Anmerkungen zur nationalen Debatte über den Nutzen eines gerechten Krieges
Ein Bürgerkrieg in Serbien veranlaßt das mächtigste
Militärbündnis dazu, mit seiner Waffengewalt einzugreifen. Es
ergreift zwar nicht umstandslos Partei für das bereits bewaffnet
auftretende Interesse der Kosovo-Albaner, einen eigenen Staat zu
erkämpfen, führt aber einen bedingungslosen Krieg gegen den
Staat Restjugoslawien, nachdem Belgrad sich geweigert hat, die
hoheitliche Gewalt über sein Staatsgebiet freiwillig an die Nato
abzutreten. Jetzt laufen nebeneinander zwei Orgien der Gewalt ab, die
ihre Veranstalter – die Inhaber der serbischen Staatsmacht und
die Befehlshaber der NATO – eifrig in (den ihnen genehmen)
Zusammenhang bringen. Unter Berufung auf die Taten der anderen Seite
genehmigen sie sich eine ansehnliche Eskalation ihres Gewalteinsatzes,
und mit ihren Worten verhelfen sie der öffentlichen Moral zum
kriegstauglichen Aufschwung.
Die Leistungen im Nato-Land BRD auf dem Feld der Feindbildpflege sind
in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Erstens hat die Regierung das
bewährte Muster, mit dem militärische Unternehmungen als
gerechte Sache dargestellt werden, nachgebessert und eine neue Version
der Lehre vom gerechten Krieg in Umlauf gebracht. Derzufolge handelt es
sich bei der Abrechnung mit dem serbischen Staat um einen Akt
humanitärer Hilfe.
So waren die Luftangriffe auf Serbien schon in ihre "zweite Fase"
eingetreten, und eine verschärfte "dritte Fase" war angesagt; die
effizienteste Kriegsmaschinerie der Welt
hatte demonstriert, zu welchem Ausmaß an Zerstörung sie
fähig und bereit ist – da fühlten sich die
verantwortlichen Politiker immer noch zu energischen Dementis
herausgefordert: Nein, das Bündnis führt keinen Krieg, schon
gar keinen Angriffskrieg, vielmehr unternimmt es "eine dem
Völkerfrieden dienende Krisenmission", eine Intervention
für "die Menschen" und die nach ihnen benannten Rechte.
Die Militärs und Verteidigungsminister der NATO, die einen
umfassenden Bombenkrieg gegen den Staat Restjugoslawien entfesselt
haben, wollten es offenbar an einer Rechtfertigung ihres
Hi-Tech-Waffengangs nicht fehlen lassen. Sie versorgen ihre Völker
und den Rest der Staatenwelt mit den guten Gründen, die für
das von ihnen beschlossene Vernichtungswerk sprechen. Das eigene Volk
bedarf solcher Versicherungen stets, wenn es zur Sache geht – es
muß schließlich mit Geld und Leben für die
Entscheidung zum Krieg geradestehen, und dafür halten nicht nur
demokratische Kriegsherren die Überzeugung für nützlich,
daß die Opfer einem guten Zweck dienen. Anderen Regierungen
gegenüber erläutern Staatenlenker zum Auftakt ihres
internationalen Gewalteinsatzes mit ihren Rechtfertigungen, was ihnen
den friedlichen Verkehr mit dem feindlichen Souverän so
unerträglich macht. Wenn sie erzählen, was sie nicht mehr
hinzunehmen gewillt sind, umschreiben sie mit der Definition des
Unrechts, das sie gewaltsam beseitigen wollen, auch in etwa das
Maß, in dem sie ihre Tugenden und Waffen in Anschlag bringen.
An der Manier, in der unsere NATO-Minister ihrer Pflicht zur
Aufklärung über die Notwendigkeit des Krieges, zur
Propagierung der guten Gründe für ihren unvermeidlichen
Schießbefehl nachgekommen sind, wurde der entscheidende
politische Fortschritt durchaus wahrgenommen. Die Botschaft, daß
die westliche Allianz diesmal wegen der Menschenrechte und für sie
mobil macht, ist auch geglaubt worden. Für demokratische
Bürger und Medien ist diese Berufung auf einen Wert, der einem
Militärbündnis einen Krieg wert ist, genauso
unverdächtig wie die übrige "Kriegserklärung" der NATO, deren Strickmuster zu
allen Zeiten brave Nationalisten zum Mitmachen beflügelt: Was
Clinton, Blair, Solana und Fischer stört, ist ein zum Himmel
schreiendes Unrecht; begangen wird es von Milošević, so
daß den demokratischen Regierungen des Westens – die von
sich aus überhaupt nicht zum Kriegführen aufgelegt sind
– nichts anderes übrigbleibt als zu reagieren. Sie wollen
gar keinen Krieg, müssen aber "handeln". Zu dieser
Notwendigkeit, die ihnen der Serbe aufherrscht, bekennen sie sich mit
ihrem Schießbefehl. Der geht in Ordnung, weil er nur eine
alternativlose Konsequenz der Untaten ist, die sich der Verbrecher
Milošević herausnimmt. Für sämtliche Maßnahmen,
welche die NATO ergreift, ist der Feind "verantwortlich",
er ist schuld daran, daß wir unsere Raketen und Bomber
losschicken...
*
Diese tadellose Legende vom gerechten Krieg ist einerseits ebenso
langweilig wie konventionell. Andererseits bricht das Vorgehen der NATO
gegen Serbien mit einer Konvention, auf die auch der freie Westen
einmal ziemlich großen Wert legte. Diese Konvention heißt
Völkerrecht und stellt eine inter-nationale Vereinbarung über
die Zulässigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit von
Kriegshandlungen dar. Die darin niedergelegten "Regeln" in
bezug auf als gerecht anerkannte Kriege werden von den
NATO-Mächten übergangen, weil sie einen höherwertigen
Kriegsgrund ausgemacht haben. Sie setzen sich über die Satzung der
UNO hinweg, verzichten auf den Segen der organisierten
Staatengemeinschaft und erteilen sich selbst das "Mandat"
zur Vollstreckung ihrer Anklage. Dabei versäumen sie nicht zu
betonen, daß sie letztlich "nur" an die Stelle der
Staatengemeinschaft treten und deren gute Sache in die Hand nehmen.
Daß sie ihren Krieg für die Menschenrechte ohne
Rücksicht auf die Einsprüche anderer Nationen und ziemlich
effektiv führen können, verdanken sie – und daraus
macht auch niemand ein Geheimnis – ihren überlegenen Waffen.
Angesichts des Gewaltpotentials, das die NATO auffährt, geht ihr
Krieg gar nicht zu verlieren. Dabei wollen sich die Politiker der NATO
allerdings nicht nachsagen lassen, sie würden ihre geballte
militärische Macht einsetzen, um mit der Souveränität
des Serbenstaates gründlich aufzuräumen, weil das in ihrem
Interesse liegt. Sie belehren die Menschheit eindringlich darüber,
warum sie auf diese Weise tätig werden dürfen und müssen.
Dabei verlassen die Hüter der irdischen Gerechtigkeit –
denen die Kommentatoren der freien Welt das ehrenrührige Attribut "selbsternannt" ersparen – die Ebene der Heuchelei,
die Sphäre der Lügen, an die man selbst ein bißchen
glaubt; sie schreiben ihrem Vorgehen einen guten Zweck und sich selbst
eine gute Absicht zu, die in die Etage der schieren Verlogenheit
gehören. Wenn die Befehlshaber dem Bombenhagel, der nach allen
Regeln der anonymen Vernichtungskunst organisiert wird, den Charakter
einer humanitären Mission zusprechen, dann verwechseln sie die
einschlägigen Kriegsleistungen nämlich nicht mit einem
Einsatz des Roten Kreuzes, deren Wirkungen nicht mit der Linderung von
Not und Elend – sie sind schließlich selbst sehr stolz
darauf, wie gut sie die "Sprache der Gewalt" beherrschen.
Auch der Luftkrieg der zur Heilsarmee stilisierten NATO hat erst einmal
und gar nicht vorläufig den alleinigen Zweck, die Mittel des als
Feind ausgemachten Staates zu zerstören, um die Ausübung
seiner Gewalt zu unterbinden und seinen Willen zu brechen. Was da alles
ins Visier gerät, läßt sich am Vorgehen der
freiheitlichen Luftwaffe leicht studieren – die Entdeckung,
daß die Lebensmittel und die Botmäßigkeit des Volkes
zu den Grundlagen der feindlichen Staatsmacht gehören, fällt
wirklich nicht schwer.
