Zum Grund der NATO-Intervention auf dem Balkan
Ein Krieg neuen Typs für eine "neue Weltordnung"
Von wegen: "Balkan!"
Politiker des einstigen Jugoslawien haben beschlossen, daß bei
ihnen Völker und Staaten nicht aufeinanderpassen und einige
Umsortierungen anstehen; selbstverständlich jeweils zugunsten
ihres Machtbereichs. Darum wird gestritten; und die Landesbewohner sind
nicht bloß Opfer, sondern aus staatsbürgerlicher Gesinnung
und völkischer Begeisterung glatt bereit, sich als
Manövriermasse für blutige Staatsgründungskriege
herzugeben. Das ist eine Sache.
Daß darüber die Welt in Aufruhr gerät, die NATO eine
"Zäsur" welthistorischen Ausmaßes erlebt, die
Stabilität ganz Südosteuropas in Gefahr gerät und
geheiligte "Prinzipien des Völkerrechts“ über den
Haufen geworfen werden und dergleichen mehr: Das ist eine andere Sache.
Die bösen Serben sind es jedenfalls nicht, die mit ihrer
gewalttätigen Heimatliebe gleich auch noch eine ganze "Weltlage" verändern. Das ist schon die Leistung jener
Mächte, die "nicht wegschauen können", wenn in
Ex-Jugoslawien von Staats wegen "gemordet" wird. Diese
Mächte, USA und EU im NATO-Schulterschluß, "schauen
hin" und schlagen zu – nicht, weil Staaten und Völker
des Balkan sie drangsalieren würden, sondern weil sie mit dem "Balkan" ein Problem haben.
Was für eins – das zeigt die Art von Hilfe, zu der sie sich
herausgefordert fühlen. Die zeichnet sich nämlich schon
dadurch aus, daß die NATO-Mächte sie exklusiv sich
vorbehalten – für völlig verfehlt würden sie es
halten, wenn die GUS, die Andenstaaten oder die Arabische Liga, weil
unfähig "wegzuschauen", eine "Kontaktgruppe" zur verbindlichen
Regulierung des "Balkan-Konflikts" bilden und Bomberflotten in Marsch
setzen würden. Es kommt hinzu, daß ein anderer Staat oder
Mächteclub als sie zu so machtvoller Hilfe auch gar nicht
fähig wäre – sie selber übrigens auch nur, weil
ausgerechnet Hilfe für fremde Länder und Völker nun
wirklich nicht auf ihrer politischen Tagesordnung steht. Mit ihren
Fliegern und Bomben eröffnen sie einen weltpolitischen Konflikt,
wie nur sie ihn überhaupt eröffnen können. EU und USA
verpassen der jugoslawischen Kosovo-Affäre einen
weltordnungspolitischen Inhalt, den ein noch so böser "Despot von
Belgrad" allein nie zustandebringen würde.
Zum Inhalt dieses eigentlichen "Balkan-Konflikts" hier ein systematischer Überblick.
I.
Der Westen – die Allianz der Mächte, die Demokratie und
Marktwirtschaft zu ihrer Staatsräson gemacht und damit Erfolg
haben – maßt sich ein Kontrollregime über den Rest der
Staatenwelt an.
– Er behelligt alle Regierungen auf dem Globus mit dem
eigennützigen Anspruch, daß sie rückhaltlos mittun bei
der Konkurrenz der Nationen um Macht und Reichtum nach der von ihm
elaborierten Geschäftsordnung des globalen Kapitalismus und
daß sie Land und Leute, über die sie gebieten, dafür
sachgerecht herrichten, nämlich nach den Regeln "guter
Regierung". Das bedeutet: Sie sollen nach innen ein
zuverlässig durchgreifendes, über jeden Personalwechsel
hinweg feststehendes, widerstandslos akzeptiertes Gewaltmonopol
durchsetzen – 'Demokratie' –, die Freiheit der
Privatperson und die Kommandogewalt des Eigentums gewährleisten
– 'Herrschaft des Rechts' –, ein
kapitalistisches Wirtschaftsleben inszenieren und mit allen Mitteln
fördern – 'Marktwirtschaft' – und ihre
Nationalökonomie samt menschlichen Anhängseln dem Zugriff der
Benutzungsinteressen unterwerfen, die zu solchem Zugriff in der Lage
sind, weil sie in den paar erfolgreichen Nationen ihre Basis haben
– 'Öffnung' heißt das in der Regel.
– Die Erfüllung dieses Anspruchs nimmt der Westen selbst in
die Hand. Er interessiert sich für alles, bezieht das Tun und
Lassen sämtlicher Regierungen immerzu auf sich, prüft deren
Politik nach Nutzen und Schaden für seine materiellen Interessen
und beurteilt sie unter dem höheren Gesichtspunkt des Respekts,
der seiner Regelungs- und Aufsichtskompetenz entgegengebracht wird. Er
konfrontiert alle souveränen Hoheitsträger mit dem Anspruch,
sie hätten beim Gebrauch ihrer Macht seine Oberhoheit
anzuerkennen, legt diesen Maßstab an ihre nationalen
Konkurrenzanstrengungen an und besteht – jenseits aller
bestimmten Forderungen in Sachen "guter Regierung" –
grundsätzlich auf Gefügigkeit.
Das Kontrollregime, um das es dem Westen geht, schließt das
gesamte System innerstaatlicher wie grenzüberschreitender
kapitalistischer Benutzungsverhältnisse ein; alles, was Staaten
zuwege bringen, wird beständig daran gemessen, wie sachgerecht sie
der universalen Privatmacht des Geldes und den nationalen Interessen
der Heimatländer des Weltgeldes dienen, inwieweit sie sich darin
bewähren und wo sie zu wünschen übriglassen. Diese
Prüfung gilt souveränen Mächten; und damit stellt sich
für den Westen erst die eigentliche Kontrollaufgabe: Er nimmt den
Willen aller übrigen Staatsgewalten in Beschlag; dafür,
daß sie sich überhaupt prüfen und korrigieren lassen.
