Kosovo – Chronik einer gelungenen Abschreckung
I. Zur Logik von Aufsichtsmächten
Einem aufmerksamen Zeitgenossen, der den Zerfall Jugoslawiens und die
Begründungen verfolgt hat, die seine einzelnen Etappen
begleiteten, und der womöglich auch noch über ein gewisses
dialektisches Grundverständnis verfügt, mag sich die ganze
Angelegenheit vielleicht so darstellen:
– Titos Jugoslawien mußte einfach "zerfallen",
weil der kommunistische "Vielvölkerstaat" ein einziges
Unrecht gegen die vielen Völker war und deren angeborenen
Freiheitsdrang dann doch nicht auf Dauer unterdrücken konnte. Die
wahre völkische Natur der entrechteten Slowenen, Kroaten und
Bosnier wußte sich in mehreren, unterschiedlich ausgiebigen
Staatsgründungskriegen – zuerst gegen die Belgrader
Zentralmacht, dann hauptsächlich gegen den gleichfalls zur
Serben-Heimat umdefinierten Überrest des einstigen Jugo-Staates
sowie die dorthin strebenden serbischen Volksteile, in jedem Fall um
einen möglichst großen territorialen und völkischen
Besitzstand – ihr Recht zu verschaffen. Das wäre
gewissermaßen die These.
– Die Antithese dazu wäre dann Bosnien. Dieses dritte
Abspaltungsprodukt durfte und darf nicht "zerfallen"
– genausowenig wie das neugeschaffene Kroatien in eine serbische
Krajina und einen rein kroatischen Rest –, weil die auf dem
Territorium der einstigen innerjugoslawischen Teilrepublik errichtete "multi-ethnische" Staatskonstruktion ein schlechterdings
nicht zurückweisbares Angebot an und ein sittlicher Imperativ
für die ethnisch sortierten, getrennt zusammengebündelten und
erst dann wieder zur Durchmischung aufgeforderten Serben, Kroaten und
Bosnier ist. Die demokratische Staatsbürgernatur verträgt
nämlich keinen "übertriebenen" Nationalismus: Das
ist die Lehre aus dem Scheitern aller Bemühungen jeder der drei "Volksgruppen", sich der beiden anderen zu bemächtigen
oder zu entledigen, um den jeweils eigenen Staatswillen bis zum
bitteren Ende zu verwirklichen.
– Was das Kosovo schließlich betrifft: Der kann nicht
– wie bisher – als integrierter "Mehrvölker"-Bestandteil bei Serbien bleiben. Er darf
aber auch nicht davon "abfallen" und zu einem weiteren
souveränen Kleinstaat werden, geschweige denn das existierende
albanische Staatsgebilde vergrößern. Für die albanische "Ethnie" im Kosovo ist das Zusammenleben im Belgrader
Staatswesen einerseits ein grausames Unrecht, das freiheitsliebende
Albaner sich wirklich nicht gefallen lassen können. Andererseits
müssen aber auch diese Helden der völkischen Freiheit
einsehen, daß sie sich ihre Freiheit nicht einfach so nehmen
dürfen. Anscheinend handelt es sich hier um so eine Art Synthese
der völker- und menschenrechtlichen Neugestaltung des ehemaligen
Tito-Staates...
Doch die schönste logische Ordnung ist verkehrt, wenn sie dem Gang
der Ereignisse bloß entnimmt, daß "es" nicht
ohne Grund immer so gekommen ist, wie "es" kam. Besser ist
es da, man kümmert sich um die Logik der Subjekte, die für
den Lauf der Geschichte verantwortlich sind. Dann weiß man auch
die Widersprüche einzuordnen, die zwischen ihren Werken bestehen.
*
Was die ursprünglichen Aktivisten des jugoslawischen
Zerfallsprozesses betrifft, so waren das mit Sicherheit keine
Dialektiker – ebensowenig wie ihre aus kommunistischer
Unterdrückung aufgescheuchte Gefolgschaft. Die Südslawen
haben in ihrer Mehrzahl erst einmal gar nicht gemerkt, daß ihnen
ihre völkische Freiheit abging. Daß auch für sie nichts
lebenswichtiger ist als die tiefe Bestimmung, Serbe, Kroate oder
Bosnier zu sein: das mußte den meisten erst durch ein paar
blutige Schlächtereien, die sich an diesem Kriterium orientierten,
wieder so richtig beigebracht werden. Urheber dieses
Volksbildungsprogrammes waren und sind Politiker, die sich dazu berufen
fühlen, aus dem Ende des Tito-Sozialismus den Beginn einer
Karriere als Volksführer und Staatsgründer zu machen. Und die
haben nie zwischen legitimem völkischen Freiheitsdrang und
übertriebenem Nationalismus unterschieden, sondern von Anfang an
konsequent, alternativlos und völlig undialektisch nur zwei Werte
im Kopf gehabt: Ihr Recht auf staatliche Macht – und das Unrecht
derer, die sie daran hindern, machtvolle völkische Staaten zu
schaffen. Dafür haben sie ihre Völker aufgehetzt; die
Völker haben getan, was Völkern zukommt, nämlich sich
gegeneinander aufhetzen lassen. Die nötigen Waffen, um aus der
Hetze einen Kampf um staatliche Besitzstände zu machen, haben sich
gefunden.
Und prompt sind die völkischen Kriegsherren auf das denkbar größte Interesse gestoßen.
*
Denn wenn politische Gewaltaktionen in Gang kommen, sogar Kriege in
Aussicht stehen, die die politische Landkarte verändern, dann
sehen gewisse Mächte sich sofort herausgefordert, Nutzen und
Schaden zu kalkulieren und ihre Mittel darauf zu verwenden, daß
das "Geschehen" in die richtigen Bahnen kommt. Um welche
Mächte es sich dabei im Fall Jugoslawiens handelt, ist bekannt.
Sie haben sich in diversen Kollektiven zusammengetan und sich zum
gemeinschaftlichen Oberaufseher und Oberschiedsrichter über die
Kriegsparteien und deren Ziele, Erfolge und Niederlagen ernannt.
Deutsche und Amerikaner, dann auch die anderen EU-Mächte, die in
diesem Sinne an der politischen Gewalt und deren Verschiebungen in
aller Welt – und in Europa schon gleich – höchst
interessiert und beteiligt sind, haben als erstes über die
zersetzenden Machenschaften der Erben des Tito-Staates den heiligen
Grundsatz des "Selbstbestimmungsrechtes der Völker"
ausgerufen, also den diversen südslawischen Separatismen und
Sub-Nationalismen ihren allerhöchsten Segen erteilt. Damit war der
Anspruch klargestellt, daß es keineswegs Sache der Völker
selbst ist, über dieses Recht zu verfügen und seine
Reichweite zu definieren, sondern die der selbsternannten
Aufsichtsmächte. Und die praktischen Klarstellungen folgten dann
nach: Sie waren es, die dem kriegerischen Staatsgründungswillen
der post-jugoslawischen Potentaten und Volksführer seine Rechte
zugewiesen und seine Schranken diktiert haben. Damit haben sie –
fallweise und je nach ihrem Interesse – die Grenzen gezogen
zwischen einem nur allzu "gerechtfertigten" völkischen
Freiheitsdrang auf der einen und einem nicht zu billigenden, irgendwie "extremen" Nationalismus auf der anderen Seite. Auf diese
Weise sind die Produkte zustandegekommen, die sich aktuell um
Rest-Jugoslawien gruppieren.
*
Diesem Gemeinschaftswerk der Aufsichtsmächte ist natürlich
anzumerken, daß bei ihm politische Konkurrenten zusammenwirken.
In wechselnden Konstellationen fördern und durchkreuzen sie die
Vermittlungen, Drohungen und reglementierenden Eingriffe, die eine oder
mehrere der sechs Nationen in die Wege leiten, wenn sie nach "Lösungen für den Balkan" suchen. Dabei geht es
fünf NATO-Partnern gemeinsam darum, den eigentlich bloß
störenden, aber nicht zu ignorierenden Sechsten, Jelzins
Rußland, formell in die Regelungsfragen einzubeziehen, um ihn
praktisch aus den Entscheidungen über Kriege und
anschließende Friedensordnungen auszugrenzen; darüber, wie
die Ausgrenzung zu vollziehen sei, können die Verbündeten
dann wieder streiten. Denn auch da, wo der Konsens absolut unstrittig
ist, machen die USA einen gewissen Führungsanspruch geltend, den
sie aus der in jeder Hinsicht unbezweifelbaren Überlegenheit ihrer
Macht im Bündnis ableiten. Als bloße Vasallen ihrer Vormacht
begreifen sich die europäischen Staaten jedoch keineswegs. Sie
bestehen schon auch auf dem Recht, das Partnern zusteht, und fordern
ihrerseits von ihrer Vormacht mehr Einsatzbereitschaft für die
Projekte, die sie definieren. Was letzteres betrifft, haben sie dabei
auch noch ihre Konkurrenz um innereuropäische Hegemonie bzw. um
ihre Position in der Hierarchie der EU-Mächte auszutragen. Das
alles macht die Balkan-Politik der "Kontaktgruppe" dann
schon ein wenig kompliziert. Doch gerade mit allen Winkelzügen
ihrer Konkurrenz bringen die Beteiligten den Eingriffswillen voran,
über den sie allesamt verfügen. Kompromißlos gegen
Widerstände vor Ort vorzugehen und die erforderlichen
Erpressungsmittel einzusetzen, sind sich die Partner der "Kontaktgruppe" wegen der imperialistischen Kompetenz, die
sie sich herausnehmen, einfach schuldig.
Im folgenden die Ereignisse auf den verschiedenen "Ebenen",
in denen das westliche Aufsichtsrecht über den Balkan im Kosovo
seinen Fortschritt genommen hat.
II. Ein Beschluß der NATO und seine "politischen, rechtlichen und militärischen Konsequenzen"
1. Die westlichen
Militärmächte erklären sich ihrem Feind. Milošević wird
davon in Kenntnis gesetzt, daß das von ihnen wahrgenommene
politische Ordnungsrecht auf dem Balkan nicht nur über Mittel
verfügt, es gewaltsam durchzusetzen. Die Mächte der NATO sind
auch entschlossen, sich über einen ihrem Interesse
entgegenstehenden Willen hinwegzusetzen, und gewillt, den dafür
erforderlichen militärischen Einsatz zu leisten. Das verstehen sie
als konstruktive Kritik ihres Fehlers, dem in Belgrad ansässigen
Staatswillen nicht schon zu Beginn ihres Eingreifens auf dem Balkan
allen Respekt aufgekündigt zu haben.
Ende Mai fassen die Außenminister des NATO-Rates einen
Beschluß, der den Stand der Einmischung in den Kosovo-Konflikt
dokumentiert und das weitere Vorgehen ankündigt. [1]
"Die NATO zeigt sich entschlossen, Belgrad durch eine sichtbare
Verstärkung ihrer militärischen Aktivitäten in der
Region zu einer friedlichen Regelung des Konflikts zu bewegen und
gleichzeitig für Sicherheit und Stabilität in den
Nachbarstaaten (allen voran Mazedonien und Albanien) zu sorgen. Die von
den Kosovo-Albanern geforderte Unabhängigkeit oder gar den
Anschluß an Albanien lehnen die Minister ab; aus Sicht der NATO
kann eine politische Lösung des Konflikts, sprich die Verleihung
größtmöglicher Autonomie unter Wahrung demokratischer
Rechte für die Provinz, nur im Rahmen des vor kurzem auf
amerikanische Vermittlung hin eingeleiteten Dialogs zwischen dem
Führer der Kosovo-Albaner, Rugova, und dem jugoslawischen
Präsidenten Milošević erzielt werden. Letztere wurden erneut dazu
aufgerufen, der Vermittlermission des früheren spanischen
Ministerpräsidenten González sowie der Langzeitmission der
OSZE im Kosovo endlich zuzustimmen... schließt die NATO nicht
mehr aus, bei einer Eskalation der Lage in Kosovo und einem daraus
resultierenden möglichen Übergreifen des Konflikts auf
Nachbarstaaten direkt militärisch einzugreifen – eine in
dieser Deutlichkeit bisher noch nie geäußerte Option. Der
Militärausschuß der Allianz wurde damit beauftragt, die
entsprechenden politischen, rechtlichen und militärischen
Konsequenzen zu studieren. Der NATO-Generalsekretär Solana
anwortete auf die Frage über Umfang und Zielsetzung einer
derartigen Intervention, es werde keine Möglichkeit
ausgeschlossen. Auf die Bedingungen für eine solche Intervention
angesprochen, meinte er, eine Wiederholung der Situation von 1991/92
auf dem Balkan werde man nicht dulden." (NZZ 29.5.98)
An diesem Beschluß ist bemerkenswert:
a) Der Zwang zur "friedlichen Regelung"
Im Konflikt zwischen staatlichen und völkisch-separatistischen
Interessen, den die NATO auf jugoslawischem Boden vorfindet und auf den
sie sich auch hier bezieht, erteilt sie gewohnheitsmäßig den
völkischen den Zuschlag. Auf diese Gewohnheit stützt sich
eine neue "Ethnie" im Kosovo und fühlt sich
mächtig genug, der Staatsgewalt, der sie zugehört, den
zivilen Gehorsam aufzukündigen und sie in erste militärische
Auseinandersetzungen zu verwickeln. Den Fortgang dieser Schädigung
Jugoslawiens will die NATO gewährleistet sehen. Es geht darum,
"Belgrad zu einer friedlichen Regelung zu bewegen", also
darum, daß Jugoslawien den separatistischen Interessen der
Kosovo-Albaner auch von sich aus ein Recht zuspricht und dies in einer
rechtsförmig fixierten Form verbrieft: Dem, was die Separatisten
wollen, hat es in Form der "Verleihung
größtmöglicher Autonomie" praktisch nachzukommen.
Der serbische Souveränitätsanspruch über das Kosovo soll
gebrochen werden, einen bedingten Respekt der Aufsichtsmächte kann
sich der serbische Machthaber erhalten, indem er Macht abgibt und das
Kosovo aus dem Verfügungsbereich seiner Hoheit ausklammert. Diesen
Anspruch kann sich die NATO erlauben aufgrund des schlagenden Arguments
der überlegenen Gewalt, das ja nicht zum ersten Mal ihren
umfassenden Zuständigkeitsanspruch und ihre Einmischung in die
"inneren Angelegenheiten" Jugoslawiens begründet und
substantiell untermauert. An die Stelle des völkerrechtlich immer
noch gültigen "Nichteinmischungsrechts" setzt sie ihr
Recht, die Region ihrer "internationalen Aufsicht" zu
unterstellen. Sie kündigt eine "sichtbare Verstärkung
ihrer militärischen Aktivitäten" an, damit man auch in
Belgrad merkt, daß sie zur Durchsetzung ihres Rechts
nötigenfalls auch "direkt militärisch eingreifen"
will.
Der Zwang zur "friedlichen Regelung" gilt aber auch
für die Kosovo-Albaner. Der ihnen konzedierte Rechtsstandpunkt,
der Jugoslawien ein wenig zersetzt, ist das eine; die Pflicht, vom
gewährten Recht allenfalls dosiert Gebrauch zu machen, das andere.
