Das "Massaker von Račak" und seine Folgen
Zum aktuellen Zwischenstand von Erfolgen und Drangsalen der NATO-Aufsicht über das Kosovo
45 Leichen werden nach einem serbischen Angriff auf ein Dorf im Kosovo
gefunden. Von "bei Kämpfen getöteten Rebellen"
spricht die eine Seite, von "wehrlosen Zivilisten" die
andere. Namhafte Vertreter der westlichen Aufsichtsmächte
schließen sich letzterer an und gehen von einer "mutmaßlichen Hinrichtung" von Kosovo-Albanern durch
serbische Einheiten aus. Sie sehen sich daher dazu veranlaßt, "massiven Druck auf Belgrad" auszuüben und dem
Machthaber dort "den Ernst der Lage" zu vermitteln.
Selbiges unternimmt auf ihre Weise die NATO, indem sie sich auf
Luftangriffe vorbereitet – soweit ist alles klar und eindeutig,
und bis dahin kennt sich auch die Öffentlichkeit aus: "Mit
dem ihm eigenen Zynismus" habe da Milošević die Gunst der Stunde
genutzt, um "wieder seine Panzer rollen und seine
Streitkräfte morden zu lassen." (SZ, 19.1.) Und für
genau solche Fälle liegen ja wohl "die Pläne mit den
Angriffszielen der Bomber längst bereit", nichts wie los mit
ihnen also, endlich Attacke! Dann aber solche Töne:
"Das politische Ziel der
Attacken ist in den letzten Monaten immer unklarer geworden. Die
ohnehin komplizierte Lage im Kosovo stellt sich mittlerweile noch viel
verworrener dar als noch im Oktober. (...) Denn der Westen hat die
Orientierung verloren. Vereinfacht: Es fällt ihm immer schwerer,
im Kosovo zwischen den 'Guten' und den 'Bösen' zu unterscheiden. (...) Ein nüchterner
Befund ergibt: Die serbischen Streitkräfte ermorden Albaner, und
die UÇK killt Serben." (ebd.)
Wie dies? In knapp zwei Monaten allen Überblick verloren? Ein so
eindeutiger Befund: nur böse Buben, nur Mord und Totschlag –
und "verworren" soll da die Lage sein? Für die NATO
obendrein, der kein Schuß entgeht? Und deswegen gleich kein
politisches Ziel mehr da für ihren Krieg? Das kann ja wohl nicht
ganz die Wahrheit sein.
Was die NATO im Kosovo erreicht hat mit ihrem Abkommen vom letzten
Oktober, zeugt erstmal von allem anderen als ausgerechnet einem Verlust
ihrer Orientierung. Den selbsternannten Aufsichtsmächten über
den Balkan entgeht dort schon deswegen nichts, weil zwar der Form nach
über diesen Landstrich noch von Belgrad aus regiert wird, die
westlichen Aufsichtsmächte aber festschreiben, was sie an
ausgeübter Regierungsgewalt für legitim erachten und was
nicht. Sie konzedieren der jugoslawischen Staatsführung ein
Restmaß an Souveränität, indem sie die Grenzen
definieren, die deren Wahrnehmung gezogen sind und die bei ihrem Krieg
gegen die Sezessionisten im Kosovo keinesfalls überschritten
werden dürfen – andernfalls schlagen sie mit ihrer NATO zu.
Ohne daß sie selbst für oder gegen einen der Kombattanten
Partei ergreifen, ist der Bürgerkrieg in Jugoslawien Sache der
NATO-Mächte. Sie haben keinen einzigen Kriegsgrund aus dem Verkehr
gezogen, sondern suchen den Krieg auf einem ihnen genehmen Niveau unter
Kontrolle zu halten, tragen dafür Sorge, daß die
überlegene Partei ihn nicht gewinnen kann, die unterlegene ihn
nicht zu verlieren braucht. Der Zustand, der im Kriegsgebiet herrscht,
ergibt sich im Vollzug der Dekrete ihres Aufsichtsregimes; die "Befriedung" der Region können die westlichen
Mächte sich und ihren Gewaltmitteln zugute schreiben; und die Lage
im Kosovo sieht einen Monat nach Beginn der NATO-Aufsicht denkbar
übersichtlich und überhaupt nicht "verworren" aus:
"Sieht man von einzelnen
Scharmützeln und gelegentlichen Feuerüberfällen ab,
ruhen die Feindseligkeiten zwischen der UÇK und der serbischen Polizei.