Er begnügt sich nicht mit materiellen Erträgen, sondern will
eine Gewähr dafür, daß die fremden Regierungen sich
beim Gebrauch ihrer Gewalt nicht einfach auf den Standpunkt
souveräner Handlungsfreiheit und ihres hoheitlichen Ermessens
stellen, sondern "kooperationswillig", also willens sind,
dem Westen ein verbindliches Urteil über ihre Politik, eine letzte
Entscheidungskompetenz auch in ihren eigenen nationalen Belangen
zuzubilligen. Der Westen beurteilt daher nicht bloß Vor- und
Nachteile materieller Art, die ihm aus der Politik eines jeden Staates
erwachsen; er prüft vielmehr, ob sich ihm aus den Machenschaften
einer jeden Staatsgewalt das Gesamtbild einer grundsätzlich und im
Ganzen folgsamen, "berechenbaren" Macht ergibt oder ein
politischer Wille zu abweichendem Verhalten erschließt. Er
befragt die Politik aller Regierungen auf eine Generallinie,
nämlich hinsichtlich Annahme oder Verweigerung seiner
Oberaufsicht, und hat darin das eigentliche Objekt des Kontrollregimes,
das er sich anmaßt.
II.
Der Westen setzt seine Anmaßung eines Kontrollregimes über
die Staatenwelt in die Tat um, indem er den Gewaltgebrauch aller
Regierungen generell unter Vorbehalt stellt und alles, was er als
Eigenmächtigkeit identifiziert, mit Krieg bedroht. Vor
sämtlichen potentiellen Kriegsherren baut er sich als
abschreckende universelle Kriegsmacht auf und setzt mit der drohenden
Allgegenwart seines überlegenen, weltweit aktionsfähigen und
jederzeit einsatzbereiten militärischen Gewaltapparats eine von
keinem Machthaber zu übersehende oder zu ignorierende Bedingung
für jeglichen Gewaltgebrauch in die Welt. Der Westen versetzt
damit die gesamte Staatenwelt in einen "kalten"
Kriegszustand und sorgt auf diese Weise: durch Abschreckung, für
Verhältnisse, unter denen er bereit ist, die anderen
Souveräne gewähren zu lassen und Frieden zu halten. Er
stiftet, mit einem Wort, den Weltfrieden - oder bemüht sich
jedenfalls darum.
Die Stiftung Weltfrieden, in die der Westen seine
Weltkriegsfähigkeit und -bereitschaft einbringt, hat ihren
entscheidenden Fortschritt gemacht, als sich mit der Sowjetunion die
einzige für ungefähr gleichrangig erachtete, zu strategischer "Gegenabschreckung" fähige und entschlossene
gegnerische Militärmacht aufgelöst hat. Fast ein halbes
Jahrhundert lang war das Abschreckungsregime des Westens durch das
strategische Elend des "atomaren Patt" gebrochen, die
Staatenwelt einseitiger Kontrolle entzogen, die Weltordnung geteilt und
der Weltfrieden durch eine Macht zuviel gesichert, also in
höchster Gefahr. Jetzt haben die Liquidatoren und
Nachlaßverwalter der sowjetischen Gegenmacht diese "Blockade" in aller Form aufgehoben; das antiwestliche
Regime Moskaus über einen beträchtlichen Teil der Staatenwelt
ist erloschen und damit auch die für den Westen unerträgliche
Freiheit geschwunden, die sich gewisse Nationen herausgenommen haben:
zwischen den "Blöcken" eine eigenständige Politik
zu probieren.
III.
Die Abschreckungsmacht des Westens beruht darauf, daß die mit
großem Abstand erfolgreichsten kapitalistischen Nationen, und
zwar alle, [1] sich darauf festgelegt haben, ihren je nationalen Willen
zur Beherrschung des Weltgeschehens gemeinsam zu verwirklichen und um
der Wirksamkeit ihres Kontrollregimes willen permanent auf eine Weise
zu agieren, wie souveräne Mächte das eigentlich nur im Fall
militärischer Not tun: als Kriegsallianz. Ihre Konkurrenz
untereinander regulieren sie – bislang noch – so, daß
ihre unausbleiblichen Interessengegensätze ihr Bündnis nicht
zerstören. Für die Haltbarkeit dieses eigentümlichen
Kollektivismus ist entscheidend, daß zwischen den Beteiligten
eine eindeutige Hierarchie herrscht: Die USA verfügen über
die entscheidende militärische Gewalt und qualifizieren sich damit
zur Führungsmacht, die die Richtlinien des gemeinsamen Operierens
bestimmt, nötigenfalls durch die Schaffung von Fakten vorgibt. Die
europäischen Mächte rechnen so, daß Mitwirkung zu
Amerikas Bedingungen nach Aufwand und Ertrag lohnender ist als jeder
Versuch, im Alleingang ein konkurrierendes Kontrollregime, und sei es
auch nur über einen Teil der Staatenwelt, zu errichten.
