die Schuhe schieben wollte. Vor dem Gipfel interveniert die
US-Regierung und wird "in Prag mit der dringenden Bitte
vorstellig, Mr. Klaus möge in Washington besser schweigen."
(Die Presse, 24.4.) Mrs. Albright tritt im tschechischen Fernsehen auf
und stellt klar, daß der tschechische Antrag, den ehemaligen
Landesteil, die heutige Slowakei, bei der Stange zu halten und in die
NATO zu bugsieren, auf dem Spiel steht; Präsident Havel hält
eine seiner berüchtigten freiheitlichen Standpauken und nennt die
Haltung des Kabinetts – die Ablehnung einer tschechischen
Beteiligung an Bodentruppen – "äußerst
peinlich". Tschechien mache sich unglaubwürdig, wenn seine
Regierung "noch bevor es einen Landkrieg gibt und uns die
Alliierten zur Teilnahme einladen, sicherheitshalber erklärt,
daß sich Tschechien an keinen Kämpfen beteiligen
werde." Dies sei ein "Alibismus", der dem Ansehen des
tschechischen Staates schade. (SZ, 28.4.) Gerade noch rechtzeitig zum
Gipfel entscheidet sich das Parlament in Prag dann eindeutig –
mit 145 von 181 Stimmen – dafür, daß NATO-Flieger
tschechische Flugplätze nutzen und NATO-Konvois durchs Land fahren
dürfen.
Vorbildlich dagegen benimmt sich Polen, dessen Politikermannschaft in
beeindruckender Geschlossenheit – mit Ausnahme der Bauernpartei
– gegen die in Öffentlichkeit und Volk vorherrschende
Abneigung gegen den Krieg ankämpft. In Beherzigung der Tatsache,
daß man ein Volk am besten überzeugt, indem man an seinen
Stolz appelliert, setzt die polnische Regierung ihre Leistungen ins
entsprechende Licht: Erstens hat sie schon 2 prominente Vertreter als
OSZE-Funktionäre in Balkan-Missionen entsenden dürfen und
weiß daher, was dort nottut; zweitens bietet sie die Entsendung
von Bodentruppen an, noch bevor sie von der NATO gefragt wird, drittens
stellt sie eben mal 2,5 Mio DM aus ihrem Sparhaushalt bereit und
schickt eine Kompanie Gebirgsjäger nach Albanien, die dort mit der
ehrenvollen Aufgabe betraut werden, nicht auf Flüchtlinge, sondern
auf die Sicherheit der NATO-Truppen selbst aufzupassen. Keine Frage,
daß Kwasniewski in Washington eine gute Figur abgibt und nachher
immer öfter gemeinsam mit Schröder und Chirac auftreten darf.
*
Die Adresse des Gipfels an die lokalen Anrainerstaaten besteht in der
neuerlichen Bekräftigung der NATO, daß die einzig sinnvolle
Perspektive dieser ganzen Staatenwelt darin besteht, sich unter die
Expansion des Bündnisses zu fügen. Statt dabei unangenehm
aufzufallen, sollen sie lieber die Beiträge abliefern, für
die sie jeweils geeignet sind. Inwiefern das auch eine Perspektive
für sie ist, unterstreicht ein neuer Beitrittsplan: In den
nächsten 3 Jahren wird eine Überprüfung weiterer
Kandidaten vorgenommen. Das Aufpolieren einer Perspektive brauchen sie
gerade deshalb, weil zwar alle betroffenen Regierung damit befaßt
sind, um einen ihnen von EU und NATO gewährten Status zu
konkurrieren, dabei aber gewisse politische Kosten anfallen.
Der Krieg wirft nämlich die Frage nach dem nationalen Sinn und
Nutzen des Dabeisein-Wollens auf ganz neue Weise auf, so daß
einiges im Verhältnis von Regierung und Volk, Regierung und
Opposition durcheinanderkommt und die NATO-Öffentlichkeit
feststellen muß, daß im europäischen Osten und
Südosten die rechte Kriegsbegeisterung, d.h. natürlich die
Einsicht in die moralischen Pflichten von NATO-Mitgliedern und
-mitmachern zu wünschen übrig läßt. Nachdem das
Anschlußbedürfnis der meisten Aspiranten zunächst nur
dem europäischen Club der Reichen und der Umweg über die NATO
eher als unerläßliche Bedingung galt, nachdem dann die
Völker auf den Nutzen der NATO, namens Stabilitätsexport und
Frieden eingeschworen worden sind, gilt nun faktisch die Umkehrung: Der
nationale Ertrag besteht als erstes einmal in einem Krieg vor der
eigenen Haustür, wie sie ihn während der ganzen langen Jahre
zuvor in ihrem titoistischen bzw. sowjetischen
Völkergefängnis nicht erleben durften; der Einmarsch in Prag,
der damalige russische Stabilitätsexport nimmt sich verglichen mit
dem heutigen Kriegsgeschehen wie ein Spaziergang aus, und ihren
Afghanistan-Krieg hat die alte Hegemonialmacht ganz in eigener Regie
und auf eigene Kosten geführt. Während man sich damals
über die unerträglichen Rüstungskosten des Warschauer
Pakts beschwert hat, die nur die ökonomische Entwicklung
belasteten, fallen heutzutage nicht nur ganz andere Kosten an, sondern
veritable Kriegsschäden in den eigenen Grenzen. Der neue Feind
gehört bei den meisten Staaten noch nicht einmal in die Liste der
traditionellen Feinde. Außerdem sind die Völker – mit
Ausnahme intellektueller Kreise, die achtbar, fast schon auf
europäischem Niveau ihre Pflicht im Rahmen der Kampagne 'Freiheit contra Sozialismus' tun – noch nicht ganz
an die neue Aufgabe ihrer Staatsmacht gewöhnt, sich an der
internationalen Verbrecherverfolgung in Gestalt eines Bombenkriegs zu
beteiligen. Im besten Falle reagieren sie verständnislos auf das
Gebot, sich um den Stand der Menschenrechte im Kosovo zu kümmern.
Das ist zwar im Prinzip scheißegal, kann aber der politischen
Stabilität schaden, wenn darüber konkurrierende Parteien
hochkommen, die mit Anti-NATO-Bedenken nur die Regierung ablösen
möchten oder allen Ernstes dagegen sind. Dolmetschversuche von
seiten der nationalen Verantwortungsträger, inwiefern dieser Krieg
haargenau zur jeweiligen Staatsraison paßt, sind also gefragt und
fallen dementsprechend aus.
– Der bulgarische Regierungschef kann deshalb schon gleich gar
nicht am Gipfel teilnehmen. Nachdem schon das dritte NATO-Geschoß
im Grenzgebiet niedergegangen ist, gleichzeitig die Zustimmung der
Regierung zur Öffnung eines Luftkorridors für
NATO-Luftangriffe bekannt wird, muß Stojanow seine
Washington-Reise absagen, um zu Hause die aufgebrachte Bevölkerung
im Grenzgebiet zu beruhigen. Das probiert er mit der Dialektik von
Gefühl und Verstand, nach der der Verstand gebietet: "Politiker müssen die Lage auf lange Sicht hin bewerten und
berücksichtigen, was nach dem Krieg sein wird."
Außenministerin Michailowa gibt zu bedenken, "Neutralität käme in der gegenwärtigen Lage einer
Isolation des Landes gleich". (FAZ, 24.4.) Daß die Nation
mitmachen muß, nur um nicht auf der falschen Seite zu stehen,
daß das Verhältnis zum Kriegsbündnis sich also gar
nicht aus einem absehbaren nationalen Nutzen ableitet, sondern nur zur
Verhinderung eines weiteren Schadens dienen soll, ist fast schon der
Klartext über die Lage der drittklassigen Mitmacher der neuen
NATO-Ordnung in Europa, die auf dem Balkan zurechtgeschossen wird.
Die Regierung weiß jedenfalls, wo ihre Pflichten liegen. Sie mag
zwar nach wie vor ihrem aufgebrachten Volk keine NATO-Truppen und schon
gleich keine eigene Truppenbeteiligung zumuten, sagt aber zum Beweis
der Zuverlässigkeit auf dem Gebiet der "regionalen
Solidarität" weitere Leistungen zu, nachdem sie vorher schon
Mazedonien ein paar Waffen geschenkt hat: Sie gibt ihre bisherige
Ablehnung auf, was die Übernahme von Flüchtlingen und das
Aufstellen von Lagern angeht. Wenn das Land schon Probleme mit lauter
eigenen Minderheiten hat, was bislang der Grund der Ablehnung war,
schadet eine neuimportierte auch schon nicht mehr viel. Nachdem
NATO-Flugzeuge "schon in 200 Fällen auch ohne Einwilligung
von Regierung und Parlament über bulgarisches Territorium geflogen
sind" (NZZ 6.5.), dort auch ein paar unabsichtliche Bomben
hinterlegt haben, verlegt die Regierung einerseits Luftabwehrraketen
zum Schutz des Atomkraftwerks Kozloduj, das gerade einmal 100 km
entfernt von der Grenze liegt, und setzt Anfang Mai im Parlament gegen
massive Proteste der Opposition einen Beschluß zur Öffnung
des Luftraums für Angriffe auf Jugoslawien durch.
– Der rumänische Außenminister Plesu, der zu Beginn
der Operationen die rumänische Teilnahme ähnlich lustlos
damit begründet hatte, "daß man nicht
gleichermaßen gute Beziehungen zu Belgrad und zur NATO
unterhalten könne und sich deshalb entscheiden müsse"
(FAZ, 29.3.), gibt sich in der Parlamentsdebatte über die
Öffnung des Luftraums für NATO-Bomber mehr Mühe und
wirbt um das Verständnis seiner Landsleute und Mitparlamentarier
mit der anheimelnden Vorstellung: "Hätten sich viele im
Lande vor zehn Jahren nicht gewünscht, daß die NATO
ähnlich hart gegen den Diktator Ceausescu vorgegangen wäre,
wie sie es heute gegen Milošević tut?" (FAZ, 24.4.) Wie
weit es die Rumänen für plausibel halten, daß ihnen ein
NATO-Bombenkrieg, wie sie ihn jeden Tag im Fernsehen und an der
gemeinsamen Grenze auch hautnah miterleben dürfen, vor 10 Jahren
gerade recht gekommen wäre, ist unbekannt. Der rumänische
Staatspräsident probiert es jedenfalls im Vorfeld der
Parlamentsentscheidung lieber mit dem bekannten Argument "Dabeisein ist alles!" in der rumänischen Version:
"Die Sicherheit Rumäniens werde gewährleistet durch den
eigenen festen Willen, sich der NATO und der EU anzuschließen.
Eine andere Option kann es nicht geben, keinen Mittelweg, keine
sinnlose Neutralität; Rumänien habe in seiner Geschichte
wegen der Zweideutigkeit seiner Politiker zu viel gelitten, als
daß ein solcher Kurs wieder zugelassen werden dürfte."
(NZZ, 20.4.)
Für zweideutig erklärt er heute die eindeutige Linie
nationaler Unabhängigkeit, die Ceausescu im damaligen Ostblock
betrieben hat, weil daraus, nicht zuletzt dank der Versuche, sich des
Kredits des anderen Lagers zu bedienen, nichts geworden ist. Sich
rückhaltlos diesem Lager an die Brust werfen, hält er immer
noch für die beste aller Alternativen, die sein Land im Reich von
Demokratie & Marktwirtschaft nicht hat. Folglich handelt es sich um
eine Linie, die die Nation selbstbewußt wählt,
Einwänden von seiten der Großrumänischen Partei
begegnet man nebenbei mit der Kriminalisierung von deren Chef. In
diesem Sinne liefert Rumänien seinen besonderen Glückwunsch
zum NATO-Jubiläum unter Verweis auf die Bedeutung seiner
geostrategischen Lage: Es lehnt einen russischen Antrag auf einen
humanitären Luftkorridor ab. Erlauben könnte es nur den
Landweg, auf dem sich dann das ungarische Vorbild kopieren ließe.
Vorstellungen aus Belgrad und Minsk, "Rumänien als ein
gleichgesinntes Bindeglied zwischen Serbien und dem europäischen
Teil der früheren Sowjetunion" für die
russisch-weißrussische Union einzuspannen, werden zitiert oder
gut erfunden und als unglaublicher "panslawistischer"
Anschlag auf ein "lateinisches Land" entlarvt. Dank solch
guter Argumente bekommt die Regierung im Unterschied zu Bulgarien schon
vor dem Gipfel eine respektable Parlamentsmehrheit bezüglich der
Öffnung des Luftraums für NATO-Angriffe hin; das wird mit der
Beitrittsaussicht vergütet. Der Brite Blair unterstreicht den
Fortschritt mit einem eigenen Staatsbesuch, und außerdem schaut
Anfang Mai auch noch der Papst vorbei, der, wie die FAZ erläutert,
seinerseits das Volk "an Europa heranführen"
möchte.
Schließlich kann der rumänische Präsident seiner Nation
noch einen weiteren Gewinn präsentieren. Der betrifft den
Kriegstitel, der den an Serbien angrenzenden Souveränen allesamt
ziemlich zu schaffen macht: Was hat das Kriegsziel "Autonomie
für den Kosovo" für den Balkan mit seinem notorischen
Völker-Durcheinander insgesamt zu bedeuten? Wie sollen Staaten,
die allesamt "Minderheitenprobleme" nur zu gut aus ihrem
eigenen Herrschaftsbereich kennen, das von der NATO geltend gemachte
Prinzip verstehen? Für alle ist damit die Frage aufgeworfen, ob
sie sich in Zukunft selber als Adressat analoger Forderungen
wiederfinden oder womöglich selber solche erheben dürfen.
Jedenfalls bringt der NATO-Kriegstitel sämtliche
zwischenstaatlichen Streitfragen, was Völkerschaften und Grenzen
betrifft, ganz neu auf den Tisch und bildet den Auftakt zu einer neuen
Besichtigung der lokalen und übergeordneten
Kräfteverhältnisse. Rumänien mit seinen mehr oder
weniger gut als solchen organisierten "Minderheiten" kann
schon vor dem Gipfel Entwarnung melden: Von seiten der USA liegt ein
Kosovo-ähnlicher Einwand gegen das Land nicht vor!
"Constantinescu berief sich auf eine kurz zuvor abgegebene
Stellungnahme Clintons, der den Vertreibungen in Kosovo den Willen
Rumäniens entgegengestellt hatte, Demokratie durch die
Respektierung der Rechte der ethnischen Minderheiten aufzubauen. Der
Balkan könne zwei Wege gehen, sagte er sinngemäß: den
des Kriegsherrn Milošević oder den Rumäniens, das ein
demokratisches Land mit umfassenden Rechten für die ethnischen
Minderheiten sei". (FAZ, 24.4.)
– Der slowakische Kollege schlägt sich wegen desselben
Kriegstitels mit einer äußerst unguten Lage herum: Auf der
einen Seite bedeutet der Krieg die Gelegenheit, in Richtung NATO
möglichst schnell und eifrig die "Versäumnisse"
in der Dokumentation der nötigen Unterwerfungsbereitschaft
aufzuholen, die sich sein Vorgänger Meciar hat zuschulden kommen
lassen; auf der anderen Seite liefert er eben diesem Vorgänger mit
dem Kriegsziel 'Autonomie für das Kosovo' eine
Steilvorlage für dessen politisches Comeback. Nachdem die
Regierung Dzurinda gleich zu Beginn, auch gegen Bedenken in der
Regierungskoalition, den Luftraum ausdrücklich nicht nur für
Versorgungsflüge, sondern auch für Kampfeinsätze der
NATO-Luftwaffe freigegeben hat – unter demonstrativer Betonung
der Bedeutsamkeit seines Landes: "Wenn die Allianz einen
nördlichen Luftkorridor aufbauen will, wird dies ohne die Slowakei
nicht gehen" (SZ, 14.4.) –, meldet sich Meciar zurück
und "instrumentalisiert" den Kosovo-Konflikt als
Wahlkampfthema:
"Am Kosovo lasse sich ablesen, was eines Tages der Slowakei
selbst mit ihren ungarisch besiedelten Landesteilen im Süden
widerfahren könne. Zwar fordert weder Ungarn, noch die etwa 650000
Köpfe zählende magyarische Minderheit in der Slowakei
ernsthaft so etwas wie eine Autonomie", (SZ, 15.4.)
behauptet der SZ-Korrespondent ungeachtet der Tatsache, daß
Ungarn schon seit längerem von der Slowakei "kollektive
Minderheitenrechte" fordert und der ungarische
Ministerpräsident im Februar vorwärtsweisend die "Wiederherstellung der Autonomie für die nordserbische
Provinz Vojvodina" angemeldet hat. (SZ, 23.2.)
"Nun macht die HZDS (Meciars Partei) aus der NATO ein Feindbild.
Aus dem Kosovo-Einsatz folgere logisch, daß die Allianz
irgendwann einmal wie für die Albaner in Serbien auch für die
Ungarn in der Slowakei Partei ergreifen werde." (SZ, 15.4). Dabei
beruft sich die HZDS nicht zuletzt auch auf "das Faktum,
daß die Westmächte ursprünglich für die Autonomie
Kosovos eintraten und daß sich nun sogar die Abspaltung der
Provinz von Jugoslawien als eine Möglichkeit abzeichnet."
(NZZ, 16.4.)
Für das heimische Publikum fallen die Beschwichtigungsversuche des
Premiers, daß man von den eigenen Ungarn nicht das geringste
Problem zu erwarten hätte, wenig überzeugend aus, nachdem die
Haltbarkeit der neuen Regierungskoalition schon kurz nach ihrem
Amtsantritt durch einen massiven Streit um Forderungen der Ungarischen
Parteien in Frage gestellt ist. Was die Glaubwürdigkeit der
nationalen Linie gegenüber den Aufsichtsmächten angeht,
besteht große Sorge, daß Meciar mit seinen
Anti-NATO-Parolen abermals das Klima verderben könnte. Ob
Dzurindas Entschuldigung dafür, "daß die NATO-Angriffe
in der Slowakei auch kritisiert würden", und sein Rausreden
auf demokratische Gebräuche: "Das sei auch in
NATO-Ländern der Fall und kein Ausdruck einer
NATO-Feindlichkeit" (HB, 14.4.), bei der NATO ankommen, ist noch
die Frage. Jedenfalls steht das ganze Programm der Annäherung an
Europa auf dem Spiel, wenn die neue Regierung schon wieder nicht die
NATO-gehörige politische Stabilität in ihrem Land vorweisen
kann.
Immerhin zeigt der Regierungschef seinen besten Willen –
Parlamentsabstimmungen sind glücklicherweise nicht nötig
– und erlaubt zum Auftakt des Gipfels der NATO den Transport von
Personen und Material auf dem Landweg. "Wir verhalten uns so, als
wären wir bereits NATO-Mitglied", lautet die Devise der
Regierung (Die Presse, 24.4.). Zu Hause "bittet Dzurinda seine
Landsleute um Verständnis für das Vorgehen der NATO"
und droht, daß sein Land unter einem Präsidenten Meciar
garantiert in dieselbe Lage wie Serbien mit seinem Milošević
geraten wird: Er "warnt vor einem militanten Nationalismus, der
im besten Fall in die Isolation und im schlechtesten zu Zuständen
nach heutigem jugoslawischen Vorbild führe". (NZZ, 23.4.) Ob
das das Verständnis der Slowaken für die NATO fördert,
ist unklar, jedenfalls verspricht der Wahlkampf spannend zu werden.
– Slowenien stellt im Rahmen des Gipfels dem Bündnis mehr
Landwege zur Verfügung als es überhaupt Quadratkilometer sein
eigen nennt, und macht sich in Ermangelung anderer militärischer
Potenzen um die Feindbildpflege verdient: Der slowenische
Präsident warnt den Westen vor der Kunstfertigkeit
Miloševićs, seine Gegner zu "spalten" – dessen
Gefährlichkeit kennt er nämlich aus der gemeinsamen
Vergangenheit im Bund der Kommunisten und den Zeiten der
gemeinschaftlich betriebenen Spaltung Jugoslawiens genau.
Außerdem hatte Slowenien schon immer ein Herz für die
Albaner. Ende der 80er Jahre wußte die damalige Teilrepublik
Slowenien schon, daß ihr Geld viel zu schade war für die
Beiträge an den gesamtjugoslawischen Fonds für die
ärmeren Regionen, mit dem auch nur die südjugoslawischen
Kanaken ausgehalten wurden. Ihre damalige Entscheidung, den Geldhahn
zuzudrehen, hat schließlich im Verein mit den ersten serbischen
Auftritten von Milošević im Kosovo die Zerlegung des Tito-Staats
und damit letztlich auch die albanische Befreiung eingeleitet; ganz im
Sinne dieser Linie übernimmt heute auch Slowenien ein paar hundert
Flüchtlinge.
– Für Kroatien sichert Außenminister Mate Granic einen
"konstruktiven Beitrag zu der NATO-Operation zur Beendigung der
Kosovo-Krise" zu. Damit hofft das Land, endlich in das
Partnership-for-Peace-Programm aufgenommen zu werden, was bislang an
der kroatischen Weigerung gescheitert ist, die Daytoner
Zusatzvereinbarungen bezüglich einer Rückkehr serbischer
Flüchtlinge und der Kooperation von Kroaten und Muslimen in Mostar
und der Herzegowina zu "implementieren". Das Tuđman-Regime
legt allerdings ganz prinzipiell Wert auf die Fortdauer der
Souveränität Serbiens über das Kosovo und fürchtet
einen von der NATO aufgemachten Präzedenzcharakter für die
bereits von serbischer Bevölkerung "ethnisch
gesäuberten" Krajna bzw. den endgültigen Status
Ost-Slawoniens mit seiner serbischen Mehrheit auf kroatischem
Hoheitsgebiet. Für die Überflugrechte der NATO-Bomber hat
Clinton im April Waffenlieferungen an Kroatien freigegeben und der
amerikanische Sonderbeauftragte für die Umsetzung des
Dayton-Abkommens, Robert Gelbard, trug bei seiner letzten Visite in
Zagreb Ende April nicht bloß die üblichen Beschwerden
über die sabotierte Integration der (kroatischen)
HVO-Streitkräfte in eine gemeinsame bosnische Armee vor, sondern
überbrachte Granic eine Einladung Clintons zur 50-Jahre-Feier der
NATO. Die Opposition (Sozialdemokraten und istrisch-dalmatinische
Regionalisten) versieht die Siegesmeldungen der Regierung –
"Kroatien ist praktisch in die Partnership-for-Peace aufgenommen
und auf bestem Wege zur Mitgliedschaft in NATO und EU!", so
Redner der Tuđman-Partei HDZ bei der Debatte im Sabor über den
Kosovo-Krieg – mit Klagen über die verheerenden Auswirkungen
auf den Tourismus, immerhin die wichtigste Einnahmequelle des Landes.