Die Freiheit, in die man diesen Staatsgründungswillen
entläßt, ist diesmal nämlich keinesfalls unteilbar:
"Die von den Kosovo-Albanern geforderte Unabhängigkeit oder
gar den Anschluß an Albanien lehnen die Minister ab". Da
für die Region lauter beschränkte, von den
Aufsichtsmächten abhängige Souveräne vorgesehen sind,
ist eine eigenmächtige Machterweiterung Albaniens auf Kosten
Jugoslawiens nicht vorgesehen. Über die Zukunft des Kosovo sollen
sich die nominierten Führer, Milošević und Rugova,
gemeinsam
einigen. Die Methode, miteinander unversöhnliche Positionen zu
versöhnen, nennt die NATO "Dialog", den Zwang, der
allein sein Stattfinden sichert, "amerikanische
Vermittlung". Das ist ihr Angebot. Sie will den
Verhandlungsparteien nichts diktieren, ihnen aber auch nicht die
Regelung ihrer gegensätzlichen Ansprüche überlassen
– nur eine "Lösung", unter der ihre Unterschrift
steht, ist eine "Konfliktlösung" in ihrem Sinn. Schon
jetzt geistern Vorschläge wie "Dayton" oder "Protektorat" herum,
aber die NATO legt sich auf nichts
fest. Imperialistische Kompetenz beweist sich nicht in der Erarbeitung
von "Modellen", sondern im wohldosierten Gebrauch einer
höheren Gewalt, die zwischen Parteien, die einander
unversöhnlich gegenüberstehen, einen "Dialog" in
Gang zu bringen vermag. So verewigt man einen unhaltbaren Zustand, den
man selbst mit hervorgerufen hat.
b) Die "Eskalation der Lage in Kosovo"
Dazu gehört, "gleichzeitig" die "Sicherheit und
Stabilität in den Nachbarstaaten" zu gewährleisten,
denn diese sind bedroht von einem "möglichen
Übergreifen des Konflikts". Die NATO befaßt sich
weitsichtig und vorsorgend mit einer möglichen "Instabilität", deren Möglichkeit sie mit ihrer
‚Balkan-Ordnung‘ für alle Staaten der Region
überhaupt erst geschaffen hat. Die um das Kosovo gruppierten
Staaten haben für die NATO eine nicht unwichtige Funktion: Sie
sind Einkreisungsstaaten, die als solche Hilfsdienste für die
Beschränkung und Isolierung Jugoslawiens verrichten, sich an der
Überwachung des Sanktionsregimes – samt des darüber
entstandenen Schmuggels – beteiligen und sich als Hinterland und
Aufmarschgebiet der NATO zur Verfügung stellen sollen. Die beiden
Staaten, die die NATO erwähnt – Mazedonien und Albanien
– sind zugleich von dem "ethnischen Konflikt"
unmittelbar materiell betroffen, den die NATO unbedingt auf das Kosovo
beschränkt haben will, und zwar in ganz unterschiedlicher Weise.
Ein Staat wie Mazedonien wäre ohne die strategischen Kalkulationen
der NATO gar nicht zustandegekommen: Er hat eine Nordgrenze zum Kosovo
und bildet einen Puffer zu Griechenland, dafür wird er
gefördert, auf diese Funktion wird er festgelegt. Zugleich hat
dieser Staat jedoch auch einen ansehnlichen Bevölkerungsanteil
albanischer Herkunft, der der völkischen Sache, die sich im Kosovo
gerade Recht zu verschaffen sucht, einiges abgewinnt und notorisch
für "Unruhen" sorgt. Demselben Nationalismus, dem die
NATO im Kosovo im Grundsatz Recht gibt, entzieht sie außerhalb
dieser Region seine Berechtigung – und delegiert an Mazedonien
die Verantwortung, die aufsässigen Albaner auf eigenem
Staatsgebiet erfolgreich niederzuhalten. Dafür wird diesem Staat
Unterstützung zugesichert, und die Rollenzuweisung durch die NATO
festigt ein wenig den dortigen Staatsbestand. Albanien dagegen, das
Mutterland aller ringsum verstreuten Skipetaren, muß sich sagen
lassen, daß es weder die Albaner im Kosovo noch die "unruhige Minderheit" in Mazedonien als Teil seines
Staatsvolkes anzusehen hat. Da es andererseits als Rückzugsgebiet
und Nachschublager der "Befreiungsarmee UÇK" besonderen
Schutz verdient, [2] hierfür auch diplomatisch und materiell
unterstützt wird, bekommt die Feindschaft zwischen Regierung und
Opposition, die sich bislang auf einen landesinternen
Nord-Süd-Gegensatz und das Clan-Wesen verlegte, zum ersten Mal so
etwas wie einen politischen Inhalt: Die Opposition kann unter Verweis
auf den vorbildlichen Kampf der UÇK der Regierung den Verrat nationaler
Interessen vorwerfen, weil diese es an tätigem Engagement für
die gerechte Sache des albanischen Volkes außerhalb der
Landesgrenzen missen läßt – die Rollenzuweisung durch
die NATO läßt sich eben auch als falsche Demut und
Käuflichkeit der Regierung interpretieren. Mitte September
gerät das Land darüber in einen halben Bürgerkrieg, der
ein Eingreifen der Aufsichtsmächte notwendig macht und mit einer
Auswechslung des Staatschefs – vorläufig – beendet
wird.
c) ""Langzeit-" und andere "Vermittlermissionen"
Zusätzlich zur "amerikanischen Vermittlung" wird Milošević "erneut dazu aufgerufen, der Vermittlermission des
früheren spanischen Ministerpräsidenten González und
der Langzeitmission der OSZE im Kosovo endlich zuzustimmen". Das
gehört mit zu den "Lehren", die die NATO aus Bosnien
für den Umgang mit Milošević gezogen hat: Sie nimmt sich vor,
geschlossen aufzutreten. An der amerikanischen Antriebs- und
Führungskraft kann es keinen Zweifel geben. Eben deswegen will
sich diesmal die EU weder intern verzetteln noch einen Moment lang an
den künftigen "Entwicklungen" unbeteiligt sein –
also amerikanische Entscheidungen als "Alleingänge"
verbuchen und ihnen dann doch wieder den Gemeinschaftssegen erteilen
müssen. Mit der OSZE – bekanntlich eine europäische
Organisation unter Miteinschluß von USA und Rußland –
will sie von Anfang an dabei sein. Wieviel europäisches Engagement
die USA gebrauchen können oder wann es ihnen zuwenig ist, wird
sich zeigen. Die Konkurrenz im Bündnis ist damit nicht storniert,
aber im Vergleich zum Fall Bosnien, wo am Schluß amerikanische
Eigenmacht entschied, insofern klarer strukturiert, als es nun
ausschließlich um zweckdienliche und die eigene Bedeutung
herausstreichende Beiträge zu den beiden
Gemeinschaftsveranstaltungen "Druck auf Milošević" und "friedliche Regelung" geht.
d) "Direkter militärischer Eingriff"
Für eine wirksame Drohung gegenüber dem Feind werden vom "Militärausschuß der Allianz" die
Voraussetzungen geschaffen – er ist damit "beauftragt, die
entsprechenden politischen, rechtlichen und militärischen
Konsequenzen zu studieren". Die NATO stellt klar, daß sie
mit ihrer hoheitlichen Ordnungsbefugnis über den Konflikt im
Kosovo nicht nur eine Machtfrage aufwirft, sondern sie auch praktisch
zu entscheiden gewillt ist. Falls man sich in Belgrad der Zumutung
widersetzt, sich in einer die eigenen Souveränitätsbelange
elementar betreffenden Angelegenheit für einen weltpolitischen
Aufsichtsfall zu erklären, schlägt die NATO militärisch
zu. Und zwar so umfassend und gründlich, wie sie es für
erforderlich hält – "es werde keine Möglichkeit
ausgeschlossen". Freilich ist der Militärschlag – wie
immer – nur die ultima ratio der Politik. Die Schäden, die
dem Machthaber in Belgrad angedroht werden, kann er durchaus noch
vermeiden. Er muß nur einsehen, daß er keineswegs mehr der
Herr seines ganzen Staatsgebietes ist; er muß nur akzeptieren,
daß andere für die Hoheitsfragen im Kosovo zuständig
sind. Das Programm der NATO umfaßt so zweierlei: Das Angebot,
sich ihrer politischen Aufsicht freiwillig zu unterstellen, und die
Vorbereitung darauf, die Aufsicht bei Bedarf gewaltsam zu erzwingen.
2. Während die NATO ihren
Gewaltapparat für den erforderlichen Einsatz herrichtet, sorgt sie
vor Ort dafür, daß die Konfliktparteien merken, daß
sie gar nicht die wirklichen Herren ihres Konflikts sind. Da das
ausgerechnet Parteien schwer zu vermitteln ist, die gerade um das
Grundrecht einer jeweils eigenen Staatlichkeit Krieg führen, geht
die politische Einmischung nahtlos in Kriegsdiplomatie über, mit
einem eindeutigen Adressaten. Parallel zum Fortgang der
Kriegsereignisse im Kosovo konkretisieren die NATO-Mächte in
vielen "Vermittlungen", wie sie sich dort die "Beilegung des Konflikts" wünschen. Und halten
für den Mann in Belgrad gleichfalls immer konkreter werdende
Aussichten parat, wie sie bei weiterer Unnachgiebigkeit mit ihm
umzugehen gedenken.
a) Das Verlangen nach "Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien"
Nicht ganz einen Monat später, am 25.6., kritisiert die NATO die
Kosovo-Albaner und fordert ihren Führer Rugova zum "Gewaltverzicht" auf. Die Kosovo-Albaner sind zwar
auftragsgemäß verhandlungsbereit, gehen zu den Verhandlungen
aber nicht hin. Milošević findet sich zu den Verhandlungen mit Rugova
– soeben zurückgekommen von einem Staatsbesuch in Washington
und in Priština als frischgebackener Staatsmann begeistert gefeiert
– bereit, obwohl er damit eine erste Anerkennung seiner
eingeschränkten Souveränität dokumentiert. Für die
Kosovo-Albaner, von den großmächtigen Vermittlern mit dem
Ehrentitel "Unterdrückte" versehen, steht aber fest,
daß es für sie nichts zu verhandeln gibt. Unter Verweis auf
die mangelnde Verhandlungsbereitschaft Serbiens – die sie gar
nicht erst erkundet haben – sowie auf die unerträgliche
serbische Präsenz im Kosovo überhaupt bleiben sie dem
Verhandlungstisch fern. Ihr intransigentes Beharren auf ihrem
Rechtsanspruch übersetzen die NATO-Mächte in das an sie
gerichtete politische Gebot, den "Druck auf Milošević" zu
erhöhen. Das tut die NATO dann die nächsten Wochen und Monate
hindurch, damit der "Dialog" endlich stattfinden kann.
Während dessen bemühen sich die Kosovo-Albaner, ihre
Verhandlungsposition aktiv und in materieller Hinsicht zu verbessern,
nämlich mit militärischen Erfolgen gegen die Zentralgewalt.
Ein explizites Gewaltverbot hat man ihnen gegenüber ja nicht
erlassen. "Terroristen" sind sie eben bloß für
Serbien, und mit ihrer Zurückweisung des serbischen Rechts auf "anti-terroristische" Polizeiaktionen haben die
NATO-Mächte hinlänglich ihr Wohlwollen gegenüber dem
Rechtsgrund ihres Befreiungskampfs zum Ausdruck gebracht. Die UÇK tritt
erstmals offen auf, gewährt Einblicke in ihren wachsenden
Ausbildungs- und Ausrüstungsstand und riskiert – in der
Kalkulation, auf einen gehemmten Feind zu treffen – den
Übergang von der "Nadelstich"-Taktik zu
Gebietseroberungen. Damit wie mit dem Mobilisierungs- und
Bewaffnungsaufruf an "das Volk der Kosovo-Albaner" macht
sie deutlich, worum es ihr geht: Gegen die Zentralgewalt will sie die
Unabhängigkeit des Kosovo mit Krieg erkämpfen, das ist ihre
Kalkulation mit der Macht der NATO, die sich ja – dem Prinzip
nach zumindest – hinter ihren Rechtstitel gestellt hat.
Damit stellt sie die serbische Seite vor eine schwierige Alternative:
Nachgeben oder Niedermachen? So ginge eine serbische Teilnahme am
Verhandlungswesen damit einher, im Krieg auf dem eigenen Hoheitsgebiet
nachzugeben. Damit würde Milošević zwar der westlichen Einmischung
den aktuellen Rechtsgrund entziehen, allerdings um den Preis, mit einem "Kriegsgeschehen niederer Intensität" eine stets
weitergedeihende Erosion der eigenen Souveränität
hinzunehmen. Zöge Serbien die Separatisten aber aus dem Verkehr
– daß es dies vermag, ist angesichts des militärischen
Kräfteverhältnisses vor Ort keine Frage – behauptete es
sich zwar in seiner Souveränität. Was diese dann allerdings
zählt und wert ist, ist angesichts der überlegenen
Militärgewalt, die sich für diesen Fall bereits auf ihren
Einsatz vorbereitet, keine Frage. So oder so hat also auch Serbien beim
Einsatz seiner Gewaltmittel mit der Macht der NATO zu kalkulieren, und
hat dabei weder so noch anders etwas zu gewinnen, weil weder die eine
noch die andere Kalkulation einen Rechtstitel begründet, auf den
man sich in Belgrad gegenüber den Aufsichtsmächten
erfolgreich berufen könnte: Jeder eigenmächtige Schritt, den
die Serben im Kosovo unternehmen, hat seine Wirkung im Urteil der
Aufsichtsmächte und ist hinsichtlich der Reaktionen zu
würdigen, die von diesen zu erwarten sind.
Und die Reaktion der NATO ist unzweideutig. Fast kein Tag vergeht, an
dem nicht der eine oder andere NATO-Staat die militärische Drohung
wiederholt und in ultimativer Form sofortige Nachgiebigkeit Serbiens
verlangt. Die Mitglieder des Militärbündnisses lassen keine
Zweifel an ihrer Entschlossenheit, Milošević mit Waffengewalt zur
Abkehr von seinem Rechtsstandpunkt zu zwingen, und sie geben ihm in
allen Einzelheiten der von ihnen bedachten "Optionen" den
Preis bekannt, den er im Falle seiner weiteren Unnachgiebigkeit zu
entrichten hat:
"Flugverbotszone im Kosovo für die serbische Luftwaffe,
gezielte Angriffe auf die serbische Luftverteidigung,
Stationierungsverbot für schwere Waffen, um eine Pufferzone
zwischen Serbien und dem Kosovo zu schaffen, Überwachung
Jugoslawiens aus der Luft, Luftwaffeneinsätze gegen ausgesuchte
Ziele im gesamten Staatsgebiet Jugoslawiens für den Fall,
daß Belgrad bestimmte Auflagen nicht erfüllt, Einsatz von
Bodentruppen als letzte Möglichkeit." (FAZ 12.6.98)
Die Auskunft, wozu die NATO-Mächte sich alles entschlossen haben,
um im Bedarfsfall den "beschränkten" Konflikt auf das
gesamte jugoslawische Staatsgebiet auszuweiten, stellt Milošević den
Schaden vor Augen, den er einerseits zu gewärtigen hat,
andererseits aber durchaus noch vermeiden kann – wenn er
beispielsweise den Schaden hinnimmt, den die UÇK ihm im Kosovo gerade
bereitet. Das ist die Diplomatie, die sie ihm als Ersatz für den
Krieg anbieten. Im Juni gibt sich Serbien von dieser Kriegsdiplomatie
der NATO beeindruckt. Die Kalkulation der UÇK, auf einen gehemmten
Feind zu treffen, geht auf, der "Befreiungsarmee" gelingen
spektakuläre militärische Erfolge. [3]
b) Die Anmahnung von "Gewaltverzicht"
Die Aufforderung der NATO, zu einer "friedlichen Regelung"
zu kommen, ist keine idealistische Phrase. Was den serbischen
Souverän betrifft, so mutet ihm das Programm die Anerkennung
seiner erklärten Feinde zu. "Internationale Aufsicht"
soll gewährleisten, daß sie zustandekommt und von Dauer ist;
und davon, daß allein Gewalt Milošević zur Zustimmung zu diesem
Programm veranlassen könnte, geht die NATO aus. Zugleich sieht man
sich in den Zentralen der Aufsichtsmächte dazu veranlaßt,
neben dem Machthaber in Belgrad, dem man das Recht bestreitet, seine
inneren Ordnungsangelegenheiten mit gewaltsamen Mitteln zu bereinigen,
auch die UÇK daran zu erinnern, daß dem Einsatz ihrer
Kriegsmittel Grenzen gezogen sind. Mit dem Erfolg der militanten
Separatisten wächst nämlich auch deren Überzeugung, im
Kampf um das heilige Recht auf Unabhängigkeit, dem ihr blutiger
Einsatz gilt, Zug um Zug Fortschritte zu machen. So sehr man in der
NATO die praktische Zersetzung der jugoslawischen Staatsmacht im Kosovo
einerseits befürwortet, so wenig will man andererseits damit
gleich den Rechtsstandpunkt sanktioniert und schrankenlos freigesetzt
haben, den sie durchfechten. An die UÇK ergeht daher die Mahnung, sie
solle sich vor "übertriebener Gewalt" hüten.