Konstitutiv für diese feste Partnerschaft unter Ungleichen war die
gemeinsame Feindschaft gegen die Sowjetmacht. Sie hat über
Jahrzehnte die Allianz so stabilisiert, daß das abstrakte
Kollektivsubjekt "der Westen" tatsächlich zur
bestimmenden weltpolitischen Macht geworden ist. Denn die zweitrangigen
Partner der USA haben sich mit ihrer anti-sowjetischen Staatsräson
nicht bloß alle alternativen Kalkulationen verboten und auf
Bündnistreue festgelegt; sie haben ihre militärischen
Gewaltapparate selbst – mehr oder weniger – so
eingerichtet, daß sie ihre Schlagkraft nur im Bündnis
entfalten. Diese historische Geschäftsgrundlage einer kollektiven
westlichen Weltkriegsfähigkeit ist nun zwar entfallen, damit
allerdings auch die alte Lebenslüge der Allianz, mit ihrem
gesamten Arsenal wäre sie bloß die defensive Antwort auf
eine übermächtige Bedrohung aus dem Osten. Ihre Teilhaber
sehen jedenfalls nach wie vor Grund genug, sich weiterhin vor dem Rest
der Staatenwelt als Kriegsbündnis aufzubauen, in dem spezielle
nationale Belange hinter dem nur im Kollektiv zu verwirklichenden
Willen zur Beherrschung der Welt zurücktreten: Die
europäischen Partner stören sich zwar am Entscheidungsmonopol
der USA, befinden es trotz allem aber für vorteilhaft, von deren
globaler Abschreckungsmacht zu schmarotzen, und leisten ihren
Bündnisbeitrag; die USA befinden diese Beiträge zwar dauernd
für viel zu gering, gemessen an dem, was sie für die
gemeinsame Abschreckung leisten, mögen aber auf abhängige
Alliierte und speziell darauf, daß die – nach ihnen selber
– mächtigsten Staaten der Welt sich als abhängige
Alliierte in die von ihnen geführte Gemeinschaft einfügen,
nicht verzichten.
Das Ende der sowjetischen Gegenmacht ändert also nichts daran: Der
Westen verdankt seine Stabilität der Tatsache, daß er als
Kriegsallianz konstruiert ist. Das Ende des historischen Kalten Krieges
gegen den "Ostblock" macht dieser Konstruktion insoweit
nichts aus, wie die beteiligten Staaten sich darüber einig sind,
daß der Weltfrieden, von dem sie profitieren, einen
immerwährenden "kalten" Krieg, i.e. eine jederzeit
aktualisierbare unbedingte Abschreckung gegen jede mögliche
Störung durch eigenmächtige Gewalt anderer Staaten, als
Geschäftsgrundlage braucht und daß dieser Kriegszustand nur
oder jedenfalls vorteilhafterweise gemeinsam aufrechtzuerhalten ist.
IV.
Auf Basis ihres gemeinsamen Kontrollregimes über die Staatenwelt
konkurrieren die alliierten Mächte erstens ökonomisch,
nämlich um die Benutzung der Länder, die sie gemeinsam dem
Zugriff ihrer Geschäftsleute "geöffnet" haben.
Mit ihren nationalen Standortbedingungen, i.e. mit der politisch
organisierten Rentabilität von Kapital in ihrem Herrschaftsbereich
streiten sie um Anteile am globalen kapitalistischen
Geschäftsleben und um nationale Erträge auf Kosten der
Partner. Ökonomische Macht, die in der Masse und Härte des
nationalen Kreditgeldes ihr Maß hat, ist der Zweck ihrer
Beteiligung am Weltmarkt und an der gemeinsamen Kontrolle über
ihn; sie ist zugleich die Basis für die militärische
Machtentfaltung, die ein jeder Partner für seinen
Bündnisbeitrag braucht.
Bei der Aufsicht über den Rest der Welt konkurrieren die in der
NATO verbündeten Großmächte untereinander zweitens
darum, die Vorhaben des Bündnisses vom jeweils nationalen
Standpunkt aus zu definieren und ihre speziellen Ordnungsinteressen zur
Aufgabe für alle zu machen. Ihre Durchsetzungsfähigkeit im
Bündnis bestimmt ihren Status und weist ihnen ihren Platz in der
Hierarchie der die Welt beherrschenden Mächte zu. Das Mittel der
Durchsetzung im Bündnis ist das nationale Potential an
militärischer Gewalt: Wieviel ein Partner zur Erreichung
gemeinsamer Kriegsziele beisteuern kann, wieviel er zur Not alleine
hinbekommen würde, wieviel seine Verweigerung verhindert –
daran bemißt sich das Gewicht im Kreis der konkurrierenden
Partner und die Rücksicht, die seine nationalen Ambitionen von
deren Seite erwarten können. Gemeinsame Aktionen werden stets
doppelt beurteilt: Daß ihr Abschreckungsregime intakt bleibt und
keine Ausnahme ihre Drohung stumpf macht, bleibt das gemeinsame
Interesse aller Verbündeten; daneben mißt jeder für
sich die gemeinsame Durchsetzung an der Frage, ob und wie seine
nationale Macht überhaupt und im Verhältnis zu den Partnern
gewinnt und wächst oder beschädigt wird.
An jedem Krieg lernen die Europäer, daß der Ernstfall die "Supermacht" Amerika mit brutaler Eindeutigkeit an die
erste Stelle rückt. Damit versucht eine jede europäische
Macht auf ihre Weise fertigzuwerden. Gemeinsam projektieren sie die
Schaffung eines gleichrangigen europäischen Gegengewichts zu
Amerika teils innerhalb, teils zusätzlich zur NATO, um die
Dominanz der USA über sie irgendwann einmal zu brechen – und
tragen daran schon wieder ihre Konkurrenz untereinander aus,
nämlich um eine innereuropäische Hierarchie der
Militärmächte.
V.