Gemeinsam hoffen beide Seiten, daß sich Clintons Ankündigung
auf dem Gipfel – "Wir werden diesen Staaten, die sich dem
Risiko aussetzen, selber Opfer von Miloševićs Aggression zu
werden, dabei helfen, eine bessere Zukunft zu gestalten." - nicht
bloß auf die "Unterstützung beim Schutz fundamentaler
zivilisatorischer Werte" bezieht.
– Mazedonien und Albanien sind selbstredend in Washington auch
präsent. Weil sie als Flüchtlingsabstell- und
NATO-Aufmarschplätze schon voll einbezogen sind, bietet wiederum
die EU ihre Hilfe dazu an, sie "herauszuhalten":
"EU-Außenminister stellen Albanien und Mazedonien
Assoziierungsabkommen in Aussicht. Die EU will den Nachbarstaaten
Jugoslawiens verstärkt helfen, um sie aus dem Kosovo-Konflikt
herauszuhalten und sie dauerhaft zu stabilisieren." (SZ, 28.4.)
Alles Weitere steht im Fischer-Plan.
*
Die NATO mischt die gesamte Staatenabteilung gründlich auf, und
weil sie das tut, kümmert sie sich auch darum, daß sie bei
der Stange bleibt. Dafür nehmen die europäischen NATO-Chefs
auch wieder die EU in Anspruch und stellen eine gewisse Geneigtheit zu
Verhandlungen über mögliche spätere Beitritte in
Aussicht; so leistet die EU ihren Beitrag in ihrer neuen Qualität
als Ordnungsinstrument. Die Perspektive einer Annäherung an den
Wirtschaftsclub darf und soll weiterhin verwechselt werden mit der
Aussicht auf wirtschaftliche Prosperität und nachhaltige
Friedenssicherung, auch wenn sich beides ein bißchen
kontrafaktisch zur Lage auf dem Balkan verhält, wie sie die NATO
gerade herstellt, und die Vergünstigungen, die Europa seinen
Beitrittskandidaten zu bieten pflegt, in einem geradezu
lächerlichen Verhältnis zu den Verwüstungen stehen, die
auf dem Balkan jetzt schon zu registrieren sind. Die EU-Umweltminister
lassen schon einmal Messungen über die Vergiftung der Region durch
die Rußwolken der zerbombten Ölraffinerien und getroffenen
Chemiewerke anstellen; das liefert Entscheidungshilfen für die
Frage, was alles an landwirtschaftlicher Produktion künftig vom
EU-Markt fernzuhalten und auch für den menschlichen Verzehr auf
dem Balkan eigentlich nicht zu empfehlen ist. Weitere
Erläuterungen, welch glänzende Zukunft Europa für seine
Balkan-Provinz vorgesehen hat, finden sich, wie gesagt, einerseits im
Fischer-Plan. Andererseits gibt es auch heute schon Belohnungen: Z.B.
die Anerkennung der wirtschaftlichen Schäden. Auch dafür
erklärt sich die NATO auf ihrem Gipfel für zuständig;
nicht im billigen geldlichen Sinn, wohl aber in Gestalt besonderer
Würdigung: Die notgedrungene Inkaufnahme dieser Schäden wird
als eigener Beweis für Linientreue geehrt, zur Nachbereitung wird
Bukarest eigens mit einem Staatsbesuch bedacht, dort zeigt sich Blair
"dankbar" und verweist die Anwesenden auf die "besonders schwierige
Lage und die wirtschaftlichen Verluste
aller Staaten in unmittelbarer Nähe des Kosovo-Konflikts"
(NZZ, 5.5.), die ihnen gut bekannt sein dürften. Zur stilvollen
Würdigung gehört auch die Erinnerung an die Verluste aus dem
vormaligen Embargo, die nicht entgolten, aber niemals und nimmermehr
vergessen werden.
Zuständig im geldlichen Sinn sind die üblichen Instanzen IWF
und Weltbank, die auch nicht länger "wegschauen"
wollen, sich deswegen ebenso beim NATO-Gipfel eingefunden haben und
versprechen, mehr Kredite unter "gelockerten Bedingungen"
(taz, 28.4.) an die Länder der Region zu vergeben, wie Camdessus
am Rande des Gipfels erklärt. Zusagen bezüglich einer
Schuldenstundung oder -minderung ersetzen zwar keine kaputtgegangene
Produktion; allein schon die Aufnahme von Flüchtlingen stellt
für die Transformations-geschädigten Ökonomien eine
Zusatzbelastung dar, denen die Staatshaushalte und nationale Versorgung
nicht gewachsen sind; aber darum geht es ja auch gar nicht. Die
NATO-Bündnispartner aus den Etagen des internationalen Kredits
erinnern die Nachbarstaaten des Kriegsfalls auf ihre Weise an deren
vitales Interesse, sich auf die richtige Seite zu stellen. Im Falle
Rumäniens wird die Lage an der Schuldenfront ein bißchen
entspannt, schließlich möchte man nicht auch noch mitten im
Krisengebiet einen Staatsbankrott haben.
Des weiteren verspricht die NATO auf ihrem Gipfeltreffen
Sicherheitsgarantien. Einzelheiten werden zwar nicht bekannt gegeben,
aber die entscheidende Sicherheitsgarantie in einem voll entfalteten
Kriegsgeschehen besteht schlicht und ergreifend darin, Rest-Jugoslawien
in Schutt und Asche zu legen, dann kann es auch seinen Nachbarstaaten
deren NATO-Dienstleistungen nicht praktisch verübeln. So lautet
dann auch die letzte und entscheidende Argumentations- und
Entscheidungshilfe der NATO für ihre lokalen Partner, daß
sie den Krieg ohnehin führt und von Woche zu Woche eskaliert, so
daß diese im wesentlichen auch nur die Wahl zwischen Mitmachen
und dem unangenehmen Zustand namens "Isolation" haben, mit
dem auch Milošević einmal angefangen haben soll.
*
Ein neues Mitglied macht von sich reden, indem der Staatspräsident
auf die Teilnahme am Gipfel verzichtet, was ihm aber nicht als Zeichen
von "Wankelmütigkeit" übel genommen wird. Ungarn
nimmt in verschiedenen Hinsichten eine Ausnahmeposition ein. Das
einzige NATO-Mitglied, das gleichzeitig Frontstaat ist, hat besondere
Pflichten, möglicherweise auch andere Rechte? In jedem Fall aber
äußerst besondere Sorgen, die Staatspräsident
Göncz damit unterstreichen möchte, daß er nicht zum
Gipfel antritt – es kursiert nämlich ein Gerücht, nach
dem die NATO Zusagen in Sachen Vojvodina gebrochen haben soll. Ungarn
hat in diesem Fall ein besonderes nationales Interesse anzumelden,
nämlich eine "Verantwortung" gegenüber 300000
Ungarn in der nordserbischen Provinz, verfügt aber außer
seiner Eigenschaft als NATO-Mitglied dritter Klasse über
dramatisch wenig eigene Mittel, dieses Interesse geltend zu machen.
Deshalb leidet die Nation an ihrem Drangsal, ob und wie weit das
nationale Interesse von der NATO überhaupt zur Kenntnis genommen
und vielleicht ein bißchen berücksichtigt wird. An dieser
Aufgabe arbeitet sich die ungarische Diplomatie der letzten Wochen ab.
Die Regierung hat gleich zu Beginn der NATO die uneingeschränkte
Benützung ihres Luftraums eingeräumt und bezeichnet das, weil
sie selber mangels passender Flieger auf eine Teilnahme am Bombardieren
verzichtet, als eine "Linie der Zurückhaltung".
Ministerpräsident Orban verweist auf die "delikate"
Lage, an einem Krieg teilzunehmen, der die eigenen Volksbrüder im
serbischen Hoheitsbereich mitangeht (HB, 24.3.); der äußerst
delikate Verweis richtet sich dann im folgenden weniger gegen die NATO,
die die Hauptstadt der Vojvodina, Novi Sad, unablässig mit Bomben
eindeckt, sondern rückt einen anderen Gesichtspunkt in den
Vordergrund:
"Für den Fall, daß Serben Magyaren als Geisel nehmen
würden – wofür es keinerlei Anzeichen gebe –, sei
Budapest auf Gegenmaßnahmen vorbereitet, zitierten ungarische
Zeitungen einen Staatssekretär im Außenministerium."
(HB, 11.4.)
Auf jeden Fall wird die mögliche, also fast schon wirkliche
Unterdrückung ungarischer Jugoslawen durch Milošević bei
jeder passenden und unpassenden Gelegenheit angeprangert, ebenso die
Tatsache, daß Milošević dort wie im Kosovo zu Beginn der
90er Jahre den Autonomiestatus kassiert hat, daß Ungarn dort also
eigentlich den gleichlautenden Anspruch geltend machen könnte:
Jede Kosovo-"Lösung" wird als Präzedenzfall
für die ungarischen Interessen in der Vojvodina gehandelt. Die
Frage ist nur, ob die NATO das auch so sieht, bzw. bei der
Zerstörung Serbiens weit genug geht, so daß Ungarn von der
Parallele etwas wahrmachen kann.
Außenminister Martonyi antichambriert unablässig in
Brüssel und Washington und berichtet nach Gesprächen im
NATO-Hauptquartier, "er glaube, daß man bei der Allianz nun
klar sehe, daß die Lage der Magyaren der Vojvodina nicht allein
ein ungarisches Problem sei; vielmehr liege die Verhinderung
ähnlicher Entwicklungen wie in Kosovo im Interesse der ganzen
Allianz." (NZZ, 11.4.) Orban, der sich und sein Recht auf
Anwesenheit bei einem peinlichen Vorfall am Rande des Festakts
gegenüber dem amerikanischen Ordnungsdienst erst ausweisen
muß, "nannte unter den Erfolgen am Washingtoner Gipfel,
daß es gelungen sei, den NATO-Partnern das Problem dieser
Minderheit bewußt zu machen". Das besteht offensichtlich
nicht darin, als Zielscheibe von NATO-Bomben herumzulaufen;
schließlich akzeptiert Orban in Washington "den Wunsch der
NATO, die Flugplätze vermehrt zu beanspruchen". (NZZ, 28.4.)
Die Taktik der Regierung, der Allianz ihr Herzensanliegen durch betonte
Dienstfertigkeit nahezubringen, verlangt eben auch Verständnis
für die NATO, die ihre Angriffe in der Vojvodina damit
begründet, "daß eine Schonung der Nordprovinz von
Belgrad als Einladung verstanden würde, Waffen und Ausrüstung
dorthin zu schaffen". (FAZ, 19.4.) So gesehen ist es
schließlich wiederum Milošević, der die dortigen Ungarn
zur "Geisel" seines Kriegs macht. Eine schöne
Klarstellung, daß die von Ungarn wahrgenommene Rolle als
Schutzmacht aller Auslandsmagyaren nicht mit dem Schutz von deren
Lebensumständen zu verwechseln ist, sondern deren angestammten
Rechten gilt. Zur Erringung dieser Rechte müssen eben auch die
Volksungarn ein Stück NATO-Krieg aushalten! Nachher geht es ihnen
dann umso besser.
Im Anschluß an den NATO-Gipfel bricht dann ein Streit im
Parlament aus. Die kontinuierlichen Angriffe auf die Vojvodina, die
Ankündigung, daß demnächst 24 amerikanische
Kampfflugzeuge von Südungarn aus ihre Arbeit aufnehmen werden, und
die in der NATO-Öffentlichkeit diskutierte eminente Eignung
Ungarns für den Bodenkrieg lassen in ungarischen Medien die
Befürchtung aufkommen, womöglich in etwas "hineingezogen zu werden..." Dieser Sorge nimmt sich die
sozialistische Partei im Parlament an. Sie will die ursprüngliche
Zusage an die NATO revidieren und die Flugplätze der NATO "nicht mehr bedingungslos überlassen". Welche
Bedingungen die Sozialisten stellen möchten, bleibt im Unklaren
bzw. wird von der allgemeinen Entrüstung darüber
übertönt, daß auch die extreme Rechte verstanden hat,
um was es geht.
"Csurka meldet die Forderung an, Ungarn müsse nach dem Krieg
in der Vojvodina in den magyarisch bewohnten Gebieten Grenzkorrekturen
verlangen." (NZZ, 28.4.)
Das darf er aber nicht laut sagen, denn, so Außenminister
Martonyi, "die jüngste Washingtoner Erklärung sehe die
Lösung auf dem Balkan unter Respektierung der Integrität
aller Staaten vor. Mit Grenzänderung dürfe man nicht rechnen,
und Ungarn habe keine solchen Absichten." (NZZ, 31.4.)
Daß mit dem zunehmend härter geführten Krieg neben den
Sorgen um nationale Lasten auch die nationalen Erwartungen zunehmen,
was die Interessen jenseits der Grenze betrifft, ist verständlich.
Gerade deswegen kommt es aber auf die strengste Beachtung der
Richtlinien aus Washington an. Die Verwirklichung des ehrenwerten und
von allen geteilten Anliegens Csurkas hängt ganz von den
Kapitulationsbedingungen ab, die die NATO demnächst einmal
Milošević präsentiert, und davon, wie sehr es dabei bei den
bestehenden Grenzen Jugoslawiens bleiben soll. Aus der Position des
bedeutungslosen, aber höchst interessierten Mitmachers heraus wird
die Wende von "Zurückhaltung" zu lautstärkeren
Forderungen in Erwägung gezogen; nach dem einhellig als Extremist
deklarierten Csurka meldet sich ein Vorsitzender der
Kleinlandwirtepartei, die mit in der Regierung sitzt, und stellt sich
vor, "daß die Vojvodina wie das Kosovo zu einem kleinen
unabhängigen Staat wird". Bei der Allianz wird ausgelotet,
was denn als Belohnung für vorbildliche Pflichterfüllung als
Frontstaat drin ist. Deshalb kommt Streit darüber auf, wieviel an
unverhohlenem Revanchismus sich Ungarn leisten kann und darf, und die
bewährten ungarischen Definitionskünste in Sachen "Autonomie" sind gefordert:
"Der letzte 'ungarisch-ungarische Gipfel' (Treffen
der ungarischen Außenpolitiker mit den Vertretern der
organisierten ungarischen Minderheiten der Nachbarstaaten), wie die
etwas hochgegriffene Bezeichnung lautet, wurde 1996 abgehalten, und
namentlich das damals in der Schlußerklärung vorkommende
Wort 'Autonomie' als Ziel der Minderheiten verursachte
einige Aufregung. In Rumänien, wo nach offizieller Zählung
nicht ganz 1,7 Millionen Ungarn leben, und in der Slowakei, wo die Zahl
der Magyaren etwas weniger als 600000 beträgt, kam es zu scharfen
Vorwürfen... Manche wiesen darauf hin, daß der Begriff 'Autonomie', worunter man auf ungarischer Seite begrenzte
Rechte für die Minderheiten versteht, in Rumänien von vielen
reflexartig mit der Palästinenser-Autonomie und folglich mit dem
Willen zur Schaffung eines eigenen Staates assoziiert wird. Die
Berufung auf Autonomie fehlt nun diesmal in dem
Schlußcommuniqué." (NZZ, 24.2.)
Gerade weil Ungarn Erfolge zu verzeichnen hat, was die politische
Organisation der ungarischen Minderheiten im Ausland, deren Anerkennung
und politische Aufwertung angeht, zu der die slowakische und
rumänische Regierung auf ihrem "Weg nach Europa"
erpreßt worden sind, plädiert der Staatspräsident
für die Beibehaltung rhetorischer "Zurückhaltung":
"Auf die Frage, ob Autonomierufe eine Lösung für
Minderheitenprobleme seien, hegte Präsident Göncz Bedenken am
Wort Autonomie: 'Wenn die Leute dieses Wort hören, denken
sie gleich an Sezession. Wenn man aber die komplette Entfaltung der
Menschenrechte meint – etwa die Freiheit der Versammlung, der
Rede, der Religion und der Bildung von Organisationen –, so sind
dies natürliche Bestandteile der Menschenrechte im 20.
Jahrhundert'. Dies sei mit ein Beweggrund, warum Ungarn sich
für die Westintegration seiner Nachbarn einsetze." (HB, 9.4.)
Gegen die Linie des Staatspräsidenten vertritt wiederum der
ehemalige Regierungschef Horn, daß man unter Berufung auf das
Kosovo durchaus selbstbewußter in Erscheinung treten und
Autonomie fordern, wenn auch nicht gleich von Grenzänderungen
reden sollte:
"Horn plädierte für die Wiederherstellung der
Selbstverwaltung dieser Region, wie es sie bereits unter Tito gegeben
hatte. 'Es geht nicht an, daß die Rechte der Ungarn dort
weiter so massiv mißachtet werden. Nichts anderes wollen wir, wer
mehr will, richtet nur Schaden an.'" (SZ, 6.5.)
Einstweilen aber, bevor solche Perspektiven spruchreif sind, eskaliert
die NATO den Krieg. Die angestachelten revanchistischen Berechnungen
gehen zwar in Ordnung, soweit sie die Bündnistreue des Frontstaats
untermauern, zugleich aber ist noch gar nicht ausgemacht, wieviel noch
kaputt gehen muß und was der Frontstaat dabei selber
abbekommt.Während sich die FAZ gerade in die ungarischen Probleme
hineindenkt: "Die Aussicht, die Ungarn in der Vojvodina
könnten eines Tages vor der Vertreibung aus ihrer Heimat von der
NATO ebensogut 'beschützt' werden wie die Albaner im
Kosovo, ist wenig verlockend" (6.5.), macht sich die westliche
Wertegemeinschaft bereits um deren Schutz verdient. Die NATO legt
sämtliche Städte und Lebensbedingungen der "Ungarn
dort" in Schutt und Asche, die Zahl der Flüchtlinge nach
Ungarn nimmt zu, ohne daß sie dort vom humanitären Entsetzen
westlicher Fernsehteams und dem UNHCR in Empfang genommen werden.
Schließlich meint auch die Süddeutsche Zeitung, die NATO zur
Rücksichtnahme auf unsere ungarischen Freunde auffordern zu
müssen: Direkt hinter der Grenze zu Serbien stehen noch einige
Chemiewerke, "ein Fehlschlag der Allianz könnte ganze
Landstriche in Ungarn verseuchen" (SZ, 12.5.). Die längst
vorliegenden und an anderer Stelle des liberalen Blatts
befürworteten Planungen einer NATO-Invasion von Ungarn aus
erklärt die SZ kurzerhand für "tabu": "Hunderttausende Vojvodina-Ungarn kämen in tödliche
Gefahr" – nicht durch die Kriegsmaschinerie der NATO, deren
intelligente Kriegsmittel bekanntlich zwischen Tätern und Opfern
akribisch unterscheiden, sondern weil die Fähigkeiten der NATO,
während sie bombardiert und erobert, gleichzeitig auch noch zu "helfen", leider so beschränkt sind: "Wie wenig
ihnen die mächtigste Allianz der Welt dann helfen kann, zeigt das
Schicksal der Menschen im Kosovo."
*
Neben den besonderen nationalen Betroffenheiten zeichnen sich die
Vorbereitungen für eine neue Balkan-Konferenz ab. Die
Verantwortungsträger der beteiligten Nationen antizipieren den
Friedenskongreß in Gestalt von lauter zwischenstaatlichen Grenz-
und Volksfragen, die sie klären möchten. Es mag sein,
daß der Revisionsbedarf in manchen Ländern kleiner
ausfällt oder zwischenzeitlich schon einmal befriedet war; jetzt
aber wird dank der humanitären Aktion der NATO alles neu
aufgerollt. Gefragt sind die Balkansouveräne zwar nur wegen ihrer
militärischen Beiträge, die sie bei der Einkreisung und
Erledigung Rest-Jugoslawiens zu erbringen haben – aufgerührt
werden dadurch aber lauter nationale Fragen und
Revisionsbedürfnisse, ganz ähnliche, wie diejenigen, um
derentwillen die NATO nun schon seit einiger Zeit in Jugoslawien nach
dem Rechten sehen muß. Daher denkt auch die Grüne
Bundestagsvizepräsidentin Vollmer ihrerseits schon an den "Tag danach" und umreißt die größere
Aufgabe, die sich Europa bei der definitiven Ordnung des Balkan
vornehmen sollte:
"All diese explodierenden Klein- und Teilstaaten müssen in
einer größeren Einheit aufgehoben werden... Diese
größere Einheit kann nur Europa sein... Der Satz, daß
Grenzen in Europa nicht mehr verschoben werden dürfen, gehört
zu denen, die durch die bitteren Erfahrungen der letzten Jahre neu und
bewußt wieder ins Recht gesetzt werden müssen... Wenn das
aber klar ist, muß die Frage beantwortet werden, wie und durch
wen Minderheiten in Zukunft dauerhaft geschützt werden
können, daß kollektive Menschenrechte gewahrt, Pogrome,
ethnische Säuberungen und Vertreibungen wirksam unterbunden werden
können...: ein internationaler Gerichtshof für die Rechte der
Minderheiten... Es besteht jedenfalls die Chance, daß eine solche
internationale Instanz erheblich zur Rechtssicherheit in einer Welt
beitrüge, die längst mehr Bürgerkriege kennt als
reguläre Kriege zwischen einzelnen Nationalstaaten. Gleichzeitig
bekäme die Ohnmacht und die zur Gewalt treibende
Verfolgungserfahrung ethnischer Minderheiten eine Adresse, wo sie
wirksam ihr Recht suchen können und dabei selbst auf den
gewaltfreien Weg verwiesen werden... Gerade die Tragödien in
Bosnien und im Kosovo haben die Notwendigkeit erwiesen, ein solches
Konzept eines Internationalen Gerichtshofes für Minderheitenfragen
auf der einen, der Errichtung von militärisch abgesicherten
Schutzzonen für bedrohte Zivilbevölkerung auf der anderen
Seite zu entwickeln... Allerdings: Im Inneren muß eine Schutzzone
zwingend ein waffenfreier Raum sein. Wer selbst zur Waffe greift, hat
sein Recht auf Schutz verwirkt. Das eben unterscheidet das Konzept von
Schutzzonen von einem Protektorat durch eine Besatzungsmacht."
