Das Ergebnis der Zerschlagung Jugoslawiens – drei Mal beaufsichtigter Nationalismus
Bosnien – Kroatien – Serbien
Die Mächte, die im Namen der "internationalen
Gemeinschaft" den Friedenszustand in Bosnien betreuen, die
Eingliederung Ostslawoniens in den kroatischen Staatsverband regeln und
über Serbiens Wiederzulassung zum internationalen Handel und
Wandel entscheiden, sind erst einmal zufrieden mit dem Erreichten. Und
ihre Kommentatoren sind es auch. Sie stellen hoffnungsvolle
Fortschritte fest in Richtung auf eine tragfähige Ordnung auf dem
Boden des ehemaligen Jugoslawien. Das Lob gilt allerdings nicht den
ex-jugoslawischen Völkerschaften, sondern ganz der eigenen Adresse.
Gefeiert wird eine Leistung, die die "Weltgemeinschaft" mit
kriegerischen Mitteln – der Drohung und dem Einsatz von Gewalt
– vollbracht hat und die die strategischer Lage betrifft: Das
auswärtige Interesse, den nationalen Machtansprüchen
insbesondere der Serben, aber auch der Kroaten Schranken aufzuerlegen,
hat sich durchgesetzt. Jugoslawien ist in drei Nachfolgestaaten
aufgelöst, Milošević hat nachgegeben, Kroatien bildet mit Bosnien
ein Gegengewicht gegen serbische Vormachtgelüste, und in Bosnien
traut sich keine der verfeindeten Seiten mehr aufzustehen. Man hat es
erreicht, daß alle sich fügen. So etwa sieht die Lage aus,
die die NATO-Verantwortlichen meinen und sich zugutehalten. Zufrieden
sind sie also mit ihrer Aufsichtsgewalt. Vorbei sind die Tage, wo alle
unter der mangelnden Entschluß- und Durchschlagskraft von
Europäischer Gemeinschaft und UNO gelitten haben. Die NATO hat
sich der Sache angenommen und sich als handlungsfähig erwiesen.
Insofern haben alle beteiligten Mächte gewonnen.
Jede für sich hat mit dem Dayton-Abkommen und seiner Umsetzung
erst einmal ihre Rolle im gemeinsamen Aufsichtswesen abgesteckt:
– Die USA haben wieder einmal bewiesen, daß ohne sie
– und gegen ihren Willen erst recht nicht – keine
Aufsichtsmacht zustandekommt. Sie haben den Konkurrenten
schließlich die Linie vorgegeben und mit ihrer Entschlossenheit
und überlegenen Macht für die Glaubwürdigkeit der
internationalen Ordnungsansprüche gesorgt, um die es lange Zeit so
schlecht bestellt war.
– Europa hat dagegen sein Ideal nicht wahrmachen können, den
"Balkan an Europa heranzuführen", d.h. die Kriegslage
unter europäische Kontrolle zu nehmen. Das alte Jugoslawien und
damit die eingerichteten Abhängigkeiten von der EU wurden ja
gerade mit zerstört; und von den bisherigen "guten
ökonomischen Beziehungen" lassen sich Nationalisten im
Aufbruch sowieso nicht bestimmen, auch wenn insbesondere Deutschland,
Hauptförderer der Zerschlagung der eingerichteten
Verhältnisse, zunächst ungerührt darauf gesetzt hat, die
Kriegsparteien müßten sich ihre Direktiven
selbstverständlich aus den EU-Zentralen abholen. Zum entschiedenen
Eingreifen aber waren die europäischen Führungsnationen nicht
einig und daher nicht mächtig genug. Darauf haben sie sich vorerst
eingestellt und zum Mitmachen unter amerikanischer Führung
bequemt. Sicher, nicht begeistert, immer wieder verärgert und
betroffen von den Alleingängen und Vorgaben der USA; aber doch
auch zufrieden, daß letztendlich eine geregelte gemeinsame
Aufsicht über Bosnien zustandegekommen ist und nicht mehr
ständig in Konkurrenz mit Amerikas Übermacht darum gerungen
werden muß, die Lage in den Griff zu kriegen. Ihnen ist mit
Dayton vorerst einmal ein fester, zwar US-inspirierter, aber
verläßlich geregelter Rahmen ihrer Beteiligung an dem
eingerichteten Aufsichtswesen vorgegeben, innerhalb dessen sie sich
darum bemühen, ihren Einfluß auf die Geschehnisse zu mehren.
Frankreich und Großbritannien genießen als
Mitaushändler und bevorzugte Mitüberwacher eine gewisse
Vorzugsstellung; Deutschland hat mit seiner wachsenden Präsenz
exemplarisch den Schritt zum gleichwertigen militärischen
Beteiligten am Weltaufsichtswesen gemacht – Grund zu einiger
Zufriedenheit.
Und noch ein Erfolg ist für die NATO-Strategen zu verzeichnen.
Rußland hat sich von dem anfänglich durchaus drohenden
Versuch verabschiedet, seine überkommenen Beziehungen zu
Jugoslawien in ein antiwestliches Sonderverhältnis zu Serbien zu
verwandeln. Es hat sich so weit in die NATO-dominierte Aufsicht
einbinden lassen, daß die neue amerikanische
Außenministerin Rußlands Beteiligung sogar als Modell einer
gedeihlichen Zusammenarbeit anpreist, mit der Rußland die
NATO-Osterweiterung doch noch schmackhaft gemacht werden könnte.
Der erreichte Stand ist nämlich selber ein nicht geringer Beitrag
zur erweiterten NATO-Zuständigkeit für die neue
osteuropäische Staatenwelt.
So in etwa sehen die nationalen Interessen und Perspektiven der
auswärtigen Mächte aus, die mit Dayton gemeint und zur
Geltung gebracht sind: Es geht um strategische Kontrolle.
Wie die Lage vor Ort aussieht und sich für die Aufsichtsobjekte
ausnimmt, ist eine andere Sache. Denn daß mit dieser "Lagedefinition" keines ihrer nationalen Interessen
verläßlich bedient wird, steht fest und begründet ja
das Lob der erreichten Kontrolle durch die befugten internationalen
Institutionen. Ausgerechnet Völkerschaften, die gerade mit
nationalen Staatsgründungen beschäftigt sind und darum
gegeneinander Krieg führen, wird nämlich abverlangt, sie
sollten ihre Ambitionen ein für alle Mal den äußeren
Vorstellungen über eine in der Region passende Staatenordnung
anbequemen. Dabei ist nicht einmal eindeutig und dauerhaft klar,
welcher ihrer Ansprüche überhaupt gelten sollte. Ihr
kämpferischer Aufbruch ist das eine Mal gefördert, das andere
Mal gebremst worden, je nachdem, ob er gerade für nützlich
angesehen wurde in der Konkurrenz der äußeren Mächte um
eine passende Ordnung, von der überhaupt nur eines feststand:
Irgendwie sollten die Republikgrenzen des alten Jugoslawien die
Grenzlinien der neuen Staaten bilden. So war jede der kämpfenden
Parteien mit der ständigen Zumutung konfrontiert, ihren
Nationalismus, der sich gerade frei und auf den Weg zu einem
möglichst machtvollen eigenen Staat gemacht hatte, an
übergeordneten Vorstellungen anderer Mächte über eine
für sie handhabbare Ordnung der ganzen Region auszurichten und
sich entsprechend zu beschränken. Schließlich haben alle
Seiten ihre Auseinandersetzungen dem von außen ergangenen
Kriegsverbot unterworfen, und Kroatien und Serbien haben den Bestand
eines bosnischen Staatsgebildes anerkannt.
Mit tatkräftiger Hilfe der NATO gibt es jetzt also drei neue
Mitglieder der Staatengemeinschaft, die mit ihrer international
betreuten Entstehung auch gleich die bleibenden Gründe für
Unfrieden und Gegnerschaft mit auf den Weg bekommen haben: Beide,
Serbien und Kroatien – das eine Land als Verlierer, das andere
als gebremster Gewinner –, sind als unfertige Nationen in die
Welt gekommen; und in Bosnien werden die verfeindeten Nationalisten nur
durch die Gewalt von außen zu einem Staatswesen
zusammengezwungen, und die politisch Verantwortlichen in allen drei
Ländern kämpfen darum, aus dieser Lage für ihr
unbefriedigtes nationales Interesse das Beste zu machen.
Insofern sind die auswärtigen Mächte, die diese Lage
mitgeschaffen haben, dann doch wieder überhaupt nicht zufrieden
mit den von ihnen gestifteten Verhältnissen – mit den
Nationalismen vor Ort nämlich. So zufrieden sie im Rückblick
auf den unhandlichen Kriegszustand mit sich und ihren Machtbeweisen
sind, so wenig glücklich sind sie – jetzt, wo die Lage unter
Kontrolle ist – mit den Zukunftsaussichten. Ein Ende ihres
Befriedungsaufwands ist nämlich nicht in Sicht; ohne ihr
ständiges Dazwischentreten ist kein dauerhafter "Friedenszustand" absehbar. So war ihr Eingreifen aber
nicht gemeint. Eine zukunftsweisende Perspektive für die neuen
Staaten haben sie zwar nicht im Angebot, dafür aber einen
umfassenden Ordnungsanspruch: Die da unten sollen sich in dem von den
Großmächten vorgegebenen Rahmen mit ihrer beschränkten
Lage abfinden, obwohl bzw. weil mehr für sie nicht in Sicht ist,
um den zuständigen imperialistischen Adressen den Aufwand für
die laufende Befriedung ihrer nationalen Unzufriedenheit zu ersparen.
Deshalb stellt sich für Europa und die USA jetzt schon wieder die
Frage nach Aufwand und Ertrag und belebt die Konkurrenz. So
anspruchsvoll sind Imperialisten.
Bosnien:
Ein Staatskonstrukt wird "mit Leben erfüllt"
Daß Bosnien kein Staat ist, der sich auf den gemeinsamen Willen
politischer Kräfte stützt und der auf den Gehorsam eines im
Nationalismus einigen Volks baut, ist kein Geheimnis. Die
NATO-Verantwortlichen verweisen stolz darauf, daß sie für
alles gesorgt haben, was dort unten an Herrschaftseinrichtungen
existiert; und jedem Anhänger deutscher Mitverantwortung für
das Gelingen der internationalen Bosnien-Truppe ist geläufig,
daß die dort unten von sich aus nicht friedensfähig sind und
es alleine nie dazu bringen, sich in einer Republik Bosnien zu
vereinen. Allein der Wille der "internationalen
Gemeinschaft", daß die ethnisch sortierten feindlichen
Mannschaften in einem Staatsgebilde vereint sein sollen, und die
Gewalt, die den maßgeblichen Mächten zu Gebote steht,
konstituieren diesen Staat. Ihre Macht hat den Streit von drei einander
ausschließenden Staatsgründungsprogrammen sistiert, die
widerstrebenden Völkerschaften ohne Rücksicht auf deren
nationale Ambitionen unter eine gemeinsame Obrigkeit zu einem "Vielvölkerstaat" zusammengezwungen –
ungefähr so diktatorisch und so gleichgültig gegen die
nationalen Bestrebungen, wie sie es dem alten Jugoslawien Titos immer
vorgeworfen haben und wie der Staatsgründer mit seinem
gesamtjugoslawischen Nationalismus es nicht gemacht hat und im
übrigen auch nie vermocht hätte. Entsprechend sieht die
innere Landkarte der Republik Bosnien und fällt das Zusammenleben
in ihr aus.
Eine verordnete Herrschaft kommt dreigeteilt in die Gänge
Die mit Dayton geschaffene bosnische Republik hat keine der Parteien
gewollt, die um die Aufteilung Jugoslawiens gekämpft haben. Serben
und Kroaten wollten und wollen sie überhaupt nicht, sondern das
Land zwischen sich möglichst vollständig aufteilen und ihren
jeweiligen "Vaterländern" zuschlagen. Die Bosniaken
wollten und wollen es nicht so, sondern einen eigenständigen
Staat, der keine separatistischen Ambitionen duldet und für ein
muslimisches Übergewicht in jeder Hinsicht sorgt, einige
flurbereinigende Vertreibungsaktionen inklusive.
Keiner hat bekommen, was er wollte. Das eine Drittel des Staatsgebietes
besteht aus der "Republik Srpska", die sich serbisch
definiert; das zweite Drittel darf sich zwar nicht "Republik
Herceg-Bosna" nennen, fühlt sich aber eigentlich Kroatien
zugehörig und führt sich so auf. Mit dieser offiziell nicht
vorhandenen Republik haben die Bosniaken, die sich als Gegner der
beiden anderen Völkerschaften und der hinter ihnen stehenden
Staaten verstehen, auf Druck der USA eine "Föderation"
bilden müssen, die beiden Seiten von sich aus wirklich nicht
eingefallen wäre. Umgekehrt ist dieses absurde "Bündnis", obwohl ganz auf Eindämmung der
Ansprüche der Serben ausgerichtet, auf dauerhafte Kooperation mit
eben dieser feindlichen Mannschaft verpflichtet. Genauso wenig, wie den
gegnerischen Parteien Bosniens erlaubt wurde, ihre Gegensätze bis
zur Entscheidung auszutragen, genauso wenig wurde den Kriegsparteien
erlaubt, sich voneinander zu separieren. Sie haben den Zwang zur "Zusammenarbeit" unterschreiben müssen.
Diesem Zwang haben die Aufsichtsmächte eine Grundlage geschaffen,
indem sie – unter Anerkennung der im Bürgerkrieg gelaufenen
ethnischen Sortierung – alle Seiten zu territorialen Kompromissen
bewegt und mit ihrer IFOR-Truppe eine Trennung der Feinde
herbeigeführt haben. [1] Auf dieser Basis haben sie sie darauf
verpflichtet, rücksichtslos gegen ihre einander
ausschließenden Herrschaftsansprüche eine staatliche Einheit
mit einem Territorium, einem Volk, einer Führung, einem Geld zu
bilden. [2] Das haben sie als "Friedensprozeß" in den
Vertrag von Dayton hineingeschrieben, und der Vollzug ist ihnen Beweis,
daß der "Friedensprozeß" in ihrem Sinne
erfolgreich verläuft – gleichgültig, wie negativ diese
Staatsbildung ausfällt.
Die territoriale Einheit ist dadurch gegeben, daß die "Ethnien" die Gewalt der IFOR respektieren und die ihnen in
den Dayton-Landkarten gezogenen Grenzen nicht mehr ununterbrochen
verletzen.