Der Kontrollanspruch des Westens trifft auf eine Staatenwelt, deren
Mitglieder ihr Bestes tun, um ihren nationalen Nutzen zu mehren und
Positionsverbesserungen in der Hierarchie der Mächte zu erreichen
– ganz im Sinne der vom Westen erlassenen Geschäftsordnung,
die alle Nationen zur Teilnahme am globalen Konkurrenz-Zirkus
verpflichtet. Mit ihren Anstrengungen, sich gegeneinander
durchzusetzen, eröffnen die Staaten Interessensgegensätze,
geraten in Krisen, produzieren Konflikte – und fordern durch ihr
ganz sachgerechtes Gebaren den Westen beständig heraus. Denn sie
bleiben nicht nur, was auch immer sie treiben, allemal denkbare
nützliche Dienst schuldig. Indem sie ihre Macht nach nationalen
Gesichtspunkten ausüben und gegeneinander einsetzen, geben sie
fortwährend Anlaß zu kritischer Prüfung, inwieweit sie
sich da jeweils schon am westlichen Monopolanspruch auf Gewaltanwendung
zur Regulierung der globalen Kräfteverhältnisse vergehen. Wie
die Prüfung ausfällt und welche praktischen Konsequenzen
fällig werden, entscheidet dann der Westen nach seinem kollektiven
Ermessen: Er ist Herr der weltpolitischen Bedeutung, die den
Staatsaffären zukommt, welche den Zustand namens Weltfrieden so
idyllisch gestalten.
Einen Problemfall besonderer Art bildet hierbei der größte
und wichtigste Nachfolgestaat der untergegangenen Sowjetunion: Jelzins
Rußland stellt sich einerseits als Ansammlung von Krisen und
Konflikten dar, und deren Handhabung durch Moskau ist eine einzige
Provokation für den Ordnungsanspruch des Westens. Andererseits
wäre das Land immer noch zu einer atomaren Kriegführung, zu
einer jedes hinnehmbare Maß überschreitenden Verwüstung
des Westens in der Lage und beansprucht auf dieser Basis Gehör und
Mitsprache in den Entscheidungen des Westens über Krieg und
Frieden im allgemeinen und über die Kräfteverhältnisse
in Europa im besonderen. Daß die Moskauer Regierung mit ihren
Machtmitteln gar nichts Feindseliges anfangen will, vielmehr
konstruktive Kooperation mit dem Westen anstrebt, ist zwar in Ordnung
und das mindeste, was der Westen von Rußland erwartet, räumt
aber noch nicht das entscheidende Ärgernis aus: Was der Westen
nicht gut aushält, ist genau dies, daß er doch noch vom
Willen einer fremden Macht abhängt, weil er deren Fähigkeiten
in letzter Instanz nicht im Griff hat. Es versteht sich daher von
selbst, daß der Westen bei allen Entscheidungen darüber,
welche weltpolitische Bedeutung er den täglich anfallenden
Staatskrisen und Konflikten beilegt, die zwar schwächlichen, aber
immer noch konkurrierenden Einmischungsversuche der Russen im Auge
behält und deren Erledigung betreibt.
VI.
Für sein Kontrollregime über die Staatenwelt bedient sich der
Westen der altehrwürdigen Institution des Völkerrechts. Der
Form nach liegt da bereits ein Kodex für den zwischenstaatlichen
Gewaltgebrauch vor. In seiner letzten und weitreichendsten Fassung,
nämlich als Satzung der Vereinten Nationen, sieht das
Völkerrecht bereits ein regelrechtes Genehmigungsverfahren
für die Anwendung kriegerischer Gewalt gegen Staaten vor, die im
Sinne der Verfahrensvorschriften Verbotenes tun. Die Scheidung zwischen
rechtmäßiger und unzulässiger Gewaltanwendung, die
damit in den Verkehr der Staaten untereinander eingeführt ist,
macht der Westen zu seiner Sache: Er identifiziert die
völkerrechtlichen Tatbestände, legt die
völkerrechtlichen Verfahrensregeln für die Behandlung der
definierten Fälle aus, fällt die maßgeblichen Urteile
und nimmt deren Vollstreckung in die Hand.
Dabei ergänzt er den Kriterienkatalog, nach dem er die
Zulässigkeit staatlichen Machtgebrauchs beurteilt, um den Kodex
der "Menschenrechte". Definiert, ausgelegt und angewandt
gemäß seinen interessierten substantiellen Vorstellungen von
"guter Regierung", ergibt die Rechtsfigur des
staatsverbrecherisch drangsalierten Untertanen eine ganze Sammlung von
Rechtstiteln, mit denen der Westen sich zu kriegerischen Drohungen
ermächtigt. Die ohnehin längst blamierte Abgrenzung zwischen
"inneren Angelegenheiten", in die auswärtige Nationen
sich "nicht einmischen" dürften, und Gewaltgebrauch
nach außen, der völkerrechtlicher Genehmigung bedürfe,
wird so für hinfällig erklärt, fremde
Souveränität ganz offiziell grundsätzlich nicht mehr
respektiert. Per "Menschenrecht" bringt der Westen das
Völkerrecht zur Deckung mit dem kriegsmäßig
abschreckenden Kontrollregime, das er über den Rest der
Staatenwelt ausübt.
Auch das funktioniert so leidlich, seit sich die Sowjetunion als
ebenbürtiger Widerpart aus der Weltgeschichte verabschiedet hat.
