Bosnien unter dem Friedensdiktat von Dayton
Über die Schwierigkeiten der NATO-Weltordner, eine Staatsgründung zu erzwingen
Widersprüche einer Staatsgründung von außen
Die Vertreter der maßgeblichen Aufsichtsmächte haben Bilanz
gezogen und sind äußerst unzufrieden mit der "Umsetzung des Friedensprozesses von Dayton". Zwar, so
lautet allenthalben ihre einfältige Diagnose, hat die vereinte
Militärintervention unter dem Kommando der NATO in Bosnien den
Krieg beendet, aber der geplante zivile Aufbau eines funktionierenden
Staatswesens macht keine entscheidenden Fortschritte. [1] Auf die 60000
Mann starke IFOR-Truppe folgten 30000 SFOR-Soldaten, und auch deren
Mandatszeit ist bereits zur Hälfte abgelaufen. Immer noch ist die
projektierte Überflüssigkeit einer militärischen
Besatzungsmacht nicht in Sicht: Vom amerikanischen Geheimdienst CIA bis
zu Herrn Kinkel erwartet man eher den Ausbruch neuer Feindseligkeiten
für den Fall eines Abzugs im nächsten Jahr.
Widersprüche einer Staatsgründung von außen
Tatsächlich ist die Vorstellung ziemlich abwegig, mit dem
Schweigen der Waffen zwischen den Bürgerkriegsparteien stünde
der Verwirklichung eines multikulturellen bosnischen Staates eigentlich
nichts mehr im Wege. Um so mehr kündet diese Idee vom
entsprechenden politischen Interesse der Ordnungsmächte, das
einerseits keinen Widerspruch duldet, andererseits aber nicht
vorankommt. Der Kriegseinsatz der NATO zur Trennung der kämpfenden
Parteien sowie die anschließende Militärpräsenz zur "Sicherung des Friedensprozesses" sind schließlich
ein Zeugnis dafür, daß das ganze Projekt eines autonomen
Staates Bosnien-Herzegowina nur über den Zwang einer
überlegenen, und zwar externen Gewalt auf die Welt gekommen ist.
Es stand von vornherein im Gegensatz zum politischen Willen der lokalen
Mächte, die – in Gestalt dreier "ethnischer
Kriegsparteien" – mitten in Staatsgründungskriegen
gegeneinander engagiert waren. So wenig der "Frieden" auf
dem Balkan das Werk der ortsansässigen politischen Parteien selbst
ist, so folgerichtig ist es, daß diese sich nach dem
vollstreckten Kriegsverbot nicht gemeinsam der Realisierung des ihnen
oktroyierten, also fremden Staatswillens widmen, jedenfalls nicht
freiwillig. Denn es konkurrieren ja nicht unterschiedliche
Staatsprogramme oder Parteien um die Macht innerhalb eines
wohldefinierten und von allen anerkannten Staatswesens, sondern
kroatische, serbische und muslimische Nationalisten, die gar nicht
vorhaben, ein und denselben Staat zu schaffen und zu regieren. Ihre
Staatsziele schließen sich aus.
Es ist eine eigenartige Verkehrung dieses Ausgangspunktes, wenn die
Urheber und Propagandisten des Dayton-Diktats auf der Suche nach den
"Ursachen" des fehlenden Einigungswillens bei der "Erklärung"
landen, es trügen immer noch
dieselben Leute die Verantwortung in der Politik, die bis vor kurzem
noch für den Krieg verantwortlich zeichneten. Abgesehen davon,
daß das Kriegführen aus nationaler Sicht nun mal kein
Einwand gegen die Politiker ist, die ihn anordnen – außer
wenn sie verlieren –, spricht der Sachverhalt offenkundig weniger
für überholte Personalpolitik als für die
Kontinuität der gegensätzlichen politischen Anliegen, die zum
Krieg geführt haben. Was die Erfinder und Durchsetzer des
"Friedensprozesses" an Hindernissen ausmachen und als
Machenschaften uneinsichtiger Saboteure brandmarken, sind der Sache
nach nichts anderes als die unvermeidlichen Kollisionen ihres Programms
einer Staatsgründung von außen mit den Parteien vor Ort, die
an ihrem Nationalismus festhalten, von der NATO aber als Vollstrecker
des in Dayton abgezeichneten multiethnischen Bosniengebildes vorgesehen
sind. Die westlichen Aufpasser werden schlicht und einfach damit
konfrontiert, daß die elementaren Bausteine eines Staates nicht
gegeben bzw. gerade umstritten sind.
Es gibt keinen einheitlichen Staatswillen, der durch ein durchgesetztes
Gewaltmonopol verkörpert und vollstreckt wird. Es gibt drei
unvereinbare Staatsprojekte, wovon zwei – das
"bosnisch-serbische" und das "bosnisch-kroatische" – identisch
sind mit der
Zerschlagung und Teilung Bosniens, da sie den Anschluß an Serbien
bzw. Kroatien bezwecken, während das dritte, "muslimische", sich
zwar zu einer gesamtbosnischen
Herrschaft bekennt, darunter aber vor allem die Zerschlagung des
politischen Willens der anderen Parteien versteht. Soweit ein
Gewaltmonopol existiert, hat es die NATO; es reicht so weit, wie die
Macht ihrer Truppen es garantiert. Weil und sofern das atlantische
Kriegsbündnis die unvereinbaren Staatsgründungsabsichten
nicht endgültig und dauerhaft bricht, sondern deren Verfechter auf
ihr Daytoner Kunstprodukt verpflichten will, setzen die einstweilen an
der Fortsetzung des Krieges gehinderten Fronten ihre Feindschaft mit
anderen Mitteln fort, statt sie wie verlangt durch den "Geist der
Versöhnung" zu ersetzen.
Ein einheitliches staatliches Territorium wird ebenfalls nicht durch
eine nationale Autorität, sondern nur durch die "Internationale Staatengemeinschaft" verbürgt. Diese
hat die Außengrenzen der ehemaligen jugoslawischen Unterrepublik
Bosnien als "unverrückbar" definiert und gleichzeitig
eine innere Grenzziehung zwischen einer "Serbischen
Republik" und einer "Muslimisch-Kroatischen
Föderation" verordnet, welche den Ab- bzw.
Ausgrenzungswillen der verfeindeten Nationalismen anerkennen und
dadurch zugleich relativieren soll. Tatsächlich und logischerweise
sehen sich nun alle drei Parteien herausgefordert, "ihre"
Territorien als ihren Besitzstand zu sichern – wofür die "ethnische Säuberung" und Reinhaltung das probate
Mittel ist.