(FAZ, 11.5.)
Es ist schon merkwürdig, zu was Humanisten alles imstande sind.
Während sie kommunistische Ideen, Armut und Nationalismus
auszurotten, regelmäßig damit ablehnen, daß so etwas
nur zu Mord und Totschlag führen kann, richten sie sich
gemütlich in Zukunftsvisionen ein, die von "militärisch
eingedämmten Bürgerkriegen" nur so strotzen. Über
die wollen sie gerne die Aufsicht übernehmen: Das anheimelnde Bild
von einem die Welt überziehenden Netz "bewaffneter
Schutzzonen", mit dem man auf alle Seiten aufpaßt, auf die
"gewaltbereiten Mehrheiten" wie auf die "gewaltbereiten Minderheiten",
nennt sich stolz "realitätstaugliche pazifistische Strategie". Von
einem weitergehenden, irgendwie zivil gearteten Leben ist schon gar
nicht mehr die Rede.
Vom NATO-Gipfel zum G8-Außenministertreffen
NATO-Doppelstrategie:
Krieg und Diplomatie definieren fortschreitend die neue Weltlage
Zum Abschluß des NATO-Gipfels leitet Generalsekretär Solana
zum kriegerischen Tagesgeschäft über: Er kündigt an, die
3. Fase der "schweren Angriffe auf wirtschaftliche Ziele"
stünde noch aus und würde nunmehr eingeleitet. Dafür
wird eine "neue Klasse von Zielen" freigegeben,
einhergehend mit einer "größeren Handlungsfreiheit
für die Militärführung". Es werden Ziele "legitim", die es vorher nicht waren – was soviel
heißt wie: Die NATO erlaubt sich, nach sorgfältiger
Überprüfung, ob die in den "Ziellisten"
vorgesehene Reihen- und Rangfolge korrekt eingehalten wurde, den
nächsten tiefen "chirurgischen Schnitt" in die
Wehrhaftigkeit des Gegners. Das hat der sich verdient, weil ihn das,
was ihm schon kaputtgemacht worden ist, offensichtlich noch nicht zu
der Einsicht bewegt hat, weitere Bombardements nicht ertragen zu
können. Was ein "Kollateralschaden" ist und wie man
ihn zu bewerten hat, ändert sich darüber ein wenig. Wurden
Fernsehsender zuerst nur "versehentlich" beschossen, oder
weil sie Funkleitzentralen der Armee beherbergen sollten, so sind sie
nun Bestandteil der serbischen "Propaganda-Maschine", die
mit Propagandalügen der Wehrhaftigkeit dient und deswegen ebenso
konsequent vernichtet werden muß wie Ölraffinerien und
Eisenbahnbrücken. Dabei anfallende Opfer sind daher auch nicht
mehr eigentlich "zivil" in dem Sinn, sondern Bestandteile
von "legitimen militärischen Zielen". Diese
menschenfreundliche Unterscheidung läßt die NATO, Abteilung
Öffentlichkeitsarbeit, nämlich keineswegs fallen. Wo immer
ihre Flieger einen Reisebus oder Eisenbahnzug abschießen, ist sie
nach wie vor peinlich berührt, verspricht und präsentiert
sorgfältige Untersuchungen, verdächtigt erst einmal das
serbische Militär, selber zugeschlagen zu haben, drückt
anschließend tiefstes Bedauern über ausnahmsweise
fehlgegangene Bomben aus, weist entschuldigend auf die verschwindende
Zahl derartiger Irrläufer im Vergleich zur enormen Masse
erfolgreicher Treffer hin – und wird sich so mit ihrer
hyperkritischen demokratischen Öffentlichkeit ganz nebenher und
mit der größten Selbstverständlichkeit stillschweigend
darüber einig, daß alles das von vornherein in Ordnung geht
und im Nachhinein deswegen auch nicht weiter interessiert, was die
absichts- und ordnungsgemäß ins vorgesehene Ziel gebrachten
Sprengsätze anrichten. Das ist auch gut so; denn gemäß
dieser Sortierung kommt höchstens nebenher, in Stimmungsbildern
aus dem exotischen Feindesland z.B., einmal zur Sprache, daß
Infrastruktur und Industrialisierungsgrad der serbischen Republik
bereits auf den Stand nach dem letzten Krieg zurückgestuft sind
und daß die dafür erforderliche Vernichtung von
Industriewerken samt Rohstofflagern das Land in einem Umfang vergiftet,
wie es die beste Volksgesundheit nicht aushält. Der moderne
Bombenkrieg ist eben doch eindeutig die gründlichste Art, ein
Feindesland niederzumachen – effektiver jedenfalls als das von
Hand betriebene Geschäft des Vertreibens und
Häuser-Anzündens, das die serbische Soldateska im Kosovo
betreibt. Freilich ist er auch die zynischste Art von Zerstörung,
weil ihm unwidersprechlich sorgfältige Zielauswahl,
äußerste Schonung der Umgebung des jeweiligen Ziels sowie
eine professionelle Abwicklung ohne haßerfüllte
persönliche Konfrontation zwischen dem Militärpersonal und
seinen Opfern nachgerühmt werden können. Von einer "humanitären Katastrofe", die von tagelang brennenden
Ölraffinerien ausgeht, kann also keine Rede sein, weil die
NATO-Flieger ja – gemäß einer der blödsinnigsten
Unterscheidungen einstiger studentischer Protestkultur –
bloß "Gewalt gegen Sachen" üben; schon gar nicht
von einem "Genozid" durch die langfristige Vernichtung
elementarer Lebensbedingungen, weil dieser Vorwurf bereits für die
beharrlich kolportierten Massenvergewaltigungen von Trägerinnen
des kosovo-albanischen Volkstums reserviert ist. Eine gewisse "Umweltkatastrofe" fängt erst außerhalb der
serbischen Grenzen an: Auf Jugoslawiens Nachbarn kommt eine "schwere Umweltbelastung durch Dioxine und Furane" zu, was
den im Wind liegenden griechischen Hoteliers schon Sorgen macht –
beschweren sollen sie sich bei Milošević, dessen Land so viele
lohnende Ziele bietet.
Zur "größeren Handlungsfreiheit" der
Militärführung gehört nicht nur eine neue Auswahl "hochwertiger Objekte", die zum Abschuß freigegeben
werden, sondern auch die Steigerung der militärischen
Übermacht. General Clark fordert 300 neue Flugzeuge an, um
Lücken im Arbeitstag der Bomberflotte schließen zu
können, und die USA mobilisieren die dazu erforderliche
Bedienungsmannschaft; außerdem stationieren sie Panzer in
Albanien. Darüber hinaus hat die Militärführung nun Zeit
und Muße, neue Erkenntnisse der Rüstungstechnologie unter
Echt-Bedingungen zu erproben – wie man das in jedem Krieg so
macht. Machte sich am Anfang des Krieges mal die – in Europa
recht hämische – Sorge breit, den USA könnten
tatsächlich so elementare Hilfsmittel wie Cruise Missiles
ausgehen, so kann nun der Herr Shea mit großer Freude berichten,
wie elegant man ganz Jugoslawien nach Belieben "den Strom
abstellen kann", indem man nämlich mit Grafit gefüllte "soft bombs" über Elektrizitätswerken abwirft,
wofür sich bislang noch kein passender Krieg fand.
*
Amerika unterhält diesen Krieg, bestimmt über seine
Eskalation, indem es sie aus seinem ungeheuren Arsenal bestückt
– schon in den ersten Tagen des Krieges lieferte die US-Airforce
ein eindrucksvolles Schauspiel, als zwei B2-Bomber mal kurz von
amerikanischem Boden aufstiegen, das Kosovo bombardierten und Non-Stop
zurückflogen –; Amerika bringt neue Waffen mit und nimmt
sich die Freiheit, damit zu experimentieren. Die Auseinandersetzung mit
Jugoslawien ist insofern eine Gelegenheit und Serbien bietet das
Material für die Klarstellung, wie es um die militärischen
Kräfteverhältnisse auf der Welt bestellt ist, – und
für die Durchsetzung der strategischen Weltlage, die sich für
Amerika daraus unwidersprechlich ergibt.
Die militärische Rückständigkeit Serbiens, das zu einer
Gegenwehr gegen die Luftangriffe der NATO nie imstande war, ist
nachdrücklich vorgeführt worden. Damit aber auch – in
einem echten Krieg – die Unterlegenheit Rußlands, mit
dessen Waffentechnik Serbien die Beherrschung seines Luftraums sichern
wollte, die aber Stück für Stück zerbombt wird. Die
Kriegführung ist eine Art Bilanz, wie sehr der "Rüstungswettlauf" den Triumf der einen und den
Niedergang der anderen Seite zementiert hat. Der Krieg selbst
eliminiert darüberhinaus nicht bloß russisches Gerät,
sondern überhaupt den letzten drohenden Schatten russischer
Militärmacht und eines darauf gestützten politischen
Einflusses auf dem Balkan. Und er führt, noch
grundsätzlicher, vor, was der Westen strategisch vermag und
Rußland nicht: Die über Wochen anhaltende, ja
steigerungsfähige Verwüstung eines militärisch nicht
einmal mittellosen Landes aus der Luft ohne eigene Verluste ist
für Amerika und seine Allianz, wenn die sich erst einmal dazu
entschlossen haben, kein Problem; von russischen Fähigkeiten,
überhaupt noch irgendwo vor seiner "Haustür"
militärisch zu intervenieren, ist einfach nichts zu sehen. Das
alles ist nicht bloß ein eindeutiges Zustandsprotokoll über
Wille und Können auf militärischem Gebiet in der Staatenwelt
von heute; so monopolisiert der Westen praktisch und mit jedem
Kriegstag mehr die militärische Kontrolle des Weltfriedens. Er
deckt nicht bloß auf, wie "unipolar" die strategische
Verfassung des Globus mittlerweile ist, sondern er stellt die "Lage" her, daß die "atlantische"
Weltmacht überall Krieg ansagen kann und niemand sonst und
Gegenwehr ziemlich aussichtslos ist. Der Krieg gegen Jugoslawien ist
die praktisch gültige Statuszuweisung an alle ähnlich "problematisch" gelagerten Nationen, nämlich als
potentielle Adressaten einer Drohung, der sie nichts entgegenzusetzen
haben; er definiert insbesondere den strategischen Status
Rußlands, nämlich als Ex-Weltmacht: als Staat ohne wirksame
strategische Potenzen. Freilich unterhalb der immer noch nicht
bewältigten "Ebene" der Atomwaffen; aber auch in der
Hinsicht setzen die USA mit dem Balkankrieg Maßstäbe: Was
sie sich gemeinsam mit ihren Verbündeten dort vornehmen, schaffen
sie mit ihrem "konventionellen" Gerät. Ein Krieg zur
Eliminierung einer abweichenden Staatsmacht, also zum Zwecke einer
optimierten Weltordnung läßt sich folglich durchaus ohne
Nuklearwaffen abwickeln; die nicht-nukleare Rüstung der westlichen
Allianz reicht aus, um eine globale Strategie zur Beherrschung widriger "Weltlagen" zu verwirklichen – aber auch nur deren
Arsenal. Was sie an globaler Abschreckung braucht und will,
bewerkstelligt sie insoweit glatt unterhalb der Atomkriegsschwelle.
Soviel hat der Westen mit seinem Krieg an der strategischen Verfassung der Welt bereits geändert.
*
Was die Kriegführung der NATO praktisch bewerkstelligt –
eine neue strategische Statuszuweisung an Rußland und den Rest
der Staatenwelt –, das ist auch der Stoff der Kriegsdiplomatie,
die im Anschluß an den NATO-Gipfel Ende April heftig auflebt.
Zwischen Moskau und Washington, Bonn/Berlin und New York wird hin und
her gereist und beraten; auch Belgrad bekommt wieder russischen Besuch.
Im Mittelpunkt aller Aktivitäten stehen, durchaus sachgerecht, in
zweiter Linie die UNO und vor allem die Russen.
– Die UNO räumt in Gestalt ihres Generalsekretärs ein,
daß sie formell zwar zuständig ist und bleiben will, aber
eingesehen hat, daß sie weder Macht noch Einfluß auf das
Kriegsgeschehen besitzt. Das gilt nicht nur für den Club als
solchen, d.h. seinen in New York residierenden Apparat, sondern
für die Gesamtheit der Staaten selber, die sich dort treffen. Sie
alle sind damit konfrontiert, daß sie in einem exemplarischen
Weltordnungskrieg, einem erklärten Präzedenzfall
künftiger westlicher Weltordnungsaktivitäten, der insofern
sie alle angeht, nichts zu sagen haben, vielmehr auf die Rolle
betroffener, aber ohnmächtiger und einflußloser Zuschauer
reduziert sind – und sie finden sich in diese Lage. An Widerstand
ist sowieso nicht zu denken; auch Protest erhebt sich nicht. Vielmehr
zieht der Generalsekretär, quasi stellvertretend für alle
Mitglieder, den Schluß, daß man sich dem
Kräfteverhältnis, das von der NATO ausgeht, anpassen
muß: Weltpolitischen Einfluß gibt es in den letzten Fragen
nur per zustimmenden Nachvollzug der Entscheidungen, die der Westen
trifft. Mit Distanz, in dem Fall zum Krieg gegen Jugoslawien,
verurteilt man sich zur Bedeutungslosigkeit; mit Einwänden dagegen
würde man fast schon zum Kandidaten für den nächsten
Fall. Wichtigkeit und Anerkennung durch die wirklich Wichtigen erwirbt
man sich, als "Völkerfamilie" wie als deren
souveränes Mitglied, allein durch Zustimmung. Ein klares
Tauschgeschäft: Man liefert eine Legitimation, die die NATO
fordert, aber nicht braucht, weil sie davon nichts abhängig macht,
und bekommt dafür den Anschein, aktiv mitgewirkt, ja geradezu in
Auftrag gegeben zu haben, was die NATO sowieso erledigt. Und noch nicht
einmal dazu ist die maßgebliche Führungsmacht bereit, auf
diesen Schein einzugehen. Den USA liegt eher umgekehrt an der
Demonstration der rechten Rangfolge, also der subalternen Stellung
aller anderen Nationen und speziell ihres New Yorker Clubs; deren
nachgereichte legitimierende Zustimmung verdient eigentlich nur
Amerikas Verachtung. Ihre Würdigung muß die UNO sich schon
bei Amerikas Verbündeten abholen. In Berlin etwa empfängt man
Kofi Annan gern, läßt ihn die Kapitulationsforderungen der
NATO an Milošević, den Verbrecher, bestätigen und eine "Berliner Rede" halten, die passenderweise die
Europäer zu mehr eigenständiger Machtentfaltung aufruft, und
reicht den UNO-Chef nach Moskau weiter. Denn dort sitzt die eine Macht
– neben China –, die für das oberste UN-Gremium, den
Weltsicherheitsrat, und damit für sich noch immer nicht hinnehmen
mag, was der Westen ihr als ihre neue Rolle zumutet: die Wahl zwischen
einem Schein von Bedeutung, den man durch Zustimmung erwirbt, und der
Blamage jedes Anspruchs auf Eigenständigkeit durch schliche
Nicht-Beachtung alternativer Voten.
– Rußland meldet in der Person des Sonderbeauftragten
Tschernomyrdin sein dringendes Interesse an, an der Abwicklung
Jugoslawiens als eigenständiger welt- und europapolitischer
Machtfaktor beteiligt zu sein. Mit substanzlosen Drohungen mischt es
sich nicht mehr ein; auch nicht mit Kompromißvorschlägen,
denen die NATO-Mächte doch nur eine sofortige kompromißlose
Abfuhr erteilen – die Lektion, die Ministerpräsident
Primakow sich nach seinem Belgrad-Besuch in Bonn hat abholen
dürfen, hat offenbar gesessen. Mit "konkreten
Vorschlägen" hält Tschernomyrdin sich also zurück;
läßt bloß durchblicken, daß er in Belgrad etwas
speziell Wichtiges vernommen haben will, was auch den Westen unter
Umständen zu einem gewissen Entgegenkommen veranlassen
könnte; dämpft dann gleich wieder Erwartungen, die er gar
nicht erweckt hat; bemüht x-fach die Formel von der "Annäherung der Positionen" noch "ohne
greifbares Ergebnis" – und bemüht sich auf diese Weise
um Anerkennung in der Position des überparteilichen Vermittlers.
Eine solche Figur kann der Westen nun allerdings überhaupt nicht
gebrauchen: Die Überpartei ist er selber, weil er ja gar keinen
parteiischen Krieg führt, sondern als selbstbefugte "Internationale Staatengemeinschaft" einen Kriminellen
erlegt; und zu vermitteln gibt es nichts, weil er an seinen gerechten
Kapitulationsforderungen nicht rütteln läßt. Für
die kriegführenden NATO-Mächte stellt sich daher die Frage
– mißtrauische Kommentatoren stellen sie gleich explizit
und öffentlich –, was für ein eigenes Interesse
Rußland eigentlich verfolgt, wenn es überhaupt nach einer "Lösung" sucht, die nicht von vornherein
deckungsgleich ist mit den berühmten fünf Bedingungen des
Westens, die nun wirklich schon seit längerem
unmißverständlich und "crystal-clear" (Shea) auf
dem Tisch liegen. Die Antwort ist einfach zu haben: Mit dem Gestus des
ehrlichen Maklers, der zwischen unversöhnlichen Forderungen einen
gerechten Ausgleich sucht, legt Rußland vor allem Einspruch gegen
den Plan der NATO ein, Jugoslawiens Südprovinz mit einer von
Brüssel aus geführten Truppe zu besetzen; daneben verlangt es
einen Stopp der Bombardements als ersten Schritt zu einem
Friedensprozeß. Daß Rußland in diesen beiden Punkten
im Namen und Interesse Jugoslawiens spricht, liegt auf der Hand. Leicht
erkennbar ist aber auch sein eigenes "vitales" Interesse,
die wirkliche, militärisch präsente Macht auf dem und
über den Balkan nicht vollends und ausschließlich dem Westen
zu überlassen; denn das kommt ja immerhin der abschließenden
Liquidierung der letzten Überreste russischen Einflusses in und
auf Jugoslawien und über Jugoslawien auf die Region gleich. Ebenso
ist der Antrag auf Unterbrechung der Dauerbombardements kein
unschuldiger Vorschlag zur Güte, sondern eigennützig:
Rußland erhebt so Einspruch dagegen, daß die NATO pur nach
eigenem Gutdünken gewaltsam mit dem Balkan verfährt, ohne die
Moskauer Machthaber überhaupt nur zu fragen. Im Auftreten des
russischen Unterhändlers als selbstlos engagierter Friedensstifter
erkennen die NATO-Mächte daher sofort nicht bloß den
formellen Gegensatz zu ihrem gewaltsam wahrgemachten Willen, als
höhere Instanz gegen Belgrad vorzugehen, und nicht bloß eine
unpassende Parteinahme für die serbische Seite. Sie sehen darin
genau das Eigeninteresse Moskaus an Machtpositionen in und
Einfluß auf Südosteuropa am Werk, gegen das ihre
Intervention von Beginn an faktisch gerichtet ist und auch ihrer immer
expliziter klargestellten Absicht nach vorgeht. Dementsprechend gehen
sie mit Tschernomyrdin um: Sie akzeptieren seine Vermittlerdienste
nicht, lehnen sie aber auch nicht einfach ab, sondern nehmen ihn als
interessierte Gegenpartei, als Vertreter eines gegnerischen Willens.
Daß sie über ihn mit Milošević verhandeln, kommt
sowieso nicht in Frage; stattdessen verhandeln sie mit ihm, um ihm das
russische Interesse zu bestreiten, für das er einsteht. Dies
freilich in der verlogenen diplomatischen Form einer
partnerschaftlichen Verständigung darüber, unter welchen
Bedingungen eine Vermittlungsmission der Russen allenfalls
nützlich und hilfreich sein könnte:
"Die Russen müßten selbst einen 'klaren
Standpunkt zu einer internationalen Militärpräsenz
einnehmen'. Berger (Clintons Sicherheitsberater) fügte
hinzu: 'Die Tatsache, daß sich die Russen zur Suche nach
einer diplomatischen Lösung getrieben fühlen, kann
konstruktiv sein, wenn sie klar verstehen, welches unsere Bedingungen
sind.'" (FAZ, 27.4.)
Man geht also der Form nach auf den russischen Wunsch ein, diplomatisch
eine Rolle zu spielen, "begrüßt" sogar durchaus
die entsprechenden Initiativen – wobei die verschiedenen
Alliierten wieder die bekannt unterschiedlichen Akzente setzen:
Deutschland "begrüßt" ganz heftig und freut sich
schon auf Moskaus Zustimmung zum Fischer-Plan, Amerika bekundet
herablassend "Interesse", ohne der Moskauer Diplomatie
irgendwelche Erfolgsaussichten einzuräumen –; und dabei wird
nie versäumt, auf die Unverhandelbarkeit der eigenen Positionen
hinzuweisen. So wird jede "Begrüßung" zu einer
doppelten Zurückweisung: jeglicher Vorstellung, es könnte so
etwas wie einen Kompromiß der NATO mit Milošević geben,
und des russischen Begehrens, in Südosteuropa eine Macht zu sein
und die Region nicht exklusiv dem Westen zu überschreiben. Mit
ihrem besonderen diplomatischen Fingerspitzengefühl laden in
diesem Sinn die Deutschen Rußland herzlich ein, sich aus der "Isolierung" zu befreien, in die sie mit ihrem abweichenden
Vermittlungsstandpunkt doch nur geraten könnten, und sich "wieder" in die "Internationale Gemeinschaft"
einzugliedern:
"Vor allem die Deutschen, die sich das Ergebnis der
Kosovo-Beratungen als eigenen Erfolg gutschrieben, würdigten die
bisherigen, im Grunde weder hilfreichen noch erfolgreichen
Vorstöße Moskaus und beteuerten, wie wichtig die Einbindung
Rußlands für einen Frieden auf dem Balkan sei. Aber wenn
sich Moskau für eine Lösung noch einmal verwenden wolle, dann
nur auf Grundlage der fünf Bedingungen. Denn die würden von
NATO, Europäischer Union und dem Generalsekretär der
Vereinten Nationen geteilt, also der Staatengemeinschaft." (FAZ,
26.4.)