Zwar stört ihr russischer Rechtsnachfolger ebenso wie die
Regierung der VR China die Rechtsfindung im obersten, über die
Rechtmäßigkeit von Krieg befindenden Entscheidungsorgan der
UNO immer noch bisweilen mit einem unpassenden Veto und erinnert damit
an das jahrzehntelang gültige und wirksame Konstruktionsprinzip
der völkerrechtlich verfaßten "Staatengemeinschaft", Überparteilichkeit in
Streitfragen durch einen Pluralismus vetoberechtigter
Entscheidungsmächte zu gewährleisten. [2] Hinter abweichenden
Voten der russischen Regierung stehen mittlerweile aber
erwiesenermaßen weder der Wille noch die kriegerische
Fähigkeit, ein Veto gegen den Konsens der großen und
erfolgreichen demokratischen Weltmächte notfalls auch
durchzusetzen. Dementsprechend werden sie vom Westen behandelt,
nämlich übergangen. Der UNO insgesamt wächst damit die
neue Aufgabe zu, zu den Kriegsentscheidungen des Westens die formelle
Zustimmung der restlichen Staatenwelt zu organisieren und so die
völkerrechtliche Legitimation im Sinne der überkommenen
Verfahrensregeln hinzuzufügen – die Alternative ist ihre
völlige Belanglosigkeit.
VII.
Der Westen führt Krieg, wenn er sein Kontrollregime über die
Staatenwelt gefährdet sieht, sich in seiner Eigenschaft als einzig
kompetenter Weltordnungsstifter herausgefordert findet und
beschließt, daß er sich die gewaltsame Wiederherstellung
des Respekts vor seiner All- und Alleinzuständigkeit schuldig ist.
Ein solcher "Krisenfall" fängt stets damit an,
daß ein Staat den Vorstellungen über die passenden
Verhältnisse in einer Weltregion und den Ansprüchen auf
demgemäße "gute Regierung", auf die die
großen westlichen Alliierten sich untereinander einigen und
festlegen, im Wege steht oder zuwiderhandelt. Dazu gehört auf
Seiten eines solchen Staates gar nicht mehr, als was jedem
souveränen Staatswillen eigentümlich ist: das Bemühen,
gegen alle Anfechtungen die eigene Macht zu festigen, seine Machtmittel
zu vermehren, seine Umgebung, soweit die Mittel eben reichen, für
sich zu funktionalisieren und selber nicht zu seinem Nachteil in
Anspruch genommen, funktionalisiert und beschränkt zu werden.
Für dieses "vitale" Interesse einer jeden um sich
selbst besorgten Nation geben die Staaten des Westens selber das beste
Beispiel ab. Deren Mittel, für eine ihnen genehme staatliche
Umwelt zu sorgen, und ihr diesbezügliches Interesse sind freilich
von außergewöhnlicher, nämlich globaler Reichweite. Zu
sämtlichen Verhältnissen und bedeutenderen Vorkommnissen in
der Staatenwelt haben oder entwickeln sie ihre Ordnungskonzepte,
streiten sich untereinander um und einigen sich auf die Verfassung, in
der sie die Welt im allgemeinen und ihre Unterabteilungen im besonderen
haben wollen, schreiben diese Verfassung auch wieder fort und um und
gehen bei alldem selbstverständlich davon aus, daß ihren "Rezepten" entsprochen wird – dafür leisten sie
sich ja schließlich die Last eines globalen Abschreckungsregimes.
Benimmt sich ein Souverän daneben und gebraucht seine Macht in
einer Weise und zu Zwecken, die sich mit den vom Westen vorgegebenen
oder auch ad hoc entwickelten Arrangements nicht decken – und das
passiert nur zu leicht, weil eben nicht bloß die souveränen
Staaten ihren Ehrgeiz haben, sondern auch der Konsens des Westens
über die zu fordernde Verfassung der Staatenwelt sich
fortwährend wandelt –, dann erkennt die kollektive
Weltordnungsmacht darin zuerst vielleicht nur einen fehlenden Willen
zur Kooperation. Falls jedoch diplomatische Abmahnungen nichts
nützen, dann muß sie nicht selten auf einen Willen zur
Störung des Weltfriedens schließen. Bleiben auch
Erpressungen erfolglos, die sich noch am vermuteten Nutzenkalkül
des Störenfrieds festmachen, dann wird die Weltmacht
grundsätzlich. Sie diagnostiziert Widerstand, der gebrochen,
Mißbrauch staatlicher Gewalt, der beendet werden muß. Der
Kandidat arriviert zum "Staatskriminellen" bzw. zum "Schurkenstaat"; man isoliert ihn und verhängt
Sanktionen zum Zwecke seiner Schädigung bis hin zur Lahmlegung
jedes zivilen Lebens in seinem Land. Im äußersten Fall
leiten Ultimaten, die nicht mehr berechnendes Entgegenkommen, sondern
die Preisgabe von Souveränitätsrechten verlangen, den letzten
Übergang ein: zur militärischen Vernichtung der
Fähigkeit des widerspenstigen Machthabers, überhaupt noch
Staat zu machen. Ist der Übergang erst einmal gemacht, dann kommt
als Ergebnis weniger als eine bedingungslose Kapitulation nicht in
Frage: Für den Willen, sich als konkurrenzlose Aufsichtsmacht
über den Gewaltgebrauch in der Staatenwelt durchzusetzen, gibt es
keine Kompromisse.