Als ein Volk sind die Bosniaken, Kroaten und Serben dadurch
aufgetreten, daß sie – streng getrennt nach
Volksgruppenzugehörigkeit: Serben einerseits, Bosniaken und
Kroaten zwangsweise vereinigt andererseits – zu den im Vertrag
vorgeschriebenen Wahlen geschritten sind. Deren Abhaltung stand im
bewußten Widerspruch zum eigentlichen Trachten der politisierten
Bürger, die sich nach wie vor ethnisch sortieren, die
Rückkehr von Flüchtlingen der jeweils anderen Volksgruppe
nach Kräften verhindern, Verbliebene drangsalieren und vertreiben,
also sich als feindliche Volksgenossen gegenüber- und immerzu im
Wege stehen. Darüber haben sich die auswärtigen Stifter einer
bosnischen Staatlichkeit aber ungerührt hinweggesetzt und auf die
Macht des Faktischen, d.h. ihres Kommandos gebaut. Wie wenn ihnen das
Argument vertraut wäre, daß die Gewalt eines Staats, die
sich ihre Zustimmung organisiert, die Untertanen zum demokratischen
Volk eint und nicht umgekehrt, haben sie darauf gesetzt, daß die
Massen durch die Verwandlung in Wähler einer verordneten
Staatsspitze sich schon noch in den Status eines Staatsvolks
hineinfinden. Daß die erst einmal alles andere sind, daß
man sie überhaupt erst dazu bringen muß, sich nicht
wechselseitig am Wählen zu hindern und aufeinander loszugehen, das
war den Veranstaltern klar; dafür haben sie deswegen mit ihren
Soldaten und Wahlüberwachern gesorgt. Damit gab es sie dann aber
auch, die ersten freien, geheimen und gleichen Wahlen.
Das Wissen, daß die Wahlberechtigten mit ihrer Stimme keine
Auswahl zwischen national gleichgesinnten Persönlichkeiten
treffen, sondern ihre jeweiligen Führer beauftragen, ihrem
völkischen Recht gegen die anderen Geltung zu verschaffen, hat die
auswärtigen Veranstalter der Wahl nicht angefochten. Von Volkes
Stimme wollten sie sowieso nichts abhängig machen, sondern das
Prinzip institutionalisieren, daß hier ein Volk durch eine
politische Führung repräsentiert wird. Entscheidend
dafür war es allerdings, die verfeindeten Führer auf das
Einheitsgebot zu verpflichten, das mit der international geregelten und
überwachten Wahl organisiert wird. Denn die Bestellung in die
– dadurch erst geschaffenen – Staatsämter zielte ja
nicht darauf ab, diese jeweiligen Aspiranten auf die Macht mit einer
solchen zu versehen, sondern diente dem Zweck, eine von denen gar nicht
erstrebte gemeinsame Oberleitung zu konstituieren und sie durch
Beteiligung daran zum Verzicht auf ihre jeweiligen eigenen
Souveränitätsansprüche zu verpflichten. [3] Damit stand
aber auch fest, daß die politische Aufgabe, der sich die
Gewählten verpflichtet sehen, darin besteht, ein normales Regieren
erst gar nicht aufkommen zu lassen, die anderen kleinzuhalten und den
Einigungszwang nach Möglichkeit zu unterlaufen und zu
hintertreiben.
Die USA standen dennoch nicht an, diese Wahlen als "sehr
erfolgreich" zu bezeichnen. Was sie haben wollten, war ja auch
herausgekommen, und zwar als freie, demokratische Tat des bosnischen "Volkes": Ein Führungsgremium, zusammengesetzt im
Verhältnis 1:1:1. [4] Jede Mannschaft hat jetzt einen Vertreter in
der Staatsführung und ist damit eingebunden in den Einheitsstaat,
dem sie als Volksgruppe – eingezäunt in ihre "IEBL"-Zone – widerspricht. [5] Zweitens
gewährleistet diese Staatsführung in ihrer Zusammensetzung
die erwünschte Einseitigkeit, das 2:1 der Föderation gegen
die bosnischen Serben.
Der Zusammentritt des Gremiums wollte allerdings zwei Monate lang gar
nicht funktionieren, denn mit seiner ersten gemeinsamen Sitzung gewinnt
das Konstrukt einer gemeinschaftlichen Oberleitung, die vor Ort niemand
will, Realität, inklusive der Verpflichtung aller Beteiligten, nun
auch die verlangten Staatsinstitutionen aufzubauen und "mit Leben
zu erfüllen". Darauf haben sich die Gewählten erst nach
handfesten Drohungen und Kommandos des "Hohen Beauftragten"
und der "Kontaktgruppe" eingelassen:
"Ohne Einhaltung der Abkommen und ohne aktive Beteiligung am
Wiederaufbau einer zivilen Gesellschaft können sie (die Mitglieder
des Präsidiums) von der internationalen Gemeinschaft nicht
erwarten, daß diese weiterhin die Last für die Sicherung der
Abkommen und für den Wiederaufbau trage... Die
Präsidentschaft verpflichtet sich aufs neue, die in der Verfassung
vorgesehenen gemeinschaftlichen staatlichen Institutionen einzurichten
und sie so bald wie möglich funktionsfähig zu machen. Damit
sind die Regierung, das Parlament, die Zentralbank, das
Verfassungsgericht und der permanente Ausschuß für
Militärfragen gemeint." (FAZ 15.11.96 zum Treffen der
Kontaktgruppe in Paris)
Allerdings stellt die Anforderungsliste der "Kontaktgruppe"
auch klar, daß den Adressaten die Schaffung eines wirklichen
Souveräns nicht zugetraut und zugemutet wird: Von einem Innen- und
einem Verteidigungsministerium, gemeinsamer Polizei und vor allem
gemeinsamem Militär, von einer durchsetzungsfähigen Hoheit im
und über das ganze Land also, ist nicht die Rede. Statt eines
Gewaltmonopols existieren die feindlichen Kräfte in verwandelter
Gestalt als lokale Gewalten der faktisch drei, offiziell zwei
Landesteile weiter. An Arbeitsteilung denkt dabei niemand, sondern an
den bleibenden Willen zur Gewalt gegeneinander, den die unbefriedeten
Volksgegensätze im Land erzeugen.
Der einzige staatstragende Zusammenhalt: die allgegenwärtigen Aufsichtsmächte
Die Aufsichtsmächte, allen voran die USA, kümmern sich daher
laufend selber darum, die mit dem Staatskonstrukt verbundene permanente
Bürgerkriegslage in ihrem Sinne zu kontrollieren. Sie sorgen
erstens mit Abrüstungsgeboten und Aufrüstungsangeboten
dafür, passend erscheinende neue Kräfteverhältnisse in
Bosnien herzustellen. Die kriegführenden Parteien mußten
zunächst ihre schweren Waffen abliefern, was insbesondere die
bosnischen Serben traf; deren militärische Überlegenheit ist
seitdem entscheidend relativiert. Gleichzeitig wurde damit begonnen,
die Gegenseite zu einer militärischen Gegenmacht aufzubauen. Die
bosnischen Kroaten wurden und werden laufend neu darauf verpflichtet,
mit den Bosniaken militärisch zusammenzuarbeiten; [6] als ihr
Hauptzweck ist ihnen damit vorgeschrieben, ein "Gegengewicht" zu den Serben zu bilden. Außerdem
haben die USA, kaum war das Dayton-Abkommen in Kraft, die
Aufrüstung und Ausbildung einer eigenen schlagkräftigen
bosniakischen Armee in die Hand genommen. Auf diese Weise stiften sie
kein staatliches Gewaltmonopol, aber eine Art "balance of
power" zwischen den konkurrierenden Gewalten im Land, die den
staatlichen Zusammenhalt erzwingen soll. [7] Die einzige Partei, die
überhaupt ein Interesse an einem Staat Bosnien hat, die der
bosnischen Moslems, ist dafür das Instrument und wird
dementsprechend bürgerkriegsfähig gemacht. Politische
Handlungsfreiheit, wie sie sich Izetbegović vorstellt, ist mit diesen
Gewaltmitteln allerdings nicht verbunden. [8] Sie sollen nicht die
bosnische Partei zu unabhängigen Kriegstaten ermächtigen und
ihrem Anspruch auf Eigenstaatlichkeit zur Durchsetzung verhelfen; sie
sollen die serbische Seite zum Stillhalten zwingen, wobei sich die USA
die Freiheit vorbehalten, falls nötig für ein passendes
Übergewicht zu sorgen, um die nationalen Ambitionen vor Ort unter
Kontrolle zu halten.
Das staatliche Leben sieht bis auf weiteres so aus, daß die
Aufsichtsmächte selber mit einer auf der IFOR, inzwischen SFOR,
aufbauenden Überwachungsbürokratie eine gewisse Kontrolle
– die einzig wirklich allgemeine – über die
unbefriedeten inneren Verhältnisse ausüben. Denn das ist den
Aufsehern klar, daß sie mit der de facto dreigeteilten
Zuständigkeit im Land auch der Gewalt gegen Rückkehrwillige
und Verbliebene aus den jeweils anderen Volksgruppen Tür und Tor
geöffnet haben. Daß unter solchen Umständen die
jeweilige Obrigkeit nicht eine für alle geltende Rechtsordnung
hütet und den verbliebenen "ethnischen Minderheiten"
oder den Vertriebenen, die zurückkehren wollen, ihren Rechtsschutz
gewährt, sondern im Gegenteil weiterhin nach völkischen
Kriterien zwischen prinzipiell Berechtigten und Unberechtigten im Staat
sortiert und diese Unterschiede mit ihren Vollzugsorganen durchsetzt
– das haben sie deswegen als Verstoß gegen den
Staatsvertrag definiert und sich die Befugnis eingeräumt,
gegenüber den örtlichen Hoheitsträgern und
Rechtsinstanzen selber auf Einhaltung der "Rechtsordnung"
zu dringen. Definiert wird diese Aufsicht über die lokalen
Gewalten als "Hilfe" bei der Durchsetzung der Ordnung durch
diese Gewalten, und ausgeübt wird sie vor Ort durch eine "International Police Task Force" (IPTF), eine Polizei
über der Polizei, die sich neben ihrer Suche nach "Kriegsverbrechern" insbesondere dem im Handbuch der
Polizei kaum aufzufindenden Verbrechen der "Menschenrechtsverletzung" zuwenden soll – ein
Verbrechen, das gerade der dreigeteilten einheimischen Polizei
zugetraut wird. [9] Diese Behörde meldet alle "Vertragsverletzungen" nach oben und vermittelt umgekehrt
Drohungen, Erpressungen und Sanktionen nach unten, um auf den "guten Willen" der "Seiten" einzuwirken. Ihre
Kompetenz ist – zum Leidwesen hiesiger Begutachter, die gerne
eine viel weitgehendere Machtausübung durch die "internationale Gemeinschaft" ihrer Länder sähen
– absichtsvoll sehr "passiv" formuliert: Ihre
wesentliche Aufgabe besteht in ihrer Anwesenheit, die den lokalen
Gesetzesorganen nachdrücklich vor Augen führen soll,
daß sie sich entgegen ihren eigenen herrschaftlichen
Bedürfnissen als Vollzugsorgane der internationalen
Ordnungsinteressen betätigen und sich entsprechend
beschränken sollen. Wenn es heißt, die IPTF sei mit keiner
eigenen Gewalt ausgestattet und müsse "auf den guten Willen
der verfeindeten Parteien bauen", so hat dies seinen Grund eben
darin, daß die Aufsichtsmächte es als ihre Aufgabe ansehen,
über den "guten Willen der verfeindeten Parteien", so
wie sie ihn definiert wissen und soweit sie ihn erzwingen wollen, zu
entscheiden, eine Aufgabe, die sie nicht an ihre gemeinsamen
Ausführungsorgane delegieren. Es gibt also keinen positiven
staatstragenden Zusammenhang zwischen den faktisch separierten
Landesteilen, statt dessen den Generalvorbehalt, daß die lokalen
Machthaber ihre immer neu aufbrechenden Gegensätze nicht gewaltsam
bereinigen dürfen; zumindest unterliegen alle gewaltsamen Regungen
einer genauen Überwachung. In erster Linie richten sich solche
Maßnahmen gegen die bosnischen Serben. Aber auch die
alltäglichen kroatischen oder muslimischen "Übergriffe" können sich ein Veto einhandeln. Wer
sich nämlich eine so heikle Aufgabe vorgenommen hat wie die "Stabilisierung eines Spannungsgebietes", der geht
realistischerweise davon aus, daß man keiner Partei freie Hand
lassen darf.
Die rechtsförmliche Legitimation des bosnischen Staatsgebildes,
das die "internationale Gemeinschaft" den Beteiligten vor
Ort aufgenötigt hat, haben die Stifter gleich mitgeliefert. Der
materiellen Aufsicht, die die NATO-Macht im Land ausübt, haben sie
eine ideelle Aufsicht über den sistierten Streit der verfeindeten
Nationalisten an die Seite gestellt durch die Schaffung einer obersten
Gerichtsbarkeit, die die kriegerischen Akte, die durch die
äußere Intervention beendet worden sind, im Lichte der
verordneten neuen Staatsgemeinschaft in Recht und Unrecht scheidet und
Kriegsverbrechen ahndet. Dieser Gerichtshof macht gegen das
Rechtsbewußtsein der drei Kriegsparteien von gestern den
internationalen Standpunkt gültig, daß deren Gewalttaten
nicht durch den politischen Zweck, dem sie dienen, als gerechtfertigt
anzusehen sind, sondern sich zu legitimieren haben – nach
Gesichtspunkten einer gerechten Kriegführung, die im Krieg selber
garantiert keine Geltung haben. Daß die Täter und Opfer vor
Ort zu einer solchen überparteilichen Scheidung in Krieg und
Kriegsverbrechen nicht willens sind, war klar; deswegen wurde eigens
ein Gerichtshof in Den Haag geschaffen, der im Namen des
Völkerrechts über die Taten von gestern Recht spricht und den
im neuen Staat Vereinigten zumutet, Verfechter der jeweiligen
nationalen Sache als Verbrecher auszuliefern und aburteilen zu lassen
– und zwar unabhängig von Rang und Namen. Die
Rechtsanwendung fällt allerdings den politischen Aufsichtsorganen
zu, denen freie Hand gegeben ist, wie und wieweit sie den Anspruch auf
Aburteilung der Kriegsverbrecher mit ihrer Macht zur Geltung bringen
wollen. Auch hier ist eine gewisse Parteilichkeit nicht zu
übersehen, die sich schon dadurch wie von selbst ergibt, daß
die Serben mit der größten Macht für ihre Sache
gekämpft haben. Die bevorzugten "Kriegsverbrecher"
sind die bosnischen Serbenführer; in Form der Anklage und des
Haftbefehls gegen sie verurteilt die "Weltgemeinschaft"
rechtsförmlich das serbische Anschlußprogramm, das sie
gebremst hat, und läßt die serbische Vertretung in Bosnien
für den Widerstand büßen, den sie gegen die westlichen
Aufsichtsinteressen geleistet hat – mit dem Erfolg, daß
Karadžić und Mladic ins zweite Glied zurückgetreten sind. [10]
Auch eine ökonomische Perspektive ist dem Staatswesen von
außen mit auf den Weg gegeben worden durch die Vergabe von
sogenannter Aufbauhilfe für Bosnien – die Rede ist von 8 Mrd
Dollar für 4 Jahre. Daß die Empfänger in Bosnien aus "eigener Kraft" weder fähig noch willens sind, Handel
und Wandel bzw. überhaupt ein ziviles Leben über die inneren
Grenzen zwischen den "Ethnien" hinaus in Gang zu bringen,
stand fest. Ebenso aber auch, daß man dafür bestenfalls eine
gewisse Hilfestellung, aber keinen internationalen Ersatz leisten kann
und will. Die "Aufbauhilfe" war von Anfang an nur dazu
gedacht, dem frisch eingerichteten Getriebe einen gewissen Unterbau zu
verschaffen. Erstens dient das Geld der Reparatur elementarer
Infrastruktureinrichtungen, die den Zwang zur Einheit unterfüttern
und für die Tätigkeit der Truppen und Aufsichtsorgane
nützlich sind. Insbesondere wird Geld ausgegeben, um "Flüchtlingen die Rückkehr zu ermöglichen".