Der Winter ist dabei der beste Friedensstifter. Die geschlagene, aber
nicht besiegte UÇK gruppiert sich neu und rüstet auf. (...) Die
serbische Sonderpolizei bleibt in ihren Kasernen bereit für eine
neue Offensive gegen jene Gebiete, in welchen die UÇK in den
vergangenen Wochen wieder stark geworden ist." (FAZ, 1.12.98)
Mit ihrem Frieden sorgen die Aufsichtsmächte selbst dafür,
daß vor Ort alle Gründe fürs Kriegsführen intakt
bleiben. Doch nicht nur das: Aus der Tatsache, daß ihr Krieg ihre
ausschließliche Sache gar nicht ist und sie – beide
gleichermaßen, aber nicht in gleichem Maße – der
Kontrolle einer in jeder Hinsicht überlegenen Gewalt unterstehen,
ergibt sich für beide Kriegsparteien eine zusätzliche
Perspektive, die ihnen die Anwendung ihrer Gewaltmittel gegeneinander
nahelegt. Und die bringt den Krieg erst so richtig schön in
Schwung:
– Was die serbische Kriegspartei betrifft, so tut sie
selbstverständlich von sich aus schon alles, um im Rahmen der ihr
offiziell konzedierten Möglichkeiten die souveräne Kontrolle
über ihr Territorium zu behaupten bzw. dort wiederzuerlangen, wo
sie sie verloren hat – was genauso selbstverständlich
einschließt, daß sie sich keineswegs immer und überall
den Auflagen unterwirft, mit denen die NATO die Kämpfe auf
gewünscht "niederer Intensität" einzuhegen sucht.
Durchaus beeindruckt von der gegen sie aufrechterhaltenen
militärischen Drohung der NATO-Mächte, versucht die
jugoslawische Staatsführung alles unterhalb der Schwelle eines
offensichtlichen Bruchs des Abkommens vom letzten Oktober, um ihre
militärischen Gegner auszuschalten – und damit auch den
materiellen Grund loszuwerden, auf den sich die NATO bei ihrer
Einmischung in den Bürgerkrieg bezieht. Dabei rasch und
entscheidend voranzukommen, erscheint dem Machthaber in Jugoslawien
erstens deswegen dringlich, weil man in der Führungszentrale der
Aufsichtsmächte laut darüber nachdenkt, in welche Richtung
die "Internationalisierung des Kosovo-Konflikts"
demnächst weiterzutreiben sei: In Washington werden
"Gerüchte lanciert, wonach
man sich innerlich schon auf die Ära nach Milošević eingestellt
hat. Milošević wird demnach im State Department und im Weißen
Haus nicht mehr als Schlüssel zur Lösung der Schwierigkeiten
in Serbien, Jugoslawien und auf dem ganzen Balkan betrachtet, sondern
als das Problem selbst. (...) Wenn in Serbien der altkommunistische
Machtblock, vielleicht blutig, zerfällt, werden die Karten neu
gemischt." (FAZ, 1.12.98)
Neben der Botschaft, daß man – mit CIA oder ohne – im
Westen auf seine Entmachtung hinzuwirken gedenkt, erreichen den
jugoslawischen Staatspräsidenten zweitens auch Nachrichten vom
Kriegsschauplatz im Kosovo, die ihn davon in Kenntnis setzen, daß
seine Gegner die unter NATO-Aufsicht gestellte Bürgerkriegslage
ausgezeichnet für sich zu nutzen verstehen:
"Die vielen
Mobilfunkgeräte der UÇK-Kämpfer und die modernen
Panzerabwehrwaffen neben den in der Ecke stehenden Kalaschnikows zeugen
davon, daß die UÇK aufrüstet. Überall tauchen
UÇK-Uniformierte in den albanischen Gebieten auf, die sie 'befreite Gebiete' genannt hatten, ehe sie sie den
serbischen Brandschatzern überlassen mußten. 'Die
serbische Polizei ist vom Wiedererscheinen der UÇK frustriert
und
möchte zurückschlagen, sagt ein Beobachter zu den
täglichen Scharmützeln. 'Die UÇK treibt es in ihrem
neuen
Glück ziemlich weit.'" (SZ, 12.12.)