Damit sind nicht die serbischen Toten gemeint, sondern die politische
Perspektive, die die UÇK-Kämpfer ihnen entnehmen und an deren Ende
sie ein unabhängiger Kosovo anlacht. Dieses Glücksversprechen
für jeden anständigen Nationalisten stiftet eine entsprechend
große Aufbruchsstimmung in der Region: Es machen sich "Flügel" im "Lager der Kosovo-Albaner"
bemerkbar, die gleich den totalen Krieg wollen und die entscheidende
Konfrontation ankündigen, deswegen den "friedlichen
Kurs" des offiziellen Verhandlungspartners Rugova vehement
angreifen, von Verrat sprechen – eine Exilregierung erklärt
Rugova für "gescheitert" und ruft zur Bildung von "Selbstverteidigungszentren" auf – und
schließlich sogar der NATO die "Mahnung" zukommen
lassen, sie solle auf diese Figur nicht bauen. Die NATO sieht sich
damit konfrontiert, daß ihr Instrument doch tatsächlich
seine eigene Logik hat. Das wird dann auch noch in der Spaltung der
Kosovo-Albaner manifest. [4]
Dagegen besteht die NATO darauf, daß sie das einzige Subjekt ist,
das auf jugoslawischem Boden politische Rechte gewährt und daher
auch hinsichtlich ihrer Reichweite definiert: Die im Prinzip den
Kosovo-Separatisten erteilte Berechtigung versteht die NATO als Pflicht
zur Mäßigung. An Rugova ergeht demgemäß die
Aufforderung, sich seines Auftrags würdig zu erweisen und die "Kontrolle" über seinen Laden zu behalten bzw.
wiederherzustellen. Den Rückhalt, den er dafür "international" genießt, bekräftigt ein weiterer
Empfang, diesmal in Bonn und Brüssel. Der Besuch verläuft
allerdings nicht störungsfrei, weil Rugova keinen Zweifel an
seiner Überzeugung läßt: Selbstverständlich ist
auch er für Unabhängigkeit. Seine Paten machen ihm jedoch
klar, welche "Realpolitik" sie für seinen Sprengel
vorgesehen haben – was also auch sein Anliegen zu sein hat, will
er weiterhin von ihnen als "Führer" des Kosovo
angesprochen werden; widerwillig hält er sich im folgenden daran.
[5] Der amerikanische Unterhändler Holbrooke befaßt sich mit
der UÇK direkt, indem er sich mit zwei ihrer Repräsentanten "ungeplant und informell" von einem Fotografen
überraschen läßt: Damit wertet er die "Befreiungsarmee" einerseits auf und weist ihr den Status
einer anerkannten Kampfpartei zu, die endgültig aus den
Niederungen des "Terrorismus" herausgewachsen ist.
Andererseits will er sie im selben Zug damit auch ein- und den
Interessen der Aufsichtsmächte untergeordnet haben. Er betont: "Der Kosovo ist nicht Bosnien", und wiederholt die Formel
von der "territorialen Integrität Jugoslawiens"
– nicht um Milošević ins Recht zu setzen, sondern um die UÇK zu
bremsen. Er empfiehlt der UÇK "Gewaltverzicht" und rät
ihr dringend, sich "an den Gesprächen zu beteiligen".
Weil die NATO ausdrücklich zu verstehen gibt, daß sie sich
nicht als Vollzugsgewalt albanischer Staatsgründer begreift
– ein Vertreter des Pentagon greift eigens auf eine
Ausdrucksweise zurück, die noch dem letzten völkischen
Trottel dort verständlich macht, worum es geht und worum nicht:
"Sie müssen wissen, daß die Kavallerie nicht kommt.
Wir unterstützen die Unabhängigkeit Kosovos nicht"
–, registriert die Öffentlichkeit reihenweise
"widersprüchliche Signale". Sie hat sich ganz darauf
festgelegt, daß – weil es gegen das unbeugsame Serbien geht
– die Cruise Missiles schon kommen werden. Und da hört sie
plötzlich, daß man sich in Kreisen der NATO eine
militärische Verwicklung in den Konflikt kaum vorstellen
könne, wegen "Unübersichtlichkeit", "unklarem Kampfauftrag",
"Gefährdung der
Bodentruppen" usw. Auch ein "Protektorat" würde "immensen Aufwand"
erfordern, wovor man "zurückscheut". Dabei überhören die
Kommentatoren der Öffentlichkeit erstens, daß diese
zurückhaltenden Töne nur das Mißverständnis
betreffen, die NATO würde gegen Serbien für einen
unabhängigen Kosovo in den Krieg ziehen. Und sie übersehen
zweitens den jetzt schon erreichten Stand im Ordnungsfall Kosovo. Die
"Friedenslösung", die die NATO vorsieht, ist identisch
mit dem Regime, zu dem sie sich zur Wahrnehmung ihrer politischen
Hoheit über diese Region entschließt. Die NATO-Mächte
planen bereits, wie sie diese Region in Jugoslawien unter ihre
Kontrolle bringen. Sie kalkulieren schon den Aufwand und erwägen
die Schwierigkeiten, die die Inthronisation eines eigenen Statthalters
vor Ort ihnen bescheren würde. Deswegen kommen in in ihren
diesbezüglichen Kalkulationen weder die Rechte vor, die
Milošević
bei der Wahrnehmung der serbischen Hoheit über das Kosovo
beansprucht, noch diejenigen, die die Albaner gerade für ihre
staatliche Unabhängigkeit durchfechten: Ein Protektorat findet die
NATO gegenwärtig zu aufwendig – nur deswegen streicht sie es
aus der Liste ihrer realistischen "Optionen".
c) Die Gewaltdrohung der NATO konkretisiert sich
Wie weit Serben und Kosovo-Albaner in Sachen "Gewaltverzicht", also in ihrer Bereitschaft, sich
auswärtiger Aufsicht zu unterstellen, sind, erkunden die
Aufsichtsmächte in Priština und in Belgrad. In ihren
Hauptstädten und schließlich im NATO-Hauptquartier in
Brüssel einigen sie sich zeitgleich auf das von ihnen für
erforderlich gehaltene Maß ihres Einsatzes von Gewalt:
Die USA auf der einen Seite, die EU in wechselnden Konstellationen auf
der anderen führen "Vermittlungsmissionen" durch.
Koordiniert, miteinander abgesprochen sind diese nicht, eher stehen sie
in Konkurrenz zueinander. Daß der US-Diplomat Holbrooke stets auf
die entgegenkommenderen "Gesprächspartner" trifft,
läßt die EU-Staaten nicht ruhen. [6] Der Politische Direktor
im deutschen Außenministerium, Ischinger, lädt Rugova ein,
noch bevor er nach Washington fährt, und begibt sich selbst nach
Priština; eine EU-Troika wird in Belgrad vorstellig; Kinkel und
sein
französischer Kollege Védrine bilden eine gemeinsame
"Mission", usw. Der Auftrag, auf den sich die "Vermittler"
verpflichten, ist eindeutig: Sie erkunden den
Willen der Maßgeblichen vor Ort, prüfen ihre
Entschlossenheit zu einer weiteren kämpferischen Durchsetzung
ihrer Rechtsstandpunkte – und machen ihnen dann klar, welchen
übergeordneten Maßgeblichkeiten ihre ganzen Berechnungen
unterworfen sind. Diese selbst sind – bei aller Konkurrenz der
"Vermittler" und ihrer "Lösungsvorschläge" –
unstrittig. Der "Verhandlungsprozeß", auf den die Emissäre
der
NATO-Mächte drängen, ist die Methode, mit der sie ihr
Kontrollregime etablieren, sie wollen sich der Kämpfe bedienen,
regelnd in sie eingreifen, um sich die widerstrebenden Interessen der
Kämpfenden unterzuordnen. [7] Welche Verhältnisse dieses
Kontrollregime dann eingerichtet haben will, welche Regelung des
staatlichen Zusammenlebens von Serbien und dem Kosovo unter ihrer
Aufsicht zustandekommen soll – dazu äußern sich die
Aufsichtsmächte nicht. Zwar haben die "Vermittler"
allerhand "Autonomiemodelle" oder gar Ideen, wie ein "Protektorat"
aufzubauen wäre, im Gepäck, auch
die eine oder andere Gefälligkeit wird in Aussicht gestellt
– der Präsident der OSZE, Geremek, bringt z.B. den Vorschlag
ins Spiel, Beitrittsverhandlungen mit Jugoslawien aufzunehmen, sofern
es für diese "vorsichtige Annäherung an Europa"
entsprechende Vorleistungen erbringt [8] –, aber um mehr
als Phantasien, Spielmaterial ihrer internen Konkurrenz und Nachweise
der eigenen Kompetenz und des Willens, keinen Schritt der "Neuordnung
des Balkans" zu verpassen, handelt es sich
dabei nicht.
Dabei vergißt man jedoch nicht, von dem Hauptargument Gebrauch zu
machen, mit dem man die Parteien zu Verhandlungsbereitschaft
erpreßt. Der Stand der eigenen Kriegsbereitschaft, der internen
Beschlußlage der NATO-Mächte, wird ebenso öffentlich
gemacht wie die neuesten Vorschläge oder auch nur Vorstellungen,
wie man sich die eigene Kriegsführung denken könne.
Während Rugova Bill Clinton besucht, erklärt der deutsche
Außenminister den Einsatz von NATO-Soldaten an der albanischen
Grenze für sinnvoll und möglich – "Dieser Einsatz
könnte z.B. als Übung oder ‚Ausbildungshilfe‘
für die überforderten albanischen Grenzschützer
definiert werden". Und während sich Ischinger in Priština
aufhält, will Tony Blair gleich 1000 Soldaten für einen
solchen Einsatz bereitstellen. In Deutschland stellt eine arbeitsteilig
zwischen dem Außenminister und dem Verteidigungsminister
geführte Diskussion klar, daß diese Nation von alten
Bedenken gegen ein militärisches Engagement auf diesem "traditionsbeladenen" Kriegsschauplatz gründlich
befreit ist. Daß der "Konflikt" den Einsatz von
Kriegsmitteln verlangt, und daß Deutschland dann
selbstverständlich mit zu den kriegführenden Parteien zu
gehören hat, ist hierzulande als politischer Konsens längst
unterstellt, wenn sich die Sachverständigen wechselseitig der
Unabdingbarkeit des militärischen Zuschlagens versichern: Kinkel
meint, Sanktionen gegen Jugoslawien seien doch wirkungslos, da "Milošević sowieso mit dem Rücken zur Wand steht",
plädiert also für eine tatkräftige Endlösung des
Falls. Sein Kollege Rühe assistiert ihm mit einer Kritik am
Scheinaktivismus der NATO:
"Die Außenminister hätten schon viel über
symbolische Maßnahmen gesprochen. Dabei sei jedoch wertvolle Zeit
vergangen für die Schaffung einer Option auf militärische
Eingriffe, kritisierte Rühe. Er bekräftigte, daß sich
die Bundeswehr an einem Einsatz beteiligen werde." (SZ 12.6.98)
Währenddessen kommt die Aufstellung der NATO voran. Ihr
Planverfahren für die Entwicklung von "Optionen" ist
mit der Aktivierung des Militärausschusses in Gang gesetzt worden.
Der Militärausschuß hält sich an das NATO-interne
Procedere, in dem der politische Wille der Partner und ihr
militärischer Beitrag für die jeweiligen "Optionen" erkundet und zusammengeführt werden. Bei 14
mit gleichen Rechten, aber unterschiedlichen Interessen und
Berechnungen ausgestatteten Nationen ist dies keine einfache Sache: [9]
Wenn zwischen zur Gewaltanwendung gleichermaßen berechtigten
Subjekten über den vergemeinschafteten Einsatz ihrer Gewalt
verhandelt wird und ein einstimmiges Ergebnis herauskommen soll, dann
haben der Militärausschuß und die bündnisinterne
Diplomatie viel zu tun. Das sorgt immer wieder für eine gewisse
öffentliche Verwirrung, weil die maßgeblichen Nationen, je
nachdem und sich widersprechend, entweder zur Eile drängen oder
zur Vorsicht mahnen; zwischendurch geschieht es sogar, daß "eine militärische Lösung in weite Ferne
rückt"; doch hat auch das nichts mit einer Spaltung des
Bündnisses zu tun, sondern allein mit der abweichenden Position,
mit der sich einer seiner Partner gerade aufbaut. [10] Dieser ganze
institutionalisierte Entscheidungsprozeß, der da seinen Gang
geht, etappenweise in Demarchen kommentiert wird, die
verschlüsselt, aber für jeden außenpolitischen Fachmann
leicht decodierbar Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit diesen oder
jenen Partnern ausdrücken, ihnen mehr oder minder dringliche
Änderungswünsche vorlegen usw., zeigt die Methode, in der das
Militärbündnis sich zu seinem Konsens durchkämpft.
Dieser Prozeß der Entscheidungsfindung, den Rühe Mitte Juni
mal wieder für zu schleppend hält, [11] ist einfach notwendig
bei 14 Nationen, die gleiche Rechte, aber eben auch eine
Führungsmacht haben, an der sie nicht vorbeikommen; von denen die
drei führenden Mächte zweiten Ranges mit den Subjekten
identisch sind, die nicht nur im Bündnis selbst, sondern auch in
Europa und in den diversen Organisationen, zu denen sich dieser
Machtblock inzwischen institutionell verfestigt hat, um
Führungskompetenz konkurrieren: Da laufen schon ziemlich viele
gegeneinander gerichtete Berechnungen ab, bevor der einheitliche Wille
des Bündnisses steht. Jedenfalls wird zum ersten Mal ein breites
Publikum mit den Einzelheiten dieses Entscheidungsprozesses
bekanntgemacht und erfährt, daß Deutschland und die anderen
Europäer immer am Ball sind, nichts unkommentiert lassen, genuine
Beiträge zum Entscheidungsprozeß auf Lager haben – und
zu der sich herausbildenden Streitmacht selbstverständlich auch.