Das designierte Volk eines gesamtbosnischen Staates ist nämlich
ebenfalls eine Chimäre. Die vorgeblichen Teile desselben sind als
drei gegeneinander aufgehetzte und von "ihren" politischen
Führern in Beschlag genommene Nationalitäten präsent
bzw. unterwegs – eben als Manövriermassen der respektiven
völkischen Staatsprogramme. Zwei der Völkerschaften
definieren sich als Teile eines anderen, größeren Volkes und
tendieren demgemäß – solange sie von einer
imperialistischen Übermacht gehindert werden, sich mit den
Angehörigen ihrer "Volksnatur" staatlich zu vereinigen
– zum Separatismus innerhalb der verordneten "gesamtstaatlichen Strukturen", wenn nicht gleich zum
Boykott derselben. Als Saboteure eines schönen Friedensprozesses
oder als Opfer ihrer politischen Regime kommen sich die Bürger,
soweit sie sich als Mitglieder eines serbischen, kroatischen,
muslimischen Volkes begreifen, dabei nicht vor, sondern als gute
Patrioten, die sich das "Recht auf Selbstbestimmung" nicht
nehmen lassen. Und das bosniakische Mehrheitsvolk beansprucht als
solches das Recht der Vorherrschaft über eben diese "ethnischen Minderheiten", die als fünfte Kolonne
feindlich gesinnter Nachbarstaaten wahrgenommen und in Schach gehalten
werden müssen. Für multikulturelle "Vermischung"
ist die islamisch politisierte völkische Abteilung folglich
ebensowenig zu haben.
Die Instrumente der Ordnungsmächte bei der Einrichtung eines Mandatar-Staates Bosnien-Herzegowina
Daß die gewaltsame Trennung von Kriegsparteien mittels
überlegener Macht nicht dasselbe ist wie deren bereitwillige
Unterwerfung unter den Bauplan eines "fremdbestimmten"
Staates, war den Herrschaften der NATO-Okkupationsmacht durchaus
bewußt. Unter dem Titel "Ziviler Aufbau" haben sie
sich deshalb eine Mischung aus Zwangsmaßnahmen und Angeboten
einfallen lassen, die für die Verwandlung des oktroyierten
Waffenstillstands in positive Einsicht und konstruktive Umsetzung des "Friedensplans" sorgen sollen. Denn eine dauerhafte
militärische Besetzung, ein NATO-Protektorat als Staatsersatz ist
nicht geplant. Der moderne Wille zu strategisch-politischer
Vorherrschaft ist anspruchsvoll: Er begnügt sich nicht damit,
seine Macht an die Stelle der bekämpften zu setzten und deren
störende Ambitionen dadurch dauerhaft zu unterdrücken, er
verlangt die autonome Erfüllung seiner Imperative durch die
ortsansässigen politischen Mannschaften. Die internationale
Aufsicht über Bosnien zielt auf das Kunststück, den
konstruktiven Willen ihrer Aufsichtsobjekte zur Erfüllung ihres
Diktats zu erzwingen. Die Ex-Kriegsparteien sollen das in Dayton
erfundene Staatsprojekt, das gegen ihre nationalen Strebungen gerichtet
ist, zu ihrer Sache machen. Die Eskalation der "Implementierung
der Vereinbarung von Dayton" verdankt sich dieser Ambition.
Die Verordnung demokratischer Wahlen
Dieser zentrale Bestandteil des Friedensdiktats von Dayton dient nicht
nur der Umsetzung jener Ideologie, derzufolge Stimmzettel nicht weniger
taugliche, gleichwohl viel humanere Mittel der Austragung politischer
Gegensätze sind als Gewehre. Dadurch, daß Serben, Kroaten
und Muslime gleichermaßen das Personal staatlicher Institutionen,
vor allem eines zentralen Parlaments, wählen, sollen sie sich
sozusagen automatisch als Staatsbürger eines neuen staatlichen
Subjekts und damit den bosnischen Gesamtstaat konstituieren und
legitimieren. Eine List freilich hat nicht verfangen. Die
Angehörigen der verschiedenen Volksgruppen bestätigten die
jeweiligen nationalen Kriegsparteien und damit genau die Programme, die
zuvor für einen Krieg gut waren und nach Dayton die Fortsetzung
des Kampfes mit anderen Mitteln propagierten – und sonst gar
nichts. So mußten die internationalen Wahlbeobachter den banalen
Umstand zur Kenntnis nehmen, daß der demokratische
Wahlformalismus nur da zur Anerkennung und Ermächtigung einer
zentralen staatlichen Autorität führt, wo die alternativlose
Unterwerfung unter ein allgemein gültiges Gewaltmonopol vorher,
also unabhängig vom Wahlakt, bereits feststeht. Die Kommunalwahlen
sind mehrmals verschoben worden, da deren "Manipulation"
zugunsten ethnischer Frontbegradigungen zu offenkundig war und sie
gerade deswegen ausgesprochen bürgerkriegsträchtig
erschienen. Sie sollen jetzt im September stattfinden. Die
Voraussetzungen haben sich nicht sehr verändert, wie die aktuell
eskalierende Gewohnheit des Häuseranzündens und Vertreibens
von Leuten zeigt, die an ihre ehemaligen Wohnorte – die auch
potentielle Wahlorte von Flüchtlingen sind –
zurückkehren wollen.
Der erpresserische Einsatz wirtschaftlicher Anreize
Als hauptsächliche Attraktion für die gegnerischen Parteien
sieht die Dayton-Strategie "internationale Finanzhilfe" zum
Wiederaufbau vor, die sich bis zum Jahr 2000 auf genau 5,1 Milliarden
Dollar belaufen soll. Gezahlt wird unter der Bedingung und zu dem
Zweck, daß die Auflagen der "Internationalen
Gemeinschaft" erfüllt werden und "die Hilfe dem Aufbau
eines geeinten Landes förderlich ist". [2] Das Kalkül
liegt auf der Hand. Die Garantiemächte des bosnischen
Modellstaates gehen davon aus, daß das Kriegsverbot einerseits,
das vom Krieg ruinierte Inventar des Landes andererseits, schon
dafür sorgen werden, daß das Bedürfnis nach einem
Aufbau wirtschaftlicher Existenzgrundlagen unabweisbar in den
Vordergrund tritt – und somit die politischen Führer der
involvierten Volksgruppen bestens erpreßbar werden, da sie nun
mal auf auswärtige Unterstützung angewiesen sind. Wie sich
zeigt, geht die Rechnung nur bedingt auf.
Das Geld ist zu einem Gutteil für die Instandsetzung von
Gebäuden und Straßen, zur Wiederherstellung von Wasser- und
Energieversorgung sowie Telefonverbindungen etc. vorgesehen.