So hat man in Belgrad genügend Veranlassung, den kontrollierten
Krieg nun erst recht im eigenen Sinn praktisch zu entscheiden, und
unter Berufung auf den Friedensprozeß, wie ihn die NATO etabliert
hat, als einen zusätzlichen Grund für Krieg droht man mit
seiner unausweichlichen Eskalation:
"Der stellvertretende
Ministerpräsident Tomislav Nikolić sagte mehreren Zeitungen, falls
der vereinbarte Friedensprozeß umgesetzt werde, werde Serbien auf
Gewalt verzichten. Sollte der Westen aber zulassen, daß
'albanische Terroristen' erneut herummarodierten und mordeten, sehe
sich die serbische Regierung gezwungen, wie bereits im Sommer gegen die
Separatisten vorzugehen." (SZ, 9.12.98)
– Was die albanische UÇK betrifft, so hat die es überhaupt
nur der NATO zu verdanken, daß sie inzwischen die Karriere vom
Terroristenhaufen zur veritablen Kriegspartei erfolgreich hinter sich
gebracht hat und nun tatsächlich als so etwas wie eine "Befreiungsarmee" ihr Kriegsziel gegen Serbien durchfechten
kann. Mit diesem selbst, einer "Unabhängigkeit" des
Kosovo, ist sie von den Aufsichtsmächten zwar nicht ins Recht
gesetzt worden; aber das Recht, im Hinblick auf die von der NATO neu
hergestellte Lage ihre heilige Sache nun erst richtig zu betreiben,
nehmen sich die Sezessionisten einfach heraus. Wo die Drohung der NATO
die Serben zur Preisgabe der militärischen Kontrolle des eigenen
Staatsgebiets zwingt, rücken also sie nach. Sie rüsten auf,
gruppieren sich neu, rekrutieren neue Mannschaften, und wenn es mit dem
Feind zum Treffen kommt, sagen sie selbst, worauf sie dabei längst
spekulieren: Für sie erneuert jeder Schlagabtausch mit ihrem
Gegner und jedes Gemetzel, an dem sie beteiligt sind, nur immer den
Antrag an die NATO, endlich ernst zu machen mit dem Krieg gegen
Serbien, auf dem sich ihr Staat dann gut gründen ließe.
So hat der von den Aufsichtsmächten im Kosovo in Gang gebrachte
Friedensprozeß den Gründen, die die Parteien vor Ort ohnehin
für ihren Krieg gegeneinander besitzen, einiges an Motivation und
guten Gelegenheiten hinzugefügt, ihn auch konsequent zu
führen. Demselben Kontrollregime, dem sich beide Parteien auf ihre
Weise unterordnen, gewinnen sie für sich auch besondere Argumente
ab, die eine verschärfte Kriegführung den einen ratsam, den
anderen lohnend erscheinen lassen, weswegen es auch zu den
unbestreitbaren Leistungen des von der NATO erzwungenen Friedens
gehört, daß die Gemetzel im Kosovo allerorten vorankommen.
Was die NATO im Kosovo nicht erreicht hat,
steht mit ihrer positiven Leistungsbilanz allerdings auch fest: Die
beiden Kriegsparteien beziehen sich zwar auf die überlegene Macht,
die ihren Krieg domestiziert; ihre eigenen Kriegsziele aufgegeben haben
sie aber nicht; und diese Ziele werden von den versammelten
Aufsichtsmächten nach wie vor nicht gebilligt. Für einen
Groß-Staat Albanien oder sonst eine Fassung kosovarischer
Eigenstaatlichkeit, für die die UÇK kämpft, hat sich bislang
noch immer keine der Mächte erwärmen lassen, die fürs
Ausdenken von "Balkanstrategien" und für deren
praktische Umsetzung verantwortlich sind. Schon gleich nicht hat sich
in der NATO irgendjemand mit der Vorstellung anfreunden wollen, einen
wieder konsolidierten jugoslawischen Reststaat in den Grenzen, auf die
er mittlerweile zusammengeschrumpft ist, in das Kalkül der eigenen
Balkanpolitik zu ziehen – im Gegenteil, man denkt ja schon
öffentlich darüber nach, wie dieser jugoslawische Rest weiter
zu zerlegen sei. Weil man aber zugleich dem Projekt, mit dem die
Zerschlagung Restjugoslawiens aktuell betrieben wird, einfach keine
für die eigenen Ordnungsinteressen an dieser Region nützliche
Perspektive abgewinnen kann, befriedigt der Krieg im Kosovo das
Gesamtinteresse der westlichen Aufsichtsmächte an einer Erledigung
oder zumindest Zurückstufung der jugoslawischen Restmacht
höchst unvollkommen.