3. Wie immer, wenn sich
höchste Gewalten zum Krieg entschließen und die dafür
erforderlichen Vorbereitungen auf den Weg bringen, geben sie die
unabweisbar guten Gründe ihres Tuns bekannt. Dazu berufen sie sich
auf zwischen den Völkern geltende heilige Rechte und führen
so aller Welt vor Augen, daß ihr Krieg eigentlich gar nicht im
Bereich ihrer Absichten und Interessen liegt, sondern in höherem
Auftrag geschieht. Für dessen Vergabe ist nach den Usancen der
jüngerer internationalen Rechtsprechung an sich die
Völkerfamilie selbst, in Gestalt der UNO, zuständig. Daher
kommt die NATO, die sich das Mandat zum Kriegführen diesmal selbst
erteilt hat, auch um die Klarstellung nicht umhin, daß ihr auch
die Definitionsmacht bei der höheren moralischen Rechtfertigung
ihres Gewalteinsatzes zusteht.
a) Das NATO-Selbstbestimmungsrecht in Sachen Krieg und Frieden
Kein Staat zieht in den Krieg ohne eine "rechtliche
Grundlage", die sein Handeln vor aller Welt als frei von
Aggression und Willkür legitimiert. Das gilt für den
westlichen Werte-Verein der NATO, seit es ihn gibt – Freiheit,
Demokratie und Menschenrechte waren für fast ein halbes
Jahrhundert lang die Rechtstitel, die sogar einen kompletten Weltkrieg
geheiligt hätten. Nachdem es dank glücklicher Fügung
auch ohne diesen nur noch eine Weltmacht von Rang gibt, ist – auf
deren Betreiben hin – die Völkerfamilie zur Instanz
avanciert, die den Rechtszustand zwischen den Völkern
beaufsichtigt, Verletzungen registriert und sogar deren Sanktionierung
mandatiert. Zwar ist diesbezüglich nicht wirklich die in der UNO
diplomatisch versammelte Großfamilie aller Völker
zuständig, sondern die wenigen, die im Sicherheitsrat festen Sitz
und Stimmrecht haben; aber was die in diesem erlauchten Kreis
vertretenen Mächte einstimmig beschließen und in ihren
Resolutionen verabschieden, begründet einen Rechtstitel, hinter
dem seiner Konstruktion nach tatsächlich so etwas stehen soll wie
der einheitliche Wille der gesamten "Weltgemeinschaft".
Auf dieses seit einiger Zeit eingebürgerte Procedere, sich bei der
Wahrnehmung aller heiklen Fragen der Weltaufsicht –
einschließlich derer von Krieg und Frieden – eines Mandats
des obersten diplomatischen Weltgremiums zu versichern, hat die NATO
diesmal keinen Wert gelegt. Ihr Entschluß, die Aufsicht über
den Balkan im Bedarfsfall gewaltsam durchzusetzen und mit einem eigenen
Krieg für eine ihr genehme politische Ordnung vor Ort zu sorgen,
geht auf ihr eigenes Ermessen zurück. Sie selbst, nicht eine wie
auch immer stellvertretend repräsentierte Weltgemeinschaft ist das
Subjekt, das in allererster Instanz für einen Krieg, den sie
führt, das Mandat erteilt. Das ist selbstverständlich die
praktische Relativierung des bislang hierfür zuständigen
Gremiums, aber so umstandslos brüskieren will man die liebe
Weltgemeinschaft samt Russen und Chinesen doch nicht. Man wälzt
zuerst vorsichtig Fragen, wie man sich die "rechtliche
Grundlage" eines Vorhabens verschaffen könne, zu dem man
sich schon längst entschlossen hat. Pseudo-praktische
Erwägungen weisen der Antwort gleich die Richtung: "Ein
Mandat des UN-Sicherheitsrats kriegt man nicht im ersten Anlauf"
(Rühe, FAZ, 13.6.), was im Kosovo zu einem sehr ernsten Problem
werden könne, weil "die Zeit drängt" und eine "rasche
Reaktion" nicht behindert werden darf – "der Wintereinbruch"
steht nämlich bereits vor der
Tür. Dann bekennt sich der amerikanische Verteidigungsminister
Cohen offen zum Prinzip: Der Wille zur Gewalt stiftet das Recht, auf
das er sich dann berufen kann, so daß man die UNO überhaupt
ignorieren kann. Der deutsche Verteidigungsminister drückt das so
aus:
"Was einen allfälligen militärischen Einsatz der
Bundeswehr im Kosovo angehe, so meinte Rühe, werde es eine breite
Mehrheit im Bundestag geben. Ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates sei
dabei nicht nötig; die NATO-Verteidigungsminister seien sich darin
einig, daß lediglich eine ausreichende rechtliche Grundlage
gegeben sein müsse." (NZZ 16.6.98)
So redet die NATO darüber, ob sie sich über die UNO
hinwegsetzen soll, und hat dabei deren Geschäftsgrundlage schon
längst verlassen. Sie hält es offensichtlich für ihrer
Macht und der Bedeutung, die sie aus ihr herleitet, wenig angemessen,
im Verhältnis zur UNO die Rolle des bloßen Auftragnehmers zu
spielen. [12] Die Wortmeldungen Rühes und Cohens kümmern sich
um den bislang gepflegten Gleichklang von "Völkergemeinschaft" und NATO nicht mehr und stellen
als handfeste neue Perspektive vor, wie die NATO ihr Verhältnis
zur Weltgemeinschaft begreift. Sie steht in Konkurrenz zu deren
oberstem diplomatischen Gremium – und entscheidet sie praktisch
für sich: Nicht die NATO läßt sich auf die Wahrnehmung
höherer Angelegenheiten der Weltordnung verpflichten, sondern sie
selbst verpflichtet den Rest der Welt auf alles, wofür sie sich
zuständig erklärt. Aus der Macht, die sie hat und mit der sie
Fakten schafft, leitet sie auch gleich die Definitionskompetenz aller
höheren Rechte ab – und hat mit denen die Titel, die alle
ihre praktischen Vorhaben rechtfertigen. So sorgen die NATO-Mächte
dafür, daß ihre Beschlüsse nicht nur rechtlich
unanfechtbar, sondern auch kein Einmischungsgegenstand der anderen
Mächte mehr sind, mit denen sie im Sicherheitsrat der UNO ja noch
zu tun haben.
b) Expertisen zu UNO, Völkerrecht, Moral und Rußland
So richtig Klartext über ihre Emanzipation von den bisherigen
völkerrechtlich-diplomatischen Gepflogenheiten redet die NATO
selbstverständlich nicht. Sie will das neue Recht zum
selbstermächtigten Kriegseinsatz als eine Art Fortschreibung des
geltenden Rechts gewertet wissen, die deswegen notwendig sei, weil das
bisherige Völkerrecht den Anforderungen der "neuen"
Menschlichkeit nicht mehr gerecht werde. Ein hoher NATO-Vertreter
benennt die Lücke, die nach Reform verlangt: "Internationales Recht hinkt der Realität oft
hinterher" – und daraus ergebe sich für das Kosovo "eine moralische Verpflichtung zu einem militärischen
Eingreifen". Wenn mit dem bestehenden Völkerrecht kein
Rechtstitel zu konstruieren ist, der die NATO zum Eingreifen in die "inneren Angelegenheiten Jugoslawiens" verpflichtet, dann
muß man nur auf "das Schlachten" sehen, das dort
– es ist ja Krieg – stattfindet – und schon hat man
die moralische Pflicht und mit der zusammen den allerhöchsten
Rechtstitel, selbst mit ins Schlachten einzusteigen: [13] Die NATO
bemächtigt sich unter Berufung auf die Opfer im Kosovo der
höchsten Rechte – und das sind die Menschenrechte. Die sind
für sie der absolute Rechtsgrund, im Umgang mit Serbien alle
völkerrechtlich-diplomatischen Gepflogenheiten aufzukündigen,
die im Rechtskodex der UNO verankert sind: Mit Verweis auf die
Kriegsopfer im Kosovo streichen die NATO-Mächte jedes verbindliche
und sie womöglich bindende Moment eines diplomatisch noch
gebotenen Respekts gegenüber der serbischen Souveränität.
Gewissermaßen die Brücke zwischen der moralischen
Empörung, von der man sich zum Eingreifen beauftragen
läßt, und einem als Recht unmittelbar hinkonstruierten
Eingriffstatbestand bilden die Kosovo-Albaner in ihrer Eigenschaft als
"Flüchtlinge". Das sind diesmal nicht die
üblichen Elendskreaturen, an denen man mit Zelten, Decken und
Lebensmitteln sein Gewissen beruhigt. Diesmal handelt es sich um eine
echte "humanitäre Katastrophe", für die es nur
eine einzig mögliche Abhilfe gibt: einen veritablen
Militärschlag – dem jedoch das Völkerrecht im Wege
steht. [14] Daß diese Flüchtlinge – Volkstum hin,
Kultur her – unter serbischer Aufsicht ein Dach über dem
Kopf und zu essen hatten, ist ein abseitiger Gedanke, weil sie
ausschließlich wegen ihrer Funktion interessieren,
NATO-Ansprüche in zweifacher Hinsicht zu rechtfertigen: Sie
verweisen auf die "Menschlichkeitslücke" im
Völkerrecht, auf das sogar ein Diktator wie Milošević sich
berufen, das er also für sich ausnutzen kann; und sie nötigen
die NATO zu der Einsicht, gegen alles Recht zur einzig durchgreifenden
"humanitären Hilfe" greifen zu müssen, zu der "Hilfe", zu der
nur sie imstande und darum auch
verpflichtet ist. [15] Ernsthafte Persönlichkeiten stehen deswegen
nicht an, für die NATO einen Mangel im Völkerrecht mit der
Erfindung eines neuen Gremiums auszubügeln, nämlich mit einer
"Gemeinschaft der Gutmeinenden". Diese "Gemeinschaft" hat sich mit "der
Menschlichkeit" verbrüdert und sich vorgenommen, das in die
UNO-Prozedur gebannte Völkerrecht im Wege seiner Ignorierung
seinem eigentlichen wahren "Geist" gemäß zu
machen:
"Wer im Kosovo allein deswegen nicht eingreift, weil es aufgrund
sachfremden russischen Polit-Schachers kein UN-Mandat gibt, der
klammert sich an den Buchstaben des Völkerrechts, verletzt aber
dessen Geist." (SZ 8.10.98)
Auf diesem Wege kommt dann doch noch der Mangel zur Sprache, den das
Völkerrecht für die NATO hat: Rußland sitzt im
Sicherheitsrat. Das ist insofern von Übel, als man bereits mit
allergrößter Selbstverständlichkeit davon ausgeht,
daß die UNO zusammen mit ihrem Sicherheitsrat ohnehin nur die
Funktion hat, die NATO zu dem zu mandatieren, wozu sie selbst
mandatiert werden will. Diese Funktion unterstellt, begründet
allein schon die schiere Möglichkeit, ein Mandat könnte an
einem russischen Veto scheitern, einen Funktionsverlust der ganzen UNO
mit ihrem gesamten Völkerrecht – woraus dann zwingend folgt,
daß die Präsenz der Russen im Sicherheitsrat ohnehin nur die
Unterminierung dieses eigentlichen Sinns der UNO und wahren Geistes des
Völkerrechts zum Zweck haben kann. Ein zweiter Schluß
drängt sich unmittelbar auf: Wenn Rußland mit seinem "sachfremden" "Egoismus" schon "versucht,
den Kernbereich der amerikanischen Weltmachtspolitik, die NATO, zu
lähmen, indem es praktisch ein Veto über die Balkan-Strategie
der Allianz beansprucht" (SZ, 8.10.), dann darf "die
‚russische Blockade‘ nicht zu ‚Tatenlosigkeit bei
Menschheitsverbrechen‘ führen. In solchen Fällen
erlaube ein ‚Recht auf humanitäre Intervention‘
Militärmaßnahmen zum Schutz von Minderheiten."
(Außenministerin Albright, 10.10.)
Da hilft es gar nichts, wenn Völkerrechtsexperten immer wieder zu
dem Schluß kommen, daß die Intervention im Kosovo vom
geltenden Stand des Völkerrechts einfach nicht abgedeckt werden
kann. Der Anspruch der NATO, sich einfach selbst zu ermächtigen,
ist ab sofort in der Welt und wird nicht mehr zurückgenommen. So
berechnend sind die Träger dieses Anspruchs freilich schon, sich
selbst die Frage der Zweckmäßigkeit vorzulegen, wann und mit
welcher Schärfe sie ihn vorbringen. Denn Rußland soll der
Konfrontation, zu der sich die NATO entschlossen hat, nicht mit einer "heftigen Reaktion" begegnen. Es soll seiner
weltpolitischen Reduktion möglichst auch noch zustimmen, und das
will man den Leuten in Moskau erleichtern. Man baut ihnen goldene
Brücken, die aus dem unablässigen, von wechselnden Personen
vorgetragenen Wechselspiel der Prinzipien "Man muß
russische Einwände berücksichtigen!" und "Man
muß Rußland vor vollendete Tatsachen stellen!"
bestehen. Ergänzend erfolgen überhaupt nicht dezente Hinweise
auf die schlechte Finanzlage dieser Macht und die Abhängigkeiten,
die es zu nutzen gilt. Einbindung heißt das Rezept, Rußland
Mitwirkung zu gestatten, wenn es dem Handeln der NATO nicht im Wege
steht: "Auch jetzt gilt noch, daß Rußland eigentlich
mit in der Verantwortung ist und mitwirken müßte... Wir
wollen Rußland einbinden, dürfen uns aber nicht am Handeln
hindern lassen." (Rühe, FR, 26.8.)
c) Russische Diplomatie mit der Kriegsdrohung der NATO
Mitte Juni treffen sich Milošević und Jelzin in Moskau. Einen
Verbündeten hat Serbien in Rußland gewiß nicht. Der
ist nämlich mit beteiligt an dem Unternehmen "Druck auf
Milošević", allerdings mit dem Zusatz: als "Slawenbruder". [16]
Ein Njet wäre das Letzte, was
sich Rußland zu dieser Weltordnungsaffäre auf dem Balkan
einfallen ließe. Seine "Marginalisierung", die
Erosion des Weltmachtstatus, hat Jelzin sich gefallen lassen im Tausch
für Teilhabe und Mitsprache im Kreis der von ihm so bewunderten
illustren Macher der Weltpolitik. Und der Westen hat ihm einiges
geboten: PfP, OSZE, NATO-Rußland-Rat und schließlich sogar
G-7(8) – lauter Gremien der "Partnerschaft", in denen
sich die formelle Anerkennung Rußlands umgekehrt proportional zu
seinem tatsächlichen Einfluß auf die politische
Weltverwaltung verhält. Dieser Generallinie, sich über die
Teilhabe an der Weltpolitik, die andere machen, die Anerkennung einer
eigenen weltpolitischen Rolle sichern zu wollen, bleibt Rußland
auch hier treu. Es bestreitet den exklusiven
Zuständigkeitsanspruch der Westmächte für die Regelung
des "Kosovo-Konflikts", indem es sich selbst zum berufenen
Dolmetscher der Erpressung erklärt, mit der die NATO
gegenüber Milošević aufwartet. Das ist Rußlands
alternative
Interpretation der "internationalen Aufsicht" über das Kosovo: Man
will selbst mit beteiligt sein bei der "Lösung" eines "Konflikts",
den es nur
gibt, weil die NATO ihre exklusiven Eingriffsrechte auf dem Balkan
reklamiert. Die "slawische Solidarität", die
darüber zu Ehren gelangt, besteht folglich darin, daß sich
Milošević – der Jelzin besucht, weil er sonst keinen ihm
gewogenen Ansprechpartner hat – aus dem Munde Jelzins die
Forderungen der westlichen Aufsichtsmächte anhören darf. So
versucht die russische Diplomatie, die erklärte Feindschaft des
Westens gegenüber Milošević für sich als Stoff zu
verwenden,
aus dem sich die Rolle eines bei diesem Konflikt mit-entscheidenden
Faktors verfertigen ließe. Sie bemüht den Schein
völkisch-rassisch begründeter Sonderbeziehungen und sucht,
von Slawe zu Slawe den guten Freund Slobodan zur Nachgiebigkeit in dem
von den Westmächten verlangten Sinn zu bewegen. Und der
läßt sich tatsächlich bewegen. Er läßt sich
gegenüber Rußland auf Zugeständnisse ein, um sich so
von der Feindschaft des Westens zu entlasten. [17] Nur diese russische
Diplomatie bewegt ihn zu gewissen Zugeständnissen, Rußland
verwendet seine Macht gar nicht zur Bremsung der westlichen
Feindseligkeit – kein Wunder, daß die NATO-Mächte
vergleichsweise unbeeindruckt bleiben.