Damit steht die Welt endgültig auf dem Kopf bzw. auf
NATO-Füßen: Rußland soll sich gewürdigt sehen,
wenn es sich entmachten läßt. Es kann wichtig sein, wenn es
seiner Entmachtung zustimmt. Es steht vor der Alternative, entweder mit
dem aufrechterhaltenen Anspruch auf eine eigene Machtposition gar
nichts auszurichten und diplomatisch unterzugehen oder mit der
Preisgabe dieses Anspruchs Beifall zu finden und sich eine Konzession
für diplomatische Aktivitäten zu verdienen. Als Emissär
des Westens, der der Belgrader Regierung die Diktate der NATO vorlegt
und seine "guten Beziehungen" zu dem "slawischen
Brudervolk" dazu nutzt, die westlichen Bedingungen in eine von
Belgrad zu unterschreibende Kapitulationsformel umzuarbeiten – in
der Funktion könnte man sich den Abgesandten Moskaus als
Friedensdiplomaten vorstellen; denn damit hätte Rußland
seinen Machtverlust ratifiziert. Zum Lohn dürfte Tschernomyrdin
sich sogar einbilden, in seiner Person hätte Rußland sich um
den Balkanfrieden verdient gemacht.
Rußland windet sich in dieser Zwickmühle. Daß sein
Sondergesandter für Jugoslawien bei der NATO nichts herausholt,
ließe sich leicht verschmerzen. Doch mit seiner
Kompromißlosigkeit gegen Jugoslawien stellt der Westen
Rußland mit seinem Machtanspruch vor die Wahl zwischen Verzicht
und Niederlage. Tschernomyrdin reist durch die Welt, um beides zu
vermeiden: Er soll Moskau diplomatisch im Geschäft halten, ohne
sich der NATO und ihrem Monopolanspruch auf "robuste"
Ordnungsgewalt auf dem Balkan explizit zu beugen; oder umgekehrt: er
soll einen russischen Anspruch auf Mitentscheidung wachhalten, ohne
damit vom Westen ausgegrenzt und diplomatisch blamiert zu werden.
Ziemlich verharmlosend ist insofern die radikale Lagebeurteilung der
neutralen Schweizer NATO-Fans, die gleich auch noch die Deutschen bei
den Amerikanern verpetzen:
"Mit Geschäftigkeit will Rußland vor allem den
Anschein erwecken, man sei auf der internationalen Bühne ein
wichtiger Partner. Und Bonn hilft Moskau dabei..." (NZZ 30.4.)
In Wahrheit will die Moskauer Diplomatie nicht bloß den Schein
einer furchtbar wichtigen Vermittlungstätigkeit erwecken, sondern,
indem sie ihn entfaltet, die Entscheidung vermeiden, vor die
Rußland doch gestellt ist: ob es seine restliche weltpolitische
Wichtigkeit lieber dadurch einbüßt, daß die NATO
seinen unverdrossen fingierten Anspruch auf eigenständige
Entscheidungsmacht ins Leere laufen läßt, oder lieber in der
Weise verliert, daß es sich den puren Schein einer
mitentscheidenden Rolle von der NATO lizenzieren läßt und
dafür seine Ansprüche aufgibt. Die "diplomatischen
Aktivitäten, deren Hektik umgekehrt proportional zur Substanz
ist" (ebd.), haben eben die politische "Substanz",
dem Westen einen Rest an Respekt vor Rußlands Macht abzuringen;
dafür steht Moskaus Eintreten für ein paar Konzessionen an
Belgrad als Preis für eine Kapitulation. Bonn wäre zu soviel
berechnendem Respekt vielleicht sogar bereit. Doch was die Russen
brauchen, ist nur von der Führungsmacht zu haben – und der
muß der russische Außenminister schon selber in den Mund
legen, was er von ihr gern hätte:
"Die Vereinigten Staaten seien daran interessiert, mit
Rußland zusammenzuarbeiten, um ein 'vollwertiges Dokument
zur politischen Lösung der Krise in Jugoslawien zu
erarbeiten'." (Iwanow, 28.4.)
Tatsächlich besteht Amerikas ganzes Entgegenkommen darin,
daß es die Verhandlungen nicht abbricht – sie kosten ja
nichts...
*
Die Allianz führt einen Krieg, der mit jeder Woche, die er
andauert, immer härter seine beabsichtigten
weltordnungspolitischen und strategischen Wirkungen entfaltet. Davon
bleiben die Kräfteverhältnisse im Bündnis nicht
unberührt. Auch das liegt durchaus in der Absicht derer, die die
Kriegführung bestimmen. Denn vor allem andern klärt so
Amerika sein Kräfteverhältnis zu den europäischen
Verbündeten. Da bleibt nichts im Ungefähren. Die USA
führen vor, wie gewaltig der Abstand ist zwischen ihren
Kriegsfähigkeiten und Europas Rüstung. Die Verbündeten
leisten Beiträge zum Luftkrieg; geführt wird er, mit
logistischer Unterstützung aus der Erdumlaufbahn, von den USA. Die
Europäer gehören zu der Weltmacht, die mit Krieg den
Weltfrieden fortentwickelt; aber schon beim Einsatz ihrer eigenen
Machtmittel hängen sie ziemlich weit hinten dran an der
amerikanischen Einsatzplanung. Ihr Ordnungsanspruch kontrastiert
ernüchternd mit ihrer aktuellen Beschränktheit und ihren
matten Perspektiven in Bezug auf die beschlossene
"Krisenprävention und -reaktion": Deutschlands Panzer
sind einfach zu groß, nämlich für den Fall eines
russischen Angriffs im "Fulda-gap" konzipiert, zu einer "schnellen
Eingreiftruppe" ist noch ein weiter Weg;
Frankreichs 70 Flugzeugen gehen tatsächlich die Raketen aus, es
muß sich amerikanische ausleihen und mit der eigenen Kokarde
bekleben; in der Satellitenaufklärung ist man auf amerikanische
Auskünfte angewiesen. Der in Brüssel ausscheidende deutsche
General Naumann faßt das in der beschönigenden Umschreibung
"Technologielücke" zusammen und wird dann deutlicher: "Der Krieg
hat in der Allianz klärend gewirkt". Und
das nicht nur, was den Nachholbedarf an Flugzeugen, Satelliten und
Bomben-Software betrifft. Der Krieg sortiert die Verbündeten in
eine Hierarchie ein, und zwar nach dem schlichten Kriterium des
Quantums Gewalt, das sie zum Kriegsgeschehen beitragen; denn danach
bemißt sich ihr Einfluß darauf. Dabei weist er allen
Europäern, einzeln wie gemeinsam, den Status der Zweitrangigkeit
zu. Im Club der kriegführenden Weltfriedensmächte stellt sich
so schon wieder – freilich auf hohem Niveau – die
Alternative, zu Amerikas Bedingungen möglichst machtvoll
mitzumachen oder mit dem Streben nach eigenständigem Einfluß
ins schwarze Loch der Belanglosigkeit zu stürzen.
Die Deutschen trifft das in besonderer Weise. Als Führungsmacht
Europas drängen sie mit Nachdruck darauf, daß sie aus
allerbesten eigenen Gründen und quasi auf eigene Rechnung den
Krieg mit veranstalten; dies natürlich, ohne einen "Sonderweg" einzuschlagen, zu dem sie freilich auch gar
nicht in der Lage wären. Aus dieser Not suchen sie jedoch eine
Tugend zu machen: Nicht fähig und auch – noch – nicht
willens, mit eigenen Mitteln den Kurs der Allianz im Krieg zu
bestimmen, halten sie ihren militärischen Beitrag in betont engen
Grenzen, reklamieren dafür aber um so heftiger für sich die
absurde Rolle einer Ordnungsmacht, die mitten im Krieg für alles
Zivile hauptzuständig ist; so für die Zeit danach, die noch
gar nicht angebrochen ist und auch nur zu den Bedingungen der den Krieg
bestimmenden Militärmacht Amerika überhaupt losgeht; oder
auch für die Schaffung eines genehmen weltpolitischen Umfelds
für die Intervention, auf das die oberste Luftkriegsleitung nun
allerdings überhaupt nicht denselben Wert legt wie die Bonner
Politiker, die sich rühmen, mit der "Einbindung der
Russen" eine weltpolitisch und strategisch belangvolle
Mächtekonstellation ganz zivil und ohne Waffen herbeigeführt
zu haben. Das alles ist dann eben doch nur soviel wert, wie es dazu
beiträgt, daß sich die von den USA geführte Kriegsmacht
des Westens mit exemplarischer Wucht abschreckend in Jugoslawien
breitmacht; und da ist und bleibt das große Deutschland
einstweilen ganz entschieden bloßer Juniorpartner. Das gesteht
der oberste Zivilist im Auswärtigen Amt auch selber ein, wenn er
nach jedem seiner diplomatischen Vorstöße die
unverbrüchliche Einigkeit des Bündnisses beschwört,
deren Richtlinien er gar nicht bestimmt, und – gemeinsam mit
seinem durchgeknallten SPD-Kollegen von der Verteidigung –
scharfmacherisch dafür eintritt, daß Milošević bis
zum Letzten niedergekämpft wird, als ginge das mit 1 Dutzend
deutscher Tornados. So versucht die deutsche Regierung, den Schein zu
wahren, sie wäre doch, wenigstens so im Hintergrund, das
eigentlich maßgebliche politische Subjekt, das den NATO-Krieg
quasi täglich neu in Auftrag gibt. Und genau damit handeln sich
die regierenden Patrioten deutliche Winke ihres obersten Kriegsherrn
ein, der sie unmißverständlich in ihre subalterne Rolle
einweist. Der ist nämlich das Subjekt der bedingungslosen "Entschlossenheit" der Allianz und duldet keinerlei
Zweideutigkeiten, die die westliche Wehrhaftigkeit untergraben
könnten:
"Wenn Milošević auf Uneinigkeit unter den NATO-Partnern
und mangelnden Durchhaltewillen spekuliert habe, so täusche er
sich. Die NATO-Mitglieder seien sich heute einiger denn je."
(NZZ, 6.5.)
Das sagt Clinton zu Beginn seines Besuchs bei seinen braven Jungs und
Mädels und den aus Belgrad heimgekehrten Soldaten in Spangdahlem.
Er hält es – in "postkolonialer Manier", wie
deutsche Zeitungen konsterniert berichten – nicht für
nötig, die ortsansässige Staatsgewalt zu begrüßen;
auch um "angemessene Arbeitsbedingungen" für deutsche
Journalisten kümmert er sich wenig. Mitten in Deutschland landet
er in einem Stück Amerika und kommt ohne Umschweife zur Sache. Den
vielen "Besorgnissen" und "diplomatischen
Bemühungen" des Kontinents, den er beehrt, schenkt er
keinerlei Aufmerksamkeit; die angestrengten Bemühungen des Gerhard
Schröder, eine eigenständige Diplomatie Europas und
Deutschlands hervorzuheben –
"Ausführlich lobte Schröder die russischen
Bemühungen. Während Clinton den Hauptakzent seiner
Ausführungen auf die Entschlossenheit zur Fortsetzung der
Militäraktion legte, hob der Kanzler in beschwörendem Ton die
politischen Anstrengungen hervor... Man habe eine vor Monatsfrist noch
unmöglich erscheinende Einbindung Rußlands und der UNO in
die Suche nach einer Lösung erreicht." –,
werden von Clinton nicht gelobt und müssen sich darum von
besonders mißtrauischen neutralen Beobachtern den Verdacht
gefallen lassen, sie wären am Ende dazu angetan, die unbedingt
nötige "Entschlossenheit" aufzuweichen:
"Die Bereitschaft Bonns, sich auf einen Kuhhandel mit
Milošević einzulassen, scheint im Wachsen begriffen zu
sein." (NZZ, 6.5.)
Für den US-Präsidenten steht jedenfalls fest, und das teilt
er seiner jubelnden Anhängerschaft auch mit, daß er nur ein
einziges erfolgversprechendes Rezept kennt und gelten läßt:
"Die Luftangriffe werden erbarmungslos verstärkt."
Mit ihren Bomben bringt dann Amerikas wunderbare Truppe – mit
ihrer problemlosen Rassenvielfalt, die ihr Oberbefehlshaber ihr stolz
und ohne rot zu werden attestiert, ein prächtiges Vorbild
fürs Zusammenleben der Balkanvölker – "Europa den
Frieden". Europa selbst bringt den nämlich aufgrund seiner "inneren Zerrissenheit" nicht zustande – eine
Anspielung, die über die Zustände auf dem Balkan hinaus auf
die Herrschaften zielt, die die Ordnungsgewalt für ihren Hinterhof
haben wollen und ihn nicht einmal ruhigzustellen vermögen. So ist
am Vorabend des G8-Außenministertreffens, auf das die Deutschen
schon wieder große Stücke halten, weil es auf ihrem
Petersberg stattfindet, jedenfalls klargestellt, wer im Bündnis
wieviel zu sagen hat.
Insofern kann der deutsche Außenamtschef schon froh sein,
daß ihm wenigstens der eine Erfolg gegönnt wird: Die
US-Außenministerin hat sich für das Treffen angesagt!
*
Wo es um lauter derart wichtige weltpolitische Haupt- und
Staatsaffären geht, gerät der eigentliche Feind und
Bösewicht ziemlich an den Rand des Geschehens. Milošević
wird schon gar nicht mehr als Partei wahrgenommen, mit der die NATO
einen Streit und eventuell etwas zu regeln hat; er fungiert
tatsächlich als bloßes – verbrecherisches, versteht
sich – Kriegsobjekt, an dem die NATO mit Rußland und intern
sowie gegenüber dem durch die UNO repräsentierten Rest der
Welt Kräfteverhältnisse, Beteiligungen und strategische
Gewichte abklärt.
Noch gibt es aber in Jugoslawien eine Regierung; und die hält sich
selber anscheinend glatt noch für ein handlungsfähiges
politisches Subjekt. Jedenfalls unternimmt sie den Versuch, sich
irgendwie in den Krieg einzuschalten, der gegen sie und ihr Land
geführt wird, und über Verhandlungsangebote, die darauf
berechnet sind, nicht gleich alle Verhandlungspositionen aus der Hand
zu geben, doch so etwas wie ein diplomatisches Verhältnis zwischen
sich und der NATO herzukriegen. Das geht dann so:
Am 26. April erklärt Vize-Ministerpräsident Vuk Drasković die
Notwendigkeit, eine UN-Friedenstruppe im Kosovo zu akzeptieren und dem
Volk die bei Fortführung des Widerstandes unvermeidliche nationale
Katastrofe entsprechend klar zu machen:
"Die höchste Staatsführung und sogenannte Patrioten
sollten nicht mehr lügen, sondern dem Volk die Wahrheit sagen,
daß die NATO nicht vor einer Niederlage steht, daß
Rußland Jugoslawien nicht militärisch helfen wird und
daß die Weltöffentlichkeit gegen uns ist. Sie müssen
sagen, was von Serbien nach weiteren 20 Tagen Bombenangriff
übrigbleiben wird... Die UN sind keine Besatzer, die UN-Fahne ist
uns weder fremd noch besetzerisch." (FAZ, 27.4.)
Der Mann, im Westen als ehemaliger "Hoffnungsträger der
demokratischen Opposition an der Seite von Zoran Đinđić" noch
gut bekannt, gibt an, "damit auch die Ansicht Miloševićs
wiederzugeben"; ob dies auch die Beteiligung von NATO-Truppen an
einer UN-Mission einschließt, läßt er in der Schwebe.
Um so eindeutiger ist die Resonanz in den Hauptstädten der NATO:
Sie plädieren für praktische Nichtbefassung und ergehen sich
in verächtlichen Deutungen, die von "perfides
Verwirrspiel" über "ein durchsichtiges
Manöver" zur Untergrabung westlicher Kriegsmoral bis hin zu
"Milošević ist in seiner eigenen Regierung isoliert"
reichen und so oder so die Verhandlungsunwürdigkeit des
Kriegsgegners unterstreichen. Die Presse sekundiert mit der
üblichen Stilisierung der Person zum Feindbild, das im Falle
Draskovićs auf "unverbesserlicher Chauvinist", "Wirrkopf",
"machtgieriger Opportunist" (FAZ,
28.4.) sowie "faunartiges Mannsbild mit kantiger Stirn und
Nase" (SZ, 1.5.) lautet.
Nach dem Scheitern dieses Versuchsballons wird Drasković von der
Belgrader Regierung wegen abweichender Haltung entlassen. Womit der
Westen seinen Verdacht bestätigt sieht, daß Hauptfeind
Milošević zu keinerlei Einlenken bereit ist.
Am 28. April unterzeichnet der serbische Präsident Milutinovic in Priština mit dem "gemäßigten
Albaner-Führer" Rugova eine "Gemeinsame
Erklärung", in welcher "direkte Gespräche
zwischen Belgrad und den Führern der politischen Parteien der
Albaner im Kosovo" in Aussicht gestellt werden, an denen auch
auch "Vertreter der Internationalen Gemeinschaft" als "Gäste" teilnehmen sollen. (SZ, 6.5.) Die
Nordatlantische Gemeinschaft reagiert mit Nichtbeachtung; ihre
mitdenkenden Hofberichterstatter liefern die Begründung nach: Wenn
ein kosovarischer Politiker die Fortsetzung des "politischen
Prozesses", also Verhandlungen mit Milošević anstrebt,
kann er unmöglich aus freien Stücken handeln! Oder er ist ein "Verräter", wie "Sprecher der
Kosovo-Befreiungsarmee UÇK Rugova vorwarfen" (ebd.).
Am 1. Mai empfängt Milošević den amerikanischen
Politpfarrer Jesse Jackson und schenkt ihm die drei gefangenen
US-Soldaten. Dazu übergibt er ihm einen Brief an Präsident
Clinton, in dem er einen "Friedensplan" und ein Treffen von
Präsident zu Präsident vorschlägt. Angesichts von soviel
Unverschämtheit des Kriegsverbrechers zieht es der Präsident
vor, den Brief "nicht gelesen" zu haben und anstelle des
von Jackson geforderten "Danke" abermals den "unbeirrten Willen" zum
Bombardement, wenn nötig "bis zum Juli", samt der
Grußbotschaft "Wir
werden siegen!" zu übermitteln.
Gleichzeitig bestätigt der Präsident des Internationalen
Roten Kreuzes, Milošević habe zugesagt, "IKRK-Delegierte
könnten im Kosovo ihren humanitären Auftrag unbehindert
ausüben" (SZ, 4.5.), er biete Sicherheitsgarantien auf allen
Wegen. Schutz vor Bomben der NATO könne er allerdings nicht
versprechen. Die NATO verspricht ihrerseits gar nichts. Statt dessen
berichtet kurze Zeit später der Chef der Hilfsorganisation Cap
Anamur, das Bündnis habe das Abwerfen von Nahrungsmittelpaketen
für Flüchtlinge, die sich in den Wäldern des Kosovo
aufhielten, mit dem Argument abgelehnt, solche könnten auch den
Serben in die Hände fallen.
Am 5. Mai läßt die Regierung Milošević Rugova, den
"gemäßigten Führer" der Kosovo-Albaner,
nach Italien ausreisen. Um den Vorwurf zu entkräften, der Mann sei
ohnehin bloß eine Geisel im erpresserischen Spiel des Belgrader
Diktators, darf er seine Familie nebst Freunden gleich mitnehmen. Die
Führer des Westens sind über diese neuerliche "Geste
des guten Willens" keineswegs froh, weil sie mutmaßen,
daß "Herr Rugova" womöglich im Namen der armen
albanischen Schutzobjekte der NATO ein Ende des Bombenkrieges fordern
könnte. Als der italienische Regierungschef D’Alema auch
noch die "Hoffnung" verkündet, "daß bald
bedeutende Neuigkeiten heranreifen", und "glaubt, sagen zu
können, daß der Frieden nahe ist" (SZ, 7.5.), sehen
sich die eigentlichen NATO-Chefs genötigt, derart
unerwünschte Entwicklungen gleich profylaktisch
auszuschließen. Daß der Mann statt bei Solana in
Brüssel in Rom landet, sagt ihnen schon alles über das
hinterlistige Manöver Miloševićs, die Einigkeit des
Bündnisses spalten und damit dessen Kriegswillen lähmen zu
wollen. Während die USA sich bloß mit Herrn Rugova "freuen"
– er hat seine Schuldigkeit getan –,
zitiert ihn der deutsche Bundeskanzler zu Gesprächen nach Bonn,
von denen man anschließend aus der Presse lediglich erfährt,
daß offenbar das gewünschte Ergebnis vorliegt: Die
"Symbolfigur mit wenig Einfluß" (SZ, 7.5.) "soll sich hinter die
Position der NATO gestellt haben, daß
die Luftschläge erst aufhören dürften, wenn..."
(SZ, 10.5.), wonach der ehemals nützliche Idiot westlicher
Balkanpolitik als "tragischer Held" (NZZ, 7.5.) erst einmal
in der Versenkung verschwindet.