Dennoch ist es gelungen, mit der Botschaft, daß dieser Krieg das
glatte Gegenteil von Krieg ist und mit planmäßiger
Vernichtung und zerstörerischer Gewalt nichts zu tun hat, Eindruck
zu machen. Für die Glaubwürdigkeit, die Politiker für
ihre Worte und Taten und für sich höchstpersönlich
beanspruchen, hat die offizielle Gleichsetzung des Krieges "NATO
contra Serbien" mit "Schutz und Hilfe für das
geschundene Volk der Kosovo-Albaner" gesorgt. Die Verkündung
dieser guten Absicht als Kriegsgrund hat auch bei der Mehrzahl der
deutschen Bürger verfangen, die als brave Nationalisten ansonsten
so ihre Vorbehalte gegen übertriebene Völkerfreundschaft
demonstrieren. Die speziell im Falle der Kosovo-Albaner daran
gewöhnt (worden) waren, dieses Volk als ihr Boot überlastende
Flüchtlinge und illegale Asylantenflut einzuordnen, sowie seinen
Beitrag zur Verbrechensstatistik anzuklagen wußten. Leute, die
tagaus tagein die Fortschritte ihres Staats als unentbehrliche
Grundlage ihres Lebenserfolgs schätzen und einfordern, die
umgekehrt von der Politik verlangen, deutsche Interessen in aller Welt
zu wahren und durchzusetzen, sind plötzlich großzügig
geworden. Ausgerechnet der Beschluß, in den Krieg einzutreten,
ist von ihnen ausdrücklich mit einer Begründung akzeptiert
worden, in der ein nationales Interesse nicht vorkommt. Ihre Regierung
berichtet davon, daß sie ein unterdrücktes Volk auf dem
Balkan entdeckt hat und "nicht mehr wegschauen" mag, und
erklärt sich zum Beistand verpflichtet; diese Verpflichtung beruht
auf keiner politischen Abmachung, beruft sich auf keine
deutsch-albanische Zusammenarbeit oder Interessengemeinschaft, entbehrt
jeglichen Verweises auf ein verletztes und "vitales"
deutsches Interesse (dergleichen träfe wenigstens auf
völkerrechtliches Verständnis), ist über jeden Verdacht
erhaben, nur die Suche nach wirtschaftlichen Vorteilen, nach "Beute" gar zu kaschieren – präsentiert sich
also als selbstlose Absage an jeglichen Nationalismus. Und dieser
Ansage eines Krieges, in dem wie bei jedem anderen Nationen mit
Waffengewalt aufeinander losgehen, erteilen deutsche Patrioten unter
Anleitung von Bild, Spiegel, Markwort und Christiansen und unter
heftigem Gebrauch des Wörtchens "wir" ihren Segen.
*
Die moralische Leistung eines Volkes, das im Verein mit seinen
Meinungsmachern seinen Führern die Lizenz erteilt, ihre
militärische Schlagkraft zugunsten auswärts
Unterdrückter einzusetzen, kann gar nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Das Volk ist schließlich nicht vor
lauter Mitleid zerflossen, sondern hat sich der Kosovo-Albaner –
mit denen es zuvor nicht groß befaßt war – genau in
der Weise angenommen, in der ihm dieses Sorgeobjekt präsentiert
wurde:
– Zunächst ganz menschlich. Wenn mündige Bürger
sich dieser Einstellung befleißigen, werden sie sehr enthaltsam;
sie verzichten fürs erste auf alle Fragen danach, warum und wozu
in der serbischen Kosovo-Provinz eine Partei die staatliche Ordnung
ändern will, dazu teilweise zur Gewalt greift und auf die
unnachsichtige Gewalt der amtierenden Staatsmacht trifft, die ihr Recht
gegen das der Kosovo-Albaner auf "Selbstbestimmung"
durchsetzt. Die Abstraktion von allen politischen und ökonomischen
Gegensätzen, die den streitenden Parteien die Gründe für
ihre Kämpfe liefern, legt den Blick frei auf ein unbestreitbares
Ergebnis des täglichen Bürger- und Volkskriegs in
Jugoslawien. Er produziert reichlich Opfer, und zwar auf seiten der
Kosovo-Albaner, die der bewaffneten serbischen Staatsmacht unterlegen
sind und als bloße Zivilbevölkerung von den Soldaten und
Polizisten Belgrads als Basis des Staatsfeinds UCK entsprechend
traktiert werden. Und als Opfer treten die Kosovo-Albaner in den
Gesichtskreis der rechtschaffenen Humanisten, die den freien Westen
besiedeln und unablässig in Wort und Bild – neben der
Vorstellungskraft wird reichlich die Anschauung bedient – mit den
grausamen Schicksalen Unschuldiger vertraut gemacht wurden. Als Opfer,
deren Leiden zwar "unvorstellbar" genannt, dann aber so
detailliert vermittelt werden, daß sie sich jedermann vorstellen
kann, wecken sie das Mitgefühl aller anständigen Leute
hierzulande. Als Opfer, deren Qualen sich – ausgerechnet – "vor unserer Haustür", "nur zwei Flugstunden
entfernt", abspielen, zwingen sie die Statisten von Demokratie
und Marktwirtschaft dazu, sich die Frage vorzulegen, ob da nicht
tätige Hilfe nötig und möglich sei. Als Opfer lassen sie
schließlich die durch ihr minutiös reportiertes Martyrium "betroffenen" mitteleuropäischen Wähler und
-innen nicht ruhen noch rasten, bis diese braven Leute eine Antwort
haben auf ihre drängende Frage. Als Opfer ist ihnen zumindest
eines gelungen: Sie haben der Menschlichkeit, die in den
Vaterländern der Demokratie zu Hause ist, auf die Sprünge
geholfen. Sicher, so ganz von alleine sind Deutschlands und Europas
Zeitungsleser und Fernsehzugucker nicht auf die Antwort gekommen, als
die uralte Frage "Was tun?" plötzlich unausweichlich
im Raum stand. Als jedoch feststand, daß "was" getan
werden kann und muß, waren sie durchaus angetan von der
Überwindung der Ohnmacht, die sie allesamt angesichts der Opfer
verspürt hatten.
– Dann aber gleich ziemlich politisch. Das Publikum, von dessen
Fehlern hier die Rede ist – unsere demokratischen Mitbürger
–, hat sich bei seiner intensiven Betrachtung des Elends im
Kosovo zwar zurückgehalten. Anläßlich der ausgiebig
bezeugten Ungeheuerlichkeiten hat es sich nicht dazu verstiegen, die
Exzesse von Gewalt als das Resultat wie das Mittel politischer
Interessen auf dem Balkan wie an ihm anzusehen und sich ein paar
Gedanken zu leisten. So viel Distanz und Zeit war angesichts des
Entsetzens nicht vorhanden. Die banale Einsicht, daß so
ehrenwerte und anerkannte Bedürfnisse wie die Gründung eines
Staates, die Notwendigkeit, ihn zusammenzuhalten, sowie berechtigte
auswärtige "Sicherheitsinteressen" meistens
gleichzeitig unterwegs sind; daß es diese Projekte und Belange
sind, durch die "Menschen" zu willigen Werkzeugen werden
und mörderische Großtaten erledigen – diese kleine
Lehre war unter dem Eindruck der "Unmenschlichkeit" nicht
zu haben.
Das heißt aber keineswegs, daß erschrockenen Anwälten
der Menschlichkeit die Fähigkeit und Bereitschaft fehlt,
Schlüsse auf die Politik zu ziehen. Im Falle Jugoslawien bzw.
Kosovo haben hochanständige Bürger jedenfalls die
Lähmung ihrer Urteilskraft, welche die Anschauung der Opfer
hervorgerufen hatte, gründlich überwunden. Den Anstoß
dazu hat offensichtlich der Beschluß der NATO-Regierungen
gegeben, welche aus ihrer Betroffenheit zum "Handeln"
gefunden haben – und alles andere als Krieg als "Nichtstun" und "Wegschauen" abqualifizieren.
Seitdem steht fest, daß die Opfer, recht besehen, Argumente sind.
Als solche gehören sie zum Inventar der öffentlichen Meinung,
die gerade in Kriegszeiten besonders gepflegt sein will; als
Rechtfertigungstitel für den Krieg weisen sie nämlich den
Vorzug auf, daß sie den Regierenden wie dem breiten Publikum als
Material für die Klärung der anfallenden Gewissensnöte
den gesamten Luftkrieg über erhalten bleiben.
Die erste Lehre, welche die Opfer hergeben, ergibt sich daraus,
daß sich politische Gründe für ihr Zustandekommen
– das wären für den bürgerlichen Verstand "verständliche", fast schon gute Gründe –
nicht ausmachen lassen. Sie sind also das Werk eines Täters, dem
die Qualifikation des Politikers fehlt, dessen Berechnungen bei der
gewaltsamen Befriedung und Erhaltung seines Staates nicht verdienen,
Politik genannt zu werden. Insofern ist die gewählte Regierung des
Serbenstaates auch nicht der Anerkennung wert, die in der Staatenwelt
ansonsten jedem Souverän zuteil wird. In Belgrad sitzt ein
Verbrecher, der heißt Milošević; seine Soldaten
führen auch keinen Krieg – auch das wäre der Ehre
zuviel –, sondern sind Mörder. Das unterscheidet sie klar
von "allen (anderen) Soldaten", was durch ihre Opfer
bewiesen wird.
Mit diesen sachdienlichen Hinweisen wird der allgemeinen Betroffenheit
der Weg aufgezeigt, den sie zu gehen hat. Während sie in den
meisten anderen Fällen von "Opfern", mit denen sie
täglich vertraut gemacht wird – die Weltkarte ist mit Opfern
reichlich bestückt –, nur achselzuckend und verzweifelt
zusehen kann, kriegen die vom Fernsehen zur Passivität
verurteilten Bürger in kapitalistischen Landen eine Chance.