Für sie waren die Bemühungen Rußlands von vorneherein
aussichtslos, da in bezug auf diese Macht "das größte
Problem die Weigerung Rußlands ist, einem militärischen
Eingreifen zuzustimmen" (Kinkel, FAZ, 13.6.). So bleibt
Rußland eben doch auf einer "Verweigerungspolitik"
hocken, die seine Abmachungen mit Serbien wertlos macht. [18]
Allerdings: Benutzen läßt sich die Nachgiebigkeit von
Milošević, die er gegenüber seinem "slawischen Bruder"
gezeigt hat, durchaus. Erstens entnimmt der Westen ihr die erfolgreiche
Wirkung seiner Kriegsdiplomatie der eskalierenden Drohung und damit
auch einen neuen Stand der Kalkulation mit dem Gegner: Serbien
hält sich nicht nur an das Gebot der zurückhaltenden
Kriegsführung, es anerkennt auch einen weiteren Schritt der
Einmischung; es führt den Kampf um die nationale Selbstbehauptung
unter den Augen "internationaler Beobachter", die wie
mobile Botschaften auf seinem Kriegsschauplatz herumreisen und nach den
feststehenden Rechtstiteln Ausschau halten, die weitergehende
Eingriffsmaßnahmen begründen. Zweitens – die Rolle
Rußlands betreffend – läßt sich der erfolgreich
ausgeübte "Druck auf Milošević" auch als gelungene
"Einbindung" Rußlands lesen. Daher treten die
aggressiven Töne in der Debatte um die "ausreichende
rechtliche Grundlage" ein wenig in den Hintergrund, und
während der nächsten Wochen votieren etliche westliche
Politiker wieder vermehrt für ein UN-Mandat, das den
militärischen Schlag der NATO gegen Jugoslawien unbedingt
rechtfertigen müsse. Dem soll Rußland endlich auch
zustimmen, wo es sich doch schon in dessen Vorfeld so nützlich
gemacht hat. Das ist der Stand Anfang Juli.
4. Die Separatisten der UÇK "befreien" knapp die Hälfte des Kosovo von der
serbischen "Fremdherrschaft" und interpretieren ihren
Kriegserfolg als Auftakt, die gerechte albanische Sache endlich auch
über die Landesgrenzen hinweg zu verfolgen. Auf Gegenliebe der
Aufsichtsmächte stoßen sie dabei allerdings nicht. Diesen
Umstand interpretiert Milošević seinerseits als Chance, die
Gegenoffensive, zu der er sich zur Rettung seines Staatsgebietes
veranlaßt sieht, könne mit einer gewissen Duldung seitens
der NATO-Mächte rechnen. Wie sehr er sich damit verrechnet, wird
ihm kriegsdiplomatisch zu verstehen gegeben.
a) Die UÇK und der Umgang mit einem neuen Machtfaktor im Kosovo
Die UÇK hat bei der Destabilisierung des jugoslawischen Südens
sehr ordentliche Arbeit verrichtet. Diese nützliche Funktion, die
sie für die auswärtigen Mächte erfüllt, bringt es
jedoch mit sich, daß zusammen mit der Macht, die die Separatisten
sich erobert haben, auch der Rechtsstandpunkt an Gewicht gewinnt,
für den sie kämpfen. Aus der neuen Position, die sie sich
militärisch erstritten haben, leiten sie daher ab, wie sie
demnächst für ihre Sache zu kämpfen hätten: Auch
Albanien und Mazedonien könnten sie in ihren Krieg hineinziehen,
Waffen und sympathisierende (Groß-)Albaner stünden ihnen in
beiden Ländern genug zur Verfügung. [19]
Serbien seinerseits steht vor der Alternative, das Kosovo als Teil
seines Hoheitsgebiets gleich abzuschreiben – oder sich zumindest
die militärische Hoheit über diesen Landstrich
zurückzuerobern. In Belgrad entschließt man sich zu einer
Gegenoffensive, wobei man damit kalkuliert, daß die Kriegsziele
der UÇK von den Aufsichtsmächten nicht mitgetragen werden.
So
wenig sich Milošević darin täuscht: Die Erlaubnis zur
unbeschränkten militärischen Handlungsfreiheit haben die
Aufsichtsmächte ihm deswegen keineswegs erteilt. Diese
registrieren die Erfolge, die er bei der Zurückdrängung der
UÇK erzielt, [20] aufmerksam unter dem Gesichtspunkt, daß
sie
einen für die NATO durchaus nicht unerwünschten Effekt nach
sich ziehen: Der Machtfaktor UÇK verliert an Gewicht, und damit
werden
auch seine unpassenden Ambitionen, das Projekt einer albanischen
Unabhängigkeit auszudehnen, zurückgestuft. Es ist einfach
praktisch, daß Milošević auf seine Weise auch so etwas wie
politische Überzeugungsarbeit leistet: "Der Drang der UÇK
nach Unabhängigkeit müsse eingedämmt werden, nach ihren
militärischen Rückschlägen sei das leichter
geworden". (NZZ, 27.7.) Es kommt auch zu einigen "ermutigenden"
Begegnungen mit Milošević; der Sprecher der
Troika schließt sogar ein Eingreifen der NATO vorerst aus, wieder
mit Hinweis auf die "militärischen Schwierigkeiten".
Den Umstand, daß die NATO mit ihrer Kriegsvorbereitung noch nicht
zum Abschluß gelangt ist, nutzen die EU-Staaten auf ihre Weise,
entdecken "Ermutigendes" bei Milošević, winken mit einer
vagen Aussicht auf eine Verzögerung der eigenen Mobilisierung
– und verschaffen sich so ein diplomatisches Gegengewicht zur
Übermacht der amerikanischen "Pendeldiplomatie".
Zwischen einer Beschränkung des lästigen Drangs nach
Unabhängigkeit und der Beseitigung der Quelle dieses Drangs
unterscheiden die Europäer freilich sehr gut. Letzteres ist
keinesfalls gestattet, daher gehen ihnen die militärischen Erfolge
Serbiens sehr schnell zu weit und sie fordern die Einstellung der
Offensive; eine Befriedung des Kosovo und die Tilgung der von der
UÇK
ausgehenden Destabilisierung kommt für sie keinesfalls in Frage.
Serbien ist der EU nicht zu Gefallen und setzt seine Offensive fort,
und das beschleunigt eine einheitliche Meinungsbildung in der NATO
erheblich. Erst droht Amerika mit einem Militärschlag, dann die
NATO als ganze. Die ansatzweise versuchte Eigenmächtigkeit der EU,
sie könne – Serbien müsse nur mehr auf sie hören
– das Tempo der Mobilisierung bestimmen, löst sich auf in
die "Frustration" der NATO über eben dieses Tempo. Das
muß nämlich erheblich beschleunigt werden: "Einsatzpläne" und "Optionen" stehen nun
wieder im Vordergrund; Rühe bietet zum ersten Mal 14 Tornados an;
Clinton, Kohl und Chirac verständigen sich am Telefon; an die
NATO-Staaten ergeht die Aufforderung, Truppenkontingente anzumelden.
Die Konkurrenzgeplänkel haben "Frustration" gestiftet
– die wird durch den weiteren Aufbau der "Drohkulisse" abgebaut. Mitte August weiß die NATO
wieder, daß Milošević es zu weit getrieben hat und "zur
Vernunft gebracht werden muß"; der Umgang mit dem
Unabhängigkeitswillen der Kosovo-Albaner ist das Nebenproblem.
b) Aufmarsch der NATO und Kriegsdiplomatie
"Act warn – act request – act ord" sind die
Schritte, in denen die NATO-Staaten einen Kampfverband zusammen- und
dem Kommando des NATO-Hauptquartiers unterstellen. Sie umfassen die
geordnete Abfrage bei den Mitgliedern, welche Streitkräfte sie
abstellen wollen. [21] Die militärische Macht, über die sie
gebietet, weiß die NATO allerdings schon vor dem Einsatz zu
nutzen. Sie stellt ihrem Gegner den Militärschlag, den sie
vorbereitet, mit dem Bild einer "ablaufenden Uhr" vor
Augen. Sie teilt dem Gegner mit, in welcher Stärke und wo sie sich
aufstellt, listet die Ziele auf, die sie für "militärisch bedeutsam" hält, und benennt auch
ziemlich genau den Zeitpunkt ihres Angriffs, um ihn zur "Vernunft" zu bringen. Diese "Vernunft" besteht
darin, mit der Drohung des Kriegs Kriegsresultate zu erzwingen. [22]
Diese Kriegsdiplomatie – "coercive diplomacy" im
amerikanischen Fachjargon – zielt mit der Drohung der
Zerstörung des Gegners auf die Beugung seines Willens; der kann
sich die glaubwürdig angedrohten Zerstörungen ausrechnen und
sich fragen, ob er sie hinnehmen will. Darin ist eine gewisse
Anerkennung des Gegners enthalten: Er kann "mitentscheiden", inwiefern er durch die selbständige
Erfüllung des Diktats, sich selbst zu entmachten, dem Krieg
entgehen kann, und es wird ihm angeboten, über das Ausmaß
seiner Entmachtung zu verhandeln. Das ist Abschreckung – nicht in
dem banalen Sinn, einen Gegner von einem Angriff abzuhalten, sondern in
dem Sinn, ihm das Maß an Gewalt vorzugeben, über das er
überhaupt verfügen darf. Mehr "Positives", also
wie und wohin das von ihr unter Abschreckung gestellte Gemeinwesen zu
regieren ist, hat diese herrschaftliche Macht nicht anzubieten –
ihre Kontrolle darüber, wie die gegnerische Macht ihre Gewalt
gebraucht, "genügt" ihr erst einmal. Alles weitere
wird sich zeigen.
Dieser erste Zweck ist mit der "act ord" am Abend des 13.
Oktober erreicht. Der zweite, mindestens ebenso wichtige, ist schlicht
und einfach der, daß sich damit die NATO-Staaten auf die
Zusammensetzung der Streitmacht und ihre jeweilige Beteiligung daran
geeinigt haben. Die 430 Flugzeuge und die Schiffsmacht werden, wenig
überraschend, zum Großteil von den USA gestellt; die anderen
Staaten tun das Ihre, mit ihren Fliegern, Schiffen und
dazugehörigem Personal angemessen repräsentiert, ganz vorne
mit dabei oder auf demonstrativer Distanz – je nachdem, wie sie
ihre Leistung fürs Bündnis und den Nutzen des Bündnisses
für sich ausrechnen wollen.
Da Serbien auf die Eskalation der Abschreckung nicht mit Einlenken
reagiert, sondern sich auf einen Angriff vorbereitet und seinerseits
droht, versieht die NATO US-Unterhändler Holbrooke mit dem Mandat
zur "ultimativen Drohung" und schickt ihn nach Belgrad.
c) Eine "heftige Reaktion" Rußlands
Während sich die NATO auf den Militärschlag vorbereitet,
hört man aus Moskau, daß man dort einem militärischen
Eingreifen "keinesfalls zustimmen" werde. Diese "heftige Reaktion" zieht "fieberhafte
Bemühungen" nach sich, doch noch zu einem "Kompromiß" zu finden und Rußland "zur
Zustimmung zu bewegen". Mit großem öffentlichen
Aufwand wird so getan, als müsse unbedingt um eine
Übereinkunft in der UNO gerungen werden. [23] Zum Schluß,
nach langem Wälzen der UNO-Charta, findet sich das Kapitel VII,
mit Hilfe dessen sich eine "Resolution 1199", die im
Sicherheitsrat beschlossen wird, schnitzen läßt. Deren
Inhalt läßt sich aus ihren widersprüchlichen
Interpretationen zusammensetzen: Für den russischen
Außenminister Iwanow ergibt sich aus ihr "die Verpflichtung
zur Streitschlichtung über kollektive Verpflichtungen", also
ein besonders heftiges Suchen nach einer "politischen
Lösung" und der Ausschluß von Gewaltanwendung;
NATO-Generalsekretär Solana ist hingegen der Meinung, die
Resolution reiche für einen Militärschlag aus und "sei
so gut wie ein Ultimatum". [24] Drei Tage später
verständigt er sich mit sich selbst darauf, daß die NATO in
jedem Fall handeln könne und werde, UN-Mandat hin oder her, also
auch ohne. Das sagen die USA schon lange, Großbritannien auch,
Frankreich und Deutschland – stellvertretend für die, die "zögerten" – schließen sich dieser
Auffassung endgültig an. Die "heftige Reaktion"
Rußlands bleibt genau dieselbe wie bisher – entschiedener
Widerstand im Sicherheitsrat.
Dorthin gelangt der Casus aber nicht. Die NATO ergänzt den
großen diplomatischen Ringkampf um das Zustandekommen der
Resolution durch Zurückhaltung an anderer Stelle und umgeht die
offene Konfrontation mit Rußlands Veto im Sicherheitsrat. Sie
läßt einerseits keinen Zweifel daran, daß sie auf den
russischen Willen keine Rücksicht nimmt, [25] und ignoriert jeden
Rest einer russischen Weltmachtposition. Sie honoriert andererseits den
Überrest derselben, wie er in der UNO-Position Rußlands
repräsentiert wird: Ihr gutes Recht, Veto zu sagen, bestreitet die
NATO den Russen keineswegs. Das taugt erstens zum Widerstand gegen eine
NATO nicht, die sich gerade von jeder bindenden Verpflichtung auf Voten
des Sicherheitsrats freigemacht hat. Es drückt zweitens aus,
daß sich Rußland mehr und anderen Widerstand gar nicht
erlauben will, womit drittens auch eine verbindliche Auskunft über
die russische Fähigkeit zum Widerstand gegen die NATO erteilt
wird. [26] Wenn es gefragt werden würde, könne Rußland
durchaus sein Veto einlegen – und mit diesem Angebot, immerhin
sein "Gesicht zu wahren", ist für die NATO das Thema
beendet.
Eine weitere zweifelhafte Ehre kann Rußland dann auch noch
verbuchen: Es taugt mit seinem Pochen auf Mandatierung der NATO als
Konkurrenzmittel im Bündnis. Keine einzige NATO-Macht will sich
von UNO und Rußland noch vom militärischen Eingreifen
abhalten lassen. Aber mit der berechnenden Berufung auf Rußland
läßt sich eine Gegenposition gegen die USA aufmachen, die
aus ihrer Ablehnung der UNO ja von Anfang an kein Hehl machten.