Der imperialistische Gehalt von Krieg, wie ihn die NATO führt,
wird – wenn überhaupt – regelmäßig in der
falschen Richtung gesucht und dort dann nicht gefunden, so daß
Apologeten mit einem triumphierenden Dementi aufwarten können und
NATO-Gegner zu gewagten Konstruktionen greifen, um doch noch irgendwie
"Blut für Öl" anklagen, also einen schnöden
materialistischen Kriegszweck anstelle des vorgeblichen moralischen
angeben zu können. Tatsächlich führt der Westen keinen
Krieg um Inbesitznahme oder Beute; das wäre auch lächerlich
in einer Welt, die den im Westen beheimateten Benutzungsinteressen
erschlossen und – bis hin zur Ruinierung ganzer Weltgegenden
– verfügbar gemacht ist. Zu diesem ganzen Arrangement
materieller Benutzungsverhältnisse stehen die
Militärinterventionen des Westens in einem methodischen
Verhältnis: Sie zielen auf die Herstellung und Stabilisierung
eines Weltfriedens, der die souveränen Staaten grundsätzlich
auf die Bereitschaft zur Ein- und Unterordnung festlegt und auf eine
Geschäftsordnung verpflichtet, die die Regelungskompetenz des
Westens kodifiziert. An dieser Ordnung als ganzer hat der Westen ein
wahrhaft vitales Interesse; und so steht er dafür auch ein: mit
Ordnungsmaßnahmen, die – logischer- und notwendigerweise
– die Ebene des materiellen Nutzens, des Kalküls und des
geschäftlichen Ertrags verlassen und sogar negieren. Solange es
den Staaten des Westens um gute Geschäfte geht, um das Materielle
an den guten Beziehungen, die sie zu aller Welt haben wollen, bietet
ihnen ihre Großveranstaltung namens Weltwirtschaft und die Wucht
ihres Reichtums wahrhaftig alle Mittel, sich darum zu kümmern.
Sobald sie zum "Mittel" der kriegerischen Zerstörung
greifen, geht es ihnen nicht mehr um materiellen Gewinn, sondern allen
Ernstes "ums Prinzip": das Prinzip, daß sie mit ihrer
kollektiven Macht den Gewalthaushalt der Staatenwelt bestimmen und im
Griff behalten. Wann und wo sich ihnen diese Prinzipienfrage stellt,
das ist aus dem Gewicht der besonderen materiellen Interessen, die
irgendwo auf dem Spiel stehen, daher auch weder abzuleiten noch zu
erklären – gewichtige Interessen an funktionierenden
Zulieferern, Hinterhöfen, Anlagesphären, Schuldnern etc.
haben die kapitalistischen Weltmächte letztlich überall, und
Gründe zur Unzufriedenheit mit auswärtigen Regierungen, die
diese Interessen bedienen sollen, auch. Um aus den alltäglichen
Streitfragen, die sich daraus allemal ergeben, grundsätzlich mehr
zu machen als alltägliche Außenpolitik, dazu bedarf es auf
Seiten der Partner des Westens nicht viel mehr als der
ortsüblichen Grobheiten sowie einiger Sturheit in der Verfolgung
einmal festgelegter nationaler "Essentials". Was es
für diesen Übergang vor allem braucht, ist die Entscheidung
der Allianz, sich als Ordnungsmacht angegriffen zu sehen. Ein solcher
Beschluß folgt keinem imperialistischen Masterplan, sondern kommt
über die ohnehin beständig geübte Aufsicht über
jedes Durcheinander in der Staatenwelt zustande; allemal mit viel
Gezerre zwischen den Verbündeten. Am Ende stellt sich die Allianz
zu ihrem Beschluß dann wie zu einem Sachzwang, dem sie nicht mehr
ausweichen kann, befindet, daß sie selber als universelle
Respektsperson auf dem Spiel steht, und ist sich die Bestrafung eines
"Aggressors" schuldig. Um einen solchen handelt es sich
nämlich immer, weil per definitionem eine Aggression gegen die
Gültigkeit westlicher Machtworte vorliegt – und, nochmals,
nicht bloß gegen ein paar Ölquelle.
Das alles ist schon an dem Krieg zu studieren, der immerhin mit einer
wirklichen militärischen Aggression begonnen hat: mit dem
Überfall des Irak auf das als Landesprovinz reklamierte Scheichtum
Kuwait. Da hat ein Drittwelt-Staat einen richtigen Krieg angefangen;
wichtige und empfindliche materielle Interessen des Westens waren
tangiert; und die Weltmacht ist dem Angegriffenen zu Hilfe gekommen
– aber nicht wegen Öl. Auf der Ebene, der des
Erdölgeschäfts, hätte Saddam Hussein den Streit mit
Amerika gerne belassen – und immerhin wurde sogar in Washington
überlegt, und die europäischen Verbündeten wären
voll damit einverstanden gewesen, sich auf diese Ebene zu
beschränken und zu veränderten politischen Bedingungen die
Ausbeutung der Ölfelder am Golf fortzusetzen. Etwas anderes, als
es an den Westen loszuschlagen, hätte der "Despot von
Bagdad" mit seinem Petroleum ohnehin nicht anstellen können.
Angeblich gab es sogar ein diplomatisches Signal aus den USA des
Inhalts, mit seinem jahrelangen Kriegseinsatz gegen die
Amerika-feindliche Islamische Republik Iran hätte der irakische
Kriegsherr sich die "nationale Wiedervereinigung" mit
Kuwait verdient. Dann hat sich die US-Regierung jedoch entschlossen
– das Ölgeschäft hat darunter erst einmal kräftig
gelitten –, die Sache radikal zu nehmen: nicht bloß als
Versuch einer Machtverschiebung, über deren Nutzen und Nachteil
sich diskutieren und allenfalls ein Kompromiß erzielen
ließe, sondern als nicht hinnehmbaren Verstoß gegen die
gewünschte Ordnung im nahöstlichen Staatengefüge und
überhaupt gegen die "neue Weltordnung", für deren "Proklamation" die USA den "Fall" genau passend
fanden. Neu war nämlich, daß der Westen sich nicht
länger durch die sowjetische Gegenmacht "pattgesetzt"
fand; er traute sich vielmehr den durchaus nicht risikofreien
Vorstoß zu, die zugrundereformierte feindliche Weltmacht mit
Krieg als seinem exklusiven "neuen Weltordnungs"-Instrument
zu konfrontieren und ihr eine Nachgiebigkeit zuzumuten, die einer
Abdankung als eigenständige Weltfriedensmacht gleichkam. Unter
dieser weitreichenden weltpolitischen Zielsetzung wurde der Irak
demonstrativ zerstört; seither repräsentiert er beispielhaft
und abschreckend die vom Westen neu eingeführte Kategorie des
geächteten "Schurkenstaates".