Immerhin sind es hier nicht die unerklärlichen und kaum zu
behebenden "Umstände"; auch nicht die "wirtschaftliche Lage" eines Landstrichs oder seine
traditionell schlechte Ausstattung sind verantwortlich für Not und
Terror; im Falle Jugoslawiens ist die Ursache nicht anonym – sie
hat einen Namen. Die Identifizierung eines Schuldigen hebt die
Ratlosigkeit bei der Betrachtung von Opfern auf; Bürger braucht
sich nicht damit "abzufinden" und sich auf Spenden und die
Befürwortung von Kapitalexport, also Entwicklungshilfe zu
beschränken. Er kann beantragen, das Übel an der Wurzel zu
packen – das heißt Milošević –, und seine
Spenden als flankierende Maßnahme zum Kampf gegen das Böse,
von dem die Opfer zeugen, abbuchen.
Die zweite Lehre, welche uns die Opfer im Kosovo erteilen, besteht in
einem Auftrag an die Politik, und zwar an die "eigene"
– in Jugoslawien findet nämlich keine Politik statt, sondern
nur ein gigantisches Verbrechen. Zu dessen Bekämpfung ist der
freiheitliche Staat in vorauseilendem Gehorsam gegenüber seinen
Wählern auch angetreten, gleich in mehrfacher Ausführung, wie
sie in der NATO organisiert ist; und die Leistung, die von der Politik
verlangt ist, besteht in Gewalt pur, die – das gebietet die
Verbrechensbekämpfung nun einmal – der Gewalt des
Verbrechers überlegen sein muß. Und das wissen die
Bürger, denen ihr Gewissen angesichts der Opfer zur
Befürwortung des Kriegs rät, sehr genau: daß ihr "Schluß" auf den Krieg, den "wir" gegen
den Verbrecher führen müssen, auf der wohlbekannten
Übermacht des freiheitlichen Gewaltapparats beruht. Dabei brauchen
sie sich freilich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was wohl
die Tagesordnung des Weltfriedens so ausmacht, damit sie ein solch
schlagkräftiges Instrument der Politik hervorbringt! Und auch
daran brauchen sie nicht zu denken: Die Bestrafung von Verbrechern
übt zwar reichlich Gewalt gegen die Täter aus, macht aber die
Opfer nicht ungeschehen und ist mit der Verhinderung von Verbrechen
auch nicht zu verwechseln. Das sagen ihnen die Politiker, und zwar in
aller Deutlichkeit: Wenn Krieg als das Rezept feststeht, dann ist Krieg
auf dem Programm – Dienst und Hilfe für die Opfer kommen
nach dem Sieg.
*
Zur Vermeidung von Mißverständnissen und vor einer kurzen
Erinnerung daran, welches Kriegsprogramm die NATO-Politiker ihren
Völkern versprochen haben, seitdem ihre Luftwaffe im Einsatz ist,
taugt vielleicht ein Hinweis – darauf, was sie nicht gesagt
haben: Nie haben sie behauptet, daß ihre Kriegshandlungen eine
Hilfe für die geschundenen Kosovo-Albaner seien. Vielmehr haben
sie darauf bestanden, den Opfern nur dadurch helfen zu können,
daß sie die Staatsmacht zerstören, welche Kosovaren
vertreibt und schikaniert. Und dieses Kriegsziel, das sie allen Ernstes
in Rambouillet zum Angebot an Serbien ausformulierten, will die NATO
wegen "Scheitern der Verhandlungen" mit zwei, drei oder
vielen Wochen Bombardement erreichen.
Die Litanei von den Opfern, die den Krieg vom ersten bis zum letzten
Tag begleitet, dient der Kennzeichnung des Feindes; als Aussage
darüber, wodurch sich die Regierung Milošević die
Feindschaft des Bündnisses zugezogen hat, mag man sie als "Vorwand" zurückweisen, der darauf berechnet ist, auch
diesem Krieg den Ruch einer guten Tat zu verschaffen. Allerdings ist
eine solche Zurückweisung nur die erste Hälfte eines Urteils
– mit der Weigerung, den von den Politikern aufdringlich
propagierten Grund und Zweck ihrer Bomben für bare Münze zu
nehmen, wird ja immerhin etwas mehr behauptet als: "Die
lügen wie gedruckt!" Daß es ihnen um etwas anderes
geht, wollen die Kritiker der moralischen Beweihräucherung des
Krieges doch wohl auch in Erfahrung gebracht haben. Was die
Beantwortung der Frage nach den wirklichen Interessen angeht, die die
NATO-Staaten mit ihrem Aufmarsch verfolgen, geben – das zeigen
acht Wochen öffentliche Aufregung – die Veranstalter des
Krieges jedoch eindeutig die besseren Auskünfte als ihre Kritiker.
Unter heftigem Zitieren wirklicher und erfundener Unterdrückung im
Kosovo haben sie nämlich ein vollständiges Programm dessen
vorgelegt, was sie erreichen wollen. Dieses Programm verkaufen sie der
einheimischen und auswärtigen Menschheit mit einem albernen
Kunstgriff: als lauter Bedingungen, die sie mit ihren Gewaltmitteln
herstellen müssen, damit den Erniedrigten und Beleidigten auf dem
Balkan geholfen ist. Was sie da alles leisten wollen, damit auf dem
Balkan endlich wieder Frieden und Humanität ausbrechen, bewegt
sich in einer Größenordnung, die der zum Einsatz gebrachten
Kriegsmaschinerie entspricht:
– Den Albanern des Kosovo will die NATO eine politische Heimat
verschaffen, in der sie sich mit oder ohne Serben einhausen
können. Von der Behandlung, welche die zu stiftende politische
Herrschaft dem Volk angedeihen läßt, ist soviel bekannt: Die
Menschenrechte sollten wohl gewährt werden. Das ist sehr wenig,
wenn man bedenkt, welchen Bombenaufwand die NATO für diesen
mickrigen Ertrag betreibt.– Das muß sie aber. Denn für
den Ersatz der jetzigen Regierung durch eine gute muß die Macht
des "Diktators" gebrochen werden. Die Befreiung der
Unterdrückten geht nämlich nicht per Aufstand des Volkes,
schon gleich nicht nach dem Lehrbuch des Kommunismus; aber auch nicht
nach dem Lehrbuch der Demokratie, mit Bürgerrechtlern und freien
Wahlen und so. Die künftige Symbiose zwischen Staat und Volk liegt
in der Zuständigkeit der NATO.
– Dagegen hat der "Diktator" aber etwas, und auch
etliche andere serbische Nationalisten sind da wohl eher für "Selbstbestimmung" oder sowas. Die Zerschlagung des
serbischen Staates tut also not, eine flächendeckende
Vernichtungsaktion ist dringend erforderlich. Zerstört muß
alles werden, was der "Diktator" dazu gebrauchen kann,
Staat zu machen. Wenn er letzteres nicht mehr kann, wird
stellvertretend die Macht über den Trümmerhaufen
übernommen, samt den Insassen.
– Natürlich nur vorläufig. Dann geht es nämlich
darum, eine neue staatliche Ordnung zu schaffen, die von sich aus
hält und inmitten von Not und Elend die Menschenrechte achtet. Das
geht jedoch nur, wenn auch ein stabiles Zusammenleben mit den
benachbarten Staaten und deren Vielvölkern gesichert ist, die vom
Krieg leider in Mitleidenschaft gezogen werden. Die NATO, die diese
Länder zum Aufmarschgebiet und Flüchtlingslager hergerichtet
hat, plant also konsequent, gemäß dem Verursacherprinzip,
eine Balkanordnung.
– Angesichts dessen, daß ihr all diese Projekte –
für die sie fürs erste ihre Bomben verplempert – als "Einmischung" ausgelegt werden, hat die NATO diese Praxis
aus dem Katalog der außenpolitischen Vergehen gestrichen. Sie hat
das Völkerrecht nicht gebrochen, sondern verändert sowie ganz
verantwortlich die Regie über die Menschenrechte übernommen.
– Um das alles durchzuziehen, was für die Humanität im
Kosovo erforderlich ist, mußten lästige Störungen von
Anfang an ausgeschaltet werden. In der UNO und überhaupt galt es,
die Russen zu übergehen und zurückzuweisen. Die NATO hat
ihnen den Verfall ihrer Macht und ihres Geldes liebevoll vorgerechnet
und die diplomatische Überzeugungsarbeit um einige
unwidersprechliche Argumente ergänzt: ihre Bomben. Aber auch den
Kreml herablassend ein ums andere Mal "eingebunden".
– Um falschen Auffassungen ihres Handelns entgegenzutreten, hat
die NATO erklärt, daß es sich bei ihrem Krieg auf dem Balkan
nicht um eine Ausnahme, wg. Kosovo, ihrer Politik, sondern um die
Regeln der "neuen Weltordnung" handelt. Dafür hat sie
sich eine neue Satzung gegeben, zum 50. Geburtstag, so daß alle
Regierungen der Welt wissen, daß auch nach dem Balkankrieg und
anderswo die Gewalt der NATO zum Einsatz kommt. Eben überall dort,
wo diese Hüter der Menschenrechte gute Regierung vermissen. Sie
haben sich vorgenommen, den Gewalthaushalt der Staatenwelt zu
kontrollieren, was jedesmal Krieg erfordert, wenn ein nach ihren
Maßstäben mißratener Nationalismus praktiziert wird.
*
Seitdem sich die Menschenrechte in Serbien mit Bomben und Raketen
austoben, wobei einem "Verbrecher" das Handwerk gelegt und
eine "humanitäre Katastrophe" verhindert wird, ist das
deutsche Volk gehalten, sich auch darüber eine Meinung zu bilden.