Selbstverständlich versäumt es kein Partner, alles, was er "Eingehen auf russische Bedenken" nennt, in Moskau als
Entgegenkommen gegenüber Rußland zu verkaufen, in Washington
jedoch mit der wertvollen Bündnisleistung aufzuwarten, eine
russische "Gefahr" beseitigen zu wollen. Die diversen
Mitteilungen, wie weit man Rußland jetzt schon zum "Entgegenkommen" bewegt habe oder nicht, wie wenig
abgeschlossen die Suche nach einer "gemeinsamen rechtlichen
Grundlage" sei, wie sehr Europa – das es hierbei
übrigens auch zu ein paar konkurrierenden "Initiativen" bringt – auf seinen "besonderen
Draht zu Moskau" achten müsse, würden eine ganze Seite
füllen. Noch eine Seite ginge drauf für die Meldungen
über den "schleppenden Gang", "bündnisinterne Hindernisse", die immer andere
aufbauen, über naiven "Glauben an Miloševićs
Versprechungen" – wieder die anderen – und über
die eigene Bereitschaft und Ungeduld, jetzt endlich zuzuschlagen. [27]
Schlußendlich spitzt sich der Diskussionsprozeß Mitte
September im Vorwurf Amerikas zu, Europa würde zu wenig tun,
woraufhin Europa beleidigt antwortet, es würde doch die Hauptlast
– "Flüchtlinge" – tragen. Außerdem
erinnert es sich wieder pfiffig an seine alte OSZE-Idee, treibt sie
weiter und ernennt anstelle des von der OSZE nominierten
Gonzáles, der aus welchen Gründen auch immer nicht zum Zuge
kommt, einen eigenen "Kosovo-Beauftragten". Dessen Aufgabe
sei es nicht, "die Pendeldiplomatie Holbrookes zu
konterkarieren", sondern "Koordinationsaufgaben" zu
leisten, "damit sich Pilgerfahrten nach Belgrad und Priština
erübrigen." (SZ, 28.9.)
c) Kleines Zwischenspiel: "Irritationen" aus Frankreich
Doch auch ohne Bezug auf Rußland bietet das UN-Mandat Stoff
für die interne Diplomatie, die es sogar fast zu einem Eklat
gebracht hat, wie einer Verlautbarung aus "NATO-Kreisen" zu
entnehmen ist:
"In NATO-Kreisen heißt es, Frankreich lehne ein Handeln
ohne entsprechende Resolution des Sicherheitsrates nicht zuletzt
deshalb ab, weil es keinen Präzedenzfall schaffen wolle, der im
Zusammenhang mit dem neuen strategischen Konzept, das sich die NATO
zulegen will, dem Bündnis eine Handlungsmöglichkeit gegen das
französische Veto im Sicherheitsrat schaffen könne. Wie
groß die Spannungen in dieser Frage sind, läßt sich
aus einer Bemerkung Cohens schließen. Er warnte die
europäischen Verbündeten davor, das Bündnis an einem
Eingreifen im Kosovo zu hindern. Sollten sie das aber tun, so berge
dies die Gefahr, daß sich Amerika völlig zurückziehe
und es den Europäern alleine überlasse, mit den Folgen dieser
Verweigerung fertig zu werden." (FAZ, 25.9.)
Im Unterschied zu den USA und Großbritannien will Frankreich sein
Vetorecht im Sicherheitsrat nicht so ohne weiteres seiner
NATO-Mitgliedschaft und den Verheißungen eines selbstgeschaffenen
Eingriffsrechts unterordnen. Dies um so mehr, als mit dem "neuen
strategischen Konzept" innerhalb der NATO eine Diskussion in Gang
gekommen ist, ob und inwiefern dieses Eingriffsrecht nicht gleich auf
die ganze Welt ausgedehnt werden sollte. [28] Frankreich, das sich die
Sonderrolle einer gebremsten bzw. teilweise verweigerten Mitarbeit in
den "Militärstrukturen" der NATO deswegen herausnimmt,
weil es mit der US-Vormacht nicht zufrieden und erster Verfechter des "europäischen Gewichts" ist, steht auch dieser
Machtausweitung der NATO distanziert gegenüber. Der angestrebten
Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb der NATO, dem
Versuch, deren Potenzen auch einmal für europäische
Ansprüche und Vorhaben zu funktionalisieren, also auch die USA
darin "einzubauen", droht ein Rückschlag: Eine
weltweite Gültigkeit der NATO-Doktrin, eine "freie"
Handhabe der einmaligen Abschreckungskraft, befestigt die Vorherrschaft
der US-Macht, da die als einzige schon jetzt weltweit politisch und
militärisch präsent ist. Aus diesem Grund sperrt sich
Frankreich – formell in Übereinstimmung mit Rußland,
der Sache nach aus ganz anderen Gründen – gegen die Umgehung
des Sicherheitsrates, spricht deswegen von einem bedenklichen "Präzedenzfall". Dem Versuch Frankreichs, seinerseits
die künftige Entwicklung der NATO zu präjudizieren, indem es
sich nämlich auf seinen Status als Sicherheitsratmitglied
versteift und damit den konkreten Entscheidungsprozeß für
den Fall Kosovo blockiert, setzen die USA eine harte Drohung entgegen:
Abzug der eigenen Truppen. Das ist der methodische Hinweis auf eine
Blamage, die sich Europa einhandeln würde, wenn es angesichts der
erreichten Dimensionen des "Balkan-Konflikts" auf sich
alleine gestellt wäre. "Präzedenzfall" hin oder
her, Frankreich gibt seine "Verweigerungs"haltung auf.
Freilich nur, um nicht viel später nachzuschieben, daß es
die ganze Angelegenheit weiterhin als einen "Einzelfall"
betrachte, also auch weiterhin "von Fall zu Fall" über
sein Mitmachen entscheiden werde.
Ein gewisses Entgegenkommen legt auch Amerika an den Tag, indem es sich
darauf einläßt, die UNO vorkommen zu lassen. Nachdem es sich
lange genug gegen eine Berufung auf das Kapitel VII gesträubt hat,
stimmt es der besagten "Resolution 1199" zu – es
steht ja fest, daß durch sie nichts behindert wird. Mit dieser
diplomatischen Geste bekunden die USA die Bereitschaft, keinen
"Alleingang" unternehmen zu wollen. Wenn sie schon laufend
Vorschriften machen, wollen sie sich schon auch weiterhin auf das
"Grundkonzept" einer gemeinsam ausgeübten
Weltmachtsverantwortung verpflichten lassen und erbringen dafür
den Nachweis ihres Willens zur UNO-Kompatibilität – wenn
auch mit Hängen und Würgen. Als Gegenleistung danken die
Partner mit dem Abschluß der UNO-Debatte – zumindest
für diesen Abschnitt – und versichern, daß nunmehr die
"ausreichende rechtliche Grundlage" gefunden, nämlich
hergestellt worden ist. [29]
Jedes NATO-Mitglied – bis auf Amerika und Großbritannien
– nimmt anschließend noch einmal seine Gelegenheit wahr,
"Vorbehalte gegen die Intervention" anzumelden, und das
eine oder andere nimmt sich sogar heraus, noch einmal die "rechtliche
Grundlage" zu bemängeln. Deutschland
braucht zwei Extra-Tage. Nationen aus der dritten und vierten Reihe,
die wissen, worin ihre "regionale Verantwortung" besteht,
wenn sie sich auch künftig mit der NATO gut stellen wollen, geben
ihre zögerliche Haltung auf: Rumänien, das zwar "keinen
Konflikt mit Serbien" hat, und Ungarn, trotz oder wegen seiner
Sorgen um seine Minderheiten in der Vojvodina, auf jeden Fall aber im
Besitz von "Schutzgarantien aus Washington und
Brüssel", stellen ihren Luftraum zur Verfügung,
Mazedonien schiebt die Bedenken bezüglich seiner "prekären
Minderheitenlage" auf die Seite und hat
keine Einwände mehr, sich als Startbasis für kommende
Unternehmen zur Verfügung zu stellen. Dann steht in der Zeitung:
"NATO-Botschafter billigen Detailpläne", "NATO-Truppen sind
einsatzbereit", "Cohen: Die Sache
muß in einer Woche erledigt sein".
Damit sind die "politischen, rechtlichen und militärischen Konsequenzen" fertig.
d) Reibungslose Bewältigung einer "Übergangssituation" in Deutschland
Ein wenig künstliche Spannung schlägt dann noch Deutschland
aus seinem Regierungswechsel heraus. Wenn man will, kann man die
interessante Frage erörtern, ob nicht ein Wechsel vielleicht "Sand ins Getriebe" bringt, da die Neuen sich ja erst
einfinden müssen; womöglich sehen sie sogar die Lage auf dem
Balkan und in der NATO – Grüne! – ein wenig anders als
ihre Vorgänger. Die neue Regierung macht, was sie auch sonst
macht: Sie legt größten Wert auf Kontinuität, die aber
von ihr ganz unverwechselbar hergestellt sein will. Die alte Regierung
hat "Vorratsbeschlüsse" hinterlassen, es findet auch
eine harmonische Staffelübergabe von Kohl/Kinkel an
Schröder/Fischer statt – aber selbstverständlich kennt
die neue Regierung keinen "Automatismus".
Schröder/Fischer fliegen nach Washington mit dem festen Willen,
Deutschlands Mittäterschaft zu bekräftigen, aber der Zufall,
neu am Ruder zu sein, muß auch ausgekostet werden. Es gibt "verfassungsrechtliche Bedenken", da der neue Bundestag
noch nicht konstituiert ist, und überhaupt muß ein
Rechtsstaat solche "Probleme des Übergangs" genau
analysieren. Clinton ist so freundlich, Verständnis für diese
deutsche "Übergangssituation" zu äußern, es
sei aber Eile geboten. Das mit der Eile hören seine deutschen
Freunde nicht so gern, weil sie ihre rechtzeitige Zustimmung schon
selber terminieren wollen. Somit kommt es zu der erfreulichen
Situation, daß Deutschland als letzter NATO-Staat sein
Einverständnis erklärt. Die Grünen hätten
hochwertige moralische Einwände gegen einen Bundeswehreinsatz "out of area", aber sie haben eine Regierungsbeteiligung,
auf die kein fundamentalistischer Schatten fallen darf; schweren
Herzens fügt sich die Mehrzahl der Fundis der geplanten Methode
von "Friedenserzwingung und -erhaltung", natürlich
nicht ohne hinzuzufügen, daß eigentlich und im Prinzip das
Völkerrecht viel bessere Argumente wüßte. [30]
III. Das Abkommen vom 13. Oktober
1. Nach allem komplizierten Hin & Her ist die NATO exakt im
Zeitplan geblieben. Ein letztes Mal teilt sie ihrem Gegner mit, was sie
ihm an empfindlichen Schlägen zugedacht hat, und informiert ihn
darüber, daß er militärisch chancenlos ist. Er darf
nunmehr endgültig und verbindlich entscheiden, ob er seine
Niederlage im Krieg miterleben will oder nachgibt. Milošević
läßt sich überzeugen.
Am Abend des 13.Oktober legt Holbrooke "act ord" und den
beschlossenen großen Luftschlag in Belgrad vor. Daraufhin werden
die Verhandlungen, die sich zuletzt schon über 50 Stunden
erstreckten, "produktiv". Milošević erklärt sich
einverstanden mit
– der Einstellung der Kampfhandlungen und dem Rückzug regulärer Truppen sowie der Sonderpolizei;
– der Stationierung von 2000 Beobachtern, "Verifikatoren" der OSZE, die das überwachen;
– einer Überwachung des Rückzugs durch unbewaffnete Aufklärungsflugzeuge der NATO;
– der Untersuchung von Kriegsverbrechen durch "internationale Gerichtsorgane";
– dem freien Zugang für "humanitäre Organisationen";
– der Aufnahme von Verhandlungen mit den Kosovo-Albanern, die das Ziel ihrer "Autonomie" verfolgen.
Diesem Abkommen schließen sich später noch
Ausführungsbestimmungen an; ein Abkommen mit der UÇK gibt
es nicht.
Die NATO hat ihr entscheidendes Ziel erreicht. Mit und in ihrer
internen Konkurrenz hat sie es dazu gebracht, daß sie im Kosovo
als Aufsichtsmacht zuständig ist, und hat dort fest einen Modus
etabliert, mit dem sie ihre Zuständigkeit wahrnimmt. Ihres
unmittelbaren Einmarsches bedurfte es hierfür nicht. Die
Gewaltmaschinerie hält den strategischen Raum um Restjugoslawien
besetzt, vor Ort ist die OSZE ihr "Auge und Ohr". Diese
hält den praktischen Fortgang des "Paradoxons" unter
Kontrolle, daß die NATO mit einer Staatsgewalt über deren
eigene, freiwillig zu vollziehende Teil-Entmachtung kontrahiert hat.
Die Öffentlichkeit begreift diesen Erfolg nicht. Sie weiß
mit dem Ergebnis nichts Rechtes anzufangen und schwankt zwischen
'enttäuscht' bis 'maßlos
enttäuscht'. Ihr ansonsten ganz intaktes parteiliches
Urteilsvermögen wird durch ihre kriegsmoralische Gesinnung derart
getrübt, daß sie den Erfolg der NATO glatt als Nachgeben
deutet. Weil es den Machthaber in Belgrad noch immer gibt; weil er in
Gestalt der Vereinbarung mit der NATO als solcher sogar noch anerkannt
und respektiert worden ist, beziehen sie sich nicht auf das, was
Milošević mit seiner Unterschrift besiegelt hat, sondern
entdecken den
Umstand, daß er etwas unterschreiben durfte, als Versäumnis
des eigentlichen Zwecks, um den es der NATO doch hätte gehen
müssen. [31]
2. Der herrschaftliche
Sonderstatus, den der Kosovo nunmehr besitzt, bereinigt keine einzige
der dort offenen Gewaltfragen. Zusätzlich zu diesen gibt es dort
nun auch noch die zwischen der NATO und Rest-Jugoslawien. Das hat es
jetzt mit der Abschreckungsmacht der NATO auf eigenem Boden zu tun,
obwohl auf dem kein einziger NATO-Soldat steht.
Im Kosovo hat die NATO der Bundesrepublik Jugoslawien eine Lizenz zur
Herrschaft erteilt. Sie schreibt ihr den Gebrauch ihrer Gewalt vor und
überwacht die Einhaltung ihrer diesbezüglichen Vorschriften
durch "Verifikatoren". Das "Zugeständnis",
das dabei Serbien gemacht wird, besteht darin, daß zwischen
seinen "normalen" Streit- und Ordnungskräften und
solchen, die "die Unterdrückung ausüben" (NZZ,
23.10.), unterschieden wird, erstere also den Respekt genießen,
Gewaltmittel einer Souveränität zu sein. Die souveräne
Verfügungsgewalt über sie hat jedoch Grenzen. Die NATO
bestimmt den Umfang der regulären Truppen und der Sonderpolizei,
die im Kosovo bleiben dürfen – sie werden auf den Stand "vor Ausbruch der Krise" gebracht. Serbien hat
überzähliges Truppenmaterial in Kasernen zurückzuziehen
und darf es nur nach Voranmeldung bei der OSZE zu "Übungen" ausrücken lassen. Es unterliegt ferner
der Genehmigungspflicht, an welchen Straßenkreuzungen es
Ordnungskräfte aufstellen darf. Die Souveränität
Serbiens ist nicht vollständig beseitigt; nur ihrer Ausübung
sind Grenzen gezogen, wobei die Leistung des Vertragswerks genau darin
besteht, daß das Kontrollregime der NATO in Form einer
souveränen Selbstbeschränkung Serbiens exekutiert wird. Daher
ist Serbien auch für die Sicherheit der "Kosovo Verification
Mission" (KVM) verantwortlich und haftbar zu machen. Wann und wie
das Kriterium der "übertriebenen Gewaltanwendung" zur
Anwendung kommt oder sich die Serben des "unzureichenden
Schutzes" schuldig machen, bestimmen die OSZE und die
dahinterstehende NATO; an die UÇK – mit der sie kein Abkommen
geschlossen haben – haben sie "Warnungen" ergehen
lassen. [32]
So haben die westlichen Aufsichtsmächte ihre Macht an die Stelle
der serbischen gesetzt und Restjugoslawien teil-entmachtet. Über
die Region im Kosovo erlassen sie im Prinzip ein Gewaltverbot, wobei
den Serben ein Grundbestand an hoheitlicher Gewalt überlassen
wird, deren Reichweite und Anwendungsformen reglementiert sind und
beaufsichtigt werden. Mit einem "Kampfgeschehen niederer
Intensität" rechnet man weiterhin. Nur ist in dieses nunmehr
die NATO unmittelbar involviert: Nicht als Partei, sondern als
Über-Partei, die von jeder Aktion der Kombattanten ihr
Aufsichtskonstrukt tangiert und sich zu entsprechenden Reaktionen
herausgefordert sieht.