All den Signalen aus Belgrad wie ihrer Behandlung durch die
Empfänger ist immer dieselbe Unvereinbarkeit der Standpunkte zu
entnehmen: Der jugoslawische Präsident versucht wieder und wieder
mit diplomatischen Angeboten, den "Konflikt" seiner Nation
mit der NATO auf die Frage einer politischen Regelung des
Kosovo-Problems zurückzuführen, und signalisiert in diesem
Rahmen seine Bereitschaft zu weitgehenden Zugeständnissen. Mit der
stereotypen Zurückweisung dieser Offerten – die jedesmal
bloß als Beweis von Miloševićs Intransigenz ausgelegt
werden –, stellt die NATO umgekehrt klar, daß es ihr
unwiderruflich um etwas anderes geht: Statt der von Milošević
geforderten Respektierung der Souveränität Jugoslawiens steht
ganz im Gegenteil deren Nichtigkeit auf der Tagesordnung. Deshalb wird
schließlich Krieg geführt, um an diesem Staat das Exempel zu
statuieren, daß mit der Zerstörung seiner Macht rechnen
muß, wer eigenmächtig von ihr Gebrauch machen will.
Tag der Arbeit im Jahr des Krieges
Neben dem Kriegsgeschehen auf dem Balkan geht der nationale
Terminkalender seinen Gang. Wie jedes Jahr rufen die Gewerkschaften zum
1. Mai auf, dieses Mal aber kommt den Veranstaltern der Tag der Arbeit
ein wenig abhanden. In den Feiertagsreden tritt das Seufzen nach Arbeit
und der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit in den Hintergrund. Umso mehr
wird sich verantwortlich um den einen Arbeitsplatz gesorgt, den sich
Deutschland gerade als internationale Friedensmacht verschaffen und am
Kosovo herbeibomben will. Das geht auch in Ordnung: Die Gewerkschaft
begeht ihren nationalen Feiertag schon immer mit dem Bekenntnis,
daß die von ihnen Vertretenen in der Nation, der sie
angehören, ihre angestammte Heimat besitzen und daß sich an
den Schicksalsfragen der Nation entscheidet, auf welche Rücksicht
die nationale Arbeiter- und Arbeitslosenmannschaft rechnen darf. Dieses
Mal sind sie als umstandslos bekennende Nationalisten gefragt. Den
Rednern vom DGB und der DAG ist die Erleichterung anzumerken, einmal
den Beitrag der Arbeit zum nationalen Ganzen feiern zu können,
ohne in den Verdacht zu geraten, den nationalen Standort gleichzeitig
mies machen zu wollen, wenn sie die Verantwortungslosigkeit der
Unternehmer beklagen, die ihrem nationalen Auftrag als Arbeitgeber
nicht nachkommen.
Die Gewerkschaftsführung betont das Arbeiterrecht auf den
humanitären Krieg, den die NATO gerade führt, und tritt als
NATO-Sprecher auf: "Das mörderische Treiben der serbischen
Armee, aller Milizen und Sonderpolizeien muß aufhören, erst
dann kann es eine Pause bei den NATO-Angriffen geben" (DGB-Chef
Schulte). Vor allem unterstreicht sie die deutsche Note bei der
NATO-Friedensfindung, die darin besteht, den NATO-Willen, der
Milošević keine Verhandlungsmöglichkeit läßt,
als politisches Verhandlungsangebot zu interpretieren: "Jede,
aber auch wirklich jede Chance nutzen, an den Verhandlungstisch
zurückzukehren" (Schulte). Wie jedes Jahr unterstreicht der
DGB seine nationale Bedeutung durch die Einladung von Politikern, die
seinem 1.Mai die Ehre geben. Dieses Mal handelt es sich bei den
SPD-Sprechern aber nicht um die Vertreter einer ohnmächtigen
Opposition, sondern um die Repräsentanten der Regierung, die
Deutschland gerade in den ersten Auslandseinsatz nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs führt. Dieser neuen Konstellation wird die
Gewerkschaft gerecht, indem sie nicht den rangniederen Minister
für Soziales einlädt, sondern den wahrhaften
Verteidigungsminister als Festredner gewinnt.
Scharping holt nach, was bei den Rednern der Arbeitervertretung etwas
zu kurz gekommen ist. Sein Beweis für die menschenrechtliche
Güte des deutschen Kriegseinsatzes sind die heimischen
Arbeitslosen, denen die deutsche Regierung die gleiche Solidarität
zuwendet, die der Bevölkerung auf dem Balkan zur Zeit das Leben
schwer macht: "Die Arbeitslosigkeit stellt eine Gefahr für
die Würde des Menschen dar. Im Mittelpunkt stehen am 1. Mai die
Arbeitslosen. Solidarität mit ihrem Schicksal... Am 1. Mai gilt
Solidarität nicht nur nach innen, sondern auch nach außen.
Das westliche Europa kann nur friedlich leben, wenn ganz Europa
friedlich wird, auch der Balkan". Die Solidarität der
Regierung mit den Opfern ihrer Wirtschaftspolitik – ein einziger
Beleg für die Güte einer Nation, von deren Regierungsgewalt
nur der Schutz der Menschenwürde ausgeht; und eine unausweichliche
Pflicht zur humanitären Kriegsmission auf dem Balkan. Wer den
sozialen Frieden im Inneren will, muß für den gerechten
Krieg der NATO sein! Einem Teil des Publikums will diese Gleichsetzung
von sozialer Verantwortung und Kriegsmoral nicht einleuchten. Für
den weiß Scharping ein weiteres Argument: "Trillerpfeifen
sind keine Argumente!", Bomben, die Milošević zur
Kapitulationseinsicht zwingen, aber schon.
Das ist er dann, der diesjährige 1. Mai: ein solidarischer Beitrag
zur Heimatfront unter dem Motto : "Neues Handeln. Für unser
Land". Daß aus der Gewerkschaftsveranstaltung doch etwas
mehr wird als eine Bekundung der Kriegsstimmung unter anderen. verdankt
sich einem Privatmann, der sich auf ihr wieder in die politische
Öffentlichkeit zurückgemeldet hat. Bereits im Vorfeld war
Spannung angesagt: "Wird Lafontaine seinen Auftritt zu einer
Generalabrechung mit Bundeskanzler Schröder nutzen?" Die
angekündigte schonungslose Abrechnung mit dem innerparteilichen
Intimfeind und die befürchtete Zerreißprobe in der SPD
findet freilich nicht statt. Dafür aber eine Kritik, die dem von
der Regierung verantworteten Kosovo-Einsatz praktisches Versagen und
humanitäre Unglaubwürdigkeit vorwirft. Vom Standpunkt eines
souverän ausgeübten deutschen Menschenrechts auf
Friedensstiftung stellt und beantwortet Lafontaine die Frage, ob sich
die Schröder-Regierung nicht in ein Kriegsgeschehen hat
hineinziehen lassen, das andere Mächte bestimmen, worunter sowohl
der humanitäre Auftrag Deutschlands wie der humanitäre
Charakter eines Krieges, an dem Deutschland seine immer noch begrenzte
außenpolitische Souveränität erfährt, leiden. "Die
europäischen Staaten" sind nicht Manns genug, "dem amerikanischen
Partner deutlich zu machen, daß das
Zur-Seite-schieben der UNO und die Ausnutzung der Schwäche
Rußlands ein Fehler ist", der zuallererst Europa
beschädigt. Wenn er, Lafontaine, sich etwas vorzuwerfen hat, dann
daß er als noch amtierender Minister nicht entschieden genug vor
einer "Automatik" deutscher Unterschriften unter
NATO-Anforderungen gewarnt hat; eine Automatik, die jetzt zur
politischen "Sackgasse" geführt hat, deren
Schrecklichkeit sich an dem menschlichen Leid auf dem Balkan zeigt.
Enttäuscht registriert die Presse, daß Lafontaine nur einmal
das Wort Schröder in den Mund genommen hat, und befindet seinen
Auftritt für durch und durch unwürdig. Ein Politiker, der
keine Parteimacht mehr hinter sich hat und sich jetzt als "das
Gewissen seiner Partei profilieren will", fällt unter "Maulheld" und "Straßenpolitiker". So ist
auch dieser Anschlag auf die nationale Solidarität noch einmal
glimpflich abgegangen.
"Merkwürdige Stimmung" in der deutschen Öffentlichkeit angesichts des fortdauernden "Abnutzungskriegs":
NATO-Nationalisten fordern Erfolge
Während tagtäglich stereotyp die "schwersten Angriffe
seit Kriegsbeginn" gemeldet werden, wächst "angesichts
ausbleibender politischer Erfolge in der NATO die Ratlosigkeit"
(FAZ, 21.4.); so will die Öffentlichkeit bemerkt haben und spricht
damit über sich selbst. Es melden sich zunehmend kritische Stimmen
– nicht gegen den Krieg, sondern zu seinem Verlauf: "Verflogen die Illusionen, daß er schnell zu beenden sein
würde, zerstört die Hoffnung, daß er die Kosovaren
schützen könnte vor Vertreibung und Mord, zerstoben die
Vermutung, das Volk werde sich verstört abwenden von seinem
Despoten." (SZ, 30.4.) Öffentliche Besorgnis wird
geäußert über "das politische und
militärische Dilemma, in dem die NATO steckt" (SZ 6.5.); "Ernüchterung" wird konstatiert "über das
Ausbleiben eines schnellen Endes einer vermeintlich chirurgischen
Operation" und "Zweifel am Nutzen einer Aktion"
werden laut, "welche als humanitäre Intervention zur Abwehr
einer humanitären Katastrofe deklariert wird" (FAZ, 6.5.).
Kurz: Die Begutachter des Kriegsgeschehens bemühen die verlogenen
menschenfreundlichen Kriegsziele, um nach dem versprochenen Ertrag der
militärischen Veranstaltung zu fragen, auf den sie immer
dringlicher ein Recht anmelden: Wo bleibt die versprochene
Kapitulation? Ausgerechnet die Kriegseskalation, die unerbittlich
fortgesetzte Zerstörung Jugoslawiens, also der 'lange
Atem' der NATO wird als wachsende Hilflosigkeit gedeutet. 'So kann es nicht ewig weitergehen!', heißt es,
während es genau so weitergeht.
Die zunehmende Ungeduld treibt einerseits neue moralische Blüten:
Taten sind verlangt, um endlich mit der Erledigung des "Verbrechers in Belgrad" voranzukommen. Das interessante
Gespann Bubis-Möllemann wirft den konstruktiven Vorschlag in die
Debatte: "Die NATO sollte zur Ergreifung oder 'Ausschaltung' des jugoslawischen Präsidenten Slobodan
Milošević eine Belohnung von 500 Millionen Mark aussetzen
– die Summe, die Schätzungen zufolge die Luftschläge
gegen Jugoslawien jeden Tag kosteten... Eine hohe Belohnung, verbunden
mit dem Angebot des Westens zu späterer Hilfe beim Wiederaufbau
könnte jugoslawische Offiziere oder Oppositionelle dazu bewegen,
gegen Milošević vorzugehen." (SZ, 30.4.) Der "Tyrannenmord", die gewaltsame Beseitigung einer für
ungerecht befundenen Führung zugunsten einer anderen durch
aufgebrachte Untertanen – das wäre die beste Lösung.
Wir müßten dafür sorgen, daß die da unten –
nein, nicht so sehr sich, sondern – uns von diesem Mann befreien.
Das wäre gerecht. Vor allem aber wäre die Enthauptung der
Staatsspitze die billigste und effektivste, weil "chirurgischste" Lösung und würde die Last, die
der Krieg uns und nicht denen bereitet, erledigen. Ausgerechnet
angesichts der immer ausgreifenderen Flächenbombardements lebt
also erstens die Legende fort, es ginge bei dem großangelegten
Zerstörungswerk bloß um die Beseitigung des einen
unerträglichen Mannes. Freilich, wenn für diesen
patriotischen Anschlag erst ein Kopfgeld ausgesetzt werden muß,
dann handelt es sich um eine Auftragsarbeit für die NATO, nach der
sich dort unten, leider, niemand drängt. Im Gegenteil: Der neue
Hitler hat schon wieder lauter "willige Vollstrecker". Das
ganze Volk steht mit seinem Nationalismus hinter ihm. Also ist es mit
der Anstiftung zur guten Tat auch nicht getan, wie Kenner des
Faschismus wissen. Es braucht eine "deutsche Lösung"
(Goldhagen) für den Balkan: Der Serbe ist so; die "Mentalität einer Nation" muß bekämpft
werden; und das erfordert ein bißchen mehr als nur Bombardements: "Richtig ist, daß es nicht reicht, die Hitlers und
Miloševićs zu entmachten, wenn die mörderische Disposition
in den Köpfen der Menschen verankert bleibt. Richtig ist aber
auch, daß Besetzung und Umerziehung noch nicht genug
wären." (SZ, 30.4.) Das alles braucht es, und dazu noch eine "Pax Atlantica", in der den Serben gar nichts anderes
übrig bleibt, als sich – wie die Deutschen nach 45 –
dauerhaft den Ansprüchen der Sieger unterzuordnen. Mit solchen
Handlungsmaximen wird die Kriegsmoral in ihrer Unzufriedenheit also
zweitens radikal ehrlich und bekennt sich zum Rassismus ihres
Feindbilds: Nein, nicht bloß der Verbrecher in Belgrad, ein
ganzer verstockter nationaler Menschenschlag macht uns das Siegen
schwer und muß deshalb gründlich zur Räson gebracht
werden!
Mit der Dauer des Kriegs, der einfach nicht das verdiente Ende finden
will, droht sich andererseits auch die Begeisterung bei der eigenen
Kriegspropaganda abzunutzen. Sie gerät mehr und mehr zur
Pflichtübung; zumindest beklagen das Journalisten, die sich und
ihr Publikum zum Durchhalten ermahnen: "Viele wollen die
täglichen Bilder des Grauens nicht mehr sehen; aber wir
dürfen nicht wegsehen". Methodischen Zweifel an der
Überzeugungskraft der alltäglichen Greuelberichte melden sich
verstärkt zu Wort. Und als Scharping schon im Januar
veröffentliche Bilder von Leichen – vermutlich
UÇK-Kämpfer, heißt es – triumfierend als
frische
Beweise für die Untaten der Serben an Zivilisten vorlegt, wollen
plötzlich alle die – fehlerhafte – Inszenierung
bemerken, an der sie sich bisher mit Eifer beteiligt haben. Immer mehr
Stimmen werden laut, die den Verteidigungsminister mit seinen
notorischen Lageberichten von der Vergewaltigungs- und
Vertreibungsfront allmählich für eine zur
"Überdimensionierung des Moralischen" neigende,
letztlich vielleicht doch politisch wenig überzeugende Figur
halten; er wetteifert, so ganz radikale Kritiker, "um den Titel
des Moral-Trompeters von Säckingen" (SZ, 7.5.). Fragen
werden laut: Wo bleibt bei der von oben vorexerzierten menschlichen
Betroffenheit die politische 'Seriosität', wo das 'politische' Kalkül, ohne das – da kennen Fans
einer, eben: unserer gerechten Militäraktion sich aus – ein
ordentlicher Krieg nicht auskommt? Die glühenden Propagandisten
"unserer humanitären Mission" auf dem Balkan warnen
zunehmend davor, ihre eigenen Kriegsbegründungen nicht zu ernst
und bloß nicht für den wahren Zweck der blutigen
Veranstaltung zu nehmen. Sie geben der Sorge Ausdruck, dadurch
könnten die Verantwortlichen die politischen Berechnungen aus den
Augen verlieren, um die es beim Bombardieren gehen muß. Und sie
ermahnen immer dringlicher sich und "die Militärs, über
die Gebote der Moral" nicht "den Realismus aus den
Augen" zu verlieren: "Die aus moralischen Prämissen
abgeleitete Zwangsläufigkeit der Bombardierung ist nichts anderes
als eine offizielle Sprachregelung für den geringen Spielraum, den
die deutschen Politiker in den NATO-Verhandlungen offensichtlich
besitzen. ... Heute merkt man, daß man den Interessen nicht
entgeht, wenn man es vermeidet, über sie zu sprechen. Man begibt
sich möglicherweise nur eines Spielraums gegenüber den
Interessen anderer." (FAZ, 15.4.) Eine interessante Auskunft:
Zuviel Moral ist verdächtig und schädlich; sie signalisiert
nämlich nationale Ohnmacht und birgt die Gefahr nationaler
Selbstvergessenheit. Wenn es um die Begründung unseres Recht auf
Krieg geht, sind die Fingerzeige auf die blutigen Verbrechen des
Feindes mehr als berechtigt; wenn es aber um die politischen
Perspektiven, den alle Mittel heiligenden Nutzen des eigenen
Zuschlagens geht, dann gilt die ganze menschenrechtliche Kriegshetze
als – ausgerechnet – politikfremder 'Idealismus'; dann ist 'Realismus' und Distanz
zu den eigenen Begründungen geboten, weil sonst die Sache leidet,
um die es beim Kriegführen geht: das nationale Interesse.
So bekunden die nationalen Parteigänger der guten Sache ihr
untrügliches Gespür für das, worauf es dabei ankommt.
Wenn hiesige Kritiker das "Effektivitätsdefizit" und
die "Ratlosigkeit" der NATO-Kriegführung beklagen oder
immer lauter vor einem Zuviel an "Moral" – eine "problematische Kriegsherrin" – warnen, dann geben
sie damit immer auch einem speziellen deutschen Leiden Ausdruck: Sie
vermissen eine ausreichende deutsche Teilhabe an dem Geschehen und
melden Zweifel an, ob die Gemeinschaftsaktion für Zuwachs an
deutschem Einfluß taugt. Daher gewinnen, im Gefolge der
konservativen Kritiker im eigenen Land vom Schlage Schmidts oder
Rühes, die Stimmen an Gewicht, die auf dem Balkan zu wenig
deutsche Anliegen und zu sehr bloß amerikanische
(Weltherrschafts-)Ansprüche durchgefochten sehen. Allenthalben
meldet sich ein – gar nicht heimlicher – Anti-Amerikanismus
zu Wort. Die einen können sich gar nicht genug über die
mangelnde Führung durch Washington ereifern, wo die "falkenhafte Ministerin" Albright im Streit mit dem
Verteidigungsministerium liegt und "von einer Krise in die andere
stolpert" (SZ, 6.5.); sie wollen damit auf das Fehlen einer
erfolgversprechenderen, eben deutschen Führungsposition aufmerksam
machen. Die anderen sagen gleich, daß der Fehler des "von
Washington verfehlten Kriegs" darin liegt, daß er für
falsche Interessen geführt wird: "So drängt sich denn
die Vermutung auf, daß... die Interessen der NATO nur allzu oft
mit den laut verkündeten Interessen der USA identisch sind, nicht
aber unbedingt mit denen der NATO-Mitglieder... Die USA wollen die NATO
als Hilfssheriff." (Der Spiegel, 3.5.)
Der Erfolgsanspruch an die NATO beflügelt also den Anspruch auf
eine tragende nationale Rolle bei dieser weltpolitischen Sache –
und umgekehrt. Und da werden empfindliche deutsche Gemüter mit
zunehmender Kriegsdauer immer empfindlicher. Die Entschlossenheit der
Regierung zum Mitmachen kann sie nicht darüber hinwegtrösten,
daß der sich hinziehende Krieg eine Unterordnung des deutschen
Mitmachers unter eine eindeutige amerikanische Führung bedeutet.
Die Bundeswehr ist schließlich kaum bei den eigentlichen
Kriegstaten, sondern vornehmlich an der propagandistischen Nebenfront,
bei der Betreuung der Flüchtlinge, tätig bzw. befindet sich
im Dauerwartestand für logistische Dienste bei der Besetzung des
Kosovo. Mit den paar Tornados bestimmt Europas neue Mitte nicht nur
nicht über das Kriegsgeschehen mit, sondern sieht sich auch noch
hinter Frankreich und Großbritannien zurückgesetzt. Eine
gewisse deutsche Ohnmacht ist also unübersehbar; das stimmt
Anwälte des deutschen Gewichts in Europa und darüber hinaus
zunehmend bedenklich: "Die Amerikaner werfen die Bomben, und die
Europäer bezahlen den Wiederaufbau." (Der Spiegel, 26.4.)
Ein schönes Eingeständnis, daß die 'Scheckbuchdiplomatie' alter Zeiten nicht mehr als
automatisch erfolgreiche deutsche Primärtugend bei der Konkurrenz
um weltpolitischen Einfluß gilt.
Allerdings kann man dieser einseitigen Verteilung der Verantwortung
für die Kriegs- und Nachkriegsaufgaben dann doch wieder etwas
abgewinnen. Die deutschen Kriegsbefürworter entdecken gemeinsam
mit der Regierung in der Kriegsdiplomatie Deutschlands ureigenstes
Betätigungsfeld, das über die inferiore militärische
Rolle hinweghelfen kann. "Vor allem Außenminister Fischer
nutzt den relativ engen Spielraum, der Bonn in dieser Situation
bleibt." (SZ 8.5.) Mit seinem "verdienstvollem Drängen
im Lärm der Bomben" (SZ, 7.5.), sorgt er für deutsches
Gewicht. Auch wenn die schönsten diplomatischen
Vorstöße dem amerikanisch dominierten Kriegsgeschehen
untergeordnet sind und bleiben – an der Front der
Nachkriegsplanung sind wir federführend! Zumindest kann sich das
die unzufriedene Öffentlichkeit erfolgreich einbilden, seit die
NATO-Chefs ihren eigenen Kapitulationsforderungen in der deutschen
Gestalt des "Fischer-Plans" ihr Placet gegeben haben. Also
sehnt man sich einerseits öffentlich immer dringlicher danach,
daß endlich die Zeit anbricht, wo die deutsch inspirierten
Friedensbemühungen zum Zuge kommen und Deutschland und sein Europa
wieder mehr ins Rampenlicht treten können. Manche möchten am
liebsten gleich eine "Bombenpause, die auch der Diplomatie eine
Chance gäbe" (SZ 30.4.). Andererseits erinnert man –
wieder gemeinsam mit der Regierung – daran, daß für
einen ordentlichen Frieden nach NATO- und deutschen
Maßstäben erst einmal der Krieg siegreich zuende
geführt werden muß. Also gilt es im deutschen Interesse den
Krieg durchzustehen und 'realistisch' zu sein, was die
eigene Blitzkriegpropaganda angeht. Deshalb meldet die
Öffentlichkeit drittens im Namen der gerechten gemeinsamen Sache
ihre Unzufriedenheit mit der eigenen Unzufriedenheit an und warnt sich
davor, durch übertriebene Erwartungen an die Kriegführung dem
Kriegszweck in den Rücken zu fallen: "Der westliche Mensch
wünscht sich einen Video-Krieg...Wie soll man in dieser
Gemütslage politische Ziele erkämpfen." Es gilt
entschlossen zu bleiben und beim Volk für den richtigen Ernst zu
sorgen: "Nein, das ist kein Video-Krieg, ja, es wird Tote auf
allen Seiten geben; nein, es wird nicht kurz und schmerzlos
sein." (SZ, 4.5) Ohne konsequente Gewaltanwendung ohne
Rücksicht auf Verluste kein Erfolg! Das sollen sich alle
gefälligst zu Herzen nehmen! Mit diesem Dementi des selber
geschürten "Irrglaubens", "nach ein paar
schlafgestörten Bombennächten" sei die Sache aus und
siegreich vorbei, ist man dann wieder ganz bei der Sache und voll auf
die Fortsetzung von Krieg und Kriegsdiplomatie eingestellt.