Natürlich entsprechen solche "Infrastrukturprojekte"
einem elementaren Grunderfordernis nicht nur für ein ordentliches
gesellschaftliches Leben, sondern auch für den Aufbau einer jeden
staatsgewaltigen Ordnung. Also werden sie seitens aller bosnischer
Politiker auch dringend gewünscht und sind für den Tausch
gegen einige politische Zugeständnisse gut. Die Hilfsangebote
zielen aber auf mehr. Sie stehen für die politische Demonstration,
daß es sich lohnt, die bis dato herrschenden Staatsambitionen
fallen zu lassen und den politischen Willen im Sinne der NATO-Vorgaben
zu korrigieren. Politiker, die für ihr
Staats(gründungs)programm Krieg führen und Reichtum opfern,
lassen sich ihr nationales Projekt jedoch nicht für Lebensmittel
abkaufen, es geht schließlich um Höheres. Der von den
"Hilfeempfängern" praktizierte opportunistische Umgang
mit den erpresserischen Angeboten ist etwas anderes als die verlangte
Unterwerfung unter das Diktat von Dayton. Ein Ende der ethnischen
Abgrenzungspolitik und der Wertschätzung der vom Haager Tribunal
verfolgten "Kriegsverbrecher" hat deshalb bis heute
nirgendwo stattgefunden. Und auch die auf der jüngsten
"Geberkonferenz" beschlossene Forcierung "gemeinschaftsfördernder
Projekte" wie Straßen,
welche die bosnisch-kroatische Föderation mit der Serbischen
Republik verbinden, hat den Haken, daß die kindisch anvisierte
"völkerverbindende" Wirkung von Verkehrstechnik und
Telefonnetzen nun mal deren Willen zum gemeinsamen Verkehr voraussetzt.
Die in Aussicht gestellten Gelder sollen gleichzeitig einen "Neustart" der bosnischen Wirtschaft ermöglichen.
Schon kündet die Weltbank stolz von einem "markanten
Wirtschaftsaufschwung von 50%" im letzten Jahr, nämlich in
der muslimisch-kroatischen Föderation, im Gegensatz zum
Nullwachstum der Republika Srpska, die wegen ihrer "Obstruktionspolitik" gegen das Dayton-Abkommen gerade 2%
der verfügbaren Mittel erhalten hat. (NZZ 6.6.97) Mal abgesehen
davon, wieviel 50% auf eine zusammengebrochene Produktion wohl sind,
ist die suggerierte Neustart-Perspektive eine einzige Ideologie. Als ob
es da eine "Wirtschaft" gäbe, die – bei einmal
reparierten Fabriken und Maschinen – bloß wieder zu starten
bräuchte! Als ob die alten Grundlagen und funktionellen
Zusammenhänge des Produzierens, Kaufens und Verkaufens, wie sie
das ökonomische Leben in der ehemaligen bosnischen Republik
Jugoslawiens bestimmten, noch existierten bzw. bei hinreichend gutem
Willen leicht ersetzbar wären! Als ob die Finanzierung von
Häuser- und Straßenbau und die Subventionierung von
Friseuren und Malerfirmen für die Aufbesserung der Fassaden
("Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen") so
etwas wie eine politische Ökonomie, also eine ökonomische
Basis des politisch dekretierten selbständigen bosnischen Staates
begründen könnten und würden! Die Lächerlichkeit
von Erfolgsmeldungen der Art, daß die Arbeitslosigkeit durch die
Schaffung "temporärer (!) Arbeitsplätze" in "Bau und Dienstleistung" teilweise bereits unter 50%
gesunken sei, während die "Industrie noch (!) zu 80 bis 90%
stillsteht" (ebd.), ist kaum zu überbieten. Der Unsinn des
ganzen Aufbruchsversprechens wird von den edlen Spendern implizit
selbst eingestanden, freilich in der optimistischen Version, jetzt sei
natürlich "Anlagekapital nötig", [3] daran
entscheide sich letztlich der Sinn der Strukturhilfe; um aber privaten
Kapitalanlegern aus aller Welt einen attraktiven Standort zu bieten,
sei wiederum "politische Stabilität" die erste
Bürger- und Politikerpflicht. Darum geht es nämlich den
verantwortungsvollen Friedensaufbauüberwachungsnationen mit ihren
finanziellen Anreizen: um die Herstellung einer verläßlichen
Gewaltordnung. Und dazu sollen die mehr oder weniger renitenten
Politikermannschaften vor Ort mittels eines zivilen Aufbauprogramms
gebracht werden. Das ökonomische Wohlergehen des aus der Taufe
gehobenen bosnischen Modellstaates, geschweige denn das der Masse
seiner Untertanen, interessiert niemanden – die Übernahme
diesbezüglicher "Verantwortung" ist folglich auch
nicht beabsichtigt. "Kein Marshallplan", sondern –
wie es hier wie im Falle der Neger heißt – "Hilfe zur
Selbsthilfe" ist angesagt, denn "eine endlose
Subventionierung des kriegsgeschädigten Landes komme nicht in
Frage", so die Europäische Kommission. (ebd.) Die
erpresserische Wirkung der Angebote lebt denn auch einzig von der
negativen Alternative: Ohne politisches Wohlverhalten gibt es keine
Mittel und damit garantiert überhaupt keine Perspektive –
außer der puren Verelendung und Zerstörung aller staatlichen
Grundlagen.
Weil die politischen Führer der rivalisierenden bosnischen
Parteien auf die ökonomischen Offerten der Kontrollmächte
zwar scharf sind, deswegen aber noch lange nicht ihre nationalen
Zielsetzungen fallen lassen, leisten sie bei der Erfüllung der
politischen Auflagen – wenn überhaupt – eine Art "Dienst nach Vorschrift", der dem "Geist" des
Daytoner-Vertrags widerspricht. Auch die Verwendung der kassierten
Hilfsgelder erfolgt naturgemäß so weit wie möglich
unter dem Gesichtspunkt der direkten oder mittelbaren Stärkung
ihrer politischen Macht. Kein Wunder umgekehrt, wenn trotz strikten "Projektbezugs" immer eine Begünstigung und
Bereicherung seitens der Parteielite und ihrer Klientel stattfindet
– zumal von einem jenseits politischer Interessen und
Interessenten existierenden Wirtschaftsleben in dem kriegsruinierten
Land ohnehin nicht die Rede sein kann. Diesen Sachverhalt hat der Hohe
Kommissar der "Internationalen Gemeinschaft", Westendorp,
nun plötzlich als "Korruption" entdeckt und
gebrandmarkt [4] – und eine Untersuchungskommission über den "Mißbrauch" der Hilfsgelder eingerichtet. Was die
westlichen Aufsichtsmächte stört, wenn sie unter dem Titel "Korruption" den angeblich zweckwidrigen Gebrauch der
überwiesenen Finanzen angreifen, ist wiederum nichts anderes als
der mangelnde politische Gehorsam der im Prinzip für
förderungswürdig angesehenen bosniakischen und kroatischen
Politiker gegenüber den höheren Weisungen aus Brüssel
und Washington. Auch Izetbegović und der "Hintermann"
seines bosnisch-kroatischen Föderationspartners, Tuđman, setzen
ihre ethnische Konsolidierungspolitik "unter Verstoß gegen
Bedingungen des Daytoner Friedensprozesses" unverdrossen fort und
tragen ihren Teil zur "Sabotage" der vorgeschriebenen
gesamtstaatlichen Institutionen bei.