3. Die NATO richtet sich darauf
ein, daß ihr Konstrukt ‚Kosovo‘ ein Dauerzustand ist,
bleibt und zu bleiben hat. Auch dafür trifft sie ihre Vorkehrungen.
Die NATO hat ihre Gewalt nicht unmittelbar vor Ort "disloziert", sondern auf andere Weise für ihre
Präsenz gesorgt. Das Ultimatum wird aufrechterhalten. Jugoslawien
tritt in einem eigenen Abkommen die Lufthoheit über das Kosovo ab.
Dort unterstützen die unbewaffneten Aufklärungsflugzeuge der "Operation Adlerauge" die Kontrolle des serbischen
Truppenrückzugs. Unter den "Optionen", die der
Militärausschuß erarbeitete, war auch der Einsatz von
Bodentruppen bis zu 60000 Mann vorgesehen. Nachdem jedoch die USA die
Idee negativ beschieden, fand sich kein weiterer Interessent.
Andererseits ist es sich die NATO jedoch schuldig, hinter ihre "Verifikatoren" eine angemessene Gewalt zu setzen. Die
Bildung einer "Schnellen Eingreiftruppe", von verschiedenen
NATO-Staaten gestellt und in Mazedonien stationiert, schützt zwar
nicht das Leben dieser Leute. Sie droht aber serbischen
Streitkräften und der UÇK bei eventuellen Übergriffen
Bestrafung an. Milošević soll also seine Kontrolleure wie Bürger
schützen, die seinem Recht unterstellt sind. Insgesamt zeigen sich
Vertreter von NATO und OSZE in Belgrad "sehr unzufrieden"
mit der Ausführung des Abkommens. Gleichwohl wird "act
ord" außer Kraft gesetzt – ein Militärschlag
bedarf also eines neuerlichen Beschlusses der NATO-Botschafter –
und die USA ziehen einen Flugzeugträger ab, was allgemein als "Milderung des Drucks" angesehen wird.
Einsicht und Wohlverhalten der serbischen Seite bleiben ständiger
Überprüfung unterzogen. Rußland bleibt
selbstverständlich "eingebunden", wird eingeladen, an
dieser Überprüfung teilzunehmen – und greift prompt zu.
Mit der Zurichtung der jugoslawischen Hoheit hat es eben keine
Probleme, die kleine Episode mit seinem Veto-Recht im Sicherheitsrat
ist schon vergessen. In Kreisen der NATO aber offenbar nicht. Dort
nimmt man sich vor, zukünftige Problemfälle schon im Vorfeld
zielführend zu bereinigen: "Es sei noch lange nicht alles
ausgereizt, schließlich könne auch Rußland kein
Interesse daran haben, den Sicherheitsrat dauernd zu umgehen"
– eine absichtliche Verwechslung von Aktiv und Passiv –,
"weil es dann künftig auch auf anderen Gebieten
womöglich kein Mitspracherecht mehr habe." (Ein Vertreter
des französischen Außenministeriums, FAZ, 26.10.) Die
Herrschaft, die von Milošević im Kosovo ausgeübt wird,
besteht
darin, beständig seinen Willen und seine Fähigkeit zur
Mitarbeit an dem über sich eingerichteten Kontrollwesen unter
Beweis zu stellen: Das ist der Dauerauftrag, an dem er sich zu
bewähren hat. Das Verhältnis, das die Aufsichtsmächte
zwischen ihrer Gewalt auf der einen und den Mächten vor Ort auf
der anderen Seite eingerichtet haben, wird Milošević so schnell
nicht
mehr los. Er darf dabei die Funktionen eines Statthalters der
westlichen Aufsichts- und Kontrollinteressen wahrnehmen – ein
Angebot, das er angesichts der Abschreckungsmacht der NATO einfach
nicht ablehnen kann –, und so wird aus dem Kosovo eben doch
(noch) kein Protektorat. Auf den Statthalter verläßt man
sich dabei freilich nicht. Die genaue Überwachung der Einhaltung
aller Paragraphen des Abkommens besorgen der amerikanische
NATO-Oberbefehlshaber, auf den die "authority"
übergegangen ist, und der ihm assistierende deutsche General,
vorerst die einzigen Ansprechpartner, die Milošević zur
Verfügung
stehen. Die zwei Überwacher denken und handeln in
militärischen Kategorien, d.h. sie gehen davon aus, daß
Milošević unter den gegebenen Auflagen seine Gewalt – auch
mit
den Mitteln der Kriegslist – möglichst intakt halten will.
Das untersuchen sie, setzen Schranken und sprechen Verbote aus; und sie
übermitteln ihren Rapport an die politischen Instanzen, die daraus
ihre Schlüsse ziehen, ob auf die weitere Mitwirkung
Milošević an
seiner eigenen Entmachtung zu bauen ist oder nicht. Allseits wird damit
gerechnet, daß weitere Widerspenstigkeiten des jugoslawischen
Machthabers zu erwarten sind. Kritische Meinungen – nicht nur der
demokratischen Öffentlichkeit – gehen davon aus, daß
man ihm nun sogar einen gewissen "Schutz" verschafft habe.
Ähnlich wie Saddam H. könne er nun erst recht sein Volk
drangsalieren.
4. Auch wenn die NATO ihren
Krieg gar nicht hat führen müssen: Das Recht des Siegers
gebührt ihr gleichwohl, und von dem macht sie entsprechend
Gebrauch. Nicht, um den Moralisten aller Welt eine Gefälligkeit zu
erweisen. Sondern weil sie an der Moral die Titel schätzt, die zu
Gewalt berechtigen.
Im Kosovo gelten zwei Sorten Recht. Die Tätigkeit diverser "Untersuchungskommissionen", die schon zuvor mit halber
oder ganzer Zustimmung Serbiens, manchmal auch ohne, [33] nach "Kriegsverbrechen", "Massakern" und
überhaupt nach "Verbrechen gegen die Menschlichkeit"
geforscht haben, wird generalisiert. Die serbische Hoheit ist jetzt mit
moralischen Maßstäben konfrontiert, die in den Rang eines
ihr selbst übergeordneten Rechts erhoben sind, bei dessen
Ausübung sie dem Abkommen gemäß mitzuwirken hat und bei
dem sie gewärtigen muß, selbst von ihm belangt zu werden.
Erste Andeutungen, auch Milošević sei vor einer Anklage vor dem
Kriegsverbrechertribunal in Den Haag nicht sicher, folgen prompt. Das
Tribunal beantwortet die Frage nach seiner Zuständigkeit gleich
selbst, indem es die Einreise in das Kosovo beantragt, um seiner
Tätigkeit lege artis nachgehen zu können. Serbien verweigert
die Einreise, da kein "Krieg" stattgefunden habe. Das
Kriegsverbrechertribunal droht daraufhin, Jugoslawien auf die Liste der "Schurkenstaaten" zu setzen, was mehr als nur ein
moralisches Verdikt ist. Das wäre der endgültige
Schlußpunkt unter den prinzipiellen Unrechtsverdacht
gegenüber der serbischen Hoheitsausübung im Kosovo und
überhaupt, der mit der Berufung aufs Menschenrecht immer gemeint
ist. Den behalten sich die Aufsichtsmächte selbst vor.
*
Soweit hat es also der Fortschritt der westlichen Balkan-Politik
gebracht. Die widerstreitenden nationalen Rechte, die das Kosovo zum
Schauplatz eines Krieges machten, stehen sich nach wie vor
unversöhnlich gegenüber, vor Ort bleiben alle Gründe
intakt, die ihn zum berühmten "Pulverfaß auf dem
Balkan" gemacht haben. Nur haben sie ihren obersten Bezugspunkt
in der Macht, die sich im Kosovo zum eigentlichen Souverän aller
Rechtsstandpunkte erklärt hat. Das also ist die "Befriedung", die das westliche Militärbündnis
durchgesetzt hat: Noch ein Stück Balkan, auf dem sich das
Kollektiv der westlichen Aufsichtsmächte als Subjekt der Gewalt
etabliert hat. Damit ist auch die "humanitäre
Katastrophe" im Kosovo beendet.
________________________
[1] Die diesem Beschluß vorausgehende Zurichtung des Kosovo
zum "Konfliktgebiet", Grundlage für die jetzige "Konfliktlösung", ist analysiert in "Noch eine
internationale Friedensstiftung – noch ein Krieg auf dem
Balkan" (GegenStandpunkt 2-98, S.124). Dort auch die
Erklärung, weshalb Serbien die Rolle des
‚naturwüchsigen‘ Feindes des westlichen Ordnungsrechts
auf dem Balkan nicht los wird.
[2] Serbien wird deswegen in regelmäßigen
Abständen vor – naheliegenden, da im Zuge der "Terrorismus"-Bekämpfung gebotenen –
Grenzverletzungen gewarnt. Ein vollständiger Sieg gegen den
kosovo-albanischen Widerstand – das ist jetzt schon klar –
ist für Serbien nicht möglich: Die UÇK kann, solange ihr
nicht jegliche Unterstützung entzogen wird, ihre Guerillataktik,
mit der sie ins Geschehen einsteigt und auf die sie von den serbischen
Streitkräften im Laufe des August wieder zurückgedrängt
wird, auf jeden Fall von albanischem Boden aus fortsetzen.
[3] Diese Erfolge fallen für die demokratische
Öffentlichkeit in den Nationen, aus denen die UÇK
Männer,
Geld, Ausrüstung und das Know-how des Krieges bezieht, zusammen
mit dem "Beginn des Flüchtlingselends". Die von der
NATO protegierte Schlächterei, unter der selbstverständlich
auch die ‚Zivilbevölkerung‘ leidet – die sich in
Interviews stolz zu ihrem nationalistischen Kampf und zur aktiven
Sympathie mit ihren Kämpfern bekennt –, ist hierzulande eine
einzige Ausgeburt serbischer Böswilligkeit. Serbische
Streitkräfte schießen in Häuser, aus denen sie
beschossen werden, verlegen Minen an der albanischen Grenze, um der
UÇK
Rückzug und Nachschub abzuschneiden, in die Flüchtlinge
hineinlaufen – alles in der Absicht, ein mißliebiges Volk
zu beseitigen. Die moralischen Gewichte sind zu diesem Zeitpunkt
eindeutig verteilt: Bei den Kriegshandlungen der UÇK, die vor
serbischen Bürgermeistern, Beamten, aber auch vor
gewöhnlichen Serben nicht Halt machen, handelt es sich allemal um
einen Kampf gegen die Unterdrückung. Serbische Truppen hingegen
"greifen Städte und Dörfer im Kosovo an",
letztlich mit der Absicht, Flüchtlinge zu produzieren. Die taz
berichtet, das serbische Militär würde Gebiete, die es
"gesäubert" hat, anschließend
planmäßig = "sinnlos" verwüsten. Zwei
Abschnitte später lobt die Zeitung die UÇK dafür,
daß
sie sich in den soeben "gesäuberten" Gebieten immer
wieder festsetzt. (19.6.) Ebenso die FAZ: "Die Region war bereits
mehrfach von der serbischen Sonderpolizei angegriffen worden, doch
kehrten UÇK-Kämpfer nach den serbischen Angriffen immer
wieder in
die teilweise zerstörten Dörfer zurück." (23.9.)
Mit der richtigen moralischen Einstellung ist es ein Leichtes, Ursache
und Wirkung eines Krieges zu vertauschen, und ein Sprecher des
US-Außenministeriums gibt die Richtung an: Es zeigten sich
"Anzeichen von systematischen Vertreibungen", und "man hat den
Eindruck, daß wieder geschieht, was man
ethnische Säuberung nennt". (SZ, 5.6.) "Ethnische
Säuberung" – dieser bekannte und beliebte Titel
für das spezielle Verbrechen namens Serbien – bestimmt nun
für ungefähr einen Monat die öffentliche Besprechung.
[4] Diese Spaltung wird durch die militärischen Niederlagen
der UÇK während der nächsten Wochen nur vertieft. Radikale
Führer lassen sich von ihrer guten Sache nicht abbringen,
verbreiten faschistische Durchhalteparolen und lassen auch den einen
oder anderen Kontrahenten verhaften oder liquidieren. Der FR wird das
etwa 3 Monate später klar: Man hätte ‚Dayton‘ von
vornherein erzwingen müssen, "ehe die
‚Terroristen‘ der Befreiungsarmee überhaupt zum
komplizierenden politischen Faktor wurden". (4.9.)
[5] Deswegen zieht er sich dann den Haß einer radikalen UÇK
zu, die das Albaner-"Parlament", also die offizielle
politische Vertretung des Widerstands, als "politische
Kaste" bezeichnet: Führer, die getrennt von der wirklichen
(Volks-)Bewegung operieren, seien "defätistisch und
zerstörerisch". Der gesamte "Verhandlungsprozeß" wird von der UÇK
grundsätzlich torpediert, was bei den Aufsichtsmächten Unmut
und die Forderung provoziert, endlich diese lästige "Uneinheitlichkeit" zu beenden.
[6] Das Treffen der EU-Außenminister am 8.6. findet in "seltener Einmütigkeit und Entschlossenheit" statt.
Ihre internen Querelen wollen sie sich diesmal nicht antun, und auf
einen Vorschlag für die "internationale Präsenz"
können sie sich auch einigen: Man könne "zum
Beispiel" die OSZE hernehmen.
[7] "Am Ende des Krieges wird es auf jeden Fall
Verhandlungen geben, egal, wie lang der Krieg dauert und wie viele Tote
es gibt". (Der US-Vermittler Christopher Hill, NZZ, 30.7.)
[8] Kinkel am 7.7.: Jugoslawien könnte unter "bestimmten, glasklaren Bedingungen" in die OSZE kommen.
[9] "Die Ordnung, die auf dem Kosovo erst entstehen soll,
ist eben so gut oder so schlecht, wie die jeweilige friedensstiftende
Weltmacht dabei sich und ihre Rechte im Kreis von ihresgleichen gewahrt
sieht. Die Herstellung der politischen Einheit der Friedensstifter ist
die weltpolitische Sache – die Regelung für das Kosovo kommt
so zustande oder muß eben warten, wenn ein Ergebnis nach dem
Geschmack einer der Aufsichtsmächte zu wenig ihre Urheberschaft
erkennen läßt." (auf S.131 in GegenStandpunkt 2-98,
S.124)
[10] Die USA bremsen deutsches Vorwärtsdrängen z.B.
einmal mit dem hübschen Argument, "die Greueltaten
müßten erst unerträglich geworden sein".
Rühe hält das für "denkbar
unglücklich". (18.7.)