G8-Außenministertreffen am 6.5.99. in Bonn
Grundsatzeinigung auf Kosten der Russen
Nach 6 Wochen Krieg kommt die "politische Lösung" um "einen großen Schritt" voran – so jedenfalls
Fischer, der deutschen Gastgeber des G8-Gipfels. Natürlich sei "noch viel zu tun, um die noch bestehenden
Meinungsverschiedenheiten zu überwinden." Jetzt soll "so schnell wie möglich" ein gemeinsamer
Resolutionsentwurf der G8-Staaten formuliert und dem UN-Sicherheitsrat
zur Verabschiedung vorgelegt werden; auf dessen Basis könne in
Bälde eine Friedenstruppe in das Kosovo einrücken.
Außerhalb Deutschlands wird das Ergebnis sehr viel
zurückhaltender aufgenommen: Der "Prinzipienkatalog"
einer "gemeinsamen Strategie zur Lösung der
Kosovo-Krise", auf die sich die Runde aus den sechs großen
NATO-Staaten, Japan und Rußland innerhalb weniger Stunden
geeinigt hat, ist "mager". "Die Erklärung sei
sehr unbestimmt abgefaßt; die Streitpunkte zwischen der NATO und
Moskau seien weitgehend ausgeklammert" (NZZ, 7.5.) Beide
Auskünfte sind korrekt. Sie drücken nämlich von zwei
Seiten her dasselbe aus: Rußlands Einwände gegen den Krieg
bestehen fort; der NATO-Diplomatie ist es jedoch gelungen, mit
Rußland übereinzukommen, daß beide Seiten ihren Willen
zur Zusammenarbeit wichtiger nehmen als die russischen Einwände.
So bleibt Moskau bei seiner Forderung nach einem Bombenstopp als
Auftakt zu einer aussichtsreichen Friedensdiplomatie. Der
Außenminister gibt sich aber dafür her, einen
grundsätzlichen Konsens mit den kriegführenden Mächten
zu bestätigen, ohne daß die Bombardements aufhören oder
ein Unterbrechung auch nur in Aussicht gestellt wird. Der Konsens ist
ihm wichtiger als die Bedingung, die er dafür aufgestellt hat
– seine Bedingung ist also nichts wert, der russische Einwand
Makulatur. Rußland nimmt hin, daß der Fortgang der
Bombenangriffe auf Jugoslawien die Bedingung ist, unter der es seine
Einwände erhebt und der NATO weiterhin vortragen darf.
Der prinzipielle Konsens hat auch einen Inhalt: Das Kosovo soll durch
eine Truppe von außen besetzt werden, die dort die Macht
übernimmt und dafür auch ausgerüstet ist. Offen und
weiteren Verhandlungen überlassen bleibt die Frage, welchen Anteil
die NATO an dieser Besatzungsmacht stellt und unter welchem
Oberkommando russische Soldaten dabei stehen. Klar und einvernehmlich
abgehakt ist damit das NATO-Ziel, die Souveränität
Jugoslawiens an diesem Punkt aufzuheben, und zwar wirksam und
definitiv, mit aller nötigen Gewalt. Die Bedingung, daß das
nicht durch NATO-Kräfte geschehen dürfe, eine Entmachtung
Belgrads also nur in Frage kommt, wenn das nicht automatisch eine
Ermächtigung des Westens bedeutet, ist damit gestrichen. Auch in
diesem Punkt gilt ab sofort: die Brechung der jugoslawischen
Souveränität, das Ziel des NATO-Krieges ist von russischer
Seite als Bedingung anerkannt, unter der dann das Kleingedruckte
über die Modalitäten ausgehandelt werden kann. Die NATO setzt
sich durch, auf dieser Basis gewährt sie Rußland
Verhandlungen über eine eventuelle Beteiligung an der dauerhaften "Implementierung" dieses Ergebnisses.
Schließlich beharrt der russische Außenminister auch noch
darauf, daß die Umsetzung der Petersberger G8-Prinzipien in eine
verbindliche Kapitulationserklärung erst von Belgrad gebilligt
werden müsse, ehe die Beschlüsse verbindlich werden und
vollstreckt werden dürfen. Und auch dieser Vorbehalt wird in den
Bereich der Detailfragen abgeschoben, die noch zu klären sind, den
Konsens aber weiter nicht beeinträchtigen. An der Frage, ob
Jugoslawien überhaupt noch als souveränes politisches Subjekt
bestehen bleibt, mit dem ein Kriegsende vereinbart wird, will Moskau
also seinen Grundkonsens mit der NATO nicht scheitern lassen. Es stimmt
im Gegenteil sogar dem Vorschlag zu, Jugoslawiens Kapitulation durch
einen Beschluß des Weltsicherheitsrats zu dekretieren, wobei die
NATO eine Bezugnahme auf Bestimmungen der UNO-Charta wünscht, die
eine Zwangsvollstreckung erlauben. Der NATO-Krieg, den Rußland
nicht will und verurteilt, wäre damit ins Recht gesetzt –
und das schließt Moskaus Außenminister mit seinem
Bekenntnis zur prinzipiellen Einigkeit mit der NATO explizit nicht mehr
aus: Die Legitimation des Krieges, das gibt er zu, ist Bedingung
für eine UNO-Formel zu seiner Beendigung.
Auf der ganzen Linie nimmt Rußland mit dem Petersberger
G8-Konsens seine Macht- und Einflußinteressen zurück, die
auf dem Balkan gerade, mit jeder Kriegswoche gründlicher,
zusammengebombt werden. Es gibt sie nicht auf, aber es ordnet sie dem
Bemühen unter, mit dem Westen Einigkeit herzustellen, und
degradiert sie zu Unterkapiteln eines Prinzipienkatalogs, in den die
Fortführung des NATO-Krieges, seine Zielsetzung und sein
Abschluß mit einer jugoslawischen Kapitulation als Prämissen
eingehen. Dem stimmt Moskau zu; die Nebenpunkte, über die man sich
"noch nicht" einig geworden ist, werden an die politischen
Direktoren der Außenämter delegiert, die weiterhin nach
konsensfähigen Formulierungen suchen sollen. Was Rußland
damit preisgibt, ist der Standpunkt prinzipieller Gegnerschaft gegen
diesen Krieg, dem es aber ohnehin keine praktische Geltung zu
verschaffen vermag – jedenfalls nicht mit den Mitteln, die es
dafür allenfalls bereit ist einzusetzen. Was es dafür
gewinnt, ist die Konzession, zu den Bedingungen der NATO noch im
politischen Geschäft zu bleiben, sogar als Teil einer "robusten"
Ordnungstruppe auf dem Balkan in Erscheinung
treten zu dürfen. Was das Ganze von einer diplomatischen
Kapitulation – noch – unterscheidet, ist der Vorbehalt,
unter den der russische Außenminister die Umsetzung des
prinzipiellen Einvernehmens in eine definitive, vom Weltsicherheitsrat
abzusegnende Regelung stellt: Am "Kleingedruckten"
könnte Moskau seine Zustimmung zum NATO-Krieg noch scheitern
lassen. So bleibt die diplomatische Selbstaufgabe Rußlands als
eigenständige Ordnungsmacht und Gegenspieler des Westens in
Südosteuropa doch noch im Zustand eines "schwebenden
Verfahrens".
Entsprechend differenziert fällt die Begeisterung des Westens über das Konferenzergebnis aus.
– Die deutschen Veranstalter halten sich viel darauf zugute, "die Russen wieder ins Boot geholt" zu haben. Den Vorbehalt
der Russen dagegen, einfach im NATO-Geleitzug mitzuschwimmen, handeln
sie klein; ihr prinzipielles Einverständnis, daß ein
Einverständnis herzustellen sei, nehmen sie schon beinahe
fürs Ganze, reden vorsichtig von einem "Durchbruch"
und tun glatt so, als wäre für Rußland gar nichts
dabei, wenn es sich auf diese Weise von einer NATO-geführten
Staatengemeinschaft einbinden läßt.
– Die Führungsmacht sieht andererseits überhaupt keinen
Anlaß, ihre Ansage zurückzunehmen, daß der Krieg noch
lange dauern kann und auf jeden Fall weiter eskaliert werden muß,
um Erfolg zu haben: Von "Durchbruch" keine Rede. Aus
amerikanischer Sicht spricht eben gar nichts dafür, sich mit
Rußland auf eine Verhandlungsebene zu begeben und die
Herbeiführung eines Konsenses wichtig zu nehmen. Selbst der pure
Schein einer russischen Vermittlungsmission, auch wenn sie bloß
in der Zustimmung zu den westlichen Positionen besteht, verunklart die
Demonstration einseitiger Hoheit über Krieg und Frieden und
unbehinderter Selbstermächtigung des Westens zur Gewalt, die die
USA eskalieren. Und was Rußlands Anspruch auf Respektierung
seiner Macht- und Einflußbedürfnisse speziell angeht, sehen
sie überhaupt keinen Grund, die Zurückweisung und faktische
Annullierung dieses Anspruchs zu beschönigen; sie sehen aber
etliche gute Gründe dafür, Moskaus Rolle außerhalb der
russischen Grenzen ausdrücklich und definitiv auf Null zu bringen.
Im Sinne Amerikas fällt – logischerweise – dann auch
die einzige praktische Konsequenz aus dem G8-Treffen für den
serbischen Kriegsschauplatz aus: Mit noch mehr Bombenangriffen als
zuvor stellt die NATO klar, daß aus der "Suche nach einer
diplomatischen Lösung" auch nicht der geringste Anflug von
Kompromißbereitschaft folgt, sondern allenfalls ein Grund mehr,
den Russen ganz die Unnachgiebigkeit des Westens vorzuführen
– in gestalt der Zerstörungsmacht, die ihn dazu
befähigt, vollkommen intransigent zu bleiben.
Die Bombardierung der chinesischen Botschaft:
Ein Fehlschuß mit Kollateralertrag
Am 8. Mai zerstören drei ferngesteuerte Raketen die chinesische
Botschaft in Belgrad. Sie hinterlassen, wie es sich gehört, 4
Tote, 20 Verletzte und einen Haufen Trümmer. Absender wie Absicht
des gelungenen Zerstörungswerkes werden nicht bestritten;
allerdings, heißt es, habe die NATO in diesem Fall zwar das
einprogrammierte Ziel, jedoch das falsche Objekt verwüstet. Die
Vertretung der VR China sei nie gemeint gewesen, vielmehr ein dort
vermutetes, inzwischen offenbar aber nach unbekannt verzogenes,
serbisches Waffenbeschaffungsamt. Was den Grund der Bombardierung
angeht, hebt sofort ein wildes Spekulieren an: Ein "bedauerlicher
Fehler", wie die NATO sagt, Falschinformation eines serbischen
Doppelagenten, veraltete Stadtpläne – oder doch Vorsatz, wie
die Chinesen behaupten? Was die Folgen des "tragischen
Irrtums" (NATO) betrifft, sieht man sich im Westen durchweg als
das eigentliche Opfer seiner eigenen Raketen: "Eine politische
und diplomatische Katastrofe" (FAZ, 10.5.). –
Ursachenforschung wie Schadensbestimmung liegen haarscharf neben dem
Witz der Affäre. Die Frage nach Zufall oder Absicht ist so
unspannend wie nur was, weil sie über der Schuldfrage völlig
den politischen Nutzen verpaßt, den die Kriegsallianz ihrem
fatalen "mistake" augenblicklich abgewinnen kann; und die "Katastrofe" ist zwar folgenschwer, jedoch in ganz anderer
Hinsicht, als das allgemeine Wehklagen dies wahrnimmt: In der
Hauptsache ist der Fehlschuß auf die chinesische Botschaft eine
weitere Steilvorlage für die verstärkte Fortführung des
Krieges.
*
Vorsatz hin oder her: Die Fehlersuche der NATO und die mit ihr
eingeleitete diplomatische Bewältigung des "mishits"
machen aus dem bisher bedrohlichsten politischen Kollateralschaden
ihres Balkankrieges den passendsten Fehlschuß, den die Welt je
gesehen hat.
Die Erklärung der Verantwortlichen in Brüssel selbst will die
Version vom puren Zufall gar nicht groß strapazieren; und dies
nicht nur, weil das bei gleich 3 "Irrläufern" recht
gewagt klänge. Sie bekennen sich lieber zur Absicht des Angriffs
– auf ein serbisches Haus; dieses Angriffsziel wird wohl niemand
in Zweifel ziehen wollen. Daß die planmäßige
Vernichtung kriegswichtigen Inventars der feindlichen Hoheit
außerplanmäßig das völkerrechtlich exterritoriale
Botschaftsgebäude eines am Krieg unbeteiligten Landes zerlegt und
drei tote Chinesen fabriziert, ist zwar blöd, spricht aber keine
Sekunde gegen das Ziel des Angriffes und die weltordnerische Absicht,
für dessen Durchsetzung die Raketen fliegen: Auf diese Absicht
kommt es der NATO sogar schwer an. "Unser Zielfindungssystem
arbeitet sehr sorgfältig", verkündet keineswegs
betreten einer ihrer Generäle nach dem "korrekt
programmierten" Treffer – was natürlich nicht gegen
den guten Zwecks seines Tötungssystems, sondern für viel
Sorgfalt bei dessen Gebrauch spricht. An sich hat die Sache ja gut
geklappt: Knopfdruck, Einschlag, Zündung – alles, wie seine
Planer sich das fein ausgedacht hatten; nur die Mieter aus dem Reich
der Mitte, die auf leisen Sohlen eingezogen waren, standen nicht im
Auftragsbuch. "Veraltete Lagepläne des Pentagon, die vom
Geheimdienst CIA und den NATO-Militärplanern nicht hinterfragt
wurden" (SZ, 11.5.): Mit dieser letztgültigen Sprachregelung
des eingestandenen Irrtums legt die NATO den moralischen
Vorwärtsgang ein. Was ihr beim aktuellen "mistake"
nämlich vor allem abgeht, ist die Einlösung des eigenen
Zielfindungsdogmas: "Bei der Festlegung der Zielgruppen muß
sichergestellt sein, daß die Realisierung politisch vertreten
werden kann" (SZ, 11.5.). Diese Glaubwürdigkeitslücke
gehört geschlossen; nun wird die Realisierung des falschen
Zielobjekts eben im Nachhinein politisch vertreten:
Eine Entschuldigung bei der betroffenen "Zielgruppe"
muß natürlich sein, alles andere wäre eine lupenreine
Kriegserklärung. 'Verzeihung, China war nicht
gemeint'; damit hat es sich aber auch. Dafür geht in die
andere Richtung einiges. Die NATO erinnert sich der Bedeutung des
Zufalls in der Weltgeschichte. Es hat nämlich – Zufall als
Fügung! – doch nicht den ganz Falschen getroffen:
Beiläufig die letzte Großmacht, die dem NATO-Krieg nicht
zustimmt; ein aufstrebendes Riesenreich, gegen dessen etwas zu
eigenmächtige Ansprüche die USA gerade einen ostasiatischen
Raketengürtel aufbauen; Menschenrechtsverletzer wie der Serbe... A
propos, was hatten die Chinesen noch im Zielkreuz zu suchen? Warum
ziehen sie ihr Personal nicht ab wie jeder andere anständige
Staat? Man kann den Tathergang ja auch so sehen: Bezeugt die gelassene
Anwesenheit chinesischer Botschafter in der Metropole unseres Feindes
nicht eine gewisse Verbundenheit mit dem Mörder Milošević?
So schafft es der Absender der Rakete, den Beschossenen in eine
Zwickmühle zu bringen, die weltpolitisch folgenreicher ist als die
kaputte Botschaft. Durch seine getöteten Landsleute ist China in
diesem Krieg plötzlich mit drin, muß Position zu ihm
beziehen – und beide möglichen Stellungnahmen sind für
den Krieg der NATO nicht schlecht:
– Sollte China trotz des "barbarischen Akts", als den
es den Raketenangriff brandmarkt, im Weltsicherheitsrat auf sein Veto
verzichten – vielleicht noch auf Vermittlung Rußlands, wie
vor dem Ereignis gemunkelt wurde – und Ja sagen zum Kosovo-Plan
der G8-Mächte oder sich enthalten, dann hätte es die "flagrante Verletzung der Einrichtung eines souveränen
Staates" hingenommen; genau so, wie die NATO das erwartet:
Botschaft kaputt, Entschuldigung akzeptiert, mehr folgt daraus nicht.
China würde – selbst nach der Attacke – es nicht nur
unterlassen, der imperialistischen Mehrheitsfraktion plus ihrem
russischen Briefträger dort Schwierigkeiten zu machen, wo sein
Placet gerade abgeholt werden soll; es würde damit auch
nachträglich den Krieg jenes Bündnisses billigen, das ihm
just seine Botschaft zerschossen hat: Keine ganz leichte Übung
für einen souveränen Staat, der etwas auf sich und seine
Geltung hält.
– Sollte China aber wegen des "barbarischen Akts"
– vielleicht auch, weil es nicht recht einsieht, eine Weltordnung
abzusegnen, in der für seine Macht kein gewichtiger Platz
reserviert ist – Nein sagen zur gewaltsamen Friedensstiftung auf
dem Balkan und/oder auf tätiger Wiedergutmachung für den
Fehlschuß bestehen, ist das zumindest einem G8-Staat auch nicht
unrecht. Die USA haben die neuerliche Einbeziehung des
UN-Sicherheitsrates ja nie gewollt und dulden sie auch jetzt nur als
völkergemeinschaftliche Fußnote ihres Aufsichtskonzepts ohne
Wenn und Aber, nachdem sie das Gremium vorher zielstrebig ausbezogen
hatten: Sie können auf den Segen Chinas verzichten; wird er
verweigert, ist der Sicherheitsrat ebenso schnell wieder "aus dem
Boot". Umgekehrt, und das gilt dann wieder für alle
Bündnisstaaten: Entscheidet sich China, auf der Rakete zu lange
herumzureiten, enttarnt es sich endgültig als letzter
Außenseiter einer "Balkan-Lösung" unter Hoheit
der einzig befugten Weltordnungsinstanz, der NATO. Die hat in
Protestnoten aus Peking dann ihrerseits den – nachträglichen
– Beweis, daß das Opfer des bedauerlichen
Kollateralschadens in der Botschaft so unschuldig nicht ist. Auf diesen
Fortschritt wird China festgenagelt. Ein Ausklammern der Differenzen in
der Kosovo-Frage, wie noch bei Zhu Rongjis USA-Besuch, soll nicht mehr
sein; jetzt verlangt die NATO von China, Farbe zu bekennen. Entweder es
erfüllt die Forderung, nach dem Angriff flott zur Tagesordnung
überzugehen – zur Akklamation ihrer Kriegstagesordnung, oder
es beharrt auf seiner verräterischen Distanz zum westlichen
Weltordnungsmonopol – und belegt damit nur den existenten
Argwohn: Der in China geäußerte Verdacht, das Kosovo
könne ein "Präzedenzfall" sein – für
Taiwan und Tibet –, wird bezeichnenderweise gar nicht
entkräftet; im Gegenteil: Wer solche Sorgen hat, zum
übernächsten Fall einer NATO-Intervention für das "Selbstbestimmungsrecht unterdrückter Völker" zu
werden, wird wohl allen Grund dazu haben.
Beide denkbaren Reaktionen auf den Volltreffer in der Botschaft passen
der NATO in den Kram: So oder so überführt sie den
Zwischenfall eines "Kollateralschadens" in einen
Kollateralertrag, der gar nicht ohne ist. Bereits den ersten
Entschuldigungen – "dieser Fehler, so schlimm er auch sein
mag, wird uns nicht von unserer Linie abbringen" (Scharping,
tagesthemen, 8.5.) – gelingt es, noch mitten im Bedauern zu
drohen: Nichts, keine Verwüstung, wen sie auch treffen mag,
hält uns vom Bomben ab. Dasselbe in den verständigen Worten
der FAZ: "Die NATO wäre im Ernst nicht gut beraten, setzte
sie ihre Luftschläge aus. Es wäre ein Zeichen der
Erschrockenheit über das eigene Tun" (SZ, 10.5.); wo
kämen wir hin, wenn unsere Kriegsherren sich von diplomatischen
Verwicklungen irritieren ließen. Die Publikum hat verstanden: Im
Ernst ist die Glaubwürdigkeit überlegener NATO-Gewalt das
Kriegsziel, unser Gefasel vom Flüchtlingshilfswerk vergessen wir
da lieber; und dieses Ziel verbietet es in der Tat, auch nur eine
Stunde mit dem Bomben aufzuhören. Sollte dennoch der Eindruck
entstehen – die Presse fragt am Tag danach, ob die "ruhige
Nacht in Belgrad" etwa mit der chinesischen Botschaft zu tun habe
–, wird er umgehend korrigiert: Nein, "die NATO muß
jetzt fest bleiben" (Clinton); und wie zur Betonung, daß
der Westen seinen Krieg bedingungslos zu Ende führt, finden in der
Nacht darauf die zum x-ten Mal "heftigsten Angriffe auf
Belgrad" statt: Diesmal lauter grundgute Schäden, ohne das
unschöne Attribut "kollateral".