Angesichts solcher Mißachtung der erlassenen Zwangsauflagen
setzen die Verwalter der Weltordnung und des Geldes auf
verschärfte "Konditionalität". Der Logik der
ökonomischen Erpressung gemäß drohen sie mit dem Entzug
von Hilfe für den Fall weiterer Unbotmäßigkeit, machen
die Drohung auch wahr. Das geschieht selektiv, eben je nach der
grundsätzlichen Beurteilung der Kooperationsbereitschaft der drei "Konfliktparteien". Die bosnischen Serben erhielten von
vorneherein praktisch kein Geld – und das soll auch so bleiben,
solange sie die so definierten Oberkriegsverbrecher Karadžić und Mladić
nicht dem Tribunal der Kriegsbeaufsichtigungsmächte ausliefern.
Die sechsmonatige Verschiebung der diesjährigen "Geberkonferenz" wie die zeitweise Blockierung zugesagter
Gelder an Tuđmans Kroatien und die weitere Nichtaufnahme der
Föderativen Republik Jugoslawien in den Internationalen
Währungsfonds sind ebenfalls Maßnahmen, mit denen
erklärtermaßen der Druck auf die zuständigen Machthaber
erhöht wird. Parallel dazu grassiert die Klage, wie schwer es "uns" die Balkanesen doch machen, den armen Bosniern zu
helfen. Dabei zeugt gerade die Eskalation des Prinzips von Strafe und
Belohnung bei der Kalkulation der "Hilfe", daß es
darum nicht geht und noch nie gegangen ist. [5] Sondern um ein Exempel
imperialistischer Ordnungsstiftung. Und die Politik der
ökonomischen Anreize ist und bleibt darauf berechnet, also auch
davon abhängig, daß und wieweit die politischen Adressaten
von Angeboten und Entzug sich erpressen lassen. In diesem Spiel ist die
Verelendung der Bevölkerung ein Faktor – und insofern auch
eingeplant.
Flüchtlinge im Einsatz für eine durchmischte Gesellschaft – in Bosnien!
Dieselben Mächte, die zuerst die völkischen Gegensätze
im alten Jugoslawien und damit auch in Bosnien aufgerührt und
stark gemacht haben, verordnen den Bosniern im Abkommen von Dayton
genau den "unnatürlichen" Vielvölkerstaat, der
ihrem vorherigen Urteil zufolge lebensunfähig ist. Gegen die
völkische Entmischung, die inzwischen dank Bürgerkrieg und
ethnischen Säuberungen erreicht ist, bestehen sie auf erneuter
Durchmischung und machen ihre Aufbauhilfen von der Bereitschaft der
Parteien abhängig, daß diese die ethnischen Säuberungen
rückgängig machen. Dadurch wollen sie die Bildung des
Staatsvolkes erzwingen, das ihrer "multinationalen"
Staatskreation eine politisch-soziale Realität unterlegt. Die
Forderung stößt auf hartnäckigen Widerstand der zur
kollektiven Regierung dieses Volkes ausersehenen Politikermannschaften,
die im Gegenteil in der rassistischen Konsolidierung ihrer
Machtpositionen das Unterpfand ihrer Staatsvisionen erblicken. Das gilt
für die serbische wie auch für die kroatische und die
muslimische Abteilung, die von den Amerikanern zu einer Föderation
zusammengezwungen worden sind.
Der verlogene Humanismus der Parole "Alle Vertriebenen und
Flüchtlinge müssen wieder in ihre Heimat zurückkehren
dürfen" ignoriert, daß es so etwas wie ein Zurück
in das, was einmal Heimat war, nicht mehr gibt: Der Staat existiert
nicht mehr, in dem die diversen Volksgruppen mit- und nebeneinander
gelebt hatten; die Mittel gibt es nicht mehr, die ihnen ihr Auskommen
verschafften, die Häuser stehen nicht mehr oder sind nun von
anderen Flüchtlingen bewohnt, die sich in das Machtgebiet ihrer
jeweiligen völkischen Einheit gerettet haben. Es ist von
vornherein klar, daß eine Durchführung des
Rückkehrprogramms neue Feindseligkeiten hervorruft, und neue
Vertreibungen einschließt. Das Programm kümmert sich nicht
darum, ob die Flüchtlinge überhaupt dorthin wollen, wo die
internationale Gemeinschaft ihnen eine politische Funktion zuweist. Die
Leute werden auf ihr Risiko dorthin geschickt, wo sie auf jeden Fall
nicht willkommen, wahrscheinlich sogar bedroht sind. Die SFOR schafft
die Konflikte und verspricht, wenn Opfer entstanden sind, ethnische
Feindseligkeiten der Volksgruppen nicht zu dulden.
Die Europäische Union unter Federführung der Deutschen
spricht den Zweck des "Heimatrechts" deutlicher aus, und
sie verfügt über eine originelle Methode, das Zusammenleben
der verfeindeten Volksgruppen zu erzwingen: Die Massen bosnischer
Kriegsflüchtlinge, die vor allem nach Deutschland kamen und die
Deutschland schnellstens wieder loswerden will, werden – zur Not
gewaltsam – in die ethnische Frontstellung zurückgeschickt.
Kanther und Kinkel geben sich gar nicht mehr den Anschein, ihr Projekt
diene irgendeinem Interesse der Flüchtlinge: "Die bosnischen
Kriegsflüchtlinge müssen in ihre Heimat zurückkehren,
weil dort viel Arbeit auf sie wartet." Die deutschen Politiker
definieren deren nationale Pflicht zum Wiederaufbau und dadurch zur
Errichtung eines multiethnischen Staates und zwingen ihnen die Rolle
der lebendigen Druckmittel dafür auf. Dafür hat man den
Kriegsopfern schließlich "unsere" Gastfreundschaft
erwiesen.