So ist es das Pech der UÇK-Kämpfer, daß sie – vorerst
wenigstens noch – mit ihrem Staatsgründungskrieg in den
Reihen der Aufsichtnehmer auf keine Macht stoßen, die sich hinter
sie stellen würde, und genau das: daß sie mit ihrem
zersetzenden Wirken für den Westen allenfalls bedingt
nützliche Idioten sind, schlägt sich im Urteil der hiesigen
Beobachter dann entsprechend nieder. Das macht für deren Blick die
Lage im Kosovo gleich so "verworren", daß sie die
– an sich doch – 'Guten' gar nicht mehr von den
– als solche längst feststehenden – 'Bösen' unterscheiden können wollen: Anstatt
einzusehen, daß sie genau das an "Autonomie"
bekommen, was die Aufsichtsmächte für ihr eigenes Projekt
eines neugeordneten Balkan für funktional erachten, erklären
die UÇK-Kämpfer penetrant, daß sie "keinen Deut von
ihrem Ziel eines unabhängigen Kosovo abrücken." (SZ,
16. 12. 98) Obwohl ihnen doch zu verstehen gegeben wurde, daß
dieses Ziel von niemandem Billigung erfährt, kämpfen sie
unverdrossen für es weiter, und sie, die doch ausschließlich
dazu da sind, dem übergeordneten Interesse des Westens zu dienen,
schaffen ihm darüber Probleme:
"Mit Waffengewalt will die UÇK
die Unabhängigkeit des zu 90 Prozent von Albanern bewohnten Kosovo
von Serbien erreichen. Der im Oktober unter der Drohung eines
NATO-Bombardements erzielte Waffenstillstand im Kosovo hat die UÇK
keinen Millimeter von diesem Weg abgebracht. Im Gegenteil: Die
Albaner-Truppe nutzte den erzwungenen Rückzug der serbischen
Polizei- und Armeekräfte zum eigenen Vormarsch und die Kampfpause
zur Reorganisation. Heute patrouillieren bewaffnete UÇK-Männer
wieder offen in den Dörfern, aus denen sie im Sommer durch die
serbische Großoffensive vertrieben worden waren... Die
internationale Krisendiplomatie hat es bislang nicht vermocht, die UÇK
in ihre Friedensbemühungen für das Kosovo einzubinden." (SZ, 29.12.)
"Einbinden" heißt die vornehme Umschreibung des Umstands,
daß da offenbar ein Geschöpf der eigenen
Friedensbemühungen politisch einfach nicht auf eine genehme Linie
zu bringen ist. Statt dessen legt es ein so unhandlich-starrsinniges
Eigenleben an den Tag, torpediert den schönen Friedensprozeß
in der offenen Berechnung, daß schon irgendeiner der provozierten
serbischen Gegenschläge von den Aufsichtsmächten als
eindeutiger "Bruch des Abkommens" gewertet und entsprechend
sanktioniert werden wird. Und weil man hierzulande mit Berechnungen
dieser Art absolut nichts anfangen kann, wollen einem die dabei
zustandekommenden Schlächtereien sinnlos bis langweilig erscheinen:
"Die jüngste Eskalation
ist ein typisches Beispiel, sie zeigt das Muster, nach dem dieser Krieg
verläuft: Die UÇK provoziert, und die Serben schlagen mit aller
Macht zurück." (SZ, 28.12.98)
Weil die Mächte der NATO am Krieg selbst durchaus, nicht aber an
dem positiv Interesse nehmen, was die beiden Kriegsparteien mit ihm
wollen, halten sie ihn unter Kontrolle. Und weil genau so, wie er unter
ihrer Aufsicht dann vonstatten geht, der Frieden in der Region
aussieht, sind sie mit dem immer sehr "unzufrieden".