Seine Führung hat es mit ihrem Beschluß zum Krieg
konfrontiert, die Medien berichten von den Erfolgen und Drangsalen der
NATO-Mission, und das ganze Land macht sich so seine Gedanken. Die
Diskussion verläuft friedlich, wie es sich für demokratische
Untertanen gehört, wenn Krieg ist. Was sich Regierung, Medien und
Bürger zu sagen haben, ist erfüllt von konstruktivem Geist.
Ein bißchen freilich erinnert die politische Kultur an die Welt
der Berge, in der das Echo schallt. Für die wenigen heftigen
Wortmeldungen sorgen höchstens einmal ein paar Eiferer, deren
Wortschatz auf "Milošević" zusammengeschrumpft ist
und die noch in der harmlosesten "Problematisierung" eine
Gegnerschaft zum Krieg entdecken, was für sie ganz dasselbe ist
wie Parteinahme für den "Verbrecher" und den Feind.
Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, daß die braven
Deutschen die regierungsamtliche Frage, ob der Krieg gerecht sei, mit
einem beifälligen Nicken quittieren. Die Medien geben sich alle
Mühe, eben dies mit Tatsachen aus dem Reich des Bösen zu "beweisen". So läßt sich im Anschluß an
diese Gretchenfrage, mit deren Beantwortung alles gelaufen ist für
den Dialog zwischen Führung und Volk, noch ein bißchen
zweifeln; es wird darüber getalkt und geschrieben, ob die Wahl der
Mittel der hehren Mission entspricht und wirklich alles notwendig ist,
was gemacht wird. Lehren aus der Geschichte – des Balkans und
Deutschlands – machen die Runde. Neben der Vergangenheit kommt
auch die Zukunft zu ihrem Recht, denn um mögliche Folgen des
Krieges machen sich mündige Bürger gerne Sorgen. Manche hauen
ihren Politikern, als wären sie ihre Berater, die wüstesten
Kombinationen von Ursachen und Wirkungen um die Ohren, auch Fehler und
ihre Konsequenzen kommen nicht zu kurz. Das alles zwingt die Regierung,
einerseits Zerknirschung, andererseits Entschlossenheit zur Schau zu
stellen – sowie zu dem bitteren Eingeständnis, daß ihr
Krieg mit allerlei Schwierigkeiten und Problemen verbunden ist, was ihr
auch die Entscheidung so schwer gemacht hat. Allerdings hätten sie
nach reiflicher Prüfung aller Alternativen keine einzige entdeckt.
Die Debatte geht selbstverständlich von der Macht der NATO aus,
befaßt sich mit deren sinnvollem Gebrauch, widmet sich sorgenvoll
dem Gelingen des Kriegsprogramms und ist die Kriegsmoral des
Waffengangs.
Textbausteine einer mißglückten Auseinandersetzung:
Erster Teil: Die Kriegs-Erklärung – bezweifelt und bekräftigt
Die "humanitäre Mission" wird beschlossen und
eingeleitet. Das nationale "Gut so!" ist laut vernehmbar,
nicht auf Straßen und Plätzen zwar, aber wohlorganisiert in
den Medien, wo die Meinung gemacht wird. In bescheidener Dosierung
jedoch melden sich Bedenken an. Merkwürdigerweise nicht gegen die
NATO, die Bundeswehr und ihre Waffen, die doch sogar zu Zeiten ihres
Nicht-Gebrauchs Gegenstand von Protesten waren und als Belege für
finstere Absichten gehandelt wurden. Jetzt, da die "Rüstung" zum Einsatz gelangt und ihre politischen
Benutzer den einzig vorgesehenen Gebrauch von ihren Werkzeugen machen
– sie lehren andere Staaten Mores –, werden die
Protestierer auch in der Sache bescheiden. Als Kriegsherren, die mit
Hilfe ihres verdächtig überdimensionierten Gewaltapparates
anderen Regierungen ihren Willen einbleuen und nicht nur fremde Lande
zerstören, sondern auch "den Frieden", werden sie gar
nicht verteufelt. Und auch nicht als Chefs der maßgeblichen
Staaten, die mit Geld und Gewalt den Rest der Staatenwelt noch
unwohnlicher gemacht haben als ihren eigenen Sprengel.
Was ist los mit einer Protestszene, die mit der Mahnung antritt:
Der Bombenkrieg verhindert die "humanitäre Katastrophe" nicht, er schafft nur noch mehr Opfer.
– und so dem neuen NATO-Programm, Gutes zu tun, beipflichtet?
Wollen diese Menschen, deren Partei inzwischen regiert,
nachträglich unseren Vorwurf bestätigen, daß ihre
damalige Kritik an der NATO-Rüstung nichts als die Sorge um
deutsche Landschaften war? Sind sie überzeugt, daß ein
auswärtiger Gebrauch des NATO-Geräts, garantiert ohne
Heimatfront, im Gegensatz zu früher eine Initiative zum Helfen
darstellt? Die nur den einen Haken hat, daß die Bomben ihr
humanes Werk wohl gar nicht vollbringen?
Es sieht so aus. Bei diesen Leuten hat die Ansage eingeschlagen. Sie
machen sich mit der "größten Friedensbewegung"
gemein, gestehen ihr zu, sich auswärts Schutzobjekte auszusuchen
und ihre Zuständigkeit mit der Macht wahrzunehmen, aus der sie
kommt. Wenn sie schon wissen, daß es zu mehr Flüchtlingen,
Vertriebenen und Leichen kommt, dann sollten sie den Kriegsplanern
diesbezüglich keine Wissenslücke unterstellen. Also auch von
der Regierung und der NATO wieder in der dritten Person reden und das
regierungsbeteiligte "Wir"-Denken und ihr beratendes
Problemgehabe lassen!
Aber so wie wir sie kennen, die gereiften Protestanten, freuen sie sich
nicht über Kritik, sondern über das vernichtende Kompliment
der Frankfurter Rundschau, die sofort gemerkt hat, daß der
Regierung keine Anti-Kriegsbewegung ins Haus steht:
"Die ehrenwerte Absicht wird auch von jenen nicht bestritten, die
daran zweifeln, daß Frieden durch Gewalt zu schaffen und zu
sichern sei." (7.4.)
Die Regierung, zum Krieg fest entschlossen, nimmt sich die
Einwände zu Herzen und diskutiert mit der Steilvorlage im Kopf.
Sie gibt ihre grundsätzliche Abneigung gegen Krieg zu Protokoll
und erläutert die Unverzichtbarkeit dieses Krieges, des Feindes
wegen:
Anders ist Milošević nicht zu stoppen.
Er ist ein Diktator, der nur die Sprache der Gewalt versteht.
Fischer & Co. verstehen ihr Geschäft. Werden ihnen Zweifel
serviert, ob mit Krieg den Schutzbefohlenen auf dem Balkan wirklich zu
helfen sei, beweisen sie, daß ohne Krieg schon mal gar nichts
geht. Aus dem Ziel "Hilfe", das ihnen so langsam zu
häufig mißverstanden wird – als unmittelbare Wirkung
von Luftangriffen nämlich –, wird deswegen "Milošević der Fähigkeit berauben, seine Verbrechen
fortzusetzen"; auf seinen Willen setzen westliche Kenner des
Unholds ohnehin nicht: "Er hätte nur den Vertrag von
Rambouillet unterschreiben müssen." Das ist gut gegeben. Es
ist offenbar gar nicht von Belang, was Milošević da hätte
unterschreiben müssen, wenn die neue deutsche Führungsriege
darauf verweist, daß dieser Staatsmann nicht auf das Kommando des
westlichen Bündnisses hört. Daß er die Leute in seiner
Südprovinz in Ruhe lassen soll, war jedenfalls nicht von ihm
verlangt. Es war ein bißchen mehr, was ihm mit diplomatischer
Geduld angetragen wurde – eine höfliche Einladung der NATO
in das Land, dem er vorsteht.
Dieses ungebührliche Benehmen disqualifiziert ihn als Staatsmann;
mit so einem etwas auszumachen, ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Und mit dem Berufsbild des korrekten Politikers war schließlich
schon sein bisheriges Treiben im Kosovo nicht zu vereinbaren –
der Grund für das Einschreiten des Westens. Demokratische
NATO-Führer werden sich hüten, im Falle Jugoslawiens dem
Vorgehen der Zentralgewalt gegen einen bereits bewaffnet auftretenden
Separatismus dieselben politischen Titel zu bewilligen wie anderswo.
Nichts da mit "innerer Sicherheit", Erhaltung der "territorialen
Integrität"; "Notstandsmaßnahmen" stehen diesem Mann nicht
zu,
weil die Kosovo-Albaner eine echte "Volksgruppe" oder "Ethnie" sind,
also nie und nimmer "Terroristen". Umgekehrt wird ein Schuh daraus.
Milošević betreibt ethnische Verfolgung bis hin zum
"Völkermord", wie das bei Diktatoren so üblich
ist.
*
Das gibt den Warnern zu denken. Gelehrig, wie sie bei ihren Versuchen,
Politik zu verstehen, sind, fangen sie an zu begreifen: Darum geht es
also! Die NATO will einen Diktator beseitigen, damit sein Volk nicht
mehr von ihm regiert und schikaniert wird, sondern frei ist. Und
dafür haben sie etwas übrig, erinnern sich aber an ihren
Diktaturunterricht in der Schule, in dem sie folgendes Gesetz
durchgenommen haben:
Ein Diktator läßt sich so nicht aufhalten. Im Gegenteil.