Natürlich sollten in unserer schönen Demokratie die
Betroffenen dem feststehenden Beschluß zur "Rückführung aller Kriegsflüchtlinge"
möglichst freiwillig nachkommen. Wenn das Kopfgeld allerdings
nicht Motivation genug für die freiwillige "Reintegration" stiftet, muß leider zwangsweise
abgeschoben werden. Die Leute kreuzen dann in ihrer "Heimat" auf und sind der leibhaftige Imperativ für
unser Recht darauf, daß sie als Teil des bosnischen Volkes
respektiert und in "ihren Häusern" oder – im
Falle der Verwüstung bzw. Fehlbelegung – in Ersatzwohnungen,
die nicht existieren, Unterkunft finden. Daß diese Sorte der
volksbildenden Zwangsintegration den "Ausbruch" neuer
Feindseligkeiten zwischen den "Ethnien" provoziert, [6] hat
der deutschen Regierung von Seiten der USA öffentliche Kritik
eingetragen. Die ist natürlich gänzlich unangebracht, da wir
die humanste Flüchtlingspolitik haben, erwiesenermaßen die
größten Freunde des bosnischen Volkes sind und unserem Volk
eine ethnische Reinhaltung schon aus Haushaltsgründen schuldig
sind. Ein eigens entsandter "Koordinator" soll nun den
örtlichen Behörden auf die Finger sehen – und unsere
Behörden rechtzeitig informieren, wo das unerwünschte
Aufkreuzen von Serben, Kroaten oder Muslimen mit Sicherheit Mord und
Totschlag bedeutet, also die Rückführung gegebenenfalls doch
zeitlich oder räumlich ein wenig verschoben stattfinden muß.
Diplomatische Ultimaten und demonstrative Gewaltaktionen
Eineinhalb Jahre nach der Unterschrift unter das Dayton-Diktat sieht
sich die Einheitsfront der Aufsichtsmächte mit der
beschränkten Wirkung ihrer "friedlichen" Mittel
konfrontiert, ihrem Entwurf vom Modellstaat Bosnien-Herzegowina
praktische Gültigkeit zu verschaffen. Der konstatierte fehlende
Wille auf Seiten der ehemaligen Kriegsgegner, ihre eigenen Berechnungen
zugunsten der vorbehaltlosen Implementierung des Vertrages aufzugeben,
hat sie in ihrer Eigenschaft als G7 plus 1, als OSZE und vor allem als
NATO-Partner veranlaßt, ihrer politischen Entschlossenheit zur
endgültigen Unterwerfung der Störenfriede
unmißverständlichen Ausdruck zu verleihen:
"Zwar läuft das Mandat von SFOR im Juni 1998 aus, doch haben
wir die Verpflichtung und ein langfristiges Interesse an
Stabilität in Bosnien und Herzegowina und der Region. Die
politischen Autoritäten in Bosnien sollten keinerlei Zweifel daran
haben, daß es keine militärische Option für irgendeine
Partei oder ethnische Gruppe geben kann, weder jetzt, noch in der
Zukunft." (Spezielle Deklaration des NATO-Gipfels, 8.7.97)
Die diplomatische Botschaft ist ebenso eindeutig wie ihre Funktion: Den
politischen Kräften vor Ort soll die Alternativlosigkeit einer
Unterordnung unter den Daytoner Diktatfrieden klargemacht werden. Der
Widerspruch zwischen dem Willen, die militärische Präsenz in
Bosnien zu begrenzen, gleichwohl aber die totale Kontrolle über
die Region zu erringen und zu erhalten, soll den widerspenstigen
nationalen Landsmannschaften keine Optionen auf eine eigenmächtige
Veränderung der Kräfteverhältnisse eröffnen.
Entweder sie folgen den politischen Auflagen der NATO-Führer "oder sie seien verloren", wie US-Außenministerin
Albright dasselbe betont undiplomatisch formulierte. [7]
Die "Internationale Gemeinschaft", allen voran die USA,
beschwört die Notwendigkeit eines erfolgreichen Abschlusses der
Bosnien-Intervention, da diese einen "Präzedenzfall"
darstellt: für den "Aufbau eines vollkommen friedlichen und
freien Europas ohne Mauern"; dafür, daß "zur
Abschreckung weiterer Greueltaten die Schuldigen zur Rechenschaft zu
ziehen" sind und "für ihre Verbrechen
büßen" müssen; für die künftige Rolle
der NATO im allgemeinen; und "für die Führungsrolle der
USA" im besonderen. [8] Vor diesen hohen Maßstäben
stellt die Duldung jeder vom Daytoner-Vertragstext abweichenden "Realität" die Glaubwürdigkeit der
imperialistischen Fähigkeit in Frage, ungehorsamen
nationalistischen Kräften in Europa und anderswo die
gewünschte funktionale Ordnung aufherrschen zu können.
Gleichzeitig werden die potentesten Weltordner auch und gerade am Fall
Bosnien praktisch darauf zurückverwiesen, daß die
Unterwerfung konkurrierender Staatswillen nur soweit zustandekommt, wie
der Einsatz überlegener Gewalt sie erzwingt. Also sehen sie sich
genötigt, ihre Glaubwürdigkeit durch ein Mehr an Gewalt,
sprich eine "stärkere Rolle der SFOR-Truppen"
wiederherzustellen.
Zwei Tage nach dem NATO-Gipfel, der das selbstverpflichtende Bekenntnis
zu einer "beschleunigten Implementierung" des Daytoner
Bosnienmodells verkündete, schlug ein SFOR-Kommando im serbisch
kontrollierten Prijedor zu, erschoß den auf der Liste der
"Kriegsverbrecher" stehenden Ex-Polizeichef der Stadt und
nahm einen anderen, ebenfalls serbischen Beschuldigten fest –
eine Aktion, die Präsident Clinton gleich als ein Signal an alle
definierte, die auf Steckbriefen oder geheimen Listen stehen. Die
Einsatzfront – Jagd auf "Kriegsverbrecher" –
folgt ganz der Logik der politischen Lagediagnose, welche in nichts
anderem besteht als darin, die Schuldfrage neu aufzuwerfen und in
bewährter Manier zu beantworten. Getreu der Unterstellung,
daß die konstruktive Erfüllung der Befehle der
Aufsichtsmächte selbstverständlich im Interesse aller
bosnischen Völker ist bzw. zu sein hat, kann es nur die
Intransigenz von Personen sein, der alten "Kriegstreiber"
und "Verbrecher" nämlich, welche für den Boykott
einer "friedlichen Zukunft" verantwortlich sind. Es handelt
sich schon um eine bemerkenswerte Heuchelei, die hier in der Pose des
Gerichtsurteils daherkommt. Denn der politische Angriff gilt im Grunde
genommen den Führern und "Drahtziehern" genau der
völkischen Bewegungen, deren antijugoslawischen Nationalismus die
westlichen Konfliktbetreuer und heutigen Ankläger durch ihre
Anerkennungspolitik zunächst tatkräftig geschürt hatten.