Schließlich will man nur noch Bosnier kennen und hat die
vertriebenen und geflohenen Mannschaften deswegen mit dem Recht
ausgestattet, in ihre alte, jetzt ziemlich zerstörte und
feindliche Umgebung zurückzukehren. Dieses großangelegte
symbolische "Aussöhnungswerk" in Richtung auf ein
bosnisches Volk über alle ethnischen Grenzen hinweg bedarf einiger
organisatorischer und finanzieller Aufwendungen, schon um sie
möglichst schnell aus den "Gastländern" wieder
wegzukriegen, auch wenn sie vor Ort gar nicht so leicht und schon gar
nicht unter geregelten Umständen unterkommen. [11] Zweitens
stiften die auswärtigen Helfer Bosnien mit ihrem Geld den Aufbau
staatlicher Funktions- und Repräsentationsorgane, die es für
ein ordentliches Staatswesen mal als allererstes braucht, samt der
Pflege eines – natürlich originär bosnischen –
Kulturguts. Mit dem Aufbau einer durch Krieg schwer beschädigten
Ökonomie kann das alles wirklich nicht verwechselt werden. [12]
Nichts desto trotz wird dies alles wie eine Förderung des
notleidenden Bosnien durch die zivilisierte Welt vorstellig gemacht
– das beschönigt und bekräftigt zugleich den Standpunkt
der auswärtigen Kontrolle. So hat die "Aufbauhilfe"
auch noch einen polit-moralischen Nutzen. Die Anwendung erlaubt dann
wieder auf die gewissen Unterschiede zu dringen, auf die es immer auch
noch ankommt. Wie von alleine funktioniert die Zuteilung zugleich als
Instrument, die bosnische Seite zu stärken, indem man insbesondere
die Serben mit dem Verweis, sie würden nicht alle Bestimmungen von
Dayton umsetzen, von der "Aufbauhilfe" so gut wie ganz
ausschließt.
Der politische Alltag: Ökonomische Not und nationale Feindschaften mit Berücksichtigung der Aufseher
Die Frage, wovon die Herrschaft selber leben und wie man die
Volksgenossen zu nützlichen Diensten befähigen kann, stellen
sich die Regierenden im Land auch jetzt nicht, wo der Krieg vorbei ist.
Dabei hätten sie dazu allen Grund. Denn die alten materiellen
Lebensverhältnisse sind gründlich dahin. Was der Krieg, die
neuen nationalen Abgrenzungen nach außen und die neue, noch viel
einschneidendere Dreiteilung im Innern an Handel und Wandel auch nur
halbwegs belassen oder jetzt neu eröffnet haben, ist nämlich
nicht viel und hat mit einer produktiven Basis ökonomischen
Treibens nichts gemein. Im kroatischen Landesteil –
Hauptumschlagplatz für Warenlieferungen ins ganze Land –
wird, unterstützt von Kroatien, vor allem mit Schmuggel und
regelrechten Wegezöllen verdient; der moslemische Teil versucht,
die "Aufbauhilfe" als seine entscheidende Geldquelle zu
monopolisieren; die bosnischen Serben sehen sich nicht zuletzt auf das
zurückgeworfen, was das selber ökonomisch zerrüttete
Serbien ihnen an Unterstützung zukommen läßt. Daneben
leben alle drei Landesteile von dem Geld, das die auswärtigen
Arbeitskräfte in die jeweilige Heimat überweisen, sowie von
den Dollar und DM, welche die Besatzungstruppen und
Flüchtlingshilfen im unterschiedlichen Maß in die drei Zonen
bringen. Der notwendige "Handel" für die eigenen
Massen über die inneren Grenzen hinweg findet zwischen allen
Fronten z.B. auf besseren Schmugglermärkten unter amerikanischer
Bewachung statt. Das sind sie auch schon, die entscheidenden
Lebensquellen.
Die politisch Verantwortlichen kümmern sich um wirtschaftliche
Probleme allerdings wenig. Ihr ganzes politisches Trachten ist darauf
gerichtet, unter den schwierigen Verhältnissen eines von den
Kontrollmächten eingeforderten Friedens- und Einigungszwangs
möglichst viel von dem zu erreichen, was ihnen laufend verwehrt
wird: sich bloß noch als serbische, kroatische oder bosnische
Herrschaft zu organisieren, im einen Fall auf Anschluß an die
entsprechenden Vaterländer hinzuarbeiten, im anderen Fall die
Hoheit über ganz Bosnien zu erringen. Auf der anderen Seite kommt
es für sie darauf an, sich möglichst erfolgreich der
feindlichen politischen Konkurrenz mit ihren Ansprüchen in Form
von rückkehrwilligen Flüchtlingen, Gebietsforderungen,
Übergriffen, Schikanen, militärischen Drohungen usw. zu
erwehren. Dabei gilt es, mit den Schranken, die die auf dem eigenen
Boden anwesende fremde Aufsichtsgewalt laufend errichtet, aber eben
auch den Chancen, die sie bietet, möglichst zweckmäßig
umzugehen. Ein Protektorat hat man ihnen ja nicht vor die Nase gesetzt,
sondern sie zum Mit-Regieren zugleich bevollmächtigt und verdammt
und ihnen herauszufinden überlassen, wieweit sie ihre
entgegengerichteten Interessen unter internationaler Aufsicht noch zur
Geltung bringen können.
Die Objekte dieser Aufsicht widmen sich diesem Geschäft mit
entsprechendem Eifer. Jede Seite reklamiert entschieden die ihr aus dem
Vertrag erwachsenden "Rechte" und versucht gleichzeitig,
alle sie hemmenden Verpflichtungen und Gebote zur Zurückhaltung zu
unterlaufen. Alle gehen dabei nicht zu Unrecht davon aus, daß
demütiges Wohlverhalten kein Erfolgsweg ist. Da es bei der
Umsetzung des Friedensgebots auf sie ankommt, da sie nicht entmachtet,
sondern zum Mitmachen hingepreßt worden sind, wollen und
können sie sich auch etwas herausnehmen. Mit der Widerspenstigkeit
der "Seiten" wird gerechnet, also ist die Demonstration von
Macht und Willen, nicht um jeden Preis Frieden zu halten, ihr probates
Mittel, auf Entgegenkommen oder wenigstens stillschweigende Duldung zu
dringen. Dafür brauchen sie keine Überlegung, das gibt ihnen
schon ihr nationaler Rechtsstandpunkt ein: Erzwungenes Nachgeben,
anhaltender Widerstand gegen die Anordnungen, Demonstrationen des
eigenen Souveränitätsanspruchs und neue "Provokationen" wechseln einander ab. Für den –
nun beaufsichtigten – Fortgang der Feindschaft ist gesorgt. [13]
Bleibende imperialistische Perspektiven
Die "Ethnien" malträtieren sich zwar weiterhin
wechselseitig, rückkehrende Flüchtlinge werden gejagt und
vertrieben, Häuser weiterhin zerstört, in Mostar und anderswo
wird geschossen. Aber der deutsche Außenminister zieht eine
positive Bilanz des internationalen Wirkens unter deutscher
Beteiligung: Die da unten können endlich nicht mehr so, wie sie
wollen; und der serbische Hauptstörenfried ist weiterhin fest im
Visier:
"In Bosnien und Hercegovina selbst hat die Dayton-Implementierung
dazu geführt, daß die früheren Konfliktparteien heute
nicht mehr in der Lage sind, überraschend größere
Militäroperationen durchzuführen. Die
Rüstungsvereinbarungen, in Dayton unter maßgeblicher
deutscher Beteiligung formuliert, weisen den Weg zu einer
Kräftebalance auf möglichst niedrigem Niveau. Dieser Weg
muß entschlossen weiterverfolgt werden, gerade auch angesichts
der anhaltenden Obstruktionshaltung der bosnisch-serbischen
Seite." (Kinkel, FAZ 21.11.1996)
Daß dabei Deutschland dann noch nicht so maßgeblich
beteiligt ist, wie das einer europäischen Führungsmacht
eigentlich zukommt, hat den deutschen Außenminister nicht
kleinlaut werden lassen; vielmehr tut er so, als habe er nie etwas
anderes gewollt und als würden sich ihm nun blendende neue
Perspektiven erschließen:
"Trotz aller Defizite haben die Vereinbarungen von Dayton jedoch
auch Perspektiven eröffnet, die weit über das regionale
Umfeld des Bosnien-Konflikts hinausweisen. Die Verhandlungsergebnisse
berührten elementare Bereiche europäischer Außen- und
Sicherheitspolitik. Aus der Notwendigkeit gemeinsamer fortgesetzter
Sicherheitspolitik sind unter anderem neue Chancen für die
Stärkung der transatlantischen Zusammenarbeit, für die
Neubestimmung der europäischen Sicherheitsidentität innerhalb
der Allianz, für die deutsche Mitwirkung an Friedensoperationen
und für die zukunftsgerichtete Ausgestaltung ihrer
Gesamtbeziehungen zu Rußland erwachsen:
– Ifor...hat unter maßgeblicher amerikanischer Beteiligung
gezeigt, daß das Bündnis, allen Unkenrufen zum Trotz, auf
beiden Seiten des Atlantiks feste Wurzeln hat...
– Auch für die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen
Frankreich und der Nato war Dayton ein Meilenstein...Die deutsche
Außenpolitik hat diese Entwicklung seit langem behutsam
gefördert..."
So umstandslos kommt der Mann aus Bonn zur Sache, um die es ihm und
seinen Kollegen diesseits und jenseits des Atlantiks mit ihrem
Engagement für einen "dauerhaften Frieden auf dem
Balkan" geht. An dem "kleinen, gequälten"
Bosnien wird der Streit um so wichtige Themen wie "europäische
Sicherheits- und Außenpolitik", "transatlantische Zusammenarbeit"
und "Neubestimmung
des Verhältnisses zwischen Frankreich und der Nato"
geführt. Es geht also um Höheres als das Schicksal von ein
paar Balkan-Völkern im Aufbruch: Es geht um die Stellung der
Aufsichtsmächte zueinander. Dafür bietet das Friedenswerk von
Dayton laufend neuen Stoff:
– Was die Verlängerung des IFOR-Mandates anging, legten die
USA eine absichtliche Launenhaftigkeit an den Tat. Mal spielten sie mit
dem Gedanken einer endgültigen Beendigung ihres "Engagements", mal wollten sie über keinen bestimmten
Zeitrahmen diskutieren, mal hatten sie einen ganz bestimmten
Abzugstermin im Auge usw. Das führte zu "massiven
Spannungen" mit den europäischen Verbündeten, denn so
ließen die USA Europa seine Ohnmacht spüren: Ohne
amerikanische Schirmherrschaft ist es nicht imstande, die Lage, wie sie
nun existiert, abzusichern. Die europäischen Verantwortlichen
haben deshalb das amerikanische Zögern sofort als Versuch
begriffen, Europa einseitig die Lasten des Ordnungsauftrags
aufzubürden, während sich die USA die Freiheit vorbehalten,
bei der Aufrüstung der bosnischen Seite nach Gutdünken zu
verfahren. [14]
– Die deutsche Außenpolitik hat gleichwohl die Gelegenheit
wahrgenommen, wieder einmal viel Verständnis für den
amerikanischen Standpunkt zu äußern, sich um den "Zusammenhalt des Bündnisses" verdient zu machen
– und Frankreich mit seinem Ärger im Stich zu lassen. Dem
folgte allerdings das Gegenangebot auf dem Fuß, nämlich
innerhalb des mit den USA abgesprochenen SFOR-Rahmens wieder eine
deutsch-französische Sonderposition aufzubauen: Deutsche und
Franzosen betreiben ihre "Friedensmission" in Bosnien ab
sofort gemeinsam und interpretieren das als Ausbau- und
Vertiefungsphase für ihre "Eurobrigade". [15] Eine
Stellungnahme der USA wurde nicht eingeholt, ganz so als ginge es sie
nichts an, wenn bei Nato-Einsätzen Unterbündnisse geschlossen
werden.
– War sich der Deutsche Bundestag bei der Beschickung der
IFOR-Truppe noch unsicher, ob das "deutsche Gewicht"
hierbei gebührend zur Geltung kommt oder ob es nicht hinter der
US-Dominanz verschwindet, sind bei der SFOR-Truppe solche Zweifel und
mit ihnen die – von Grün bis Schwarz – bemühten
Debatten über "deutsche Geschichte und Verantwortung"
in den Hintergrund getreten:
"Fast noch wichtiger aber ist, daß es gelungen ist, in der
lange heiß umstrittenen Frage des Auslandseinsatzes der
Bundeswehr einen nahezu völligen Konsens im Deutschen Bundestag,
jedenfalls hinsichtlich des Bosnien-Einsatzes, zu erzielen. Auch
kritische ausländische Beobachter halten dies für eine
bemerkenswerte Leistung unserer Außenpolitik." (Kinkel)
Einen rundum positiven Aspekt hat der Fall Bosnien also auf jeden Fall:
Er verhilft Deutschland zu einem "weiteren Stück
Normalität" in Weltaufsichtsfragen.
Kroatien: Franjo Tuđmans "Patriotischer Staat"
Kroatiens gewaltsame Nationenwerdung: Noch lange nicht vollendet!
Die Republik Kroatien ist als Staat mit lauter unerfüllten
Hoheitsansprüchen über Land und Leute in die Welt gekommen.
Die definiert er entweder durch das Territorium, das er besitzt, oder
durch außerhalb seiner Grenzen befindliche Volksteile, auf die er
Anspruch erhebt, je nachdem, welcher Herrschaftstitel gerade der
weitreichendere ist. Wenn die Ethnien nicht zu den beanspruchten
Grenzen passen – wie namentlich die Serben innerhalb der
ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik Kroatien –, dann ist das
ihr Pech. Sie sind selbstverständlich Untertanen Kroatiens, gelten
aber nach den neuen ethnischen Grundsätzen der Staatsgründung
nicht als Teil des staatstragenden Volks, sondern als minderwertiger
Volksteil, der "kroatisiert" oder rausgesäubert werden
muß. Umgekehrt sind die alten Grenzen hinfällig, wenn mit
Verweis auf Menschen kroatischer Abstammung Herrschaftsrechte geltend
gemacht werden; deren Siedlungsgebiete müssen
selbstverständlich "heimgeholt" werden. So ergibt sich
unter schöpferischer Hinzuziehung der Geschichte die Geographie
einer "kroatischen Nation", die gleich ganz Bosnien
mitumfaßt:
"Es gibt keinen Kroaten, der nicht die Grenze an der Drina sehen
möchte... Niemand in Kroatien wird auf das Recht auf einen Staat
verzichten, der alle Teile Kroatiens einschließt. Und wir wissen,
daß Bosnien und andere Gebiete Teil dessen sind, was wir das
kroatische Vaterland nennen." (Vizepräsident Misetić vor der
kroatischen Landsmannschaft in Argentinien. In: Studia Croatica, Buenos
Aires Nr. 2/95)
Mit solchen Sprüchen geben die Führer der Regierungspartei
HDZ ihre Sicht der mit Dayton geschaffenen Lage zu Protokoll: Für
Kroatien ist sie auf Dauer untragbar, weil der Nation der ihr
zustehende Herrschaftsbereich vorenthalten wird. Den haben sie durch
die Zustimmung zum Dayton-Abkommen keineswegs aufgegeben, sondern sie
haben sich, wie sie versichern, nur gezwungenermaßen, aus "realpolitischen Erwägungen" vorläufig
beschieden. Gegenwärtig ist die "Heimholung" ganz
Bosniens ins Reich der Kroaten eben nicht durchsetzbar, und der
gewaltsame Versuch würde das Erreichte gefährden. Kroatiens "Realpolitiker" sind nach eigenem Bekunden nicht gewillt,
in dem verordneten Bündnis mit den bosnischen Moslems etwas
anderes zu sehen als eine Etappe auf dem Weg zur Verwirklichung des "historischen Traums vom ganzen kroatischen Vaterland."