Durch Angriffe von außen, die dann dem Volk schaden und der
Zivilbevölkerung viel Leid zufügen, schließt sich das
ganze serbische Volk mit Milošević zusammen. Das sichert ihm
gerade den Machterhalt.
Daß Diktatoren nicht liberal, sondern eher störrisch sind,
wenn es um ihr Land geht, ist klar. So ähnlich verhalten sich
sogar demokratische Führer. Auch die lassen ihren Staat nicht
einfach sausen, wenn aus dem Ausland Bomben geschickt werden –
eher mobilisieren sie die Verteidigung der Nation.
Im Unterschied dazu aber geraten Diktatoren in einen Genuß, der
gerade für sie von besonderer Bedeutung ist. Sie erfreuen sich der
Solidarität des Volkes, was ihnen Macht gibt – wodurch sie
die Zerstörung der Grundlagen ihrer Macht lässig wegstecken.
So daß die Entfernung des Diktators gerade unterbleibt, die
Bürger keine Freiheit kriegen und genau das Gegenteil dessen
erreicht wird, worum es der NATO zu tun ist...
Mit dieser erneuten Warnung, die schon nicht mehr mit einem Einspruch
gegen den Krieg zu verwechseln ist, werden die Zweifler ein
bißchen naiv. Die schüchterne Anfrage, ob die NATO-Politiker
jene "kontraproduktive" Folge ihrer Bomben bedacht
hätten, nimmt die zur Feindbildpflege gewählte Formel "Diktator" gleich so wörtlich, daß man die
Kenner des Zwangsverhaltens von Nationalisten fragen muß: Hat die
NATO nun einen Luftkrieg organisiert oder eine
Bürgerrechtsbewegung? Habt ihr schon einmal vom Unterschied
zwischen "Entmachtung" durch Lichterketten und freie Wahlen
auf der einen, durch Zerstörung der Machtmittel einer Nation auf
der anderen Seite gehört? Die zweite Variante kommt von
außen, richtet sich gegen eine komplette Staatsraison und ihre
Grundlagen. Sie geht davon aus, daß selbst "Diktatoren" über ein gewisses Quantum Anhänger
verfügen, weil sie sonst gar nicht "diktieren"
könnten – was im übrigen nur ihre Gegner so wahrnehmen.
Was die Anhänger betrifft, so veranstaltet der NATO-Krieg schlicht
den Test darauf, ob und wie weit das Serbenvolk seinem Führer in
der Niederlage die Treue hält!
Politiker vom Schlage eines Fischer wären freilich blöd,
würden sie solchen besorgten Bedenkenträgern den Kopf
zurechtrücken. Sie finden es eher rührend, wenn das Publikum
bei Krieg allen Ernstes an den Export von freien Wahlen und
Menschenrechten denkt. Deshalb verweisen sie darauf, daß ihnen an
einem Schulterschluß zwischen Serben und Milošević auch
nichts liegt, daß ihnen eine Entzweiung zwischen Führung und
Basis in Jugoslawien auch gelegen käme und daß sie das
berücksichtigen – beim Kriegführen. Erstens, indem sie
daheim und über die Deutsche Welle verlautbaren, sie würden
keinen Krieg gegen das serbische Volk führen. Zweitens mit dem
Versprechen, mit ihren Bombenteppichen Ziviles zu verschonen sowie
Kollateral-Schäden zuzugeben, wenn es sein muß. Damit ist
für sie das Verhältnis zum jugoslawischen Volk geklärt,
solange sie dessen Lebensgrundlagen kurz und klein hauen.
Denn die Zerlegung Jugoslawiens ist in vollem Gang. Was die Warner und
Kritiker anlangt, sieht die Regierung angesichts des
zufriedenstellenden Dialogs nur noch einen argumentativen Bedarf: Sie
sind vielleicht unter dem Eindruck des Kriegsverlaufs doch wieder
geneigt, von vorne anzufangen und den Sinn des ganzen Unterfangens in
Frage zu stellen. J.Fischer hat dagegen ein Rezept. Er fängt
selber von vorne an, auf seine unnachahmliche Weise:
Wir können nicht tatenlos zusehen, während im Kosovo
Völkermord und ethnische Säuberungen betrieben werden. Wir
werden Europa in ein paar Jahren nicht wiedererkennen, wenn wir solche
Typen wie Milošević gewähren lassen.
Da mittlerweile im Kosovo wirklich mehr Gewalt gegen die albanische
Bevölkerung geübt wird als zu Zeiten des Kriegsbeschlusses,
ist der gute Grund für den Krieg noch triftiger geworden.
Daß der Krieg an Flucht, Vertreibung und allerlei Grausamkeiten
nichts ändert, ist klar. Aber es war ja ausgemacht, daß
"wir" gegen den Täter, den "Diktator", "Verbrecher" etc. vorgehen
müssen. Seine Taten sind
nur richtig zu benennen, indem man sie mit den Namen versieht, die aus
der Leistungsbilanz des deutschen Faschismus bekannt sind. Damit klar
ist, wie moralisch geboten unsere Bomben sind. Die Opfer von
Miloševićs Armee im Kosovo sind endgültig zu dem
herabgesetzt, wofür sie brauchbar sind. Sie sind der bleibende
Berufungstitel für "unseren" Feldzug; man schaut sie
sich gerne und häufig an: "Es könnte zynisch klingen,
soll es aber nicht. Ein Gutes haben die Flüchtlingsmassen. Sie
geben dem Bombenkrieg ein menschliches Gesicht. Jetzt wissen wir, warum
er geführt wird." (ARD-Brennpunkt)
Die europäische Landschaft nach der Erledigung von
Milošević und seinem Land wird noch ein paar zusätzliche
Bilder für J.Fischer bereithalten. Dann kann er sehen, ob er in
den Ruinen "Europa" wiedererkennt – vielleicht sieht
er auch, warum der Krieg geführt wurde.
*
Zumindest die Ansage eines Krieges für die Menschenrechte hat sich
bei gewitzten Zeitgenossen eine Absage eingefangen. Und solche
Zeitgenossen gibt es viele, ohne daß sie mit der gleichen
Stellungnahme auch der gleichen politischen Richtung anzuhängen
brauchen. Ihre Absage drückt erst einmal nur aus, daß sie
nicht daran glauben, was ihnen die Sprachrohre der NATO in bezug auf
die moralische Konsequenz mitteilen, die das Bündnis in seinem
Krieg gegen Serbien für sich reklamiert. Ihren entlarvenden
Durchblick formulieren Bürger, die wissen, daß es auf der
Welt vor Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen nur so
wimmelt, in einem irrealen Bedingungssatz des Typs:
Wenn es der NATO um die unterdrückten Kosovo-Albaner ginge,
müßte sie sich auch für die Menschenrechte der Kurden,
Tschetschenen, Tibeter... einsetzen.
Mit diesem Einfall bringen manche Leute sicher nur zum Ausdruck,
daß es ihrer Meinung nach wieder einmal um andere niedere
Interessen geht, wenn die NATO zu den Waffen greift. Sie lehnen es ab,
sich durch den aufdringlichen Moralismus ihrer Politiker für Dinge
vereinnahmen zu lassen, die nicht die ihren sind. Dabei lassen sie
zunächst offen, ob sie für eine Politik, die ihre Gewalt
weltweit wirklich zugunsten Unterdrückter einsetzt, etwas
übrig hätten, wenn es sie denn gäbe. Dieser Seufzer nach
einem "Schwert, nur dem Guten geweiht" ist so alt wie
belanglos, er läuft auf ein schlichtes Abwinken hinaus. Der Mensch
hat sich eine Haltung zugelegt, und die Politik fährt in ihren
Geschäften fort.
Durchaus vorhanden ist auch der Gestus der Warnung, wenn sich
Bürger auf besagte Weise äußern. Dann erschöpft
sich die Bedeutung des Spruchs in dem Wunsch, die Politik solle die
Finger davon lassen, überall nach dem Rechten zu sehen –
denn da hätte sie viel zu tun, und vor lauter gerechten Kriegen
käme man zu sonst nichts, ganz zu schweigen davon, ob es was
nützen würde...
Wieder andere glauben auch ein bißchen an die Konsequenz, welche
die NATO im Falle der Serben an den Tag gelegt hat, halten aber gerade
die für inkonsequent. Sie beklagen, daß sich die Politik
auffällig wählerisch verhält, was die Einlösung
ihrer laut verkündeten Prinzipien betrifft, diese also
verrät, sooft sie ihr nicht in den Kram passen. Usw.
Mit allen Varianten der Absage, die Bürger der Politik in Sachen "Glaubwürdigkeit" erteilen, können die
Staatenlenker gut leben. Und zwar nicht nur in der Hinsicht, daß
der Zweifel an der Moralität der Politik, die ja schon seit ewigen
Zeiten als "schmutziges Geschäft" verschrien ist, die
Ausübung der Macht bis hin zum Krieg nicht behelligt, weil er eine
Meinung bleibt. Die Feststellung, daß die Rechtfertigung des
Krieges mit den "Menschenrechten" ein unglaubwürdiger
Vorwand sei; die Enttäuschung darüber, daß die Moral
nicht oder nur bedingt zum Zug kommt als Leitfaden der politischen
Gewalt; das resignierte Abwinken wie der Vorwurf der Inkonsequenz sind
schließlich Zeugnisse dafür, daß aufgeweckte
Bürger noch im Krieg Glaubwürdigkeit vermissen bzw. fordern.