Im Fall Jugoslawiens stehen irgendwelche unentbehrlichen Ressourcen
fürs industriekapitalistische Geschäftsleben des Westens von
vornherein nicht auf dem Spiel – der Krieg findet in einem "Hinterhof" der EU statt, mit dem in seiner Gestalt als
titoistischer Vielvölkerstaat geschäftlich allemal mehr
anzufangen war und wäre als mit den heutigen trostlosen
Zerfallsprodukten; wenn die NATO vielleicht eines Tages mit ihren
Bombardements aufhört, können die Euro-Nationen ja mal
versuchen, sich an einer Ruinenwüste und einer politischen
Ökonomie des Zeltlagers drumherum zu bereichern. Von einem
abzuwehrenden Angriffskrieg des "Despoten von Belgrad" kann
auch nicht eigentlich die Rede sein – bzw. nur auf Basis jener
verwegenen Geschichtsklitterung, die, dialektisch geschult, den
volksserbischen Protagonisten der Einheit des alten Jugoslawien zum
schuldhaften Verursacher des militanten Separatismus der
nicht-serbischen Völkerschaften erklärt und den Kampf gegen
die neuen Staatsgründungen in den überkommenen Provinzen zur
grenzüberschreitenden Aggression. Tatsächlich hat der Streit
um Fortbestand oder Zerlegung des alten Nachkriegs-Jugoslawien das
Material für einen Weltordnungseinsatz reinsten Wassers geliefert:
An Jugoslawien hat der Westen, diesmal vor allem sein europäischer "Pfeiler", seinen Anspruch auf oberhoheitliche Regelung
aufgebracht, geltend gemacht, im Streit zwischen den "selbsternannten" Aufsehern fortentwickelt und bis zum
jetzt erreichten Ende durchgesetzt. Noch bevor das gewaltsame
Umsortieren von Völkern und Neugründen von Staaten so richtig
in Gang kam, hat er die letzte Entscheidungsbefugnis über die
Gestaltung der politischen Landkarte des Balkan an sich gezogen. Den
Verteidigern des Gesamtstaats wie den völkisch gesinnten
Staatsgründern hat er Bedingungen und Schranken für ihr
gewaltsames Treiben diktiert und es damit freigesetzt: Jede Drohung an
die eine Seite – von Beginn an hauptsächlich an die anfangs
noch stärkste, die zunehmend auf ein vergrößertes
Serbien umorientierte Zentralmacht – wurde von der jeweils
anderen – den Provinz-Separatisten in den Teilrepubliken des
alten Gesamtstaats – als Prämie für Unnachgiebigkeit
und als Anerkennung der eigenen Seite begriffen; und in ihren
Bürgerkriegen wurden die anfangs Schwächeren auch nicht im
Stich gelassen. Darüber sind die Serben immer tiefer in die Rolle
des Schuldigen geraten. Den Krieg haben sie nicht anders geführt
als ihre Gegner; ihr Kriegsziel war nicht perverser als das der
Anhänger kleinstaatlich-völkischer Selbständigkeit. Mit
ihrem militärisch verfochtenen Anspruch, bei der Aufteilung des
alten Jugoslawien die Grenzen auch gleich wirklich neu zu ziehen, sind
sie aber ganz anders mit dem Monopolanspruch des Westens auf
verbindliche Grenzziehungen in Europa aneinandergeraten als ihre
Gegner, die in Bonn und Washington ihre Patrone gesucht und gefunden
haben. Der Westen – anfangs darin noch gar nicht einig –
hat sich immer mehr darauf festgelegt, im serbischen
Staatsneugründungsprogramm, das auf eine entschiedene
Vergrößerung der alten Provinz zielte, eine anmaßende
Konkurrenz und daher den "aggressiven" Gegner seines
Ordnungswillens zu sehen. Deswegen wurde Milošević als Störenfried
identifiziert. Und deswegen hat der Westen am Ende sogar dessen
Versuch, wenigstens die ihm verbliebene Republik gewaltsam zu
konsolidieren, als Verbrechen bewertet, Übergriffe auf
Kosovo-Albaner weltordnungspolitisch gewichtet und seinen Streit mit
Serbien bis zu der Entscheidung eskaliert, die störende
Staatsmacht zu zerschlagen.
VIII.
Wenn die westliche Allianz sich zu Krieg entschlossen hat, dann
führt sie den in der Gewißheit und von dem Standpunkt aus,
daß er schon vorab entschieden ist, nämlich durch die
fraglose Überlegenheit ihrer Mittel. Wie auf den Vorstufen, die
zum Krieg hinführen – der Drohung, der ökonomischen
Erpressung, der Sanktion, schließlich der Ächtung –,
so agiert der Westen auch beim Militäreinsatz als Herr der Lage.
Er mißt sich nicht mit einem Feind, quasi auf gleichem Fuß,
sondern er exekutiert die Macht der "Staatengemeinschaft"
gegen einen Abweichler. Die "Verhältnismäßigkeit
der Mittel" sieht er nur dann gewahrt, wenn gar keine Proportion
zustandekommt, weil auf Seiten der Allianz keine nennenswerten
Schäden anfallen, während dem Feind mit der unbehinderten
Verwüstung seiner Machtmittel einschließlich nationaler
Ökonomie und Infrastruktur seine hoffnungslose Unterlegenheit
nachgewiesen wird.