Ebenso selbstverständlich ist für sie, daß sie mit dem
serbischen Feind die konkurrierenden Herrschaftsansprüche
über Bosnien am besten unter sich ausmachen. So haben sie von
Anfang an gedacht; in diesem Geist haben sie ihr
Staatsgründungsprojekt mit Gewalt ins Werk gesetzt und bis heute
durchgefochten – und gemäß diesem Geist steht seine
Vollendung noch aus.
Ihrer vom nationalen Anspruchsdenken beflügelten Meinung nach
haben die Groß- und Weltmächte viel zu lange an Jugoslawien
festgehalten; es bedurfte erst des blutigen Beweises durch den Krieg,
daß Jugoslawien nicht oder nur als serbische Hegemonie geht, die
keiner will. Das historische Verdienst der HDZ ist es, diesen Beweis
geführt und den äußeren Mächten die Zustimmung zur
staatlichen Souveränität Kroatiens abgetrotzt zu haben,
leider noch gar nicht weitgehend genug. Daß die Kroatien
zustehenden Herrschaftsrechte in Bosnien selbst nicht gebührend
gewürdigt werden, daran ist Tito schuld: Er hat den Moslems
eingeredet, sie wären mehr als "Kroaten islamischen
Bekenntnisses". Dabei hat das kroatische Vaterland seine
Moslembrüder und -schwestern immer als die heißgeliebte "Blume im Strauß seiner Völkerschaften"
(Misetić) betrachtet, gerühmt und gehegt. Jetzt sind diese
Natur-Kroaten in die Hände von Fundamentalisten gefallen, mit
denen man paktieren muß, weil namentlich die USA sie protegieren,
um damit nicht bloß Serbien zu deckeln, sondern auch Kroatien zu
schikanieren. So ungefähr sehen Kroatiens Macher die Lage.
Die kroatische Staatsgründung
In einer Hinsicht haben sie dabei recht: Ihr entschiedener kroatischer
Nationalismus war der wesentliche Auslöser, sie waren die
entscheidenden Aktivisten bei der Zerschlagung des jugoslawischen
Staatszusammenhangs. Tuđman, der nach seinem Ausschluß aus dem
Bund der Kommunisten Jugoslawiens wegen "nationalistischer
Umtriebe" in Belgrad eine erfolgreiche Rechtsanwaltpraxis
betrieb, entschloß sich bekanntlich, Politiker zu werden, um
Jugoslawien zu zerschlagen und – zunächst auf dem Boden der
(Teil-)Republik Kroatien – einen souveränen Staat zu
gründen. Der Nationalismus der südslawischen
Völkerschaften hatte den gesamtjugoslawischen Nationalismus
abgelöst, und Tuđman schaffte in Kroatien mit der HDZ ein breites
Bündnis aus Funktionsträgern des alten "Unrechtssystems"
– der Großteil der
Parteifunktionäre des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ)
kroatischer Nationalität schloß sich der Bewegung Franjo
Tuđmans an – und Leuten, die sie vorher schikaniert und
eingesperrt hatten. Personell verstärkt wurde dieses feine
Bündnis durch Figuren aus der noch im Tito-Sozialismus
entstandenen Geschäftswelt. Von Anfang an dabei sein durften und
sollten ferner Repräsentanten aus dem "kroatischen
Vaterland" außerhalb der Republikgrenzen. So sitzen im
Sabor erklärte Protagonisten des Serben-und Moslemschlachtens aus
der zur "Republik Herzeg-Bosna" erklärten
West-Herzegowina, die in Zagreb einen Paten für ihr
Anschlußprojekt an Kroatien wissen. Finanziert wurden die HDZ und
ihre bislang geführten Wahlkämpfe nicht zuletzt durch
Millionenspenden in $ und DM aus den Kreisen der kroatischen "Diaspora"
im Ausland, darunter Gastarbeiter ebenso wie die
politischen Erben der Ustascha-Faschisten.
Daß der eigene Staat nicht ohne Gewalt zu haben war, war klar.
Ein souveräner kroatischer Staat sollte es schließlich sein.
Also galt es den überkommenen Staatszusammenhang loszuwerden.
Zugleich wollten die Anwälte der neuen Herrschaft die alte
möglichst umfangreich beerben, ihr Staat sollte mindestens auf dem
Territorium begründet werden, das innerhalb Jugoslawiens als "Kroatien" firmierte, und nach Möglichkeit
darüber hinaus. Also galt es zunächst diese
innerjugoslawische Abgrenzung als kroatische Staatsgrenze
durchzusetzen, dann in Bosnien möglichst viel dazuzuerobern und
den konkurrierenden serbischen Nationalstaatsanspruch niederzuringen.
Innerhalb der neuen Landesgrenzen befand sich unvermeidlich jede Menge
serbisches Volk auf kroatischem Boden. Das war für die HDZ
unaushaltbar, weil, so die ganz offizielle Begründung, die Serben
sich niemals mit dem Status einer Minderheit zufrieden geben
würden, solange eine Nation Serbien in Gestalt von
Rest-Jugoslawien existiert und vom "serbischen Vaterland"
nicht bloß träumt. Da macht sich der kroatische
Nationalismus allein schon deshalb keine Illusionen, weil er genauso
funktioniert. Umgekehrt befand sich jede Menge kroatisches Volk
außerhalb der Republikgrenzen, was ebenso unaushaltbar ist und
nach der Einverleibung solcher Landstriche verlangt. Es ist also kein
Wunder, daß das freie Kroatien mit dem Aufbau einer eigenen Armee
und der Vertreibung der Bundestruppen seinen Anfang nahm.
Mit ihrem Kriegswillen und ihren Kriegserfolgen haben sich Tuđman und
seine Anhänger Anerkennung und tatkräftige Unterstützung
durch die Großmächte verschafft, die den serbischen Gegner
mit Wirtschaftsblockade, Kriegsdrohungen und Kriegsakten in die
Schranken gewiesen haben. Europa und die USA haben, nachdem sich die
gegensätzlichen Nationalismen in Jugoslawien gewaltsam zu Wort
meldeten und zur Zerschlagung ihres bisherigen Staatszusammenhangs
schritten, den Nutzen Kroatiens bei der Verhinderung einer
möglichen neuen, serbischen Macht erkannt; zugleich aber auch die
Gefahr, daß Kroatien selber zu einer solchen Macht werden
könnte. Die antiserbische Stoßrichtung des kroatischen
Staatsansinnens wurde von daher tatkräftig unterstützt, die
antibosnische allerdings zugleich gebremst. Kroatien ist also in seinen
gegenwärtigen Grenzen das Produkt seiner eigenen kriegerischen
Anstrengungen und einer begrenzten Kriegslizenz, für die sich die
entscheidenden Mächte stark gemacht haben.
Daß die sich das Bedürfnis der kroatischen Nationalisten
nach Zerschlagung Jugoslawiens haben einleuchten lassen, den
kroatischen Wunsch, an dessen Stelle eine kroatische Vormacht zu
errichten, aber nicht, das fassen die betroffenen Nationalisten als
eine einzige Beschränkung legitimer kroatischer Rechte auf, gegen
die sich das Land einigermaßen erfolgreich zur Wehr gesetzt hat
und weiterhin zur Wehr setzen muß. Jetzt, da der Krieg fürs
erste vorbei und der Staat Kroatien in der Welt ist, erst recht.
Das neue kroatische Staatsleben
Die "Kroatisierung" als dauerndes Kampfprogramm
Auf der Haben-Seite in der Kriegsbilanz, die Macher wie Mitmacher des
Staatsprojekts ziehen, steht zuallererst die Sicherung fast des
gesamten Territoriums der ehemaligen Sozialistischen Föderativen
Republik Kroatien als Basis fürs kroatische Vaterland. Die Krajina
und Westslawonien sind wieder unter der Kontrolle der Regierung. Da die
Heimholung dieser Gebiete durch Krieg geschah, erfolgte die Vertreibung
der Serben auf kroatisch beanspruchtem Territorium nicht unter dem
häßlichen Stigma einer "ethnischen
Säuberung", sondern als "panikartige" Flucht
einer "aufgehetzten" Bevölkerung, die angesichts
"verständlicher" Racheakte "heimkehrender"
kroatischer Menschen Haus und Hof zurückließen, obwohl
Tuđman selbst sie zum Bleiben aufgefordert hatte – nachdem er
seiner Kriegsmannschaft und Plünderern in ihrem Gefolge 3 Tage
freie Hand zum Aufräumen gelassen und vorsorglich die
internationale Presse am Betreten der "befreiten" Gebiete
gehindert hatte. Daß die Großmächte das alles
gefördert oder geduldet haben, das ist in Kroatiens Augen
selbstverständlich.
Mit Bosnien-Herzegowina aber beginnt das Mißvergnügen der
kroatischen Nationalisten mit der Kriegsbeute. Dieses von den
internationalen Aufsichtsmächten geschützte Gebilde steht
ihren weiterreichenden Ambitionen im Wege, aber es fehlt ihnen an Macht
und Möglichkeiten, um ihre Ansprüche gewaltsam
durchzufechten. Also kümmern sie sich darum, die
unveräußerlichen kroatischen Rechte unter den gegebenen
Umständen nach Kräften zur Geltung zu bringen. Deswegen
halten sie allemal an dem fest, was jetzt schon kroatisch kontrolliert
wird in Bosnien-Herzegowina. Auch unter den mit Dayton geregelten
Verhältnissen existiert die Kroatenrepublik Herzeg-Bosna faktisch
weiter, die kroatische Währung "Kuna" fungiert als
Zahlungsmittel, und die HVO, jene kaum getarnte herzegowinische Filiale
der kroatischen Armee, besteht als selbständige Truppe weiter. In
Mostar ist die Teilung der Stadt und die Drangsalierung der anderen
Hälfte mit dem bosnisch-kroatischen Bündnis nicht
verschwunden, sondern zur Normalität geworden. Und hinter all
diesen kroatischen Umtrieben in Bosnien steht aufmunternd und
unterstützend Zagreb. So sorgt die Republik Kroatien dafür,
daß die Republik Bosnien nicht zur Ruhe kommt.
Auf der anderen Seite konstatiert die kroatische Regierung auch nach
innen Revisionsbedarf, weil ihr Europa und USA mit der Anerkennung und
Förderung ihres Staatsprogramms zugleich Schranken gezogen haben.
Als letzte Konzession, die Tuđman für Dayton machen mußte,
gilt die Absprache mit Belgrad und der lokalen serbischen Führung
über Ostslawonien. Die dort vereinbarten
Übergangsbestimmungen und die Garantien für die serbische
Bevölkerung, überwacht durch internationale Gremien,
erschweren die "Kroatisierung" dieses Gebiets nach seiner
Rückkehr unter die Herrschaft Zagrebs. Die innere Konsolidierung
durch "ethnische Säuberungen" ist also nach dem
Geschmack der kroatischen Führung noch längst nicht
zufriedenstellend abgeschlossen. Auch an anderer Stelle im eigenen
Staat gilt es Bestrebungen zu bekämpfen, die sich auf ihr eigenes
völkisches Recht berufen und damit dem unbedingten kroatischen
Hoheitsanspruch entgegenstellen: die Autonomiebestrebungen
Kroatisch-Istriens. [16] Diese Bestrebungen werden von Tuđman als
moderne Irredenta mit dem nationalen Hochverratsvorwurf belegt. Was die
Anhänger eines größeren Kroatiens in Bosnien als ihr
Volksrecht gewaltsam reklamieren, das steht nach nationalistischer
Logik anderen – auch in abgeschwächterer Form – in den
kroatischen Grenzen nicht zu. [17] Es gibt also für die
Herstellung voller Souveränität und die völkische
Konsolidierung des Staates in den Augen kroatischer Nationalisten noch
mehr als genug zu tun.
Eine ruinierte Ökonomie
Politiker, die im nationalen Interesse Krieg führen lassen, nehmen
keine Rücksicht auf die Ökonomie. So sehr ihr Staat darauf
angewiesen ist, wie es um die wirtschaftlichen Grundlagen steht, so
wenig ist das ihre Sorge. So haben es auch die kroatischen
Nationalisten gehalten, zumal sie ihren Staat ja überhaupt erst
noch erkämpfen wollten. Jetzt wo der Krieg erst einmal beendet,
das souveräne Kroatien erkämpft ist, kommt die Frage
allerdings unabweisbar auf, über welche Reichtumsquellen der Staat
verfügt und wie sie beschaffen sind. Die nationale Bilanz
fällt ziemlich niederschmetternd aus. Ins Auge springen und
beredet werden vornehmlich die Kriegszerstörungen. [18] Die
unmittelbaren Schäden der Staatswerdung decken allerdings den
Sachverhalt zu, daß der nationale Aufbruch noch in ganz anderer
Hinsicht nicht von ökonomischer Vernunft, sondern von
Rücksichtslosigkeit zeugt. Die neue nationale Reichtumsrechnung,
die mit dem Übergang zu einer "privat- und
marktwirtschaftlich" funktionierenden Nationalökonomie auf
die Tagesordnung gekommen ist, zerschlägt nämlich alle
bisherigen gesamtjugoslawischen Grundlagen von Industrie und
Landwirtschaft. Kroatien, das gemäß der Hetze seiner
Führer in Jugoslawien von den südlichen Republiken
ausgebeutet worden sein soll, hat jetzt nicht bloß den
entscheidenden Markt für seine landwirtschaftlichen (Wein,
Früchte, Baumwolle), Fischerei- und Industrieprodukte
(Kraftfahrzeuge, Schiffe, Elektrik und Elektronik) verloren, sondern
auch lebensnotwendige Zulieferungen für die Versorgung der
Bevölkerung und den Energie- und Rohstoffbedarf seiner
Ökonomie.