Und diesem Bedürfnis kommen die Kriegsherren gerne nach. Stolz
erzählen sie der mehr oder minder aufgeregten Gemeinde, daß
sie zumindest diesmal Ernst gemacht haben, im Falle NATO contra Serbien:
Die NATO hat ein deutliches Zeichen gesetzt. Es mag ja sein, daß
es an der Durchsetzung der Menschenrechte an vielen Stellen der Welt
hapert; aber wir können nicht immer und überall intervenieren.
So sind auch gleich noch die "Realisten" mit bedient, die
mehr Berechnung als moralischen Übereifer in weltpolitischen
Affären verlangen. Nebensächlich ist dabei, daß "wir"
in den anderen Fällen, z.B. Kurden, keineswegs "nicht
intervenieren", sondern nur für die andere
Seite. Und die Anwälte moralischer Konsequenz im Volk dürfen
nach wie vor bei "Menschenrechten", die die Politik als ihr
Recht auf Krieg handelt, an arme und geknechtete Menschen denken.
Zweiter Teil: Der Krieg ist im Gang – Worauf ist da zu achten?
Ein waches Volk, das schon die Berechtigung des Krieges einer
gewissenhaften Überprüfung unterzogen hat und in seinen
Medien auf ein Personal zurückgreifen kann, das kompetent
informiert und aufklärt, nimmt auch am Kriegsverlauf und dessen
Perspektiven regen Anteil.
Es gilt Abschied zu nehmen vom Streit um die Humanität des
Unternehmens – die ist natürlich weiterhin auf der
Tagesordnung; sie wird mit Bildern von Flüchtlingen sowie von
Soldaten erledigt, die Zeltlager aufstellen – und sich den
Problemen zuzuwenden, die mit diesem Krieg verbunden sind. So ein
Problem liegt zum Beispiel darin, daß Serbien auf dem Balkan
liegt. Da heißt es strategisch denken:
Der Balkan ist in seiner staatlichen wie völkischen Gliederung ein
Chaos. Da besteht die Gefahr, daß sich der Krieg ausdehnt und zur
Destabilisierung der gesamten Region führt.
Wer oder was da in Gefahr gerät, ist keine Frage. Natürlich "wir" in unserer Eigenschaft als Deutschland und Europa.
Und wodurch? Durch Flüchtlinge allemal, vor allem aber wegen der
regen Nationalismen in der Gegend, die sowohl in herkömmlicher
Gestalt als offizielle Staatsraison auftreten als auch in Form von
Völkern, die ihre Heimat gar nicht als solche ansehen. Da hat es
also viele Grenzen, denen das Trennende genommen werden muß;
andererseits muß, was dasselbe ist, manche Grenze neu gezogen
werden. Um diese Aufgabe gescheit zu lösen, haben sich Europa und
die NATO schließlich auch engagiert. Denn der Balkan liegt in
Europa, und Europa ist in der NATO, so daß unsere
Zuständigkeit nur eine Frage der Zeit war. Gekommen war die Zeit,
als der titoistische Deckel über dem Vielvölkertopf weg war.
Seitdem sind wir damit befaßt, die endgültige
Destabilisierung zu verhindern.
Ungefähr genau so "analysieren" Politiker und ihre
ratschlagenden geschichtsbewanderten ("Pulverfaß!")
Hilfstruppen die "Lage", die sie antreffen, wenn sie gerade
einen Diktator stoppen. Dabei weiß wirklich niemand unter der
Sonne, was aus den Gegensätzen zwischen Völkern und Staaten
in (Ex-)Jugoslawien geworden wäre, wenn sich die
kontrollbeflissenen Europäer und die USA herausgehalten
hätten. Aber das ging ja nicht – wo wann wie Staat gemacht,
gegründet oder erhalten wird in Europa, das können "wir" wirklich nicht den streitenden Parteien vor Ort
überlassen! "Wir" entscheiden, welches "Selbstbestimmungsrecht" der Völker da unten gilt und
welches nicht. Daß durch die Parteinahme der
Großmächte des Westens genau die "Destabilisierung" zustandegekommen ist, die zu beherrschen
und einzudämmen sich jetzt derselbe Westen als "Problem", "Lage", "Eigenart des
Balkans" plausibel macht, ist wirklich kein Geheimnis. So geht
imperialistische Unverschämtheit heute: Zuerst werden alle
Völker und Staaten gründlich aufgemischt, wird Nationalismus
ermuntert, unterstützt und gerüstet – und dann wird aus
den Resultaten der Einmischung das Recht abgeleitet, den "Balkan" mit seinen notorischen "Wirren" unter
Kontrolle zu nehmen.
Doch auch diese Unverschämtheit läßt sich
überbieten. Derselbe Westen hat sich der Kosovo-Albaner
angenommen, vollzieht eine Abrechnung mit dem Serben-Staat, indem er
das ganze Land mit Krieg überzieht – und verheißt den
gepeinigten Völkerscharen, höchstselbst dereinst ein "friedliches Zusammenleben" – nach seinem Bild und
unter seiner Aufsicht – zu organisieren! Nebenbei hat er die
politische Ökonomie einiger Nachbarstaaten auf die anheimelnde
Kombination von NATO-Aufmarschgebiet plus Flüchtlingslager
heruntergebracht. Was natürlich wiederum die Gefahr der "Destabilisierung" hervorruft, an der erstens
Milošević schuld ist, die zweitens "wir"
bemeistern...
*
Am Anfang des Krieges hat es eine interessante Debatte gegeben. Die
Frage, ob er erlaubt sei, ist aufgeworfen worden, so als ob das
Bombardieren von einer höheren Instanz abgesegnet werden
müßte. Die Instanz heißt Völkerrecht und UNO. Sie
ist im Namen der Menschenrechte übergangen worden. Das kann sich
zwar nicht jede Nation leisten, aber es geht. Gebrochen wurde das
Völkerrecht dabei nicht, schon gar nicht durch das Menschenrecht.
Eher scheint da die militärische Macht der NATO ihr Werk getan zu
haben. Sachkundigen Nationalisten ist jedoch klar, daß damit ein "Bruch" vollzogen wurde – und sie widmen sich als
Bedenkenträger mitten im Bombenhagel auch diesem Problem, welches
das Kriegsprogramm der NATO aufwirft.
Es gibt Leute, die ganz genau wissen, daß dieser Krieg die ganze
Völkerrechtsordnung über den Haufen geschmissen hat,
daß seine Veranstalter auf die Regeln von gestern nichts mehr
geben. Sie entdecken nachträglich in diesen Regeln und ihrer
Anerkennung eine löbliche Selbstbeschränkung, die sich
Staaten mit Bedarf nach Krieg auferlegt haben. Also wird gewarnt:
Das ist eine gefährliche Entwicklung. Wenn das Schule macht!
Dergleichen muß eine Ausnahme bleiben, die nur wegen
Milošević zulässig ist.
Auch das gehört zum Kriegsrat dazu. Die NATO-Mächte, die
gerade die völkerrechtlichen Instanzen und ihre Regeln zu Fesseln
ihrer Politik, also für nichtig erklärt haben, werden vor
unliebsamen Folgen ihres Vorgehens gewarnt: "Wenn wir das
Gewaltverbot opfern, indem wir die Ausnahme der humanitären
Intervention zulassen, hätten wir auch genau den
Präzedenzfall geschaffen, den die Politik zu Recht so sehr
fürchtet: Mit welchem Recht könnten die NATO-Staaten von
anderen Staaten verlangen, keine ‚humanitären‘ Kriege
nach eigenem Gutdünken zu führen, wenn sie dieses Recht
für sich selbst in Anspruch nehmen?" (FR, 7.4.)
Dem Mann kann geholfen werden. Die NATO-Staaten werden nicht das Recht
bemühen, um andere von humanitären Alleingängen
abzubringen. Da nehmen sie wohl eher ihre Macht zu Hilfe.
Außerdem erklären sie sich bereit, die Gültigkeit des
Völkerrechts – zumindest für andere – zu
unterstreichen:
An der Zustimmung der UNO zu unseren Entscheidungen ist uns gelegen.
So kann der Mann von der Frankfurter Rundschau ruhig schlafen, wenn der Völkerrechtsverein im Boot der NATO Platz nimmt.
*
Es ist erstaunlich, wieviel unsere Öffentlichkeit und damit auch
die Bürger von Politik verstehen. Vom ersten Tage an haben sie
gewußt, daß der Krieg eine Herausforderung für
Rußland ist. Denn das weiß jemand, der befürchtet,
daß der Jugoslawien-Einsatz eine gefährliche Folge nach sich
ziehen könnte. Also steht die besorgte Nachfrage ins Haus:
Wie reagieren die Russen? Müssen wir nicht damit rechnen,
daß sie angesichts des plumpen Übergehens ihrer
Völkerrechte in der UNO den frischen Willen zur Zusammenarbeit
wieder aufgeben und erneut, weil vom Mitverantworten der Weltordnung
ausgeschlossen, auf Konfrontationskurs gehen?