*
Die Antwort des bombardierten China fällt gespalten aus. Zum einen
verdammt es "die grobe Verletzung der Souveränität
Chinas", fordert "mehr als eine formale Entschuldigung,
zudem eine Verurteilung durch die UNO und die Untersuchung des
Bombardements" (SZ 11.5.): Eine ziemlich gewöhnliche Antwort
für einen Staat, der zuoberst Respekt vor der Hoheit seines
nationalen Gewaltmonopols und die Wiederherstellung des verletzten
Gutes verlangt. Nicht minder steht der Appell seiner Führer an die
Vaterlandsliebe ihres Volkes im Lehrbuch des Nationalismus; im Krieg
umgebrachte Landsleute sind stets ein Anlaß, die Einheit von
Herrschaft und Untertanen zu beschwören, die nach Angriffen
auswärtiger Mächte erst recht zusammenhält. Jeder kann
sich lebhaft vorstellen, wie im umgekehrten Fall die Töne und das
Volksgeschrei hier ausgefallen wären. Aber andererseits kommt
China nicht an der Zwickmühle vorbei, die die NATO ihm gestellt
hat: Entweder es beharrt auf seinem Protest, was ihm als
übertrieben harte Reaktion ausgelegt wird, oder es geht zur
diplomatischen Tagesordnung über, was wie eine nachträgliche
Genehmigung der NATO-Aktion seitens des Betroffenen genommen wird.
Chinas Chefs entscheiden sich für eine Mischung. Den Gefallen, dem
Angriff und damit dem Krieg, in dessen Mündungsfeuer sie geraten
sind, die Absolution zu erteilen, tun die Chinesen dem Westen
natürlich nicht; die totale Verweigerung beabsichtigen sie aber
auch nicht: "China wird im Weltsicherheitsrat über die
Kosovo-Krise erst beraten, wenn die NATO ihre Luftangriffe beendet
hat" (SZ 11.5.). Sie wollen sich offenkundig "ins Boot
holen" lassen, allerdings nicht ohne Gegenleistung.
Umgekehrt ist in keiner Weise erkennbar, daß die NATO zu einer solchen bereit ist.
*
Das Ansinnen wird unisono abgewiesen. Die Linie ist klar: Bloß
weil den Chinesen eine Rakete aufs Dach gefallen ist, brauchen sie sich
nicht einzubilden, sie könnten dem Westen in seinen Krieg
hineinreden. Wenn jetzt einer Forderungen zu stellen hat, ist das der
Absender, nicht der Adressat des Geschosses: Den diplomatischen
Rückhall auf ihr 'Nichts für ungut!' will die
NATO aus Peking schon hören. "US-Verteidigungsminister Cohen
warf der chinesischen Regierung vor, politisches Kapital aus dem
Beschuß ihrer Botschaft schlagen zu wollen. Es gebe einen
Unterschied zwischen berechtigter Empörung und 'berechnender
Ausbeutung'" (SZ, 12.5.). Damit ist die Schranke für
den Protest gezogen – der Chinese darf sich aufregen, aber nichts
daraus machen – und sogleich mit der Retourkutsche verbunden:
Sollte der Beschossene von seinem Unglück profitieren wollen,
statt die Kondolenzgrüße seiner Verursacher
entgegenzunehmen, dann bringt er, nicht der Bombenwerfer, eine
unnötige Schärfe in diese Weltordnung, in der viel
geschossen, also manchmal auch daneben geschossen wird. In diesem Sinne
"sprach Präsident Clinton der Volksrepublik sein Beileid
aus, sagte aber auch, die NATO müsse auf dem eingeschlagenen Weg
bleiben" (SZ, 10.5.); alles, was nur in die Nähe eines
Tadels des Krieges rückt, aus dessen Kommandozentrale die
Botschaft befeuert wurde, ist Ausbeutung des Leids des Opfers, also
zutiefst inhuman. Die von China im UN-Sicherheitsrat beantragte
"Verurteilung des Angriffs" kommt deshalb nicht auf die
Tagesordnung; die Bedingung für eine Duldung des G8-Plans, ein
Schweigen der NATO-Waffen, wird schon gleich abgelehnt: als haltloser
Erpressungsversuch gegenüber einem globalen Kriegsbündnis,
das auf dem Balkan gerade vorführt, daß seine
überlegene Militärmacht jeden Souverän auf dieser Welt
zur Unterordnung unter seine Ordnungsansprüche erpressen kann.
*
In China finden antiwestliche Demos statt. Botschaften von NATO-Staaten
werden, absichtlich, mit Steinen beworfen. Weder die Polizei noch das
Militär greifen ein. Die westliche Öffentlichkeit
läßt sich von der Aufregung aber nicht täuschen. Sie
ist künstlich: "Herangekarrte Demonstranten, inszenierte
Wut, geschürter Haß" (ALD-Blennpunkt, 9.5.). Und sie
gilt den Falschen: "10 Jahre nach dem Massaker auf dem Platz des
Himmlischen Friedens demonstrieren sie wieder: Diesmal rufen sie nicht
'Nieder mit den korrupten Kadern' und Demokratie verlangen
sie schon gleich nicht" (SZ, 10.5.). Mit den falschen Parolen
dürfen sie marschieren, bei den richtigen werden sie
niedergemacht: So gefällt uns Meinungsfreiheit aber gar nicht.
Patriotismus erlaubt, Staatsfeindlichkeit verboten: Mal ganz was Neues.
Die chinesische Führung erklärt die Opfer von Belgrad zu "revolutionären Märtyrern". Sie läßt
deren Angehörige mit ihrem Kummer nicht allein, sondern hält
die Kamera drauf und wiederholt die Bilder, die Staatstrauer in Szene
setzen, penetrant im täglichen ARD-Brennpunkt. Dieselbe Presse,
die aus Chronistenpflicht jede weinende Oma aus dem Kosovo ablichtet,
durchschaut die "Benutzung privaten Schmerzes für politische
Absichten" sofort und wendet sich mit Grausen: "Bei solchen
Bildern aus dem chinesischen Fernsehen wird mir schlecht"
(ARD-tagesthemen-Kommentar). Mit Frontberichterstattung kennt unsere
freie Presse sich eben aus. Dabei sind die Jungs gar nicht aufs
serbische Propagandaseminar gegangen, sondern nur in die demokratische
Journalistenhochschule.
*
Gerade jetzt muß Bundeskanzler Schröder zum Empfang in die
VR China, routinemäßig; normaler Staatsbesuch nach dem "Vorfall" geht aber nicht. Also bleiben
Geschäftsabkommen und Anklagen wegen Menschenrechtsverletzungen
fürs erste daheim, die viertägige Reise wird auf chinas
Antrag auf einen mehrstündigen "Arbeitsbesuch"
verkürzt. Dennoch hat der Kanzler zwei wichtige Botschaften parat:
– Die erste ergeht an die eigenen Kriegskollegen. Wenn
Deutschland schon als "Bußfertiger" für die "peinliche Panne der CIA" (SZ, 11.5.) den Gang nach Peking
antreten muß, dann will es seine erste Beteiligung an einem
NATO-Krieg auch höher entlohnt wissen. Der "Ärger der
Regierung über die Zielplanung der Allianz" besteht
nämlich darin, zwar mit Tornados und Drohnen, nicht aber an der
Entscheidung über die Ziele beteiligt zu sein. An der
Kriegsplanung möchte es maßgeblich teilhaben; sonst kommt es
sich ärgerlich klein vor: Das "teilte Kanzler Schröder
Generalsekretär Solana vor seinem Abflug nach China mit"
(SZ, 11.5.). Außen- und Verteidigungsminister ärgern sich am
gleichen Tag in Bremen: "Auf der Tagung der Westeuropäischen
Union (WEU) sagte Fischer, der Konflikt im Kosovo führe vor Augen,
wie dringend und unerläßlich die Stärkung der
Sicherheits- und Verteidigungsidentität für das Europa der
Zukunft sein werde. Der Kosovo-Krieg hat laut Scharping eine
europäische Schwäche offenbart: ... keine eigenen modernen
Großtransportflugzeuge, keine eigene Satellitenaufklärung,
die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen
Rüstungsindustrie müsse gestärkt werden" (SZ,
11.5.).
So bleibt dem deutschen Kanzler wieder einmal nichts anderes
übrig, als aus der Not eine deutsche Tugend zu machen. Als
Vertreter eines Landes, das mangels eigener Raketen den Abschuß
eindeutig nicht zu verantworten hat, findet Schröder sich für
die Entschuldigungsmission im Namen der NATO besonders gut geeignet. So
ist auch ohne die erst anvisierte Aufrüstung "die
China-Reise des Bundeskanzlers mit einem Canossa-Gang nicht zu
vergleichen. Genau das Gegenteil treffe zu, sagt der Mann aus dem
Kanzleramt" (SZ, 11.5.) – und dem darf man diesen Vorsatz
getrost abnehmen.
– Die zweite Botschaft geht an den Gastgeber. Teil 1 besteht in
einem Schnellkurs über die Rolle von Ursache und Wirkung in der
Weltpolitik: Gerhard Schröder erklärt den
NATO-Fehlschuß als "tragische Folge einer
menschenverachtenden Politik der Belgrader Führung" (SZ,
11.5.). Hätte der serbische Menschenverächter nämlich
Rambouillet unterschrieben oder noch vor dem 8. Mai zum
Kapitulationstelefon gegriffen – die chinesische Botschaft
stünde heute noch. Stattdessen muß sich der deutsche Kanzler
für einen ferngesteuerten Raketeneinschlag entschuldigen, der wie
alles im sog. "Krieg" der NATO nur einen Grund hat:
Milošević. Das tut Schröder dann jedoch "ehrlich,
ohne Wenn und Aber" (Pressekonferenz in Beijing), weil der Feind
in Belgrad zu solch menschlichen Regungen gar nicht fähig ist,
während der EU-Ratsvorsitzende sogar dem Reiz der "berechnenden
Ausbeutung" der Volltreffers widersteht: "Ich verstehe die chinesische
Betroffenheit und Empörung
voll und ganz". Danach hat die verständliche Empörung
des Opfers allerdings in eine "konstruktive Beratung"
überzugehen: "Der Bundeskanzler will um Chinas
Unterstützung für eine Kosovo-Resolution im UN-Sicherheitsrat
werben" (SZ, 11.5.).
Darin besteht Teil 2 seiner "heiklen Mission". Er sei "mit China einer Meinung, daß dem Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen höchste Bedeutung bei der Lösung des
Kosovo-Problems zukomme", meldet der Kanzler Vollzug beim
Unternehmen 'Wir holen auch noch China ins Boot'. Daß
das vereinnahmende Wir einen Seitenhieb auf die USA enthält, die
den Sicherheitsrat gar nicht so gerne im Boot haben, will er dabei
ebenso wenig verhehlen wie die Tatsache, daß es "in den
Gesprächen mit der chinesischen Führung Differenzen über
die Reihenfolge (!) gab. Erst ein Ende der Luftangriffe, dann die
Implementierung einer bewaffneten Friedenstruppe: Da vertritt die NATO
bekanntlich eine andere Position – und die habe ich hier
natürlich vertreten" (ARD-Interview, 13.5.). Natürlich:
Die NATO-Position ist schließlich genauso unverhandelbar, wie
feststeht, daß der deutsche Emissär in Peking als
unnachgiebiger Vertreter der gesamten Kriegsallianz spricht. Die Front,
nach deren siegreicher Erledigung die Weltfriedenstruppen der NATO mit
oder ohne UN-Wappen implementiert werden, also einrücken sollen,
verläuft nämlich immer noch im Kosovo. Und dort ist noch
einiges zu tun.
*
Während der Kanzler in China weilt, haben seine Kollegen im
NATO-Hauptquartier einen neuerlichen Angriff Miloševićs
abzuwehren. Die Reflexe funktionieren auch an Tag 50 des Krieges noch
ausgezeichnet: "Die NATO hat auf die Ankündigung
Jugoslawiens, einen Teil seiner Streitkräfte aus dem Kosovo
abzuziehen, mit großer Skepsis und unverminderten Luftangriffen
reagiert. Der Abzug einiger Panzer sei nicht ausreichend, alle
müßten umkehren, die Straßen in Richtung Norden nehmen
und den Kosovo nur noch im Rückspiegel sehen, sagte Shea"
(SZ, 12.5.). Wie die Redeweise von der "Finte", um die es
sich bei der serbischen Meldung zweifelsfrei handelt – TV-Bilder
vom "Abzug zweier Busse mit 130 Soldaten" (Tagesschau,
13.5.) sind prinzipiell eine optische "Täuschung"
–, gemeint ist, erschließt sich aus der parallelen
Nachricht, daß Serbien den verlangten "völligen und
bedingungslosen Rückzug seiner Soldaten, Paramilitärs und
Panzer" aus eigener Kraft gar nicht hinkriegt: Sämtliche
Verkehrswege nach Norden sind von der NATO zerstört, und im
übrigen sagt die NATO an, daß sie jede erkennbare
Truppenkolonne, egal wohin sie sich bewegt, unter Feuer nehme. Ein
Versuch von Milošević, mit dem angesagten Truppenabzug auf
irgendeine verhandelbare Regelung für ein Kosovo unter irgendwie
noch serbischer Mitsprache hinzuarbeiten, hat im Programm der NATO
längst keinen Platz mehr. Das in diesen Tagen öffentlich
debattierte "Hauptproblem: Wie kommen Miloševićs Truppen
raus, wie kommen NATO-Truppen rein?"
(Verteidigungsstaatssekretär Stützle) macht deutlich,
daß es um nichts anderes geht als um die absolute, bedingungslose
Gültigkeit einer NATO-Ordnungsstiftung für den gesamten
Balkan. Ob die serbischen Truppen die Streitkräfte des
freiheitlichen Kriegsbündnisses dann nur im Rückspiegel
sehen, ist mehr als fraglich.
Grünen-Parteitag zum Kosovo-Krieg am 13. Mai:
Wie die Grünen den Pazifismus in
den deutschen Militarismus überführen,
für den sie
Regierungsverantwortung tragen wollen
Während der Brennpunkt im Fernsehen von den Ergebnissen
der 50. Bombennacht berichtet, sorgt sich die Öffentlichkeit, ob
der deutschen Kriegsbeteiligung nicht ein innenpolitischer
Kollateralschaden droht. Der Parteitag der Grünen zum
Kosovo-Krieg, passend auf den Himmelfahrtstag terminiert, entscheidet
über die Fortexistenz der rotgrünen Regierung und damit
über den reibungslosen Fortgang des ersten Krieges unter aktiver
deutscher Mitwirkung nach Hitler.
Nicht ein ehrlicher Streit um die Frage von Krieg und Frieden liegt der
Parteitagsregie am Herzen, sondern eine Einschwörung
pazifistischer Einwände im eigenen Lager auf die
Regierungskoalition und ihr kriegerisches NATO-Unternehmen. Die
mehrmalige zeitliche Verschiebung des Treffens verdankt sich ganz
diesem Kalkül. Der von der grünen Führung erhoffte
Blitzsieg über Belgrad sollte allen friedensbewegten Kritikern den
Wind aus den Segeln nehmen. Die Rechnung ging trotz Intensivierung der
NATO-Bombardements nicht auf. Also muß die Partei ihren
Mitgliedern nun doch mitten im laufenden Krieg erklären, warum
sich friedensbewegte Kritik am rot-grünen Waffengang verbietet.
Militarismus ist nämlich angesichts der Lage auf dem Balkan nach
dem Willen der Führung die einzige ethisch achtbare Form von
Pazifismus. "Frieden und Menschenrechte vereinbaren!", so
lautet der Titel des grünen Leitantrags für den Parteitag, in
dem der Krieg als ultima ratio des Humanismus propagiert wird.
Für die Achtung der Menschenrechte gegen die Ächtung des Krieges
Zu diesem Zweck werden die letzten Zauderer in der Partei vor ein
hinlänglich bekanntes moralisches Dilemma gestellt, dessen
Bewältigung angeblich den Leitfaden der rotgrünen
Außenpolitik mit militärischen Mitteln abgibt. Als Pazifist
fühlt man sich einerseits der Absage an Gewalt verpflichtet.
Gerade dadurch macht man sich andererseits angesichts der Lage im
Kosovo schuldig, weil dort nur der Einsatz von Gewalt eine
humanitäre Katastrofe verhindern und die Menschenrechte
durchsetzen kann.
"Absage an Gewalt sowie Wahrung und Durchsetzung der
Menschenrechte: Diese beiden Grundlinien geraten bei der Bewertung des
Kosovo-Konfliktes in einen Zielkonflikt." (Leitantrag "Frieden und Menschenrechte vereinbaren", 13.5.1999. Daraus
alle Zitate, soweit nicht anders vermerkt.)
Damit ist ein wunderbarer moralischer Zwiespalt konstruiert, der eine
Frage garantiert nicht mehr aufkommen läßt: Ob nicht die
politischen Verhältnisse kritikabel sind, in denen guten Menschen
immerzu ausgerechnet diese Alternative gestellt wird. Mit solchen
Lappalien will sich die Parteitagsregie erst gar nicht abgeben. Sie
will nachdrücklich auf diesem moralischen Dilemma herumreiten, das
an Unehrlichkeit kaum zu überbieten ist. Denn wie immer die
Entscheidung auch ausfällt, ob gegen den Einsatz von Gewalt oder
für machtvolles Zuschlagen, das im übrigen einzig dem Staat,
nicht den Privaten zusteht – dem moralischen Wertekanon, aus dem
die Entscheidung folgen soll, ist immer zugleich widersprochen. Wer an
seinem Pazifismus festhalt, nimmt die fremde Gewalt hin; wer diese
gewaltsam bekämpft, verrät sein Bekenntnis zur
Gewaltfreiheit. Dann aber ist die Moral auch nicht der Grund der
Entscheidung, ja sie verunmöglicht eine solche überhaupt. Was
der eine Wert gebietet, das verbietet nämlich der andere. Und
daraus ist nur ein Schluß zu ziehen: Der rot-grüne Einsatz
für den NATO-Krieg im Kosovo hat mit diesen hohen Werten gar
nichts zu tun. Im staatlichen Anspruch der Westmächte auf die
Kontrolle des Balkan hat der Waffengang seinen einzigen und
maßgeblichen Grund.
Das ist den grünen Verantwortungsträgern als Grundsatz ihres
Handelns vertraut, als Argument aber verpönt. Wenn der
Kriegseinsatz schon nicht aus der Moral folgt, so soll er doch
wenigstens mit ihr begründet werden, weil der dem Blutbad
angedichtete hohe sittliche Wert das Oben und Unten in Partei und
Gesellschaft einen soll. Wenn man nicht für ein moralisches
Prinzip eintreten kann, ohne das andere zu verletzen, und eine
Hierarchie der höchsten Werte nicht existiert, dann muß man
beide gleichzeitig praktizieren. So heißt die salomonische
Lösung der grünen Oberkommandierenden fur ihr Ethikseminar in
Bielefeld, das einen Krieg absegnen, jedenfalls nicht behindern soll.
"Für viele wurde deutlich, daß es nicht darum gehen
kann zu entscheiden, welches Prinzip grüner Politik einen
höheren Stellenwert besitzt: die Wahrung und der Schutz der
Menschenrechte oder das Bekenntnis zu Pazifismus und Antimilitarismus.
Bündnisgrüne Außenpolitik muß den Anspruch
erheben, eine Vereinbarung dieser beiden Prinzipien zu finden."
Der Wahrheit ist damit um kein Jota gedient. Nicht nur deshalb, weil
sich die Regierungstaten von keiner Moral, sondern einem Interesse
leiten lassen. Man kann zwei sich ausschließende Grundsätze
auch beim besten Willen zum Fehler nicht dadurch vereinbar machen,
daß man sie gleichzeitig verfolgt. Aber der "Riß im
Kopf", mit dem die grüne Prominenz in diesen Tagen gern ihre
Kriegsentscheidung als Ausgeburt eines seelischen Kraftaktes gegen
Kritik immunisiert, darf nicht zu einem Riß in der Partei werden.
Dafür sind Korrekturen an den moralischen Korsettstangen des
Vereins nötig. Stehen sich nämlich der Pazifismus der einen
und der praktizierte Militarismus der anderen weiterhin als zumindest
ethisch gleichwertige Positionen gegenüber, so ist nicht nur der
Kriegskurs eines Fischer, sondern auch die pazifistische Kritik an ihm
ins moralische Recht gesetzt. Das hindert zwar weder den
Außenminister noch gar die Hardthöhe, geschweige denn das
Pentagon an ihren Maßnahmen, kann aber die
Handlungsfähigkeit des grünen Juniorpartners in der Regierung
gefährden. Eine falsche Abstimmung auf einer
Delegiertenversammlung, und der "Koch" muß sich einen
neuen "Kellner" suchen,
Das darf nicht sein. Also erläutert der Vorstand seiner Basis,
inwiefern die Synthese beider Werte nicht eine logische Absurdität
darstellt, sondern den Gipfel einer ethisch wertvollen
Außenpolitik markiert, bei der Militarismus und Pazifismus keine
Gegensätze mehr sind. Der Krieg als Mittel der Außenpolitik
ist geachtet, nicht geächtet, weil er nicht als Negation des Werts
Frieden, sondern als seine Durchführung aufgefaßt werden
muß. Vorausgesetzt natürlich, ein Grüner sitzt in der
Kommandozentrale.
Vor dem Krieg alle anderen Erpressungshebel ausnutzen!
Der Wille zur Beschönigung, der den Krieg in die Nähe des
Friedens rückt, wirft umgekehrt ein Schlaglicht darauf, was solche
Typen unter Frieden verstehen. Ein Erpressungsgeschäft der
härteren Art nämlich, das gar nicht verleugnet, wie dicht es
am Krieg ist. Grüne Außenpolitik zeigt ihre Verbundenheit
mit dem Wert Frieden darin, daß sie vor dem Mittel des Krieges
alle Register zwischenstaatlicher Erpressung zieht.
"Die Unentschiedenheit, Wankelmütigkeit und Sprunghaftigkeit
der westlichen Politik führte im zerfallenden Jugoslawien in den
letzten zehn Jahren mehrfach dazu, daß zu wenig zu spät
unternommen und damit die Aggressivität des staatsterroristischen
serbischen Regimes im Effekt sogar noch ermuntert wurde."