Ersatz ist nicht in Sicht. Die überkommenen Betriebe sind nicht
weltmarktfähig, und die Verwandlung der Ökonomie in ein
Angebot an auswärtiges Kapital – die politische Stiftung der
sogenannten "Rahmenbedingungen" für ein "günstiges Investitionsklima" – bleibt
bloßer staatlicher Wunsch. Dem Kapital fehlt eine realistische
Gewinnerwartung, und wo kein lohnender Markt, kein günstiger,
schon mit Kapital versehener Standort, da nützen auch keine
Garantien für gesicherten Gewinntransfer, zumal wenn Kroatien die
Möglichkeit und der EU das Interesse fehlen, das Land zum Teil und
Teilhaber des europäischen Markts hinzuentwickeln. Während
das Land von seinen exportfähigen Produkten so gut wie nichts in
die EU verkaufen darf – dafür sorgt vor allem Italien, das
mit Verweis auf ungeklärte Eigentums- und
Entschädigungsfragen in Istrien Assoziationsabkommen blockiert und
so seine Wein-, Südfrüchte- und
Olivenöl(über)produktion vor neuer Konkurrenz schützt
–, stehen in den Regalen kroatischer Supermärkte
Lebensmittel namentlich aus deutscher und österreichischer
Produktion. [19] Die angestrebte Aufnahme in die EU aber ist nicht in
Sicht.
Statt dessen erfreut sich das Land einer intensiven Betreuung durch den
IWF, weil sein Nationalkredit wertlos war, bevor es ihn richtig gab.
Was es an Devisen im Land gab, haben die kroatischen Politiker
nämlich erst einmal für die Kriegsfinanzierung mit Beschlag
belegt. Nach dem Wahlsieg der HDZ ließ die neue Regierung im
Dezember 1991 alle Devisenkonten kroatischer Bürger im Lande "einfrieren", die diese aufgrund der Zusicherung der
letzten Bundesregierung eingerichtet hatten, Devisenkonten würden
jederzeit zum Tageskurs in Dinar bzw. unter Wahrung bestimmter Fristen
und Quoten auch in Devisen ausbezahlt. Mit dem "Einfrieren"
eignete sich die Regierung diese Gelder als "zinslose
Darlehen" an und versprach, sie bei Gelegenheit "zurückzuzahlen". Diese Gelegenheit schuf sie mit der
Privatisierung: [20] Anteile an den vom Privatisierungsfonds
ausgeschriebenen Betrieben konnten mit Titeln auf "eingefrorene
Devisenguthaben" gekauft werden. Auf diese Weise wurden die
Betriebe mit massenhaft staatlichen Schuldzetteln, aber wenig Devisen "kapitalisiert" – und die Guthaben der
Bevölkerung haben sich endgültig im großen Stil in
unsichere Eigentumstitel und zweifelhafte staatliche
Schuldversprechungen verwandelt. [21] Das staatliche Finanzgebaren hat
sich – wie ein normales staatliches Haushaltsgebaren mit
Einnahmen und Schulden verbucht – in wachsenden Staatsschulden
und gigantischen Inflationsraten niedergeschlagen und den IWF auf den
Plan gerufen. Dem Staat wurde Kredit gewährt und
Haushaltsdisziplin verordnet, dem kroatischen Volk als erste
Errungenschaften der freien Marktwirtschaft ein Verarmungsprogramm
sowie eine Währungsreform beschert. Mit dem IWF vereinbarte Zagreb
1993 in Sachen "Haushaltsdisziplin" den Wegfall der
Preisbindung bei Nahrungsmitteln, drastische Erhöhung der im
internationalen Vergleich sehr niedrigen Energiepreise, Abkoppelung der
Renten Pensionen und öffentlichen Bezüge von der Berechnung
auf DM-Basis, Einführung indirekter Steuern auf Alkohol und Tabak,
Durchsetzung der Steuern auf die private Nebenerwerbswirtschaft im
Tourismus und in der Landwirtschaft, also in den Bereichen "Zimmer frei" und "Wein aus eigenem Anbau".
[22] Im Sommer 1994 wurde der Dinar im Verhältnis 1:10000 durch
die Kuna ersetzt, die Waren erschienen am Tag des neuen Geldes wieder
massenhaft auf dem Markt, und die Bevölkerung wechselte ihre
letzten Devisenreserven. Inzwischen "normalisiert" sich die
Nachkriegswirtschaft und es wird sogar wieder etwas verdient im Land,
wenn auch nicht mehr so viel produziert. Der Tourismus und die
Auslands-Kroaten sind jetzt die Einnahme- und Devisenquellen, an denen
sich der Staat bedienen kann.
Jede Menge nationalistische Unzufriedenheit
Der kroatische Nationalismus tut sich schwer mit dem Frieden. Zu
unübersehbar ist jetzt, wo die Zeit des kriegerischen Aufbruchs,
der Nationalisten so hochgestimmt sein läßt, vorbei ist, die
Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit des erreichten nationalen
Stands. Jetzt erfährt das Land, daß der erhoffte
machtmäßige Status und die begehrte Teilhaberschaft an NATO
und EU gar nicht auf der Tagesordnung von USA und Europa stehen, und
ist verstimmt. Einen untergeordneten, machtpolitisch gebremsten und
ökonomisch minderwertigen Balkanstaat, das war es nicht, was Leute
wie Tuđman gewollt haben, also hinnehmen wollen. Sie haben
schließlich alles dafür getan, auch unter der westlichen
Aufsicht im Krieg die Rolle eines Machtsubjekts wahrzunehmen, das seine
Belange eigenständig durchkämpft, wie bei der Eroberung der
Krajina. Sie haben sich, westlich unterstützt, zu den Siegern
gezählt, einig bei der Bekämpfung serbischer
Machtansprüche – und sehen sich jetzt, wo sie nicht mehr zur
kriegerischen Eindämmung serbischer Ansprüche gefragt sind,
in ihren eigenen beschnitten, mit Serbien auf eine Stufe gestellt und
unter die Aufsichtsfälle eingereiht.
Allen voran der kroatische Präsident macht aus seinem zutiefst
verletzten Nationalinteresse keinen Hehl und sieht, durchaus in
Richtung Westen, "fremde, subversive Elemente" am Werk, die "die Regierungen von Kroatien, Serbien und Bosnien
destablisieren" wollen. (Eastern Europe Newsletter Nr. 25/1996)
[23]
Also gilt es die inneren Reihen möglichst fest geschlossen zu
halten. In denen regt sich nämlich Kritik. Ein Großteil der
Öffentlichkeit stellt jetzt beim Übergang zu zivileren
Verhältnissen gemäß den Vorgaben einer Führung,
die den Aufbruch in eine garantiert kroatische Zukunft unter ihrer
Oberleitung versprochen und für rücksichtslosen Nationalismus
agitiert hat, an eben diese Führung die Schuldfrage für den
begrenzten Status der Nation und wird beim neulich in den Kriegstagen
noch strahlenden kroatischen Führer und seinem Parteiklüngel
fündig. Die HDZ gilt jetzt als ziemlich korrupter Haufen von
Opportunisten, die den Übergang vom Sozialismus zum Kroatismus
nicht zuletzt deswegen gemacht haben, um mit der Macht auch den Zugang
zu ihren Pfründen zu behalten, was zu einem "Denkzettel" für die HDZ bei den Wahlen vom Oktober
1995 geführt hat. Das läßt den Präsidenten und
seine Partei nicht ruhen, die das Volk auf die gemeinsame kroatische
Sache eingeschworen haben, die für sie selbstverständlich mit
ihrer Machtausübung zusammenfällt. Wie in den Kriegszeiten
dringen sie auf Gefolgschaft im Namen der Nation. Dafür hat die
HDZ eine passende Staatsideologie parat. Die Demokratie in Kroatien
geht derzufolge nur als "patriotischer Staat":
"Beim Konzept des staatsbürgerlichen Staates greifen die
demokratischen Institutionen in das Handeln des Staates ein. Beim
Konzept des patriotischen Staates bestimmt der Staatsgedanke selbst das
Handeln aller Institutionen des Staates." (Misetić)
Die Botschaft ist klar: nationaler Schulterschluß unter
Führung der Berufenen. Die Lage der Nation wird bis auf weiteres
nämlich als permanenter Ausnahmezustand definiert:
"Kroatien hat seine Grenzen noch nicht erreicht. So lange
Kroatien seine Grenzen noch nicht erreicht hat, müssen die
Staatsorgane unter der Kontrolle derer bleiben, die Kroatien
verteidigen können." (Misetić) [24]
Das ist auch, aber nicht nur der berechnende Versuch, die heroischen
Kriegszeiten heraufzubeschwören, um der Mannschaft um Tuđman auch
nach dem Krieg politische Konkurrenz zu ersparen. Es ist schon auch
ernst gemeint, daß die Unterordnung aller politischen Kräfte
unter die immer noch unerledigte nationale Sache nach wie vor verlangt
ist.
Das gerade von Deutschland seit Genscher besonders geförderte
Kroatien ist also kein bequemer "Partner". Auf seine Art
ist es so unberechenbar, wie man es dem Serbien Miloševićs vorwirft.
Und genauso wie in Serbien gibt es auch in Kroatien eine konkurrierende
Mannschaft – in Gestalt der von Stipe Mesic gegründeten
HDZ-Dissidenten –, die sich dem EU-Ausland als moderne,
aufgeschlossene, gemäßigte Variante zum "unberechenbaren" General und seiner "verbrauchten
und an der Macht korrumpierten" Partei anbietet – und sich
davon mehr Erfolg für Kroatiens nationale Rechte verspricht.
Die Föderative Republik Jugoslawien
Ein Machtkampf gegen Milošević unter westlicher Aufsicht
Serbien ist als doppelter Verlierer aus der gewaltsamen Auflösung
der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien
hervorgegangen.
Zunächst scheiterte der Versuch, mit Hilfe antisezessionistischer
Kräfte, insbesondere der jugoslawischen Bundesarmee, eine
staatliche Einheit des Landes zu wahren. Er scheiterte sowohl an der
Sprengkraft der ethno-nationalistischen Fronten, in die sich der ehedem
herrschende Bund der Kommunisten Jugoslawiens verwandelt hatte, als
auch an der immer entschiedeneren Parteinahme der maßgeblichen
weltpolitischen Ordnungsmächte für die Verwandlung der
föderativen Republikgrenzen in Außengrenzen neuer
Kleinstaaten. [25]
Das daraufhin für die Serbenführung endgültig
feststehende Programm bestand darin, ein alle Siedlungsgebiete des
"serbischen Volkes" umfassendes Territorium zu gewinnen und
zur Grundlage einer völkisch definierten Nation zu machen, die als
Zentrum eines wenn auch verkleinerten Jugoslawien die Stellung einer
Vormacht auf dem Balkan für sich beanspruchen kann. Dieses
Staatsprojekt war naturgemäß unvereinbar mit den
gegenläufigen Ambitionen der kroatischen und bosnisch-muslimischen
Staatsgründer. Es stieß darüber hinaus auf den
definitiven Einspruch der westlichen Vormächte, die mit der
Festschreibung der alten Republikgrenzen jedes Vorhaben einer
"Veränderung von Grenzen" als aggressive Absicht
brandmarkten. Damit waren sowohl das Ziel Belgrads, einen "Staat
aller Serben" durchzusetzen, als auch der entsprechende
Anschlußwille der außerhalb Serbiens lebenden
"Minderheiten" automatisch ins Unrecht gesetzt. Milošević
versuchte, diesem Verdikt Rechnung zu tragen, indem er seine
regulären Streitkräfte nicht als kriegsentscheidende Macht an
die Fronten warf; die Erweiterung der Staatsgrenzen sollte als
Befreiungskrieg der um ihr "Selbstbestimmungsrecht"
kämpfenden bosnischen und Krajina-Serbenmilizen realisiert werden.
Auch die Rechnung ging nicht auf. Für die auswärtigen
Interessenten am Auseinanderbrechen des jugoslawischen
Vielvölkerstaats stand das "verbrecherische Belgrader
Regime" bzw. der "Drahtzieher" Milošević als der
eigentliche "Kriegstreiber" fest. Die "internationale
Gemeinschaft" intervenierte ganz im Sinne dieser Schuldzuweisung.
Ein NATO-Flottenverband wurde zur Durchsetzung eines Waffenembargos
abkommandiert, während amerikanische und europäische
Geheimdienste die Waffenlieferungen an die kroatische und muslimische
Seite registrierten, wenn nicht gleich selbst besorgten. Mittels
alliierter Luftüberwachung und gezielter NATO-Bombardements wurden
strategische und kriegsentscheidende Optionen der bosnischen Serben
abgeschreckt oder zunichte gemacht. Gleichzeitig wurde ein
Wirtschaftsembargo gegen Restjugoslawien als zusätzlicher
erpresserischer Hebel eingesetzt, um die Regierung von Belgrad in eine
Frontstellung gegen die Pale-Serben hineinzuzwingen. Die
Befähigung und Ermunterung der Kriegsgegner, vor allem Kroatiens,
zu einer erfolgreichen Gegenoffensive sorgten schließlich
für eine Umkehrung der Kräfteverhältnisse auf dem
bosnischen Kriegsschauplatz und machten den serbischen Präsidenten
Milošević reif für das Friedensdiktat von Dayton. Der Mann
hatte
gegen den Willen der bosnischen Serbenfraktion, gleichwohl
stellvertretend für sie – ironischerweise war hier seine
Eigenschaft als "Großserbe" gefragt –, mit
seiner Unterschrift lauter Verzichtsbeschlüsse zu besiegeln: den
Verzicht auf eine Integration der Republika Srpska ins serbische
Jugoslawien, die Anerkennung des bosnischen Staatsgebildes, den
unwiderruflichen Rausschmiß der Karajina-Serben aus ihren
Kroatien zugesprochenen Siedlungsräumen, die Rückgabe
Ostslawoniens an Kroatien und die Verpflichtung, unter Anerkennung
dieser Bedingungen Frieden zu halten. Dabei hilft ihm seitdem eine
NATO-Streitmacht in Bosnien, die er mit seiner Unterschrift in Dayton
gleich mitbestellt hat.
Als Produkt des jahrelangen Gemetzels zwischen den ethnisch
auseinandersortierten neuen Staatsvölkern und seines politischen
Managements durch die Overlooker über die Welt-Gewaltordnung
stellt sich die "Lage" Serbiens nach Dayton für dessen
Repräsentanten folglich so dar:
"Wir glaubten, daß Europa die Integrität Jugoslawiens
und dessen Grenzen schützen würde, daß es das Recht der
Völker auf Selbstbestimmung anerkennen würde. Das serbische
Volk ist faktisch der größte Verlierer in diesem Krieg, und
dem Volk muß nun erklärt werden, warum." [26]
Der größte Verlierer im Balkankrieg
Ja, warum nur? – Die sachlich gebotene Antwort auf diese Frage
enthält einen militärischen Grund, der sich in einen
weltpolitischen auflöst.