Wenn jedes Provinzblatt des Westens und jede Parlamentssitzung dazu
diese Frage aufwerfen, dann bezieht sich die per Frageform
demonstrierte Ungewißheit garantiert nicht auf eine vermutete
Leichtfertigkeit der NATO. Auf diese Weise beurkunden die Fragesteller
vielmehr, daß sie – Kosovo hin, Milošević her
– einem Test auf die Bereitschaft der Russen beiwohnen, damit
aufzuhören, Weltmacht zu spielen. Und für den guten Ausgang
dieses Tests wissen sie auch schon ein paar beruhigende Auskünfte,
die Fähigkeit des Jelzin-Staates betreffend:
Die Russen sind doch längst keine Weltmacht mehr, vielmehr selber am Ende, sogar Kredit brauchen sie von uns.
Kenner der innerrussischen Zustände und Bewunderer der in zig
Bombennächten entfalteten Schlagkraft des Westens sekundieren,
versorgen das Publikum mit Auskünften über das Fehlen
jeglicher russischen militärischen Option, gestatten sich also ein
bißchen Optimismus bezüglich des Ausgangs dieses Tests.
Ängstlichen Naturen versichern sie, daß die letztlich doch
noch unentschiedene Frage des russischen Willens per Diplomatie Tag
für Tag ausgekundschaftet wird. Wir holen sie "ins
Boot", "binden sie" nach jeder zweiten Bombennacht in
Belgrad "ein", und fertig ist die Laube.
*
Es wäre der Sache nicht angemessen, wenn sich die fachkundige
Beobachtung des Krieges nicht auch mit der Frage nach dem Sieg befassen
würde. Die Vertreibungen im Kosovo stoppen die Bombardements nicht
und in umgekehrter Richtung ist auch nichts zu vermelden. Jede
Kriegspartei macht nach wie vor, was sie will und wozu ihre
bescheidenen Mittel reichen. Gerade für die Bürger und
Politiker, die sich erst nach eingehender Gewissensprüfung
für den Krieg gegen Milošević entschlossen haben, stellt
sich da die Frage nach dem Erfolg. Und schon herrscht Zwietracht in der
Mannschaft, die sich mühsam zusammengerauft hat, um national und
europäisch und NATO-einvernehmlich Adolf Milošević
kleinzukriegen. An Stammtischen, im Parlament, in den Parteien, unter
Ex- und Noch-Generälen: überall dasselbe Bild – Meinung
steht gegen Meinung:
Nur mit Bodentruppen! – Keine Bodentruppen!
Auch über die passenden Kriegsmittel läßt sich gut
streiten. Da kennt sich mancher aus. Der eine einfach bloß
kriegstechnisch: Aus der Luft ist keine Entscheidung
herbeizuführen. Der andere Balkan-kriegstechnisch: Das
Gelände, die Hügel und die Schluchten, die
Partisanenerfahrung, ein Risiko jagt das andere. Der dritte
geschichtsethisch: Wir Deutschen, schon mal dort gewesen, wie sieht
denn das aus? Der vierte: Was taugt das Aufmarschgebiet? Der
fünfte: Schon, aber wenn wir erst einmal drin sind, kommen wir so
schnell nicht mehr raus. Die sechste (Soldatenmutter): Mein Sohn.
Der Streit muß beendet werden. Da ist die Politik gefragt, die
sich selbstverständlich der sachkundigen Ratschläge der
militärischen Befehlshaber vor Ort bedient. Es gibt eine
Lösung:
Bodentruppen erst, wenn sie fällig sind.
So läßt sich doch noch das Zerwürfnis vermeiden, das
nur dem Feind genützt hätte. Wenn die Bomben und Raketen
genug aufgeräumt haben, wenn das Quantum Bodenkrieg, das noch
vonnöten ist, genügend abgesenkt ist, steht der Einmarsch an.
Wir übernehmen das Kommando über das Land, und sehen zu, was
sich aus den Trümmern und Frauen machen läßt.
*
Das alles dauert, weil jedes gute Ding seine Weile haben will.
Schön anzusehen ist es auch nicht, was viele Akteure und Statisten
auf die Weisheit des alten Clausewitz verfallen läßt,
daß Politik dasselbe ist wie Krieg, nur mit anderen Mitteln:
Wir brauchen eine politische Lösung!
Nach ca. fünfzig Bombentagen ein interessantes Begehren. Es wird
nicht nur als Alternative zum Krieg vorgetragen, sondern auch ein
bißchen als dessen Gegenteil. Es gemahnt heftig an die
bewährte Sentenz, nach der Verhandeln allemal besser als
Schießen ist. Es ruft die Auftraggeber des Krieges zur einzigen
Kritik an ihm auf, die sie beherrschen, und hat den Nachteil, wie eine
Aufweichung des Beschlusses auszusehen, Serbien fertig zu machen. Dazu
war man immerhin aufgebrochen, so daß sich die Frage stellt, ob
diese Anti-Kriegs-Bewegung mitten im Krieg nicht dessen Ziele
verrät und seine Mühen und Kosten vergeblich macht.
Andererseits: Eine "politische Lösung" ist ja wohl
auch das anvisierte Ziel der Bomben wie des Einmarsches.
Es kommt also darauf an, wie die politische Lösung aussieht, wenn
man sich ans Verhandeln macht. Vorstellungen des Typs, mit
Milošević einen Frieden zu verabreden, wären von Übel,
weil keine Kapitulation. Die war Ziel des Großeinsatzes und
bildet den einzigen und letzten Gegenstand von Verhandlungen, über
den man sich mit ihm einig werden will.
Eine politische Lösung, Frieden, so wie sie der Westen anstrebt,
ist zu haben. Aber eben nicht irgendeine – und damit die eine
zustandekommt, will die Diplomatie auf Fakten zurückgreifen
können, die der Krieg der NATO schafft. Die NATO-Politiker tun
deswegen gut daran, das Verhältnis von Politik und Krieg
zurechtzurücken:
Die Regierung tut alles für eine politische Lösung. Deshalb darf der militärische Druck nicht nachlassen.
Dieser letzte Textbaustein macht auf elegante Weise Schluß mit
dem Gegensatz zwischen Krieg und Politik, deutet versöhnlich an,
wann, wie und unter welchen Bedingungen letztere wieder zu ihrem vollen
Recht kommt – und rechnet ab mit dem törichten
Geschwätz von der "Kriegslogik", deren Automatismus
durch ein Ding namens "politische Logik" durchbrochen
werden müßte. Frieden schaffen geht nicht ohne Waffen.
Ein kleiner Nachtrag.
Betreff: Etwas andere Anmerkungen zur nationalen Debatte
Es gibt Leute, die sich stark für die Funktion der nationalen
Diskussion interessieren. Dabei geht es ihnen nicht darum, ihren
Verlauf wahrzunehmen und zu beurteilen, was die Argumente taugen und
wozu. Umgekehrt haben sie genaue Vorstellungen davon, wie sie zu
funktionieren hat und was sie zu leisten hat, die öffentliche
Auseinandersetzung.
Die Rede ist von Journalisten und Moderatoren, die manchmal auch die "vierte Gewalt" heißen. Ihr Interesse ist ein
professionelles, und die dazugehörige Deformation widerlich. Sie
besteht darin, daß sie der Nation in allen Belangen Erfolg
wünschen; sie nehmen, ob es nun um Arbeitslose, Steuern oder
Umwelt geht, jedes Projekt der Regierung zu Protokoll und sagen es
ihrem Publikum vor – und zwar genau in der Sprachregelung, die
die Regierung in die Welt setzt. Eine Prüfung, ob diese Projekte
überhaupt etwas mit den Reden über sie zu tun haben, sparen
sie sich. Wenn die Regierung mit Steuerpolitik die Arbeitslosigkeit
bekämpft, dann gibt’s das auch – und man muß als
Medienmann/-frau nur noch aufgeregt wünschen, daß die
Politiker "es" auch schaffen. Oder bezweifeln, ob sie es
schaffen. Wenn dann irgendeine nationale Aktion in die Binsen geht,
heißt es vermelden: "nicht hingekriegt", und
sorgenvoll fragen, ob da noch genug Parlamentarier und Wähler
hinter der Regierung stehen, damit sie sich hält an der Macht.
Unter Kritik versteht man in diesen Kreisen, von Politikern erstens
deren eigenen und zweitens – was irgendwie zusammenfällt
– den Erfolg der Nation zu verlangen, wenn er fehlt. Diese
Kinderei versehen Journalisten mit "intellektuellem
Niveau", indem sie ihre Anhänglichkeit an die Macht in die
Sorge um die Glaubwürdigkeit der Figuren übersetzen, die bei
ihnen als Interviewpartner posieren. Auf dieser geistreichen Ebene
fangen Moderatoren sogar an zu unterscheiden – aber nicht etwa
zwischen richtig und falsch. Bei ihnen dürfen Politiker
grundsätzlich immer dieselben Ideologien erzählen; wenn es
sich ergibt, sieben Mal in der Woche. Der Unterschied, dessen sie
fähig sind, die Herren und Damen von der Meinungsbildung, ist ein
anderer: Sie können das Quantum Glaubwürdigkeit, das die
hohen Herrschaften brauchen, entweder heben oder senken. Entschuldigen
lassen sich mangelnder Erfolg und Probleme mit allerlei Umständen.
Dann ist ein vermeintliches oder wirkliches Scheitern kein
Glaubwürdigkeitsdefekt. Man kann aber auch solches Scheitern auf
dem Kandidaten sitzen lassen, das Vorhandensein von genug
Glaubwürdigkeit bezweifeln, und das kommt in dieser Sphäre
schon einer Beschuldigung gleich.