Der Weltordnungskrieg, wie die NATO ihn im Programm hat, ist in
eigentümlicher Weise total – nicht, wie der faschistische,
was den eigenen Mitteleinsatz angeht, sondern was die Unterlegenheit
des Gegners betrifft, von der die Allianz ausgeht, und die Niederlage,
die sie ihm beibringen will. Es herrscht ein Totalitarismus der
Siegesgewißheit, ohne den schon der moralisch auftrumpfende
Imperativ, "nicht wegschauen" zu können und zu
dürfen und "durch Nichtstun schuldig" zu werden, gar
nicht zu haben wäre. Dieselbe Sicherheit, jedem denkbaren "Störenfried" bedingungslos überlegen zu sein,
liegt auch all den wohlmeinenden pazifistischen Vorstellungen zugrunde,
der Westen könnte Krieg doch allemal durch "Politik"
und die "Ausschöpfung aller zivilen Mittel" vermeiden,
wenn er nur will. Durchaus in diesem Sinne wird dem Feindstaat, der
eher Delinquent als Gegner ist, als letzte Chance, bevor es wirklich
losgeht, die zur rechtzeitigen Einsicht in seine Chancenlosigkeit
geboten. Bei der Eröffnung ihres Luftkriegs gegen Jugoslawien hat
die NATO-Führung dann vielleicht wirklich damit gerechnet, der
Widerstand Belgrads würde umgehend zusammenbrechen; die
anschließende kontinuierliche Steigerung der Bombenangriffe steht
jedenfalls unter dem Vorzeichen einer Bestrafung Jugoslawiens
dafür, daß es durch sein Standhalten die NATO dazu "zwingt", ihre Überlegenheit erst praktisch zu
beweisen, obwohl die doch längst feststeht. Letzteres bezweifeln
auch die Skeptiker nicht, die das bemerkenswerte Experiment, einen
Staat nur mit Luftangriffen, ganz ohne die "Risiken" eines
Bodenkriegs niederzukämpfen und zur Aufgabe zu zwingen, für
verfehlt und gescheitert erklären: Auch sie denken nicht an die
Möglichkeit einer Niederlage der NATO, sondern fordern umgekehrt
die schleunige Einlösung des Anspruchs, den sie mit dem
Bündnis teilen, nämlich auf totale Wehrlosigkeit des
Angegriffenen. Die Allianz wiederum führt ihren Krieg in aller
Sorgfalt so, daß sie dem Feind erst gar keine Möglichkeit
läßt, ihr irgendeine Niederlage beizubringen.
Vielleicht nicht gar so selbstsicher, aber vom gleichen Standpunkt
fragloser und unanfechtbarer Überlegenheit aus hat die
Golfkriegsallianz vor acht Jahren ihren Krieg gegen den Irak
geführt und sich damit auch schon eine kongeniale Kritik
eingehandelt: Ohne Not hätte sie zu früh Schluß
gemacht, nämlich versäumt, die bedingungslose Kapitulation
Saddam Husseins durch den Austausch der Staatsspitze zu vollenden. Dem
wirklichen Totalitarismus des imperialistischen Ordnungs- und
Abschreckungskriegs ist jedoch durchaus angemessen, was USA und
Großbritannien im Irak stattdessen seit acht Jahren praktizieren:
Mit Militäreinsätzen nach Belieben und beständigen
Luftangriffen auf niedriger Stufe terrorisieren sie den Staat permanent
und halten ihn in einem Zustand der hoffnungslosen Ohnmacht, sein
ganzes Land unter dem Minimum nationaler Existenz. Nicht
unwahrscheinlich, daß Serbien das gleiche Schicksal blüht.
IX.
Die westliche Allianz will die Staatenwelt beherrschen, also in eine
stabile Verfassung bringen. Ihr letztes Mittel für diesen hohen
Zweck ist "Krisenintervention" mit Waffengewalt. Bei ihren
entsprechenden Zurüstungen und Vorbereitungen geht sie allerdings
interessanterweise davon aus, daß ihr schärfstes Mittel
weder als letztes, also eher selten zum Einsatz kommt noch den Zweck
einer stabilen Weltordnung wirklich hergibt: Sie nimmt
Weltordnungskrieg als Daueraufgabe in ihre Agenda fürs 21.
Jahrhundert auf. Sehr zu Recht. Denn nichts mischt die Staatenwelt
gründlicher auf als eine solche Therapie. Wo kein Staat mehr davor
sicher ist, mit seinen Bemühungen um Selbsterhaltung und
Positionsverbesserung zum Schädling an der Ordnungskompetenz des
Westens erklärt und mit Vernichtung bestraft zu werden, da wird
nationalistischer Aufruhr gegen etablierte Staatsgewalten ermuntert
oder sogar erst gestiftet; umgekehrt wird der Durchsetzungs- und
Durchhaltewille angefochtener Souveräne aufs äußerste
angestachelt; und der Machtkampf zwischen rivalisierenden Nationen wird
nicht paralysiert, sondern enthemmt. Und wo die Allianz der Guten
zugeschlagen hat, hinterläßt sie Staatsruinen und neue
Feindschaften; "Stabilität" wächst da jedenfalls
so schnell nicht mehr.
Doch was sein muß, muß sein. Die Verantwortung des Westens
für einen ordentlichen Weltfrieden ist viel zu groß, als
daß er vor den Konsequenzen zurückschrecken dürfte.
_________________________
[1] Japan gehört zwar nicht zur NATO, ist aber durch seine
Beziehungen zu den USA fest genug in das weltpolitische Kollektiv
eingebunden, das hier als "der Westen" apostrophiert wird.
[2] Hierzu und zur aktuellen Fort-Entwicklung des
Völkerrechts überhaupt steht das Nötige in dem Aufsatz "Völkerrecht und Menschenrechte. Die Sittlichkeit des
Imperialismus" in GegenStandpunkt 1-99, S.137.
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