Der entscheidende Grund für die Niederlage auf dem Feld des
gewaltsamen Kräftemessens geht darauf zurück, daß die
Regierung unter Milošević zwar den panserbischen Nationalismus
mobilisierte, es aber auf einen bedingungslosen
Staatsgründungskrieg nicht ankommen lassen wollte. Anders als
Kroatien, das im entscheidenden Moment eine Armee zur Eroberung des als
kroatisch beanspruchten Territoriums in Marsch setzte, wollten sich die
politischen Anwälte eines Staats aller Serben nicht dazu
entschließen, nach Auflösung der Jugoslawischen Bundesarmee
alle verfügbaren Kräfte in eine einheitliche Streitmacht zu
verwandeln und diese für den Anschluß der zum neuen
Vaterland definierten Ländereien an die Front zu schicken. Statt
dessen wurden die serbischen Bestandteile der Ex-Armee entsprechend
ihrer bisherigen Dislozierung zu regional getrennten, nach
traditionellen Republiksgrenzen sortierten Kampfverbänden
umgebildet. Und die Abteilungen, die nun als Krajina- oder
bosnisch-serbische Armee firmierten, wurden mit dem Auftrag versehen,
mit logistischer Unterstützung, aber letztlich doch in eigener
Regie für die Herauspräparierung autonomer, aber
anschließbarer Gebiete außerhalb der serbischen
Stammrepublik zu sorgen. Ein Kriegsziel, welches unvermeidlich in das
Programm der ethnischen Säuberungen mündete. Das Setzen auf
diese Art von quasi-autonomen (sub)nationalen Befreiungskriegen an
Stelle eines Eroberungskrieges offenbart unschwer das politische
Kalkül, dem es sich verdankt: Dem gegen die Erben
Tito-Jugoslawiens gerichteten Verbot eines echten Krieges um die
Neuaufteilung von Land und Inventar sollte Rechnung getragen werden.
Die damit praktizierte Zurückhaltung bei der Verfolgung des
großserbischen Staatsprojekts verweist auf den weltpolitischen
Beschluß, auf den sich die westlichen Ordnungsmächte
für die Neuordnung des Balkan geeinigt hatten. Sie haben es sich
vorbehalten, den Nachfolgestaaten Jugoslawiens eine
Souveränität von ihren Gnaden zu verleihen. Und ihre
Maßgabe lautete: Die neuen hoheitlichen Grenzen haben
entsprechend den alten Grenzen innerhalb des für historisch
überholt erklärten "Völkergefängnisses"
zu verlaufen. Durch dieses Dekret wurde dem grassierenden politischen
Separatismus Recht – und gleichzeitig die erwünschte
Beschränkung vorgegeben. Der "Widerspruch" eines solch
pragmatischen Leitfadens, der das völkische Sortierungskriterium
fördert und sich zugleich darüber hinwegsetzt, sollte mittels
überlegener Ordnungs-Macht durchgesetzt werden. Demzufolge ergab
sich die Hauptstoßrichtung der UNO-, später
NATO-Intervention in Ex-Jugoslawien zwangsläufig: Sie richtete
sich gegen jene Kriegspartei samt Filialen, die der Devise Miloševićs
folgte:
"Wir glauben, daß die Serben das legitime Recht haben, in
einem Land zu leben. Wenn wir darum kämpfen müssen, dann, bei
Gott, werden wir kämpfen." [27]
– also mit ihren eigenmächtigen Neusortierungsplänen
das vorgezeichnete Staatenmodell revidieren wollte. Dabei half es den
Serben überhaupt nicht, daß ihre
Staatsgründungs-Strategie darauf beruhte, die internationale
Grenzziehung formal anzuerkennen, um sie zu unterlaufen. Der Versuch,
den menschenrechtlichen Titel für die Beseitigung des alten
Staates, das "Recht auf Selbstbestimmung der Völker",
über das von den Aufsichtsmächten erlassene Maß hinaus
wahrzumachen, also als das legitime Recht der serbischen Minderheiten
auf Autonomie in bzw. von Kroatien und Bosnien in Anspruch zu nehmen
und bis zur Anerkennung durchzukämpfen, wurde als mühsam
verschleierter Annexionskrieg entlarvt. Er wurde als Wille, sich dem
Oktroy der beschlossenen Friedensordnung zu widersetzen, behandelt.
Entsprechend dem Kriegsszenario folgte die ständig eskalierte
Intervention der "Internationalen Staatengemeinschaft"
gegen die Serben auf doppelte Weise: Erstens durch Maßnahmen der
Überwachung, der praktischen Einflußnahme und gezielten
Parteinahme in bezug auf die Bürgerkriegsfronten selbst, wodurch
die militärischen Zielsetzungen der serbischen Volksmilizen in den
für die Anschlußperspektive vorgesehenen Gebieten
durchkreuzt wurden; und zweitens durch einen umfassenden Boykott des
serbisch dominierten Restjugoslawien sowie durch die Androhung
militärischer Gewaltanwendung für den Fall weiterer
Unterstützung der ethnischen Säuberungen in Bosnien.
Als Folgen der weltpolitischen Zurückweisung des serbischen
Nationalismus, für welche seit geraumer Zeit die NATO vor Ort
geradesteht, ergibt sich genau jene Bilanz, die den zitierten
Parteigenossen des Präsidenten Milošević so mißmutig stimmt.
Aus einigen zwischenzeitlich von Serbenmilizen beherrschten Gebieten
wie Krajina und Westslawonien sind die Serben vertrieben worden, sie
sind dank militärischer Niederlagen auch praktisch den für
sie vorgesehenen Herrschaften unterstellt worden. Das zunächst
serbisch verwaltete Ostslawonien steht laut Dayton-Beschluß zur
baldigen endgültigen Übergabe an Kroatien an, die dort
siedelnden Serben können sehen, ob und wo sie bleiben. Die
Republika Srpska ist in der Tat ein "Serbengebiet"
geworden, das als subnationales Konstrukt anerkannt ist und sich sogar
Republik nennen darf. Es unterliegt aber der imperialistischen
Oberaufsicht, die es als Teilgebilde unter 50% des bosnischen
Territoriums zugelassen, mit Rechten und Pflichten versehen und durch
Gewaltpräsenz und -androhung zur Loyalität gegenüber dem
bosnischen Zentralstaat erpreßt hat. Eine
Anschlußperspektive an die Föderative Republik Jugoslawien
ist somit bis auf weiteres ausgeschlossen, eine autonome
wirtschaftliche Überlebensperspektive nicht gegeben.
Der als legitim anerkannte serbisch-montenegrinische Staat, die
Föderative Republik Jugoslawien, ist keineswegs die neu gewonnene
staatliche Heimstatt aller Serben, nämlich ein neuer, respektabler
Staat an Stelle des abgeschafften alten, sondern dessen auf die
Republiken Serbien und Montenegro geschrumpftes Erbe. Selbst der
Zusammenhalt der verbliebenen Föderation ist alles andere als
gesichert, da bekanntlich die (zu 90% albanische) Provinz Kosovo, aber
auch die (zum Teil ungarisch besiedelte) Vojvodina jederzeit für
einen Bürgerkrieg gut bleiben und eine gewaltsame Befriedung des "Pulverfasses" Kosovo vom Westen erklärtermaßen
als Kampfansage gewertet wird. Was das Anhängsel Montenegro wert
ist, steht ebenfalls noch auf dem Prüfstand, nachdem dessen
Führung im Anschluß an den innerserbischen Machtkampf
öffentlich auf Distanz zur Herrschaft Miloševićs gegangen ist.
Der Frieden, den seinem Volk gebracht zu haben Milošević sich seit
Dayton rühmt, offenbart nicht nur den Fehlschlag des serbischen
Staatserweiterungsprojekts. Von den USA und ihren Verbündeten
erzwungen, ist dieser Friede mit dem Eingeständnis identisch,
daß den serbischen Führern keine andere Wahl gelassen wird,
als sich mit Kleinserbien zufrieden zu geben. Der Nachkriegszustand
läßt nicht viel übrig von den Ambitionen auf eine
mächtige, von innerjugoslawischen Schranken und
Abhängigkeiten befreite Nation.
Die Zerstörung der ökonomischen Reichtumsquellen
Als Resultat der Summe aus der Auflösung Jugoslawiens, der
Privatisierung der einstmaligen "selbstverwalteten"
Betriebe, des Krieges und des internationalen Embargos hat sich die
folgende "Lage" ergeben:
Serbien hatte sich im Rahmen Jugoslawiens von einem Agrarland zu einem
potenten Industriestandort entwickelt. Zu ihm gehörte der Abbau
und die Aufbereitung von Kupfer und Zink, Raffinerien für
Erdölimporte, Elektronikbetriebe, Kfz-Fabriken, die auf der
Zulieferung von Teilen aus Kroatien und Slowenien beruhten, und das
weltmarktfähige Rüstungskombinat von Kragujevac, welches
nicht nur die eigenen Streitkräfte, sondern auch so manches
Drittweltland mit Waffen versorgte. Mit der Aufkündigung des
arbeitsteiligen Reproduktionszusammenhangs wurde die industrielle
Produktion schlagartig von allen wesentlichen Zulieferern und Abnehmern
abgeschnitten. Die UNO-Sanktionen, die im Unterschied zu vergleichbaren
Beschlüssen der "Völkerfamilie" (z.B.
Südafrikas Apartheid betreffend) von der NATO tatsächlich
durchgesetzt wurden, sorgten für die zusätzliche
Unterbrechung der Versorgung mit notwendigen Ersatzteilen, technischen
Ausstattungen und vor allem mit den meisten Energieträgern;
gleichzeitig brachten sie alle legalen Devisenquellen durch Warenexport
zum Versiegen. [28]
Die Wirtschaft Serbiens wurde mehr und mehr zu einer "Schattenwirtschaft", die auf Schwarzmarktgeschäften
und Schmuggel gründete. So klappte auch die Versorgung der
Haushalte mit dem Lebensnotwendigen – zumindest auf der
Angebotsseite: Die Läden und (Schwarz-)Märkte waren voll mit
Waren aus Rumänien, Bulgarien, Mazedonien, Albanien, Bosnien und
Kroatien, aber zu entsprechenden Preisen und unter Umgehung des Fiskus.
Die serbischen Bürger verpfändeten ihr bewegliches Hab und
Gut, um das Lebensnotwendigste zu erstehen. Der Staat, der kaum mehr
Steuern einnahm, tolerierte dies nicht nur im Interesse der Erhaltung
der Grundversorgung seiner menschlichen Ressourcen, sondern ließ
seine Staatsabteilungen auch selbst in besagten inoffiziellen
Kanälen operieren, um wenigstens das Fahrbenzin für seine
Armee und die Energie für die Rüstungsproduktion
sicherzustellen.
Die Landwirtschaft Serbiens verfügt über einen Anteil an in
Staatsbesitz befindlichen, hochtechnisierten "Agrarindustriekombinaten", die ehedem
Überschüsse für die nördlichen Republiken
Jugoslawiens und den Export in die Länder des Comecon
produzierten. Die Kriegswirtschaft hat den hier Beschäftigten
sowie der Masse der Kleinbauern große "patriotische
Opfer" abverlangt, die sie offensichtlich auch erbracht haben.
Unter Verweis auf die Embargofolgen und den solidarischen Kampf
für ein größeres serbisches Vaterland hat der Staat
sein weitgehendes Nachfragemonopol auf Weizen, Mais und Milchprodukte
so weit ausgereizt, daß inzwischen die von ihm geforderten Preise
nicht einmal mehr die Erzeugerkosten einspielen. Die Bauern ziehen es
deshalb vor, ihre Maschinen einzumotten – Ersatzteile für
Traktoren sind nicht erhältlich, neue nicht finanzierbar –
und auf Subsistenzwirtschaft, ergänzt um ein bißchen
Ab-Hof-Verkauf, umzustellen. So ist die Getreideernte bis 1996 auf ein
Maß zurückgegangen, daß die FR Jugoslawien Weizen
importieren müßte, statt diesen wie früher gegen
Devisen auszuführen. Das passiert mangels Devisen jedoch nicht,
wohl aber werden die Brotpreise ständig über die
Inflationsrate hinaus erhöht. Daß überhaupt noch soviel
Getreide eingefahren wird, verdankt sich den Staatsfarmen, deren
Privatisierung jedoch beschlossene Sache ist.
Was die Lage der staatlichen Finanzen betrifft, so wurden die inneren
Geldquellen des Staats – die Steuern, weitgehend, die laufende
Erwirtschaftung von Devisen durch Export zur Gänze – durch
die ruinösen Folgen von Krieg und Embargo ausgetrocknet. Folglich
bediente sich der Staat anderweitig. Er sicherte sich den Staatsschatz
aus der Konkursmasse des verschiedenen Jugoslawien, bestehend aus 7
Mrd. DM an Devisen der Belgrader Zentralbank und 10 Mrd. auf "garantierten Devisenkonten", deren jederzeitige
Verfügbarkeit in Valuta oder Dinar die letzte Bundesregierung
unter Marković den Besitzern gesichert hatte. Dafür mußte
die Belgrader Regierung die 20 Mrd. Dollar jugoslawischer Guthaben beim
IWF, von denen 40% der heutigen FR Jugoslawien zustehen, wohl
endgültig abschreiben, da daraus jetzt die anderen
Nachfolgestaaten entschädigt werden und die USA jedwede Auszahlung
von Auslandsguthaben an Serbien von einer einvernehmlichen Regelung der
Kosovo-Frage, zuletzt auch von einer Anerkennung der Reformforderungen
der politischen Opposition abhängig gemacht haben. Der komplette
Schatz wurde für die selbstverständliche Priorität des
Unterhalts der Kriegsmaschinerie verbraucht. Ende 1996 belaufen sich
die Devisenreserven der FR Jugoslawien nach offiziellen Angaben noch
auf 0,3 Mrd. Dollar. [29]
Um neue Einnahmequellen zu erschließen, betrieb der Staat die
Enteignung der arbeitenden Bevölkerung mittels der "Privatisierung" von Unternehmen der ehemaligen
Arbeiterselbstverwaltung. Diese hatte der gerne als verstockter
Kommunist titulierte Führer der Sozialistischen Partei Serbiens
ohnehin längst grundsätzlich für nötig befunden, um
den Aufbruch seiner Nation in den Kreis der wohlhabenden
kapitalistischen Länder zu ermöglichen. Das Verfahren
entspricht dem in Tuđmans Kroatien angewandten, auch wenn Milošević
deswegen noch lange nicht in den Genuß des Ehrentitels eines
marktwirtschaftlichen Reformers gelangt, sondern ein für allemal
ein "Postkommunist" bleibt. Durch Abschaffung der
Mitwirkung der Arbeiter an der Betriebsleitung im Jahr 1991 zugunsten
einer "Beteiligung über ihr Eigentum" wurden den
Arbeitern die ihnen enteigneten Unternehmen zum Kauf angeboten. Eine
staatliche Kommission taxierte den Wert des Betriebs in an den DM-Kurs
indexierten Dinar und machte daraus Anteilscheine, die alle –
auch die ehemaligen oder in Zwangsurlaub geschickten –
Mitarbeiter auf Kredit erwerben konnten. Diese Offerte war ein
Wahlkampfschlager der Regierungspartei, die die Chancen des
boykottierten Serbien, seine Betriebe an ausländisches Kapital
verkaufen zu können, realistischerweise gleich Null
einschätzte. Die Privatisierungsaktion wurde ein stolzer Erfolg:
Ende 1992 waren aus den arbeiterselbstverwalteten Unternehmen Betriebe
unter der Leitung eines von den Regierungsparteien gestellten
Managements geworden, für welche die "Eigentümer"
arbeiteten und gleichzeitig einen Teil ihres Lohnes als Kaufpreis an
die Firma zurückgaben. Das Ganze hatte nur einen Haken: Infolge
der Sanktionen stellten viele der privatisierten Betriebe die
Produktion ein, so daß die Zahlungen an die außer Lohn
gesetzten Herren Eigentümer ausblieben. Mangels Geldeinnahmen
erledigte die Administration ihre Zahlungsverpflichtungen mittels der
Banknoten-Druckpresse, was die Inflation auf weltrekordverdächtige
5000% steigerte (1 DM kostete 13 Mio. Dinar).