Über diesen albernen Zirkus kommt die berüchtigte Macht der
Medien zustande. An jeder Sache, die Staatsaffäre ist, also auch
gleichgültig gegen jede Sache und ohne den leisesten Versuch eines
objektiven Urteils drehen Journalisten an der
Glaubwürdigkeitsschraube, in die eine oder andere Richtung. Ihr
Adressat ist das Volk, dem sie tagein tagaus ihr Interesse am Gelingen
der Politik als einzig "kompetente" Art, Herrschaft zu
betrachten, "vermitteln". So wird aus der Nation, ihren
Führern und ihren Mitteln wie Zielen, das Sorgeobjekt noch des
letzten Untertanen; und aus Untertanen werden im günstigen Fall
brave Nationalisten, im durchaus nicht seltenen Fall etwas aktivere
Kämpfer für die nationale Sache.
*
Die Frage, wie sich die Journalistenzunft bei der Ansage "Krieg" verhalten würde, war also wirklich nicht sehr
spannend. Dieselben Sprecher und Schreiber, die wegen zwei oder drei
umstrittener oder "halbherzig" vollzogener
Gesetzgebungsverfahren die Glaubwürdigkeit der Regierung schwinden
sahen bzw. herunterzureden wußten, sind mit einem Mal von der
Führungsstärke der Mannschaft überzeugt. Für das
gesamte Wählervolk, stellvertretend für es auch, und vor
allem zum guten Gelingen des Krieges attestieren sie den Versagern von
neulich "Statur".
Kaum hatten sie von der Regierung erfahren, daß Deutschland mit
seinen Partnern wegen Vertreibungen im Kosovo gegen Milošević
einen gerechten, weil humanen Krieg führen muß, "informieren" sie ihre Landsleute darüber, daß
es haargenau so ist. Tatsachen – so lautet ihr Credo in Sachen "Information" – sind nicht dazu da, um beurteilt zu
werden; und das verlangen Tatsachen ja wirklich von niemandem,
ebensowenig jedoch das, wofür sie Meinungsbildnern taugen.
Für die sind Fakten ausschließlich das Material für den
Standpunkt der Nation. So ist mitten im schönsten
Meinungspluralismus jede Nachricht aus dem Balkan sofort
kriegsmäßig in die Botschaft übersetzt worden, die dann
von der Etsch bis an den Belt lautete: "guter Krieg
geboten!" Der Eifer war so groß in der Werbung für den
Kriegseintritt, der gerade erfolgt war, daß das Verhältnis
von Standpunkt und Tatsache auch einmal umgedreht wurde. Immer
öfter ist es vorgekommen, daß Fakten in der Qualität
erfunden wurden, die der Standpunkt für nützlich hielt. Kurz:
professionelle Kriegshetze vom Feinsten ist den Bürgern
verabreicht worden; das Feindbild wird in jeder Nachrichtensendung
erneuert und fortgeschrieben, wobei die Argumente nicht, die Epitheta
des Bösen aber schon zunehmen. Und die Berichte von den
Kriegshandlungen "bestätigen", wie korrekt die
Entscheidung der NATO war und bleibt; außerdem wie berechtigt,
notwendig und nützlich jeder Zerstörungsakt angesichts dieses
Feindes ist ...
*
Doch dann ist den intellektuell-analytischen Schöngesichtern auf
allen Kanälen, die gerade ihre Leistungsfähigkeit auf dem
Feld des Groben unter Beweis stellen, etwas eingefallen. Erstens ihr
Interesse an der Funktion der nationalen Kriegsdebatte, die unter ihrer
Regie zentralisiert ist. Die besteht allemal in der Angleichung der
Standpunkte zwischen Volk und Führung. Zweitens ein bescheuerter
Spruch, der zu Kriegsbeginn in Mode gekommen ist und behauptet, das
erste Opfer des Krieges sei "die Wahrheit". Daß etwas
auf der Strecke bleibt, was im Schwachsinn des Vorkriegsfriedens
nirgends und schon gar nicht im freien Pressewesen vorhanden war, ist
zwar schwer einzusehen. Aber sei’s drum, denn die Damen und
Herren haben ja erläutert, wie sie es meinen. Sie haben
nämlich drittens gar nicht so viel Sorgen um die Wahrheit; um ihre
Glaubwürdigkeit ging es ihnen vielmehr. Und das ist etwas anderes
als die Wahrheit, nämlich schon wieder das Interesse daran,
daß sie mit ihrer Moderation der Debatte die lieben Landsleute
ganz überzeugend für die Sache der Nation einnehmen.
Im Lichte des Krieges, in welchem Angriff die beste Verteidigung ist,
sind sie zum Angriff übergegangen, und zwar in einer Weise, wie
nur intellektuelle Propagandisten der Nation es vermögen. Sie, die
befürchten, daß sie in der Kombination von Hetze und
Berichterstattung womöglich des öfteren Anlaß zu
Zweifeln bei ihren Adressaten gegeben haben, ob da noch alles
zusammenpaßt; sie, die jede Meldung der Jugoslawen zuallererst
als getürkt denunzieren, im Fortgang des Krieges dann immer
öfter Dementis ihrer Kriegsherren und ihrer eigenen Redaktionen
andeuten konnten; sie, die auch sämtliche
Mißverständnisse bezüglich der helfenden Wirkung des
Krieges, der Verschonung des serbischen Volkes bei Bombenangriffen, der
Verhandlungsbereitschaft in Rambouillet etc. kräftig
gefördert hatten, indem sie dergleichen Zwecke "glaubwürdig" vermittelten – sie entdecken doch
glatt, daß so manches gute Werkstück aus ihrer
Propagandawerkstatt zu Widerspruch herausfordert. Und bevor sie mit
Einwänden relevanten Ausmaßes überhaupt konfrontiert
werden, beschweren sie sich bei den Politikern, ihrerseits nicht
ordentlich "informiert" worden zu sein. (Die geben den
Vorwurf dann prompt an die NATO und die USA weiter.) So geben sie sich
vor ihrem Publikum selbst als Opfer aus und rufen
höchstförmlich zum Mißtrauen gegenüber der einen
oder anderen Meldung auf – ihre penetranten Botschaften freilich
korrigieren sie nicht. Der Auftrag, den sie Information nennen, bleibt,
wie er ist – der geht ja in Ordnung. Das führt zu
journalistischen Glanzlichtern des Typs: "Wenn das stimmt, was
die serbische Nachrichtenagentur meldet, so war das heute der
schwärzeste Tag für die NATO." Es ging um zig zivile
Opfer eines Bombenangriffs – und darauf, daß darunter die
NATO irgendwie leiden würde, muß man erst einmal kommen.
Gewissenhafte Journalisten kommen aber auf solches Zeug. Sie haben ja
nie einen Politiker zur Rede gestellt, der in ihrer Sendung von dem
gnadenlosen Bombenkrieg geschwärmt hat, der nicht gegen das
serbische Volk geht. Sie haben ja auch nie Joschka Fischer, der noch
nach vier Wochen Krieg von der "Verhinderung der humanitären
Katastrophe" gefaselt hat, das Zitat von General Clark vom 7.
April vorgelesen. Nach "Verhinderung" gefragt, antwortet
der: "Nein, dazu sind wir nicht fähig. Und wir haben niemals
geglaubt, daß wir dazu fähig sein können."
Geschweige denn, daß sie einen Gedanken auf die
Glaubwürdigkeit der Legende vom humanitären Einsatz
verschwendet und laut geäußert haben. Die Sache mit dem "schwärzesten Tag der NATO" ist nichts als ihre
Befürchtung, daß das Bild vom NATO-Krieg, das sie
kolportiert haben – Testurteil ‚gut in bezug auf Absicht
und Durchführung‘ –, in der öffentlichen Meinung
flöten geht. Und daß darüber ihre eigene Mühe, den
Krieg auf dem Balkan als ein Unternehmen hinzustellen, das seitens des
Volkes rückhaltslose Zustimmung, also auch nur konstruktive Kritik
verdient – welche sie gleich in gestanzten skeptischen
Einwänden mitliefern –, vergeblich sein könnte.
*
Die öffentliche Schwafelei von Journalisten über die
Glaubwürdigkeit ihres Gewerbes ist einerseits lächerlich. Wer
von der Rechtmäßigkeit des Krieges, von seiner
Notwendigkeit, mit welchen bescheuerten Argumenten auch immer,
überzeugt ist, läßt sich wegen ein paar Falschmeldungen
und Widersprüchen in der Propaganda bezüglich des
Kriegsverlaufs von seiner Haltung nicht abbringen. Umgekehrt braucht
jemand, der mit den Tatsachen und Argumenten für den Krieg
konfrontiert wird, keine einzige Falschmeldung, um die Gewaltorgie der
NATO und ihr Programm zu durchschauen und abzulehnen.
Andererseits steckt in der schamlos breitgetretenen "Selbstreflexion", in der Bezweiflung der Zunft als solcher
und der geglückten Erledigung ihrer Aufgabe etwas sehr Ernstes.
Wenn diese um ihre Glaubwürdigkeit bemühten Journalisten "handwerkliche" Fehler beklagen, die Zweifel säen
statt die richtige Überzeugung stiften – die Zweifel
nützt am Ende noch Milošević aus –, dann haben sie
sich auch nicht der Wahrheit verpflichtet, sondern dem Ideal der
perfekten Manipulation verschrieben. Auch diese Waffe, deren perfekte
Handhabung "wir" am Feind bestaunen, gilt es zu beherrschen.
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