[11] Rühe behauptet im Zusammenhang mit seiner Kritik am
Scheinaktivismus zudem, die Außenminister hätten den
Militärs sogar verboten, "Untersuchungen und Planungen, die
Voraussetzung für ein militärisches Eingreifen
wären", anzustellen. Da verdreht er die Tatsachen und deren
Bedeutung absichtlich: Die Außenminister legen eben Wert auf eine
solche, den Bündnisgang bestimmende Beschlußfassung, und
hindern keineswegs die Militärs an ihrer "produktiven"
Arbeit. Die Klarstellung dazu bringt ein NATO-Vertreter gleich nebenan:
"Technisch sind wir in der Lage, heute nachmittag die Flüge
aufzunehmen." (FAZ, 9.6.)
[12] In Bosnien war dies formell noch der Fall. Die Eigenart
dieses "Auftragnehmers" NATO bestand darin, daß ohne
ihren Antrag an die UNO die nötige Resolution gar nicht zustande
gekommen wäre; daß diese Resolution zweitens untrennbar
verbunden war mit der gleichzeitig von der NATO zugesicherten
Bereitschaft, sie auch zu verwirklichen. Mit diesem Antrag machte sich
die NATO damals verdient um den Schein einer Gemeinschaft
gleichberechtigter Souveräne, die alle Teilhaber an der
"internationalen Ordnung" und Mitmacher bei der Lösung
"internationaler Ordnungsprobleme" sind. Da es sich aber
darum drehte, mit diesem Mandat widerstreitende Interessen innerhalb
der NATO unter einen Hut – den der USA nämlich – zu
bringen und zugleich Rußland irgendwie "eingebunden"
mitmachen zu lassen; weil sich deswegen die "Partner" mit
eben diesem Mandat, seinen Befugnissen und Aufgabenzuweisungen,
wechselseitig in die Quere kamen, wurde dieser Schein gründlich
strapaziert bis überstrapaziert. Allen voran haben die USA eine
hochgradige Unzufriedenheit mit dieser Art der "Auftragnahme"
entwickelt.
[13] Ein britischer EU-Parlamentarier berichtet, wie ihn das
Studium entsetzlicher Kriegsfolgen unweigerlich zu der Erkenntnis
führt, daß gegen sie einfach nur die Eskalation des Krieges
helfen kann: "Auch er selbst sei nicht automatisch für einen
Militäreinsatz; es könne aber nicht angehen, wenn über
Rechtsgrundlagen gestritten und nichts getan werde, wenn Kleinkindern
die Kehlen durchgeschnitten würden." (NZZ, 9.10.)
[14] Wenn die NATO endgültig nur noch im Namen der
Menschlichkeit unterwegs ist, dann wissen verantwortliche Journalisten
natürlich, daß die NATO wie üblich wieder im Begriff
ist, ihren Auftrag zu vergeigen. Unzählige Fernsehteams sind in
den "Wäldern des Kosovo" unterwegs, von wo aus sie per
Satellit Bilder von den "Waldmenschen" in die
Hauptquartiere funken: Sie haben schon sehr viele "hustende
Kinder" entdeckt, oftmals mit "schlechtem Schuhwerk",
und das Essen ist von "schlechter Qualität". Der
Hergott tut das Seine hinzu und schickt Regen. Minister Rühe
brauchen sie nicht zu belehren, denn der kennt die Jahreszeiten im
Kosovo: "Nicht wir stellen das Ultimatum, sondern der
Winter." Kurz vor der Klimax tritt freilich die Sorge um ein noch
höheres Gut in den Vordergrund: die Glaubwürdigkeit der NATO.
"Wenn wir jetzt nicht zuschlagen, ist die NATO tot" (wieder
Rühe). Niemand scheint aufzufallen, daß das Achten darauf,
daß die NATO zuverlässig Furcht und Schrecken verbreiten
können muß, ein bißchen was anderes ist als die
Bekämpfung einer "humanitären Katastrophe". Aber
wahrscheinlich tut sie das nur, um hinterher wieder Gutes tun zu
können.
[15] Eine dritte, vierte, fünfte... Funktion haben sie auch
noch. Minister Kinkel kann seinem Volk – das den Aufwand für
diese Gestalten dort unten vielleicht nicht so recht nachvollziehen mag
– an den Flüchtlingen klarmachen, daß es den deutschen
Beitrag zum militärischen Eingreifen unbedingt braucht, weil die
sonst nämlich zu "uns" kommen. (Am 9.7. landet er
einen besonderen Coup, landet mit einem Hubschrauber in einem
Flüchtlingslager in Albanien, drückt mehreren
Kosovo-Albanern, die nicht wissen, wie ihnen geschieht, die Hand,
stellt ein paar Lebensmittel und Medikamente ab und sagt: "Ihr
seid Klasse, müßt aber hierbleiben".) Wenn er es dann
mit dem Vorwurf zu tun kriegt, damit würde er doch der guten
moralischen Begründung des deutschen Einsatzes in den Rücken
fallen – "Dieses Statement ist an Zynismus kaum zu
überbieten. Denn deutlicher kann man nicht zum Ausdruck bringen,
daß Mord, Vertreibung und Elend Tausender nichts sind, wenn es
darum geht, die eigenen Grenzen abzuschotten." (taz, 9.6.)
–, dann hat er schon wieder ein gutes Argument: Es geht darum, "die Flüchtlingsproblematik im Entstehen zu
bekämpfen"; das paßt gut ins allgemeine
Menschlichkeitsgebot und deutet noch einmal auf den wirklichen
Bösewicht, der fürs "Entstehen" verantwortlich
ist. Schließlich meldet Kinkel mit seinem "Zynismus"
ein moralisch und imperialistisch besonders feines Recht Deutschlands
an: Wer die meisten Flüchtlinge aufnimmt, verfügt auch
über eine besondere Betroffenheit. Auf der einen Seite
erfährt Deutschland in Form der "Flüchtlingsproblematik" die serbische
Aggressivität am eigenen Leib, deswegen hat es auf der anderen ein
herausragendes Interesse und ein besonderes nationales Recht, das es in
die NATO-Drohung gegen Serbien einbringt, und einen besonderen Grund,
sich an den "Herd" zu begeben und eben dort diese
Aggressivität zu unterbinden.
[16] Zur selben Zeit hält die NATO Flugmanöver an der
serbisch-albanischen Grenze ab, die sie als eine Art Daumendrücken
für den Verhandlungserfolg darstellt. Es handele sich doch nur um
einen Beitrag zum gemeinsamen Anliegen "Druck auf Milošević".
Rußland reagiert mit "Enttäuschung
und Verärgerung", beläßt es aber bei der
zurückhaltenden Beschwerde, nicht rechtzeitig "informiert" worden
zu sein. Außenminister Primakow: "Kaum in Moskau zurück (von
einem Besuch in Brüssel bei
der NATO), erfuhr ich von den Manövern. Das war für mich eine
Überraschung." Darauf die herzige Antwort des NATO-Generals
Shelton, "man habe die Manöver geplant, um die vom
russischen Präsidenten geplanten Schritte zur Regulierung der Lage
im Kosovo zu unterstützen." (FAZ, 16.6.)
[17] "Keine repressiven Handlungen gegen die
Zivilbevölkerung; volle Bewegungsfreiheit; Förderung der
Flüchtlingsrückkehr"; er kündigt den Abzug seiner
Truppen an, allerdings "in Übereinstimmung mit dem Ende der
terroristischen Aktivitäten". Insbesondere will er "internationale Beobachter" zu- und noch in der derselben
Woche die internationalen Hilfsorganisationen UNHCR und IRK, denen er
Bewegungsfreiheit zusichert, hereinlassen.
[18] "Die russischen Bemühungen um eine Beilegung der
Kosovo-Krise sind aus amerikanischer Sicht vorerst gescheitert. Die
zwischen Rußland und Jugoslawien ausgehandelte Vereinbarung
reiche nicht aus." (SZ, 18.6.)
[19] Die Öffentlichkeit geht auf Distanz zur
unterdrückten Minderheit – "Der Widerstand der
Kosovo-Albaner verliert seine Unschuld" – und entdeckt nun
sogar "umgekehrte ethnische Säuberung" auf Seiten der UÇK.
[20] Die fortschreitenden militärischen Erfolge Serbiens
gehen einher mit einer "Aufweichung" seiner politischen
Haltung. Milošević unterbreitet mehrmals das Angebot eines
wiedereingeführten "Autonomiestatuts", das immer "weitreichender" wird. Das Angebot wird ignoriert oder als
unglaubwürdig abgelehnt. Wenig Aufsehen erregen auch seine
Versprechen, internationalen Hilfsorganisationen und einer "Beobachtermission der OSZE" – ein Signal an die EU
– den freien Zugang zum Kosovo zu erlauben. Die alles
entscheidende Forderung nach einer "internationalen Beteiligung
und Aufsicht" unterschreibt er nämlich bei allem nicht.
[21] "Act warn" ist die Meldung, welche
Streitkräfte verbindlich zur Verfügung gestellt werden; dazu
gehört "Force prep", die Mitteilung über
Bereitschaftsgrad und Verlegungsdauer. "Act request" ist
die Bestätigung dieser Zusage, der Meldende kann seine Zusage
einhalten, geschehen am 1.10. "Act ord" ist die
tatsächliche Verlegung der Streitkräfte und die Abgabe des
Kommandos an den NATO-Oberbefehlshaber ("transfer of
authority").
[22] "Act ord" ist, wie Solana erklärt, "noch keine Kriegserklärung".
[23] Generalsekretär Kofi Annan wird kurz vor
Toresschluß auch noch nach Belgrad geschickt und soll einen "Bericht als Entscheidungsgrundlage" vorlegen. Der Mann
weiß, was von ihm erwartet wird, hält sich raus und gelangt
zu "Schuldzuweisungen an Belgrad", die jedoch "nicht
eindeutig" sind. So reicht er also auftragsgemäß
seinen Auftrag zurück.
[24] Zudem bietet er Rußland an, die Resolution im
NATO-Sinne zu benutzen, damit aber Rußland nicht zu behelligen:
"Bei einer richtigen und sinngemäßen Auslegung der
Resolution brauche man Rußland nicht zu einer – für
dieses Land schwierigen – Zustimmung bei einer neuen Abstimmung
im Sicherheitsrat zu drängen." (FAZ, 5.10.) Sehr
fürsorglich vom Generalsekretär, sich Sorgen über
Schwierigkeiten anderer zu machen – nachdem man sie
hineingebracht hat.
[25] "Wenn die NATO zur Gewalt greifen muß, werden
wir uns nicht von der Tatsache abschrecken lassen, daß die Russen
nicht zustimmen". (Albright, NZZ, 9.10.)
Die Kontaktgruppe, von der fast drei Monate lang kaum etwas zu
hören war, hat getagt, aber offensichtlich ohne ihr ständiges
Mitglied Rußland: Sie hat nämlich einen "einmütigen Beschluß" gefaßt, den der
britische Außenminister Rußland überbringen wird.
[26] Drohungen, zum Kalten Krieg zurückzukehren und wieder
mehr Wert auf den Ausbau der Armee zu legen, deuten geradezu darauf,
wie es zu dieser Entmachtung gekommen ist und wie sehr sich
Rußland selbst der Fähigkeit zur Gegenwehr beraubt hat.
[27] Rühe und Kinkel beherrschen dabei eine ausgefuchste
Arbeitsteilung. Während Rühe meistens forsch gegen ein
UN-Mandat plädiert und damit die "atlantische
Brücke" sichert, kümmert sich Kinkel mehr um die "guten
Beziehungen zu Rußland" und um "europäische Sorgen". Nach
Miloševićs Besuch in Moskau "legt" er sich "fest": "Nur mit
UN-Mandat!" Ein paar Tage später bedauert er eben in Moskau, "ein
Eingreifen wäre derzeit nicht möglich, weil der
Konflikt noch eine innere Angelegenheit sei" (SZ, 17.7.) –
womit er Rußland zugleich recht gibt und es kritisiert. "Nur mit
Mandat!" wird zum "Kabinettsbeschluß" – den der Kanzler
aber
Mitte August wieder zur Disposition stellt. Während Kinkel sich
allmählich "überzeugen" läßt –
Mitte September beharrt er nicht mehr auf dem Mandat, hat es aber nicht
so eilig –, droht Rühe Serbien eigenmächtig den
Militärschlag an, "begrenzte Luftschläge gegen
Jugoslawien" gingen sowieso ohne Mandat, und er drängt die
NATO zum "Ultimatum". Damit ist er amerikanischer als
Amerika und handelt sich von Solana eine Zurückweisung ein: Die
Zeit für ein Ultimatum sei noch nicht gekommen – es setzt
nämlich den Beschluß zum "act ord" voraus.
[28] Ein Kommentar der SZ faßt das in der Figur eines
Dienstes zusammen, den man sich aus eigener Machtvollkommenheit
schafft: "Die NATO arbeitet auf eigene Rechnung und wird so zum
Instrument der weltweiten Konfliktbewältigung". (8.10.)
[29] Solana erklärt, die NATO halte die Resolution 1199
für eine "ausreichende Grundlage für
Gewaltanwendung", es werde aber "keine offiziellen
Erläuterungen" geben (NZZ, 14.10.). Vorherige Versuche, in
einer reichlich komplizierten "Paketlösung"
verschiedene Völkerrechts- und Menschenrechtstitel
ineinanderzurühren, sind damit für überflüssig
erklärt worden, stehen aber für spätere Verwendung
bereit.
[30] Gegen eine Eskalation kann man nämlich nicht
argumentieren; man kann da nur die Schnauze halten, und das muß
man laut sagen: "Die Entwicklung der Eskalation ist so weit
gediehen, daß es wahrscheinlich keinen Zweck mehr hätte,
völkerrechtlich zu argumentieren". (Ludger Vollmer, SZ,
12.10.)
[31] "Das Bündnis und vor allem Washington haben
sozusagen eine Million an politischem Kapital für die
Selbstmobilisierung auswerfen müssen und dafür eine
Hundert-Mark-Konzession von Milošević bekommen... Man (Milošević) ist
zwar nur eine Charge der Weltpolitik, aber man darf die Großen
auf der Bühne hin- und herspringen lassen. Richard Holbrooke wird
nach Belgrad zitiert, wo er 50 Stunden lang am Hof des Slobodan
vortragen darf, bevor ihm das Brötchen des Entgegenkommens
hingeworfen wird... Das einzige Problem der Diktatoren: Die
Provokationen müssen so fein dosiert sein, daß sie nicht den
großen Schlag herausfordern. In diesem Spiel, das die USA im Irak
bereits verloren haben, befindet sich jetzt die NATO." (SZ,
14.10.)
[32] Die UÇK hatte sich zu einem Waffenstillstand während
eines NATO-Angriffs bereit erklärt, dann aber diese Zusage selbst
zurückgezogen.
[33] "Streit um Massengrab". Belgrad protestiert in
Bonn und Wien, "zumal die EU-Beobachtergruppe im Kosovo, die
allerdings ‚kein Mandat zum Graben‘ hatte, die
Zahlenangaben nicht bestätigen konnte." (FAZ, 5.10.) Ein
gelungenes Beispiel, wie Leichen Rechtsansprüche produzieren, was
Serbien genau versteht und weshalb es auf einem genauen
Leichenuntersuchungsgesetz besteht. Das "Zahlenmaterial"
der verschiedenen Untersuchungskommissionen liegt jetzt bereit und
dient dem Aufbau des neuen Rechts.
© 1992-2007 by GegenStandpunkt Verlag, München. Alle Rechte vorbehalten.