Was die NATO im Kosovo weiter für erforderlich hält
Auch wenn so ihr Kontrollregime über den Bürgerkrieg diesen
selbst zwar erfolgreich einhegt: Von einer handhabbaren
Funktionalisierung auch der albanischen Kriegspartei, mit der der
Westen zutiefst sympathisiert, kann einstweilen nicht die Rede sein.
Das allerdings spornt die Aufsichtsmächte nur dazu an, einer
endlich eindeutigen Ausrichtung der Kriegslage hin auf den von ihnen
verfolgten Zweck zuzuarbeiten. Sie halten ihre Aufsicht über den
Kriegsschauplatz aufrecht und dabei stur an den Grundsätzen fest,
nach denen sie die allfälligen Metzeleien in ein hinnehmbares "Kampfgeschehen niederer Intensität" auf der einen und
in auf keinen Fall zu tolerierende "Übergriffe" auf
der anderen Seite scheiden. Dabei sind sie über alle Maßen
gerecht, verschweigen keineswegs, daß sich letzterer
regelmäßig irgendwie doch beide Seiten schuldig machen
– der Blick der NATO ist da ganz überparteilich und
unbestechlich, sie "beobachtet genau und ist nach wie vor bereit,
einzugreifen" (Solana) –, weil der in letzter Instanz
Schuldige am Krieg ja sowieso feststeht und jede Schießerei, in
die serbische Polizeikräfte verwickelt sind, nur immer die
Unbelehrbarkeit des obersten serbischen Befehlshabers unter Beweis
stellt. Da trifft es sich ausgezeichnet, daß man mit dem auch
noch einen Vertrag geschlossen hat, dessen Kautelen eindeutig vorsehen,
daß für ernste Verstöße gegen das Abkommen dieser
als Mitunterzeichner haftet. Daher hat die "Unzufriedenheit mit
der Entwicklung des Friedensprozesses im Kosovo", die der
Amerikaner Holbrooke vermeldet, immer ein und denselben Adressaten.
Daran erinnert, daß der Aktivierungsbefehl der NATO noch immer
gültig sei, werden durchaus beide Parteien; doch während die
eine ohnehin die Bomben der NATO herbeisehnt, wird der anderen mit
jedem gefundenen oder auch nur zurechtkonstruierten Eingriffstatbestand
die Zerstörung angedroht, die sie mit ihrer Unterschrift unter das
Abkommen hat abwenden wollen. So rufen schon lange vor dem aktuellen
Höhepunkt des wechselseitigen Schlachtens, dem "Massaker von
Racak", die USA immer "beide Seiten zu Zurückhaltung
auf", rügen dann aber "vor allem das massive serbische
Vorgehen als unverhältnismäßig." (SZ, 28.12.)
NATO und EU warnen "beide Seiten vor weiteren
Kämpfen", aber selbstverständlich verurteilt
NATO-Generalsekretär Solana
"die serbische Offensive als
‚klaren Verstoß‘ gegen Vereinbarungen, denen Slobodan
Milošević zugestimmt habe. Der NATO-Oberkommandierende,
US-General
Wesley Clark, sagte: 'Die jugoslawische Armee hat ihre
Versprechen gebrochen, die die Serben gegenüber General Naumann
und mir gemacht haben.'" (FR, 28.12.98)
Doch auch wenn sich noch so klare "Verstöße"
ausfindig machen lassen, die das Eingreifen der NATO rechtfertigen:
Eine Konstellation, in der die Bombardierung Serbiens eindeutig und
zweifelsfrei zweckmäßig wäre für das eigene
Interesse, bekommt man nicht serviert und auch nicht so leicht her.
Solange zumindest nicht, wie die andere Partei, die es auch noch gibt,
die Eskalation des Kriegs durch die NATO als Fanal ihrer eigenen
Staatsgründung begreift. Das sind so die Verlegenheiten einer
imperialistischen Ordnungsmacht.