Mittels einer selektiven Anwendung des Kriegsverbrecher-Verdikts werden
gleichzeitig die opportunen Unterschiede gemacht: Die Unterschreiber
von Dayton sind als Erfüllungsgehilfen erstmal aus der
Hauptschußlinie genommen – wenn auch als widerspenstige
"Diktatoren" immer wieder im Visier; das gilt für Tuđman, mehr
noch für Milošević. Doch während Clinton und
Co. bei diesen auf die "biologische Lösung" bzw. auf
demokratische Abwahl setzen, trifft die Führer der bosnischen
Serben die ganze Wucht der politischen Kriminalisierung: An Karadžić
und Mladić als den "Hauptkriegsverbrechern" wird
klargestellt, daß den Völkern das Recht auf eine "eigene",
völkische Führung nicht nur
gewährt, sondern genauso gut wieder entzogen werden kann. Die
Lektion ist eindeutig: Das "Selbstbestimmungsrecht der
Völker" ist einzig und allein eine Frage der imperialistisch
erlaubten Herrschaft, deswegen gilt es für die Serben auf
bosnischem Territorium definitiv nicht!
In diesem Sinne wurde also ein Exempel an "unteren Chargen"
statuiert. Ein Exempel, das zwar einerseits allen Parteien gilt, deren
Kooperation mit dem Haager Tribunal erreicht werden soll, ganz speziell
aber, wie die Razzia und weitere SFOR-Aktionen zeigen, den bosnischen
Serben. Alle sind sich nämlich einig: Der neue Anlauf zur
Forcierung des erwünschten zivilen Staatsaufbaus, der mit der
Neuauflage der moralischen Schuldigensuche einhergeht, muß den
Willen zur Eigenständigkeit der Republika Srpska, d.h. deren
Ablehnung eines gemeinsamen Staatsaufbaus brechen. Nicht etwa deshalb,
weil die Serben "nationalistischer", rassistischer,
brutaler zu Werk gegangen wären als die feindlichen Brüder
auf kroatischer oder muslimischer Seite, sondern deshalb, weil deren
großserbischer Staats(gründungs)wille das Haupthindernis
für die Existenz des Bosniens von Dayton ist. [9] Im Programm der
Balkanordner wird die Devise "Karadžić und Konsorten vors
Kriegsgericht!" zum entscheidenden Tagesordnungspunkt, da (erst)
mit der Verhaftung und Bestrafung der Vertreter der serbischen
Bosnienpolitik der störende Nationalismus als Untat seiner
Repräsentanten verurteilt ist. Die Razzia von Prijedor und der
darauffolgende einstündige Aufmarsch der SFOR-Panzer vor dem Paler
Wohnsitz des ehemaligen Serbenpräsidenten senden der anderen Seite
die zweiteilige Botschaft: Die Aufsichtsmächte werden nicht ruhen,
bis sie Karadžić und Mladić hinter Gittern haben. Sie können sie
fangen und werden es tun, wenn sie müssen; aber sie wollen sie
lieber von den serbischen Behörden selbst ausgeliefert bekommen.
Die politische Führung der Serben selbst hat das Unrecht ihres
– verlorenen – nationalen Programms anzuerkennen und sich
von diesem durch die Auslieferung derer, die sie auf den falschen Weg
geführt hatten, zu distanzieren. [10]
Die Strategie der Spaltung des serbischen Lagers
Auf diesem Weg ist die Internationale der Bosnienüberwacher ein
gutes Stück weiter gekommen. Die politische Isolierung der
Republika Srpska als Strafe für die Weigerung, sich mit der
designierten Rolle als "Untermieter" [11] im von der
kroatisch-muslimischen Föderation dominierten Staatsgebäude
abzufinden; die ökonomische Ruinierung des Landes; die –
ohne Hilfsgelder – ungebremste Verelendung der Massen und die von
der SFOR immer wieder demonstrierte Aussichtslosigkeit einer
militärischen Revision der eigenen Lage – alles das ist
nicht ohne Wirkung auf die Serben geblieben: Die politische
Führung des großen Verlierers des jugoslawischen
Auflösungswahns ist offen gespalten und bewegt sich am Rande eines
innerserbischen Bürgerkriegs. Von der früheren Schlagkraft
der Serbenarmee ist angesichts der Spaltung der militärischen
Führung nichts mehr übrig geblieben.
Die ehemals loyale Nachfolgerin von Karadžić, Frau Plavsić, macht von
Banja Luka aus gegen die "Pale-Clique" um den
Ex-Präsidenten und seinen Ex-General Front und betreibt offen
deren international geforderte Entmachtung. Frau Plavsić und ihre
Anhänger haben sich von der "robusten Implementierung des
Daytoner Abkommens" durch die SFOR davon überzeugen lassen,
daß ein kooperativer Opportunismus derzeit die einzig Option zur
Schadensbegrenzung darstellt. [12] Die von ihr demonstrierte
Bereitschaft, aus dem Zwang zur Zusammenarbeit im Daytoner-Bosnienstaat
eine Tugend zu machen, und der fragwürdige Versuch, ihrer
politischen Einheit dadurch Anerkennung und Rücksicht seitens der
Aufsichtsmächte zu verschaffen, macht die maßgebliche
politische Differenz zur Regierung in Pale aus. Wenn sie
"Mißwirtschaft und Korruption" sowie "schändliche
Geschäfte" anprangert, durch welche
sich die "Verräter an der serbischen Sache"
bereichern, während die Massen hungern, so ist dies die passende
Demagogie, mit der sie ihr Volk gegen die zu mobilisieren versucht, die
sie in den verlorenen Krieg geführt haben und auch jetzt noch an
einer Konfrontation festhalten, die offenbar nur ihnen nützt.
Dafür, daß Frau Plavsić das kann, hat die SFOR einiges
geleistet: Sie hat die anfänglich kleinen Differenzen zwischen
Pale und Banja Luka zur Machtfrage aufgebaut dadurch, daß sie
stets der Präsidentin den Rücken gestärkt, ihre Macht
durch SFOR-Einsätze gegen Polizei und Militärverbände
der Serbenrepublik geschützt hat; man hat zur Sicherung ihrer
Macht in Banja Luka "Karadžić-treue" Polizeieinheiten
entwaffnet und ihr ergebene Rundfunkstationen gegen die andere Seite
verteidigt. Die "internationale Gemeinschaft" hat
entschieden, was demokratisch ist in der Serbenrepublik – jeweils
das, was die Macht der Präsidentin mehrte: Die Auflösung des
Parlaments, die Entlassung der Regierung, die Einschwörung der
Militärführung auf ihre Person – alles das ist
erzdemokratisch, weil es die zur Unterordnung entschlossene Partei
stärkt. Kommt das Verfassungsgericht der Republik zu einem andren
Urteil, dann handelt es sich um Marionetten von Karadžić. Durch die
offene Parteinahme der internationalen Aufsicht konnte sich die "Retterin der Serben-Republik" in eine immer
grundsätzlichere Konfrontation gegen die amtierende Regierung und
das gewählte Parlament in Pale wagen; jetzt ist sie dort
angelangt, wo man sie haben will: Beim Kampf um die Absetzung der
Regierung in Pale.