Die Grünen hätten den "Fehler" der
Vorgängerregierung vermieden, Belgrad nicht schon zu
Friedenszeiten all die Bedingungen aufzunötigen, deretwegen jetzt
Krieg geführt werden muß. Als könnte die wechselseitige
Erpressung von Souveränen, die auf der Anerkennung des fremden
Staatswillens beruht, je das Ergebnis herbeizwingen, das der Krieg
erbringen muß: seine Brechung nämlich. Davon abgesehen gibt
diese Offenbarung das Anspruchsniveau bekannt, auf dem grüne
Friedenspolitik beheimatet ist: Was sie ohne Krieg schaffen will, ist
nichts geringeres als ein Kriegsergebnis! Ein Staat wie Jugoslawien,
der das nicht akzeptiert, wird nicht vorschnell mit Krieg
überzogen. Grüne Außenpolitik ist dem Pazifismus bis
zum Äußersten verbunden. Vor den Krieg setzt ihre Diplomatie
daher die Androhung militärischer Gewalt, um das Böse von den
eigenen guten Absichten zu überzeugen.
"Die Außenpolitik der neuen Bundesregierung hatte
maßgeblich zum Verhandlungsprozeß von Rambouillet
geführt. Dieser war der Versuch, den geringen noch vorhandenen
Spielraum für einen grünen Politikansatz zu nutzen. Ohne dies
wäre es bereits früher zur militärischen Intervention
gekommen."
Einen Versuch war Rambouillet ja wert, ob Belgrad nicht bereits vor dem Waffengang in die Kapitulation einwilligt.
Krieg ja – aber nicht als militärischer "Selbstläufer", sondern nur unter politischer Kontrolle!
Wo auch das nicht verfängt, ist der Krieg fällig. Und selbst
dann noch stellen die Grünen unter Beweis, daß sie im
Unterschied zum Rest einer ethischen Gebrauchsanweisung und nicht dem
Beipackzettel von Krauss-Maffei oder Rheinmetall folgen, wenn sie
haargenau dasselbe wie alle NATO-Partner machen und Flugzeuge und
Raketen auf den Weg schicken. Gegen die "militärische
Eskalationslogik" und eine "Reduktion auf
militärisches Denken" fordern sie eine Bindung des Krieges
an seine "politischen Ziele" und eine Rückkehr auch zu "diplomatischen Lösungsversuchen", wie sie im
Fischer-Plan vorliegen und auch dem pazifistisch gesonnenen Teil des
Parteitags zur Lobpreisung unterbreitet werden. Als gäbe es das
überhaupt: eine sich selbst folgende Militärmaschinerie und
eine daneben stehende Politik; als wäre nicht gerade in der
Demokratie die Politik immer der Auftraggeber der Angriffe und in
Ministergestalt der höchstförmliche Oberbefehlshaber der
Streitkräfte. Die Fiktion tut aber ihren Dienst, weil daran
gemessen das normale Verhältnis zwischen Politik und Militär
wie eine vernunftgeleitete Mäßigung an sich blinder Gewalt
erscheinen soll. Die politische Hoheit über den Krieg adelt ihn
– wo sie doch gar nichts anderes leistet, als daß sie ihr
Instrument und seine verheerenden Wirkungen auf den Zweck
zurückbezieht, für den es im Einsatz ist: Reicht die
militärische Zerstörung der gegnerischen Fähigkeiten
bereits für die verlangte politische Unterwerfung aus? Diese
Anfrage ist der wesentliche Inhalt des Fischerplans, der als
Gesellenstück diplomatischer Handwerkskunst gefeiert wird, weil er
aus der "Eskalationslogik ausbricht", um die politischen
Früchte des militärischen Wütens zu ernten, zumindest
versuchsweise.
Ein wirksames Gewaltmonopol weltweit: der Gipfel des "politischen Pazifismus"
Was auf dem Balkan funktioniert, ist nach dem Willen der Grünen
ein Modell für die Welt. Pazifismus, einstmals als private Absage
an staatliche Gewalt gemeint, ist in seiner grün veredelten
politischen Fassung ein Plädoyer für ein weltumspannendes
Gewaltmonopol, das nicht Gewalt, sondern die der falschen Seite
unterbindet, indem es seine konkurrenzlose Überlegenheit als
global wirksames System militärischer Abschreckung etabliert.
"Die grundsätzliche Orientierung am Pazifismus werden wir
nicht aufgeben. Wir wollen ihn entfalten als politischen Pazifismus,
der sich zum Ziel setzt, die Anwendung von Gewalt in den
internationalen Beziehungen durch die Herausarbeitung eines wirksamen
Gewaltmonopols der Vereinten Nationen zurückzudrängen."
Keine Frage, wer Subjekt und wer Objekt dieser Kontrolle ist. Eine
grüne Regierungspartei bastelt ihre ethische Konstruktion nicht
zwecks Ableitung eines Gewaltmonopols, sondern für genau das
Gewaltmonopol, bei dem sie mit Sitz und Stimme mitwirkt: Deutschland,
seine EU-Partner und die NATO sind diese Weltmacht. Nur so wird
nämlich der pazifistische Sinn der UNO realistisch. "Robust" und "ohne double key", fordert der
grüne Außenminister in seinem Plan. Die politisch
realistische Veredelung des Pazifismus landet so zielstrebig bei dieser
Macht, weil der ganze moralische Verhau von ihr ausgegangen war, um sie
und ihr Werk zu legitimieren.
Kein Wunder, daß der Leitantrag in einen Katalog von Forderungen
mündet, die sich bis ins Detail mit den Taten und Vorhaben der
deutschen NATO-Macht decken: Serbien bombardieren, Fischer-Plan
umsetzen, Russen ins Boot holen. Der einzige Streitpunkt, der vor dem
Parteitag zwischen den im politischen Pazifismus geistig vereinigten
Flügeln als offen gilt, bezieht sich auf die angemessene Dosierung
von politischer Diplomatie und militärischer Gewalt: So bald wie
möglich "Unterbrechung" der NATO-Luftangriffe, um
Belgrads Bereitschaft zur Unterwerfung zu testen, oder "Beendigung" derselben, weil diese als sicher vorausgesetzt
werden darf.
Debatte und Beschluß: Rotgrüne Kriegskoalition bestätigt!
Der Parteitag der Grünen veranstaltet also – ganz der
Vorstands-Regie folgend – eine ebenso unzeitgemäße wie
verlogene Debatte über den Krieg der NATO und die deutsche
Beteiligung an ihm: Er inszeniert die Vergangenheitsbewältigung,
die die Grünen meinen, sich schuldig zu sein, weil sie erstens ihr
pazifistisches Image nach wie vor brauchen, zweitens weiter Deutschland
mitregieren wollen und drittens der von ihnen gestellte
Außenminister an der kriegerischen Zerstörung Jugoslawiens
maßgeblich beteiligt ist. Dafür, d.h. im Interesse einer
zukunftsweisenden Glaubwürdigkeit der Partei, befaßt sich
der Parteitag nach sieben Wochen Bombardement nicht mit dem Krieg und
seinem politischen Zielprogramm, sondern mit der Lüge, unter der
er begonnen und in den Rang einer unabweisbaren moralischen Pflicht
erhoben wurde. Kennwort: Letztes Mittel gegen eine humanitäre
Katastrofe.
Die angestrebte Vereinigung ihrer Werte "Nie wieder Krieg"
und "Nie wieder Völkermord" schaffen die Grünen
mittels einer gigantischen neuen Lüge. Durch die Darstellung und
Feier des deutschen Außenministers als eines Politikers
nämlich, der mitten beim Kriegführen unermüdlich gegen
den Krieg tätig wird. Mit der stereotypen Wiederholung der Losung:
"Wer das Bomben der NATO beenden will, muß Joschka unterstützen." (Cohn-Bendit u.a.)
werden die Delegierten auf die regierungstaugliche Ideologie
eingeschworen, derzufolge man unbedingt als kriegstragende Partei im
Amt sein muß, um die Logik des Militarismus bremsen zu
können. Wenn es so ist, daß das Verbleiben der Grünen
in der Regierung dasselbe ist wie maximaler Pazifismus, dann kann das
Gewissen der Basis ruhig sein. Dann stört es nicht weiter,
daß die "ehrenwerte fundamentalistische Grundhaltung einer
Ablehnung des Krieges" im berechnenden Willen zum Machterhalt
ersäuft wird.
Auch die Vertreter der "reinen pazifistischen Lehre", als
welche Ströbele und Co. verächtlich gehandelt werden, wollen
sich dieser Gleichung erklärtermaßen nicht widersetzen. Wo
ihr NATO-Mann Fischer immer bis zum Umfallen für die "politische Lösung" kämpft, die der Krieg
herbeibombt, da sehen sie in der Treue zur "Regierungsverantwortung" eine einzige Chance zur
Wiedergutmachung:
"Die Mehrheit und ich auch sind für die Weiterführung
der Regierungskoalition. Wir haben eine Bringschuld: Die Grünen
haben den Krieg in der Regierung mit beschlossen, deshalb müssen
sie jetzt dafür sorgen, ihn schnellstens wieder zu beenden."
(Ströbele)
Weil also auch diejenigen, welche das traditionelle Antikriegs-Emblem
der Partei hochhalten wollen, keineswegs an der Klarstellung
interessiert sind, daß die Durchsetzung der Staatsmacht nach
außen und Opposition gegen Krieg so ziemlich das Gegenteil sind,
leuchtet ihnen umgekehrt durchaus ein, daß man dem eigenen
Regierungsmann "keine Knüppel zwischen die Beine
schmeißen darf", sondern "den Rücken
stärken muß" – damit er erfolgreich für den
Frieden arbeiten kann:
"Ein Minister kann sicherlich vieles ertragen. Aber er kann nicht
alles ertragen. Man kann das Bekenntnis zur Autonomie als Partei auch
überziehen." (Volmer)
Der "wechselseitige Respekt", der die Debatte nach dem
Farbbeutelwurf gegen den Außenminister kennzeichnet, ist somit
wohlbegründet; und das Resultat der Debatte mit einem
Stimmenverhältnis von 444 zu 318 zugunsten des Vorstandsantrags
weist keineswegs zufällig die passende Dosierung zwischen einem
klaren JA und einem bedenklichen ABER zum gültigen Kriegskurs auf.
Dazu trägt sicherlich bei, daß J. Fischer und seine
Unterstützermannschaft ihre Politikfähigkeit nicht zuletzt
durch das gekonnte Anbringen der schlagendsten demokratischen Argumente
gegen die anwesenden Protestierer unter Beweis stellen. Die "Geh
doch nach drüben"-Parolen, die sie selbst vor knapp zwanzig
Jahren von den deutschen "Nachrüstungspolitikern" der
alten NATO zu hören bekamen, sind ihnen jedenfalls zur
Verteidigung der "neuen NATO" prompt wieder eingefallen:
"Trillerpfeifen sind keine Argumente."
"Mit Farbbeuteln wird diese Frage nicht gelöst werden."
"Wer für den Frieden sein will und hier mit Gewalt stört, der desavouiert sich selbst."
"Die Zeit ist reif, zwischen Gewalt und Feigheit zu
unterscheiden." (Cohn-Bendit meint, gerechter Krieg ist keine
Gewalt, sondern Zivilcourage, die sein muß!)
"Ja, ich bin ein Kriegstreiber, und ihr beantragt demnächst den Friedensnobelpreis für Milošević."
Die Denunziation der ewiggestrigen Kriegsgegner als hirnlose
fünfte Kolonne des Feindes gehört eben dazu, wenn
Staatsmänner auf ihr stärkstes Argument, die Bomben, setzen,
um – in diesem Fall – den Albanern den Frieden und den
Serben die Menschenrechte zu bringen und/oder umgekehrt.
Tatsächlich demonstrieren die Grünen mit ihrem Parteitag also
in jeder Hinsicht, daß sie sich auf der Höhe der Zeit
befinden. Indem sie sich, ihre Partei und ihren Außenminister als
die dazu berufenen Kräfte präsentieren, den Staat in dieser "schweren Zeit" des Übergangs zum
Menschenrechts-Imperialismus und in den ersten Krieg zu führen,
machen sie die allfällige Überwindung der Schranken deutscher
Machtentfaltung zu ihrem ureigensten Anliegen. Mit ihrer
friedensbewegten Tradition als Bonus wollen sie – nach innen wie
nach außen – für die Güte des NATO-Militarismus
bürgen, den die Einheitsfront der schwarz-rot-gelb-grünen
Parteien der Nation als neue Geschäftsordnung vorschreibt. In der
Tat kein schlechter Dienst, für den grüne Nationalisten sich
offenbar zwanzig Jahre lang fit gemacht haben. Zum Glück sind sie
gerade noch rechtzeitig auf den Kommandohöhen des Staates
angelangt, um die Rolle zu übernehmen.
Mitte Mai
Die Kriegsbotschaft des Westens an Moskau – nach 7 Wochen endlich angekommen!
Rußlands Präsident Jelzin, bedroht durch ein
Absetzungsverfahren der Duma, entläßt seinen Premierminister
Primakow mit der Begründung, auch der hätte keinen
Wirtschaftsaufschwung herbeiregiert, stattdessen alles dafür
getan, daß Rußland Kredite aus dem Westen bekommt, als
wäre die große russische Nation für ihren
ökonomischen Aufschwung darauf angewiesen. Dem Westen droht der
Präsident höchstpersönlich mit dem Ausstieg aus der G8-
und UNO-Diplomatie zur Beendigung des Jugoslawienkriegs, falls die NATO
trotz wiederholter russischer Einsprüche ihre Bombardements
ungerührt fortführt. Und so würde man das im Westen
gerne verstehen und abbuchen dürfen: Wieder mal so ein erratischer
Black-out des desorientierten Kreml-Herrn; vielleicht auch einer seiner
enorm geschickten und bisher noch stets erfolgreichen Schachzüge
im Moskauer Machtpoker; auf alle Fälle bloß ein neuerliches
Manöver im innerrussischen Gezerre um Posten und Einfluß und
um die Stimmung im Land; eines jener Manöver, mit denen Jelzin
bloß Verwirrung stiftet – gerade hatte man sich an den
grundsoliden Primakow gewöhnt... – und den politischen
Kredit untergräbt, den Rußland in Wahrheit schon längst
nicht mehr hat; und so weiter. Mag auch alles sein. Eins ist allerdings
schon anders als in den ähnlich gestrickten früheren Moskauer
Regierungskrisen: Diesmal wehrt sich der Präsident nicht gegen den
Vorwurf, Rußland für ein paar geliehene Dollar
ökonomisch an den Westen ausgeliefert zu haben, sondern er erhebt
ihn selbst von ganz oben herab gegen seine eigene Regierung. Und seine
Warnung an die NATO unterscheidet sich auch ein wenig von seinen ersten
wüsten Drohungen, die ihr Dementi gleich mittransportierten:
Jelzin fleht nicht um Berücksichtigung des nationalistischen
Aufruhrs in seinem Land und um Rücksichtnahme auf seine schwierige
innenpolitische Lage, sondern er droht dem Westen mit dem zwar nur
geringfügigen und fragwürdigen Mittel eines Rückzugs aus
der Kriegsdiplomatie, die immerhin eigens zur "Einbindung"
Rußlands inszeniert worden ist und fortgesetzt werden soll; doch
die kleine Drohung ist ernst. Jelzin – das wird damit immerhin
klar und soll auch so verstanden werden –, bislang der Mann des
Westens in Moskau, steht nicht mehr für das arme, machtlose
Rußland, das weiterhin entschlossen ist, sich gemäß
westlichen Vorgaben immer weiter herunterzuwirtschaften. Er
repräsentiert vielmehr eine stolze Nation, die sich
gedemütigt findet; die sich empört gegen die Zumutung,
für das Geschäft, das andere mit ihrem Reichtum machen, auch
noch ihren politischen Standpunkt gegen den NATO-Krieg an die NATO zu
verraten; die die Blamage ihrer wohlmeinenden Vermittlungsangebote
durch die Arroganz der NATO-Macht nicht länger schlucken, ihre
Erniedrigung nicht mehr mitmachen will. Das alles wird schon Teil eines
innerrussischen Machtkampfes sein. Aber in diesem Machtkampf
übernimmt der Präsident jetzt selber den Standpunkt des
beleidigten Nationalismus, wie ihn bisher nur die
Anti-Jelzin-Opposition vertreten hat. Die Staatsspitze
höchstpersönlich definiert die Behandlung Rußlands
durch den Westen als Herausforderung. Was daraus praktisch folgt, steht
dahin. Aber daß der Präsident, für den sich mit seiner
Anerkennung als G-achtes Anhängsel der G7 ein russischer
Lebenstraum erfüllt hatte, seine Mitwirkung in dem erlauchten
Kreis in Frage stellt; daß der Garant für "Reformen" von dem Reformmittel schlechthin, westlichem
Kredit, nichts mehr wissen will; und daß die Staatsspitze die
Schwäche ihrer Nation insgesamt als Demütigung und
Herausforderung begreift: Das ist neu.
Das war und ist vom Westen auch nicht gewollt. Die Demütigung und
Degradierung Rußlands aber schon. Und daran hält der Westen
mit einer Härte fest, die die Absicht noch gegen russischen
Protest ausdrücklich bekräftigt. Die Drohung Jelzins, aus der
G8- und UN-Initiative auszusteigen, wenn seine Forderung nach einem
Bombenstopp weiterhin ignoriert wird, wird diplomatisch schlicht
ignoriert und militärisch um so deutlicher beantwortet: Die
Bombardements werden noch einmal gesteigert. Nach sieben Wochen
Zerstörung der staatlichen Infrastruktur Jugoslawiens geht die
NATO-Luftwaffe zur Abschlachtung der serbischen Soldaten im Kosovo
über. Wenn dabei am Tag nach Himmelfahrt auf einen Schlag hundert
Kosovo-Albaner mitverbrannt werden, die die serbische Armee gerade in
ihre Heimatdörfer zurückkommandiert, dann weiß die NATO
schon, daß Miloševićs Soldateska sich bloß zwischen
den Flüchtlingen, die die NATO und sonst niemand in ihre
Heimatdörfer zurückschickt, feige verstecken will, was ihr
aber nicht gelingt: Mag der neueste Kollateralschaden auch das
berühmte "Massaker von Račak" weit in den Schatten
stellen, das zerbombte Dorf war ein "legitimes militärisches
Ziel", und so etwas kommt ab sofort öfter vor. Dazu bekennt
die NATO sich offen und ausdrücklich; und zwar punktgenau nachdem
aus Moskau die Verurteilung dieses "Zwischenfalls" als "barbarischer Akt" sowie die Bekräftigung des Aufrufs
zu einer Bombenpause eingetroffen ist.
Der Westen zeigt sich entschlossen, die jugoslawische Armee im Kosovo
zu vernichten; mag dazwischenkommen, was und wer will; mag Belgrads
Oberkommando auch noch so viele "Zeichen" für die
Bereitschaft zu einer "Lösung" aussenden; und ganz
gleich, wer da Einspruch erhebt. Unmißverständlich macht der
Westen deutlich: Russische Empörung und Kündigungsdrohungen
selbst von "Freund" Jelzin sind das letzte, was für
die kriegführende Weltmacht ein Grund zum Einlenken oder auch nur
zum zeitweiligen Lockerlassen sein könnte. Im Gegenteil:
Rußland ist politisch entmachtet und blamiert, und das soll auch
so sein. Der Westen will die Ex-Weltmacht in die Lage bringen, in der
sie jetzt ist; in der ihr nämlich – außer dem
indiskutablen Griff zu Atomwaffen – nichts anderes mehr
übrigbleibt als ein entweder stillschweigender oder expliziter
Offenbarungseid über ihre Ohnmacht. Genau so soll es weitergehen.
Wie weit? Notieren wir schon mal unter dem Datum des 15.05.99 eine
Antwort, die nichts prognostiziert: Sobald der Westen sich das
(zu)traut, nimmt er die Aufarbeitung des letzten Restpostens
strategischer Unsicherheit in Angriff und manövriert Rußland
– soweit es dann überhaupt noch in seinen jetzigen Grenzen
existiert – in die Zwangslage hinein, sich zwischen der Preisgabe
seiner Souveränität einschließlich deren letzter
Garantie, den Atomwaffen, und der Vernichtung seiner
Souveränität, gleichfalls einschließlich seiner
Atomwaffen, entscheiden zu müssen. Mit den Zuständigkeiten,
die die NATO sich bereits für Rußlands unsichere
Grenzgebiete, vom Kaukasus bis Mittelasien, anmaßt, ist sie von
einer solchen finalen Konfrontation mit den Überbleibseln der
einstigen Sowjetmacht schon gar nicht mehr besonders weit entfernt.
*
Unsere "Chronik" ist damit zuende. Der Krieg, wie es scheint, noch
lange nicht. Vielleicht ist die NATO ja bis zur nächsten Nummer
unserer Zeitschrift mit Jugoslawien fertig. Wir werden dann eine Bilanz
darüber ziehen, was der Krieg bis dahin politisch bereits
verändert hat – größere staatliche Gewaltaktionen
scheinen ja in der Entwicklung des globalen Gewalthaushalts enorme
Beschleunigungen zu bewirken. Übrigens auch im Gewalthaushalt in
all jenen klugen Köpfen der Nation, für die Farbbeutel nie
und nimmer Argumente sind, Cruise Missiles in gehöriger Zahl aber
ganz unwiderlegliche. Auch das wird zu resümieren sein.
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[1] Die blutige Zerlegung Jugoslawiens beschäftigt uns seit
der ersten Nummer unserer Zeitschrift: Bürgerkrieg in Jugoslawien:
Ein Fall für europäische Weltordner; in GegenStandpunkt 1-92,
S.139. Der letzte Beitrag: Das "Massaker von Račak" und
seine Folgen, in GegenStandpunkt 1-99, S.66, faßt den Stand der
"Kosovo-Krise" bis zum Beginn der nachfolgenden "Chronik" zusammen.
[2] Jene unvermeidlichen "Nebenwirkungen auf zivile Objekte
(Personen und Sachen)", die "vom Kriegsrecht
geduldet" werden, "solange sie in einem angemessenen
Verhältnis zu dem von der militärischen Aktion erstrebten
Erfolg stehen." (Brockhaus)
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