So erneuert die NATO immer wieder ihre Drohung, "militärisch
in den Kosovo-Konflikt einzugreifen, wenn in der serbischen Provinz
wieder gekämpft werde" (SZ, 30.12.98), währenddessen die
Kosovo-Befreiungsarmee erklärt, sie habe sich zu einer
"professionellen, organisierten Kraft gewandelt, die bereit ist,
ihren Kampf für die Freiheit fortzusetzen" (SZ, 4.1.99). Und
im Prinzip bleibt es auch nach dem "Massaker von Račak" bei
dieser für die NATO einigermaßen unhandlichen Lage:
Selbstverständlich fordert "der Präsident der
Kosovo-Albaner, Ibrahim Rugova, die NATO zum Eingreifen auf" und
treffen sich die 16 NATO-Botschafter sofort "zu einer
Dringlichkeitssitzung". Klar auch, daß US-Präsident
Clinton sich um eine Reaktion des Bündnisses bemüht –
"ich verurteile aufs schärfste das Massaker an Zivilisten,
verübt durch serbische Einheiten" – und auch in Europa
weiß man die Toten augenblicklich politisch richtig einzuordnen:
"Bundesaußenminister
Joschka Fischer und sein britischer Kollege Robin Cook verurteilten die
mutmaßliche Hinrichtung der Kosovo-Albaner. (...) Louise Harbour,
Hauptanklägerin des Kriegsverbrecher-Tribunals in Den Haag, wollte
am heutigen Montag nach Kosovo reisen. Bisher hat Belgrad den
Mitarbeitern des UN-Tribunals jedoch die Einreise verweigert. (...)
William Walker, Chef der OSZE-Mission in Kosovo, zeigte sich nach einem
Besuch am Samstag in Račak schockiert. (...) 'Nach dem, was ich
gesehen habe, zögere ich nicht, von einem Massaker zu
sprechen', sagte der US-Diplomat. Walker machte die serbische
Sonderpolizei für die Hinrichtungen verantwortlich." (FR, 18.1.)
Insoweit ist unter dem Gesichtspunkt einer an sich fälligen
Bestrafung Jugoslawiens alles klar. Aber eben nur unter diesem
Gesichtspunkt, nicht auch unter dem einer konstruktiven
Ordnungspolitik, mit der sich die vor Ort befindlichen Parteien wirksam
und nachhaltig für das eigene Aufsichtsinteresse funktionalisieren
ließen. So eindeutig entschieden der moralische
Rechtfertigungsgrund für ein gewaltsames Vorgehen gegen Serbiens
auch sein mag – nicht entschieden ist mit ihm nach wie vor die
Frage nach der politischen Zweckmäßigkeit einer
Bombardierung, und das verstehen die Mächte der NATO als einen
unmittelbar an sie gerichteten Auftrag, endlich in ihrer
Entscheidungsfindung positiv voranzukommen. Daß sie dies
müssen, dessen sind sie sich sicher, und einer, der genau erkannt
hat, wer oder was bei dem Massaker von den Serben eigentlich
massakriert wurde, reicht wegen der verletzten Ehre der NATO gleich
sein Plädoyer ein, wonach nun endlich gehandelt werden müsse:
Ex-Verteidigungsminister Rühe "verlangte im Deutschlandfunk,
die NATO müsse militärisch intervenieren, wenn sie nicht ihr
Gesicht verlieren wolle." (FR, 19.1.99) Andere wollen sich
hinsichtlich dessen, wie und wozu sie sich entscheiden, noch nicht so
dezidiert festlegen. Sie machen vorläufig Milošević nur ein
weiteres Mal "den Ernst der Lage klar"; sie erinnern ihn "an den weiterhin bestehenden 'Aktivierungsbefehl'" (FR,
20.1.99), und der deutsche Außenminister
höchstpersönlich läßt ihm eine "letzte
Warnung" zukommen. Zusammen mit dem amtierenden Kriegsminister
deutet er dann an, daß man noch auf der Suche nach einem
geeigneten Modus der Erpressung ist, der eine Befriedigung des eigenen
politischen Interesses verspricht:
"Bonn setzt noch nicht aufs
Militär. Man favorisiert 'starken Druck auf Belgrad'.
In diesem Sinne interpretiert der deutsche Außenminister auch die
Entsendung der beiden höchsten NATO-Generäle nach Belgrad." (ebd.)