Der Erfolg beim Aufbau einer westlichen Marionette hat inzwischen die
Bedenken überholt, die SFOR könnte durch allzu eindeutige
Parteinahme in eine Konfrontation mit militärischen Kräften
der Serben geraten und von der Aufsichtsmacht zur Kriegspartei werden.
Auch die Sorgen, eine allzu eindeutige Unterstützung von Frau
Plavsić könnte ihr das Etikett des Kollaborateurs anhängen
und sie vor ihrem Volk schwächen, [13] ist überwunden. Je
mehr sich die Fraktion aus Banja Luka durchsetzt, desto offener wird
sie gegen Pale unterstützt; daß die "beinharte
Nationalistin" [14] dennoch kein Schoßkind des Westens ist,
erfährt sie andersherum. Je sicherer sie im Sattel sitzt, desto
radikaler werden Forderungen nach ihrer Distanzierung von dem
serbischen Nationalismus, den sie doch nur besser vertreten will. Im
selben Maß wird die SFOR auch um so radikaler gegenüber
Pale. Ein US-Emissär hat den Politikern, die dort regieren, nun
offen die Kapitulation abverlangt und Krieg angedroht. Die Innenpolitik
der Serbenrepublik ist inzwischen eine Sache, die zwischen Washington
und seinen Partnern ausgemacht wird.
Vorläufiges Fazit:
Die Unterdrückung nationaler Gegensätze im Interesse der NATO-Weltordnung – als Daseinszweck des Staates Bosnien
Die führenden NATO-Staaten haben im Daytoner Vertrag sich und den
Parteien in Jugoslawien ein Programm verordnet, dessen Inhalt der rein
negative Zweck ist, die Macht(ansprüche) der neu konstituierten
Staaten Serbien (bzw. BR Jugoslawien) und Kroatien zu begrenzen, um sie
auf diese Weise einer funktionalen, von ihnen kontrollierten
Balkan-Ordnung zu unterwerfen. Für die Existenz Bosniens –
und als Maßgabe für alle politischen Erben Jugoslawiens
– ergibt sich daraus die Tagesordnung, unbefriedigte
Nationalismen, die sich wechselseitig ihre Rechte bestreiten, zur
Kooperation zu zwingen und damit als Nährboden für eine
weitere gewaltsame Aufmischung des Balkan auszuschalten. Die
nötige "Einsicht" in die Notwendigkeit solcher
Selbstbeschränkung im Dienste auswärtiger Vorherrschaft will
ohne dauerhafte gewaltsame Niederhaltung der zur "Selbstbestimmung" drängenden Völkerschaften
auskommen; der Widerruf des "Selbstbestimmungsrechts", in
dessen Namen die Zerschlagung Jugoslawiens erst gefördert wurde,
soll auf Kommando hingenommen und nach Abzug der SFOR durch den
bloßen Interventionsvorbehalt der NATO – also durch die
Drohung mit einer allfälligen Bestrafung bei Zuwiderhandlung
– gesichert werden.
Genau das, was unsere westlichen Staatsmänner postum am "kommunistischen Jugoslawien unter Tito" aufs
schärfste verurteilt haben, daß der Mann nämlich gegen
ein Naturgesetz verstoßen habe, das lautet: 'Verschiedenartige Nationen soll man nicht
zusammenzwingen!' – genau das machen sie in
Bosnien-Herzegowina wahr. Die Ironie der Geschichte besteht ferner
darin, daß die Weltordner sich anschicken, sogar noch ihre eigene
Ideologie über den Staatszweck Titos Wirklichkeit werden zu
lassen: Dem Kommunisten soll es um Herrschaft über die Völker
pur um der eigenen Macht willen gegangen sein. Sie müssen es ja
wissen. Denn das ist tatsächlich der Kern ihres
amerikanisch-europäischen Programms zur Zivilisierung des Balkans:
Die Unterwerfung der dortigen Nationen und Völkerschaften, die
bekanntlich nichts als Unruhe stiften, unter die Kontrolle ihrer
überlegenen Macht – damit die gilt, und keine andere!
___________________________
[1] Nicht umgesetzt sind bis jetzt u.a. folgende Bestimmungen des
Vertrages von Dayton: "Die Rückkehr aller Flüchtlinge
(rund 1,4 Mio. Menschen betroffen), völlige Bewegungsfreiheit,
Auslieferung von Kriegsverbrechern an das Haager Tribunal, ein
gemeinsames Staatsbürgerschafts- und Reisepaßgesetz, ein
gemeinsames Telefonnetz, gemeinsame staatliche Symbole" und die
Schaffung einer gemeinsamen Währung. (SZ 7.8.97)
[2] US-Außenministerin Albright, Amerika-Dienst vom 30.5.97
[3] Und eine ordentliche Währung! Immerhin haben sich die
drei Parteien, die bislang mit einem bosnischen, einem kroatischen und
einem serbischen Dinar sowie der von allen anerkannten D-Mark zahlen
und zahlen lassen, schon mal auf eine Namensgebung geeinigt, welche die
Stabilität des großen Vorbildes gleich mit importieren soll: "Marka" und "Fenninga"!!
[4] Demnach soll "ein Drittel der Gelder durch Korruption verloren" gegangen sein. (SZ 31.7.97)
[5] Da geht es schon eher um Nachhilfe für die Bosnier. Das
gemeine Volk der Serben, Moslems und Kroaten wird vom Westen für
seinen Nationalismus verachtet, den es pflegt, ohne von ihm zu
profitieren. Das sollte man mal dem Fußvolk der Franzosen,
Deutschen und Amerikanern vorhalten! Aber als Nationalismus-Kritik ist
das ja nicht gemeint, sondern als Auskunft darüber, daß der
überlegene Nationalismus der NATO-Staaten den störenden
Balkan-Nationalismus ohnehin zum Scheitern verurteilt.