Weil die Zettel aus Belgrad dann nicht einmal mehr als internes
Zirkulationsmittel genommen wurden, entschloß sich die Regierung
im Januar 1994 zu einer Währungsreform. Da sie dazu den IWF nicht
konsultieren durfte, befolgte sie dessen Rezept für solche
Fälle in eigener Regie. Currency Board hieß das Zauberwort
für das staatliche Versprechen, seine Geldproduktion an die
Deckung durch Devisen, Gold oder einbringbare Forderungen in harter
Währung zu binden und ein Wertverhältnis von 1:1 des Neuen
Dinar gegen die Hartwährung DM zu garantieren. [30] Das
schöne System wurde bereits nach einem halben Jahr aufgegeben,
nachdem die Bürger ihre letzten Devisenersparnisse umgetauscht
hatten, der Finanzbedarf des Staates nicht zuletzt wegen seiner
militärischen Bedürfnisse aber weiter stieg und per
Notenpresse geregelt wurde. Mit Verweis auf ihre Bemühungen um ein
stabiles Geld und die dafür unerläßliche Verringerung
der Staatsausgaben, kürzte die Administration per Dekret alle
Löhne und Pensionen, während die Preise wieder ordentlich
stiegen. Zudem werden diese Gelder sowie die Gehälter der
Staatsangestellten oft monatelang nicht ausbezahlt, was die Betroffenen
zu einigen wilden Streiks und sozialen Protestmärschen bewegt hat.
Geändert hat das nichts.
Gleichzeitig mit der Einführung des Neuen Dinar wurde die soziale
Errungenschaft der Unternehmens-Privatisierung in eindrucksvoller Weise
zu Ende geführt. Die Anteilscheine, welche die Arbeiter an den
Betrieben erworben hatten, wurden wertmäßig neu taxiert,
d.h. wesentlich teurer, so daß die erhöhten
Rückzahlungsraten in der Regel aus den ausbezahlten Löhnen
nicht mehr beglichen werden konnten. Damit schieden die Arbeiter als
neue Privateigentümer wieder aus, was den verantwortlichen
Managern des herrschenden Parteienblocks die Chance eröffnete,
mittels Kredit der staatlichen Banken die Mehrheitsanteile der
Unternehmen aufzukaufen und sich als die berufenen Eigentümer
einzusetzen. So konzentriert sich der verbliebene Reichtum des Landes
in wenigen Händen, während die gemeinen Massen als
Überlebenskünstler gefordert sind.
Der oppositionelle Nationalismus und sein Nährboden
Kein Wunder also, daß es Milošević & Co angesichts des
politisch gescheiterten und gedemütigten Staatswillens und des
wirtschaftlichen Trümmerhaufens im Land für "schwierig" halten, dem Volk den Sinn des Krieges zu
verdolmetschen. Um so etwas wie das "Erklären" der
Gründe des nationalen Desasters geht es einer Regierung
natürlich ohnehin nicht. Die fällige Regierungserklärung
sieht sich vielmehr vor der Aufgabe, den schwer strapazierten
Volkswillen auf die weitere, ebenso grund- wie bedingungslose
Loyalität zu den politischen Führern einzuschwören. Das
eigene Menschenmaterial ist in der Tat die einzig verbliebene Potenz
dieses serbischen Staatswesens, dessen Loyalität sich zu erhalten
folglich seine einzige Perspektive darstellt. Der Haken für die
Mannschaft von Milošević liegt allerdings darin, daß
Nationalisten Niederlagen ihres Vaterlandes allemal auf das Versagen
der jeweils zuständigen Machthaber zurückzuführen
pflegen. Dagegen stellt sich der mit dem beabsichtigten serbischen
Staatsgründungsprogramm gescheiterte Milošević als "Friedensbringer" dar, der einerseits dem Westen die Schuld
für das "schwere Schicksal des serbischen Volkes"
gibt, andererseits für die Einsicht wirbt, daß es darauf
ankommt, sich mit eben diesem Westen zu arrangieren, um einen Weg aus
der Krise der Nation herauszufinden. Er präsentiert sich also
– darin tatsächlich nichts als eine Charaktermaske des
Mißerfolges seiner Nation – als ein gedemütigter
Opportunist der weltpolitischen Lage, und deswegen sollen die
Bürger künftig umso mehr zu ihm halten. Dies
Einerseits-Andererseits ist der Ansatzpunkt für den Erfolgsweg
konkurrierender Politiker im Lande, die aus der politischen und
ökonomischen Zerrüttung Serbiens Kapital schlagen. Ihre
Parole lautet: Entweder-Oder! Wenn Serbien nur mit Zustimmung des
Westens etwas werden kann, dann hilft nur ein echt prowestlicher Kurs.
Ja, die Lage ist katastrofal, aber schuld an ihr ist Milošević!
Die Niederlage bei den Kommunalwahlen, welche die Regierungsparteien in
Belgrad und in anderen Großstädten kassierten, stellte ihr
weitgehendes Machtmonopol in Frage. Die damit anstehende Beteiligung
der Konkurrenzparteien an der Macht war für Milošević & Co
eine nicht hinnehmbare Gefahr für die Einheit des Volkes, auf die
sie sich, wie gesagt, zur Konsolidierung Serbiens zurückgeworfen
sehen. Die Regierung ließ deshalb unter Benutzung eines
rechtsstaatlichen Verfahrens eine Art Notstand vollstrecken, indem sie
den Antrag stellte, die Wahlen mit den unerwünschten Ergebnissen
von "unabhängigen Gerichten" zu annullieren.
Das auf diese Weise um seine Wahlerfolge gebrachte oppositionelle
Parteienbündnis Zajedno agitierte seine Anhänger zum Protest
gegen den "diktatorischen Stimmendiebstahl". Die gelungene
Massenmobilisierung, ergänzt um die autonomen Demonstrationen der
Studentenschaft, ermunterte die Führer des Bündnisses zu dem
Unternehmen, ihren Protest gegen die Machenschaften des herrschenden "Linksbündnisses" der vom Ehepaar Milošević
geführten Parteien zu einer außerparlamentarischen
Machtprobe zu eskalieren. Die illustre Dreierkoalition –
bestehend aus der "Serbischen Erneuerungsbewegung" des
panserbischen-Fundamentalisten Vuk Drašković, aus der "Demokratischen Partei" des "westlich gebildeten
Marktwirtschaftlers" Đinđić und dem "Bürgerbund" der Kriegsgegnerin Vesna Pešić –
hat sich, ungeachtet aller "ideologischen Differenzen",
dazu entschlossen, die Wahlmanipulationen zum Anlaß zu nehmen,
der Regierung Milošević die Legitimität der
Herrschaftsausübung überhaupt abzusprechen und die
Fortsetzung der Massendemonstrationen bis zu ihrer Kapitulation
anzusagen. [31] Dieses Programm nennt sich – wiewohl weder
demokratisch noch revolutionär – "demokratische
Revolution", sein erklärter Gegner ist das "verbrecherische Regime" des Slobodan Milošević, dem ganz
persönlich die Schuld an der "demütigenden Lage des
serbischen Volkes" zugeschrieben wird. Worin soll das "Versagen" der Regierung bestehen, worin das Gegenprogramm
der Opposition?
"Wir hoffen, daß eines Tages Herceg-Bosna Kroatien
zugeschlagen wird, die Republika Srpska sich uns anschließt und
die Moslems in Bosnien ihren eigenen Staat bekommen – aber nicht
gegen den Willen des Westens, sondern mit dessen
Einverständnis." [32]
So Đinđić in gutem Deutsch. Dasselbe von Drašković auf Serbokroatisch:
"Ich möchte ein wohlhabendes und mächtiges Serbien, in
dem Sinne bin ich Nationalist. Aber ich will es auf demokratischem und
europäischem Weg." [33]
In welchem anderen Sinne ist ein Nationalist wohl Nationalist? Darin
unterscheiden sich die beiden sicher nicht von einem Milošević,
daß sie einen möglichst großen, starken und reichen
Staat Serbien errichten und kommandieren – und dafür die
vorhandenen wie designierten Untertanen einspannen wollen. Das "Aber", mit dem die von der Masse der Demonstranten
anerkannten Führer der Opposition selbst diese Identität des
politischen Zwecks bestätigen, hält als entscheidende
Differenz zu Miloševićs sozialistischer Partei den Willen zum
Einvernehmen mit den westlichen Aufsichtsmächten fest. Das
heißt: Der Mißerfolg, den die NATO-Allianz dem
großserbischen Staatsprojekt unter Milošević beschert hat,
firmiert ex post als schlagender Beweis für die Untauglichkeit des
von ihm eingeschlagenen konfrontativen Weges. Dieselben Politiker, die
mitten im Bosnienkrieg noch Milošević des Verrats an der Nation
bezichtigten, weil er Karadžić und die bosnischen Brüder fallen
ließ, [34] plädieren deshalb heute dafür, der
Präsident müsse vor das UNO-Kriegsverbrecher-Tribunal in Den
Haag gestellt werden. So wird ein Kriegsverlierer-Nationalismus als
Wende salonfähig gemacht, der die Anerkennung der
Kräfteverhältnisse, an denen man gescheitert ist, zur
positiven Grundlage einer Politik der nationalen Schadensbegrenzung und
eines erneuten Anlaufes hin zu der "Serbien gebührenden
Rolle in Europa" machen will.
Der vorgeschlagene Weg einer produktiven Anpassung an die Imperative
der Aufsichtsmächte, der Werbefeldzug des guten,
kooperationsbereiten Willens soll laut Opposition also ein
realistischeres Mittel zum Zweck sein! Worauf gründet diese
Ansicht? Der Beifall, den die friedlichen Protestierer in der
Weltöffentlichkeit ernten, spricht dafür nicht und auch sonst
nichts. Die patriotischen Aufbruchsparolen der besseren, der
Zajedno-Führer, die sich die Demonstranten von Belgrad immer
wieder gefallen lassen, leben von einer großen Verdrehung bei der
"Verarbeitung" des Balkan-Krieges. Ihr ausgeprägtes
Interesse an einer Machtübernahme und -ausübung mit Hilfe des
Westens sorgt dafür, daß sie die feindselige Haltung der
NATO-Staaten gegenüber dem nationalen Anspruch auf staatliche
Einheit aller Serben mit einer Feindschaft gegenüber der Person
Milošević verwechseln, für die er selbst die Verantwortung
trage.
Als ob das serbische Desaster bloß deswegen zustande gekommen
ist, weil Milošević sich mutwillig auf eine
überflüssige
Konfrontation mit dem Westen eingelassen hat; als ob es nicht die
– von ihnen geteilte – nationale Zielsetzung selbst ist,
der sich der Westen entgegengestellt hat! Đinđić und Drašković
kultivieren zielstrebig das Mißverständnis, als ob unter
ihrer Führerschaft das imperialistische Diktat von Dayton
zugunsten eines Machtzuwachses der serbisch-jugoslawischen Republik zu
revidieren sei, wenn sie bloß statt auf Konfrontations"kurs"
demonstrativ auf Übereinkunft mit den westlichen Mächten und
ihren Werten setzten.
Getreu der Fiktion, die strategischen Kalkulationen der
europäischen Vormächte hinsichtlich einer nützlichen
Balkanordnung durch die Übernahme einer garantiert "europäischen" Staatsräson im Inneren ummodeln zu
können, haben die serbischen Oppositionsparteien die interne
Konkurrenz um die Regierungsbefugnis auch noch zu einer
grundsätzlichen Systemfrage stilisiert und damit radikalisiert.
Die Charakterisierung der Regierung als wahlweise "kommunistische" oder "postkommunistische
Diktatur", deren Chef erst durch sie "vom Fall der Berliner
Mauer gehört hat" und zusammen mit seiner Frau "noch
im Zeitalter des Ostblocks lebt", bildet den Popanz, gegen
welchen spiegelbildlich die eigene Selbstdarstellung als demokratische
Revolutionäre, Anwälte der Freiheit, des Rechtsstaats und der
Menschenrechte, Friedensbringer und Versöhner in Anschlag gebracht
wird. Es ist, als ob die Phantasie der Protestierer sich darauf
beschränken wollte, das einschlägige westlich-demokratische
Feindbild über die ehemaligen Ostblockstaaten oder -parteien zwar
etwas spät, aber dafür um so gründlicher zu erlernen und
ihrem Gegner überzustülpen. Und das ausgerechnet in einem
Fall, in dem selbst antiserbischen Scharfmachern des Westens die
Vokabel "Kommunismus" ein wenig entfallen war, seit Milošević unser "Partner" von Dayton wurde.
Egal: Jetzt beweist der Niedergang Serbiens noch einmal die Verbrechen
des untergegangenen kommunistischen Blocks, frei nach der Devise: Ein
Nationalismus, der die Nation in den Mißerfolg führt,
muß von Kommunismus besessen sein... [35]
Dauerdemonstrationen, die auf mächtige Schützenhilfe rechnen
Die Massendemonstrationen sowohl der politischen Parteienkoalition
Zajedno als auch der Studenten dienen von Anfang an nicht nur dem Ziel,
die Regierung wegen ihres Wahlbetrugs ins Unrecht zu setzen. Die
Demonstranten fordern nicht bloß eine "Wende", als
deren Protagonisten sie sich selbst in Szene setzen. Ihre
Veranstaltungen richten sich auch von vornherein an die Adresse der
westlichen Staatenlenker und Öffentlichkeiten – also an
diejenigen Herrschaften, die durch die Vollstreckung des bosnischen
Friedensdiktats ihre Macht über die ex-jugoslawischen
Kriegsparteien, vor allem den so definierten serbischen Aggressor,
bewiesen haben. Sie sind Manifestationen des besseren Serbien, das in
Form einer nationalen Oppositionsbewegung "von unten" das
negative Urteil über das offizielle Serbien des "Kriegstreibers" Milošević beglaubigt – dafür
aber auch gerechterweise Unterstützung im Kampf gegen dieses
Regime beanspruchen kann. Deshalb legt man auf das eigene Bild enormen
Wert: Friedlich-gewaltfrei, bunt, originell und lustig! [36] Wer
solchen guten Menschen die tägliche Besetzung der Innenstadt
verbietet, der gehört eingesperrt und wird folglich als Puppe im
Sträflingsanzug durch die Straßen getragen und den
westlichen TV-Kameras vors Objektiv gehalten. Von den Machthabern
läßt man sich nie mehr beeindrucken und verschaukeln –
jedenfalls nicht, wenn sie Milošević heißen. Und deshalb
appellieren die politischen Führer der Opposition immer wieder an
Bonn, Washington und Brüssel, "den Druck auf das Regime zu
verstärken" und ihnen so die Macht zu (ver)leihen, die ihren
Demonstrationen alleine abgeht. [37] Sie werben für ein
politisches Mandat des Westens, indem sie ihre Dienste bei der
Entmachtung des "Diktators" und der "Stabilisierung
der Region" anbieten. Dabei geben sie bloß zu Protokoll,
daß sie den Lohn ernten wollen, den Milošević sich vergeblich
versprochen hatte, als er die Niederlage seines Staatsprojekts in
Dayton unterschrieb und mit den Garantiemächten Bosniens
kooperierte. Gleichzeitig politisieren sie die materielle
Unzufriedenheit der Massen mit der zweifachen Lüge, wonach das
Einvernehmen mit dem wohlhabenden und mächtigen Kapitalismus der
EU ein wohlhabendes Serbien zur Folge haben werde und dieses den
Wohlstand des serbischen Volkes verbürge.