Und dann gelingt es einem Kommentator tatsächlich, einerseits
alles durcheinander zu werfen, andererseits aber in seiner Vorstellung,
wie denn der politisch nützlich "starke Druck" des
Westens aussehen könnte, doch den Nagel genau auf den Kopf zu
treffen:
"Der Westen muß (...)
wieder handlungsfähig werden. Die Lehre aus der derzeitigen
Zwangslage lautet: Militärische Pläne ohne politische
Konzepte sind wertlos. Nur wenn die Albaner die Garantie bekommen,
daß ihre Autonomie geschützt wird, könnte der Westen
wieder Einfluß auf sie gewinnen. Dazu muß er bereit sein zu
einem längerfristigen Engagement im Kosovo, auch mit Bodentruppen
wie in Bosnien nach dem Frieden von Dayton. Und nur dann kann er den
Serben wieder glaubwürdig drohen – um das nächste
Massaker zu verhindern." (SZ, 19.1.99)
Nur weil sie nicht zu westlicher Zufriedenheit verläuft, erscheint
ihm die über das Kosovo verhängte NATO-Aufsicht gleich als
Verlust aller "Handlungsfähigkeit"; nur weil die NATO
vor Ort kein für sie bedingungslos verwertbares Interesse
vorfindet, sieht er bloß noch militärische Pläne. Das "politische Konzept", das der Westen braucht, hat er
dafür in seinem schlauen Kopf und verrät es sogar: Der Westen
solle doch einfach in Serbien einmarschieren, das Kosovo abtrennen und
besetzen – das wäre doch mal eine politische Idee! Und
moralisch sowieso einwandfrei, denn damit könne man den Albanern
eine Autonomie "schützen" – die die gar nicht
wollen – und hätte so wieder "Einfluß" auf
sie. Zugleich kann man den Serben – die man beim Einmarsch gerade
ein bißchen dezimiert – dann auch "wieder
glaubwürdig drohen", was immer eine feine Sache ist, weil
denen das Massakrieren ihrer Bevölkerung bekanntlich im Blut
liegt...
Doch auf seine Weise erfaßt der Mann mit der von ihm zum Zwecke
der Verhinderung eines Massakers vorgeschlagenen Orgie von Gewalt schon
auch den Kern der Sache: Anders als durch noch mehr Zwang und Gewalt
von seiner Seite läßt sich eine "Zwangslage", in
der der Westen steckt, einfach nicht lösen. Wenn die vor Ort
etablierten politischen Interessen sich denen nicht fügen, die er
an der Region geltend macht, werden sie eben solange mit angedrohter
oder wirklicher Anwendung von Gewalt erpreßt, bis sie sich
fügen, und ein in dieser Hinsicht erfolgversprechendes Projekt
wäre so ein freiheitlich-westliches Protektorat in der
jugoslawischen Südprovinz, auf das bürgerliche Kommentatoren
verfallen, ja in jedem Fall.
*
So bringen die maßgeblichen Staaten, die sich in der NATO
zusammengefunden haben, ihr Aufsichtsregime über den Balkan voran.
Allerdings tun sie dies gleich auf mehreren Ebenen: In ihrer dreifachen
Eigenschaft als Mitglieder dieses Militärbündnisses, einer
Balkan-Kontaktgruppe und eines Subjekts namens Europa nehmen sie ihre
selbstgewählte Verpflichtung wahr, die jugoslawische Restmacht
endlich in einer sie politisch befriedigenden Weise zu erledigen. Zu
welcher Form der Nutzbarmachung ihrer überlegenen Gewalt, wie sie
sie in ihrer NATO besitzen, sie sich entschließen, hängt
dabei ganz davon ab, in welcher dieser Eigenschaften sie ihr eigenes
politisches Interesse an einer Neuordnung des Balkan wahrnehmen wollen,
und da zeichnet sich Mitte Januar eines ab: Im Rahmen der Stiftung
einer "Glaubwürdigkeit europäischer Sicherheitspolitik" wird
demnächst von Europa aus einiges an ganz originellen
"Friedenslösungen" anfallen. Mit Sicherheit werden die dann der
– hierbei ja absichtsvoll ausgeklammerten –
Führungsmacht der NATO heftig zu denken geben, so daß sich
letztlich als Frieden im Kosovo wieder exakt das einfinden wird, worauf
sich die Friedensstifter in der neu eröffneten Runde ihrer
Konkurrenz gegeneinander einigen und wozu sie im Interesse ihrer
Gesamt-Glaubwürdigkeit die Serben vor Ort hinbombardieren.
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