[6] Bezeichnend der Vorfall, der im August durch die Presse ging:
Kaum war die "Geberkonferenz" beendet und der Vorsatz
feierlich bekräftigt, Vertreibungen mit Geldverweigerung zu
bestrafen, da griff in Jajce die dort ansässige kroatische
Landsmannschaft samt Polizisten 500 zurückgekehrte Muslime an, um
sie erneut zu vertreiben. Daraufhin stand einen Tag lang in den
Kommentarspalten, daß solches "auch in der
bosnisch-kroatischen Föderation an der Tagesordnung" ist,
nicht nur bei den bösen Serben. Und kurz darauf versprachen Tuđman und Izetbegović dem neuerlich entsandten Dayton-Manager
Holbrooke wieder mal in die Hand, alle rückkehrwilligen
Bürger an dem Ort ihrer Vertreibung willkommen zu heißen.
Das, nachdem der "kroatische Bismarck" noch vor kurzem in
bezug auf die Krajina-Serben erklärt hatte, deren Rückkehr
sei ganz und gar unrealistisch und ungerecht, die "Rückkehr
aller Sudetendeutschen" werde ja auch nicht gefordert.
[7] SZ 24.5.97.
Demselben Ziel diente auch die abermalige Mission
des US-Gesandten Holbrooke. Auf seiner Rundreise kassierte er wieder
einmal das Versprechen der gescholtenen Politiker ein, konstruktiv an
der Umsetzung des einheitsstaatlichen Bosnien-Modells mitzuarbeiten.
Die Auslieferung der "Kriegsverbrecher" erreichte er nicht,
statt dessen u.a. die Zusicherung Miloševićs, Karadžić werde
sich nun
endgültig aus der Politik zurückziehen, und die Zusage von
Tuđman, daß es in Zukunft eine richtige Grenze zwischen Kroatien
und der "illegalen" kroatisch-bosnischen Entität
Herceg-Bosna geben soll. Und er sorgte für eine "Einigung" in der
strittigen Frage, welche Volksgruppe
Bosnien als Botschafter in Washington vertreten dürfe: Ein Serbe
darf. Die Tatsache, daß kein gemeinsamer Staatswille vorhanden
ist, schlägt sich nämlich als "unüberbrückbarer
Gegensatz" bei der Bestellung
der Außenvertretung Bosniens nieder. Alle Parteien gehen
selbstverständlich davon aus, daß der jeweilige Botschafter
nicht eine, nämlich gesamtbosnische Sache vertritt, sondern seine
– als Kroate, Serbe oder Muslim im Gegensatz zu beiden anderen
Volksgruppen.
[8] Vgl. Albrights Reden beim "Ministertreffen des Rates
zur Implementierung des Friedens in Bosnien" vom 30.5. sowie an
der Harvard University am 5.6.97, in: Amerika-Dienst
[9] Für die moralische Feindbildpflege im Inneren unserer
demokratischen Nationen sind wie immer die freien Medien
zuständig, die ihren Part selbstverständlich ohne Anweisung
von oben leisten. Die Kommentare zum Geschehen erfüllen den
Tatbestand eines einzigen Aufrufes zu mehr Gewalt, deren
Legitimität sich von selbst versteht, da sie im Namen der
"Menschlichkeit" gegen die zu Monstern erklärten
Verfechter der serbisch-nationalen Ambitionen erfolgt: "SFOR
zeigt Zähne – jetzt auch Karadžić!"; "Der
Schlächter im Glück"; "Faßt Karadžić
lebend"; Keine Hilfe für die Serbische Republik – es "trifft
die Serben zurecht"; "Darf man einen wie Karadžić überhaupt
interviewen?"; Antwort: Ja, um ihn als
Monster statt Schriftsteller zu entlarven; "Nicht interviewen
– verhaften!" (Nicht Bild, sondern Süddeutsche Zeitung
und Frankfurter Rundschau, Juli/August 1997)
[10] Das ist auch der Kern der moralischen Argumentation,
derzufolge die nationalistisch verhetzten Bürger Bosniens ohne die
Aburteilung der Kriegsverbrecher verständlicherweise
unmöglich ihren inneren Frieden mit der neuen Ordnung machen und
das Zusammenleben mit den Gegnern von gestern ertragen können. So
gesehen wäre die Verhaftung der ehemaligen "Kriegshelden" der bosnischen Serben die größte
Dienstleistung am manipulierten Volk, die gewissermaßen eine
Vergangenheitsbewältigung nach deutschem Muster erlauben
würde. Fragt sich nur, ob die Serben das genauso sehen. Der
einstmalige Geheimdienstchef und jetzige Außenminister, Herr
Kinkel, ist jedenfalls auf die glorreiche Idee gekommen, einen
entsprechenden Bewußtseinsprozeß dadurch zu fördern,
daß man einen "Radiostörsender" für die
Serbenrepublik einrichtet, der die falsche und schädliche "nationalistische Propaganda" durch eine echt
aufklärerische Stimme der NATO ersetzt.
[11] Die Regierungs-Position der Republika Srpska betont das
Recht auf eine gleichberechtigte Rolle, ebenfalls unter Berufung auf
das unabweisbare Dayton-Abkommen: "Natürlich hat die
Mehrheit der Serben den Wunsch, sich mit Jugoslawien zu vereinen, wie
auch die Deutschen den Wunsch nach Wiedervereinigung hatten (!). Wir
sehen aber auch die Realität und haben unterschrieben, daß
wir uns darauf beschränken, eine gleichberechtigte Entität
innerhalb von Bosnien-Herzegowina zu sein. Die moslemischen Führer
dagegen meinen, ihnen gehöre ganz Bosnien, und wir sind nur so
etwas wie Untermieter." (Der serbische Vertreter im
Präsidium von Bosnien, Krajisnik, in: Neues Deutschland, 16.6.97)
[12] Plavsić "erklärte den Konflikt" mit ihrem
Einsatz für das Dayton-Abkommen, das man "zähneknirschend angenommen" habe, da es immerhin die
Existenz der Serbischen Republik "nicht verhindert" hat.
(SZ 21.7.97)
[13] "Wenn man etwas tun kann, damit das Volk den Eindruck
bekommt (!), es lohnt sich, für Plavsić zu sein, dann sollte man
das durchaus tun. Allerdings darf man da nicht übertreiben. Es
darf nicht der Eindruck erweckt werden, daß Plavsić von uns aus
durchsichtigen politischen Gründen gefördert wird. Sie kann
sehr leicht mit dem Hinweis darauf angegriffen werden, daß sie
mit dem Westen unter einer Decke stecke." (Der deutsche Diplomat
Wagner, SZ 27.8.97)
[14] Auch Plavsić hat die SFOR-Aktion in Prijedor verurteilt und
die Auslieferung eines Karadžić ausgeschlossen; den würde sie
lieber von serbischen Gerichten verurteilen lassen. (SZ 11.7. und
21.7.97)
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