Auch wenn sie und ihre Anhänger sich darin gewaltig täuschen,
eines bleibt bemerkenswert: Politik und Strategie der oppositionellen
serbischen Nationalisten gehen wie selbstverständlich davon aus,
daß die Gewaltfrage im Lande letztendlich nicht durch
demokratische Willensbildung oder inneres Kräftemessen entschieden
wird, sondern durch das Interesse der imperialistischen Schiedsrichter.
Tatsächlich hat die Spekulation darauf, daß die "Bestätigung des Wahlsieges von Zajedno durch die
OSZE" und die Warnungen des Westens vor "Gewalt gegen
friedliche Demonstranten" die Handlungsfreiheit der Regierung
maßgeblich beschränken und im Ernstfall eine massive
Einmischung zu ihren Gunsten bedeuten würden, die Grundlage
für den Durchhaltewillen der Demonstranten gelegt. Die zur
Gewohnheit gewordene Aufkündigung des Gehorsams durch eine
wachsende Massenbewegung wiederum hat die Legitimität der
Herrschaft des regierenden Parteienblocks so nachhaltig in Frage
gestellt, daß nach und nach immer mehr ehedem regierungstreue
Stände und Institutionen, darunter Teile der Gewerkschaften,
Justiz und Armee, Milošević die Gefolgschaft verweigerten. Und die
serbisch-orthodoxe National-Kirche hat sich offen auf die Seite der
Demonstranten geschlagen. So hat die Einmischung der Staatsgewalten des
Westens tatsächlich eine entscheidende Rolle gespielt für den
Erfolg der Sorte von "Selbstbestimmung", die die
selbstbewußten Staatsbürger auf Belgrads Straßen als
ihr Recht reklamieren. Das Recht, das ihnen der Sache nach gewährt
werden soll, ist die großartige Chance, von anderen nationalen
Führern regiert zu werden.
Der Standpunkt der Balkan-Ordner: Der serbische Nationalismus ist kleinzukriegen!
Die mit einer NATO ausgestatteten Beaufsichtiger des fleißig
geförderten Zerfallsprozesses von Jugoslawien haben die
ex-jugoslawischen Politiker von Tuđman über Izetbegović bis
Milošević noch nie danach beurteilt, wer wohl der beste Demokrat
ist,
und dementsprechend ihre Sympathien und Waffenlieferungen verteilt. Sie
haben die Landkarte auf dem Balkan ganz unter dem strategischen
Blickwinkel des Machthaushalts betrachtet, der ihrem Interesse an einer
fraglosen Vorherrschaft über die Region entgegenkommt. Die daraus
resultierende Parteinahme und Antriebskraft für den Separatismus,
der das Gewicht des Staates Jugoslawien und damit die Fähigkeit zu
einer – in Zeiten des Kalten Krieges so geschätzten –
eigenständigen Rolle zerstörte, führte quasi automatisch
zur Frontstellung gegen die Zentralmacht in Belgrad, die sich mit der
oktroyierten Aufteilung der Macht nicht abfinden wollte; wobei es
für die Diktatmächte schon keine Rolle mehr spielte, ob es
dieser um den Erhalt Jugoslawiens oder um die Gründung eines
großserbischen Staats ging.
Nachdem der "Belgrader Kriegstreiber" schließlich den
Pakt von Dayton unterschrieben hatte, um den Restbestand an serbischer
Macht nicht zu gefährden, wurde er zum "Ordnungsfaktor" befördert – bei dem der
US-Sonderbeauftragte Holbrooke freilich immer wieder vorbeischauen
mußte, um die fälligen Dienste zu erpressen. [38]
Der Standpunkt der gewaltsamen Ein- und Begrenzung serbischer Macht
findet jetzt seine Fortsetzung in der strategischen Begutachtung des
Wirkens der innerserbischen Oppositionsbewegung. Um die Frage, ob und
wie der "Volkswille" oder gar die Bedürfnisse der
Bevölkerung beim Regieren beachtet werden, geht es nicht, auch
wenn diese Täuschung in unserer aufgeklärten Demokratie noch
so sehr erwünscht ist. So hatten die westlichen Oberdemokraten
gegen die Annullierung der oppositionellen Wahlsiege zunächst gar
nicht protestiert, [39] weil sie in den Zajedno-Parteien ohnehin keinen
realistischen Machtfaktor sahen. [40] Das hat sich geändert. Jetzt
nehmen die Friedensgaranten von Dayton dankend zur Kenntnis, daß
Zajedno die Aufsichtsmächte auffordert, sich für die inneren
Machtverhältnisse zuständig zu erklären und zu Gunsten
der Oppositione zu intervenieren.
Die Regierungen in Washington, Bonn und Paris, die solcher
Hilfeersuchen nicht bedürfen, haben die Sache unvoreingenommen
betrachtet. Der Weltmacht Nr.1 blieb es vorbehalten, die schlichte
Frage vor aller Weltöffentlichkeit zu stellen und in ihren
Zeitungen vorzudiskutieren: "Brauchen wir Milošević noch?"
Und der Chefunterhändler für die Balkanregion verkündete
die Antwort: "Die USA seien überhaupt nicht unglücklich
über die Entwicklung. Präsident Milošević sei nicht
mehr so
wichtig." [41] Damit war nicht bloß klargestellt, daß
der Mohr die ihm zugedachte Funktion im wesentlichen erledigt hat, also
gehen kann. Damit war zugleich das Interesse verkündet, die
Machtposition Miloševićs in Belgrad anzugreifen. Daß es um
diese
negative Zielsetzung geht und nicht um die Ablösung einer
unliebsamen durch eine dem Westen von Haus aus genehme,
"demokratischere" Regierungsmannschaft, zeigte sich schon
daran, daß überhaupt keine positiven Angebote an irgendeine
heimische Politikerriege vorlagen, weder an den Friedenspartner
Milošević, noch an seine Konkurrenten. Bei der dann
fälligen
öffentlichen Begutachtung stellte sich ferner heraus, daß
die sich anbietenden alternativen Führungsfiguren den Eignungstest
der westlichen Kontrolleure keineswegs bestanden haben. Đinđić und
Drašković werden als das taxiert, was sie sind, nämlich
"gewendete Nationalisten", die aus opportunistischer
Berechnung auf den Westen setzen, sich davon einen Aufschwung
serbischer Rechte und Mittel versprechen. Folglich werden sie
keineswegs als verläßliche Garanten einer funktionalen
Einordnung Serbiens in das für den Balkan vorgesehene
"Machtgleichgewicht" protegiert.
Daß Đinđić Deutsch spricht und sagt:
"Nur ich (von den vier politischen Führern)
repräsentiere die europäische Variante. Das Pferd, auf das
der Westen setzen sollte, bin ich." [42] ,
prädestiniert ihn noch lange nicht zum Vollstrecker
europäischer Interessen auf dem Balkan. Andererseits sehen die
Politiker von Bonn, Paris und Washington in seinem Bekenntnis zu einer
Staatsräson, die ganz auf ihren Beistand setzt, natürlich
einen willkommenen Ansatzpunkt, um ihm für den Fall einer
erfolgreichen "Demokratisierung" Serbiens die Bedingung
eines einvernehmlichen Verhältnisses mit dem Westen klarzumachen
– die Aufgabe aller serbischen Machtambitionen. Schön
undiplomatisch konnte unser Ex-Mostar-Mann Koschnick in diesem Sinne
darüber aufklären, daß es nicht hinreicht, Demokrat und "europäisch" zu sein, um Deutschland und seinen
Ordnungspartnern zu gefallen, als er "die Oppositionsführer
in Belgrad aufforderte, sich von nationalistischen Ideen zu
distanzieren. Wir haben aus Belgrad bisher kein Zeichen bekommen,
daß man sich von dem Gedanken an Großserbien verabschiedet
hat." [43]
Da von Herrn Koschnick und seinen politischen Freunden nicht bekannt
ist, daß sie sich von der Realisierung der deutschen
Wiedervereinigung distanziert hätten, ist eindeutig, was gemeint
ist: "Nationalismus" ist, wenn nicht befugte Staaten wie
Serbien eigenmächtige nationale Ziele verfolgen!
Wenn die NATO-Staaten dennoch die serbische Opposition gegen die
Regierung ins Recht setzen; wenn sie "mit völliger Isolation
des Regimes" für den Fall drohen, daß die Regierung
nicht strikt von jeder "Gewalt" gegen die Opposition
Abstand nimmt; wenn die OSZE die Regierung nicht nur zur Anerkennung
des Wahlsieges von Zajedno auffordert, sondern auch zur Einberufung
eines "Runden Tisches" zwecks Durchführung
grundsätzlicher "demokratischer Reformen" – dann
zeigt dies alles, daß die Erzwinger von Dayton mit dem
Friedenszustand, den sie Serbien aufgenötigt haben, noch lange
nicht zufrieden sind. Sie nehmen nämlich die Tatsache, daß
die Macht des serbischen Präsidenten nicht mehr unangefochten
gilt, sondern in Serbien eine nationale Opposition sich bemerkbar macht
und entschieden auf Wechsel drängt, zum Anlaß für einen
imperialistischen Übergang. Der mag Fanatikern der internationalen
Verantwortung für die politischen Gegebenheiten anderswo zwar
selbstverständlich vorkommen, ist es aber ganz und gar nicht: Die
Mächte, die dem serbischen Staat in den kriegerischen
Auseinandersetzungen und dann mit Dayton verbindliche äußere
Schranken auferlegt und ihn damit zum Verlierer in den jugoslawischen
Auflösungskämpfen gemacht haben, gehen jetzt dazu über,
auch auf die inneren Verhältnisse dieses Staates entscheidend
Einfluß zu nehmen – und zwar ganz im Sinne der Kontrolle,
die sie durch die äußere Grenzziehung intendiert haben. Mit
der wollen sie sich überhaupt nicht begnügen. Wo ihnen die
Opposition die Gelegenheit bietet, zeigt sich, daß ihr
Bedürfnis nach Aufsicht an den Staatsgrenzen nicht Halt macht,
sondern sich darauf richtet, den serbischen Nationalismus, der sich an
den neuen Gegebenheiten abarbeitet, gefügiger zu machen. Das durch
das Friedensabkommen in seiner Macht beschränkte Serbien soll auch
in seinem nationalen Wollen auf Anerkennung seiner Schranken festgelegt
werden.
Dazu mischen sich USA und Europa jetzt, wo Miloševićs Macht
nicht mehr
fraglos anerkannt ist, in den Machtkampf ein und nehmen mit ihren nicht
geringen Mitteln die Rolle einer Aufsichtsinstanz wahr. In Gestalt der
OSZE als Schiedsrichter angerufen – soweit hat sich nämlich
Milošević westlichem Druck gleich gebeugt –, haben es die
westlichen Politiker bei einer in ihren Augen matten Wahlkontrolle erst
gar nicht belassen, sondern einen viel weiterreichenden Einfluß
geltend gemacht. Und zwar überhaupt nicht konstruktiv: Sie haben
ein Verbot an die Adresse der Regierung ausgesprochen, ihre Macht mit
den Mitteln der Regierungsgewalt zu verteidigen. Den Mann, dem sie die
Hinnahme der äußeren Grenzziehung aufgenötigt haben,
bedenken sie jetzt mit einem Gewaltverbot nach innen. Eine Bewahrung
seiner Macht, wie er sie im Interesse Serbiens für nötig
hält, wird ihm nicht konzediert. Wo es um die Ausrichtung des
politischen Willens, also die Unterordnung einer regionalen Macht und
die Ausweitung eigener Kontrolle geht, da ist "Destabilisierung"
selbstverständlich ein probates
Mittel.
Für diese parteiliche Auslegung ihrer auf die inneren serbischen
Verhältnisse ausgeweiteten Kontrollbefugnis sehen die USA und die
führenden Europäer einigen Grund. Erstens ganz generell: Sie
rechnen nämlich mit der dauerhaften Notwendigkeit, den serbischen
Nationalismus zu kontrollieren. Sie gehen – ohne große
Überlegung, das wissen regierende Nationalisten blindlings –
davon aus, daß das Land als Hauptverlierer des Kriegs unzufrieden
ist und sich nur widerwillig unterworfen hat. Deswegen ist und bleibt
Milošević für sie eine zweifelhafte Figur. Er
verkörpert
schließlich die serbischen Ansprüche, möglichst viel
vom alten Jugoslawien unter serbischer Hoheit zu versammeln, die man im
Westen als Hauptgefahr im Krieg und als das Haupthindernis westlicher
Aufsicht entdeckt und kleingemacht hat. Dafür steht nun einmal
dieser Mann, weil er es war, der Serbien in den Krieg hinein und durch
ihn hindurch geführt hat. Also ist auch weiterhin Mißtrauen
angebracht gegenüber seiner – eben nicht freiwilligen
– Zustimmung zu Dayton und dem Bemühen, Serbien auf der
Grundlage zu konsolidieren. Daß er sich um neue Anerkennung im
Westen bemüht, nützt da gar nichts, wo die westlichen
Mächte sich dazu entschlossen haben, die Opposition zu
fördern – nicht, weil die verläßlich wäre,
sondern weil man sie durch ihre Förderung auf sich zu verpflichten
gedenkt. Daß dabei irgendwer, d.h. der einstige Fürsprecher
Serbiens, Rußland, in die Quere kommen könnte, halten die
Aufseher zurecht für ausgeschlossen. [44]
Der Kontrollbedarf reicht also auch weiter als bis zu einem
Machtwechsel in Belgrad. Das erhellt schon daraus, wie der Westen die
Opposition durchmustert und ihr die generellen Vorbehalte
präsentiert, die er gegenüber den innerserbischen
Verhältnissen anzumelden hat und an deren Erfüllung sich
serbisches Wohlverhalten zu beweisen hat: Auslieferung der serbischen
Ober-Kriegsverbrecher als Beweis, daß Serbien die
äußere Sicht der Lage vollständig anerkennt, und
Anerkennung eines Regelungsbedarfs in der Kosovo-Frage – seit
1992 steht die Drohung der USA, einen Einsatz des serbischen
Militärs im Kosovo nicht hinzunehmen. Die Mittel, dem neuen
Aufsichtsanspruch gegenüber der serbischen Regierung Nachdruck zu
verleihen, sind zur Hand; es sind die von gestern, mit denen man auch
Dayton durchgesetzt hat: Alle möglichen Sanktionen, deren
Aufhebung der Belgrader Regierung versprochen war, werden in Kraft
gehalten bzw. unter Verweis auf die schikanöse Behandlung der
Opposition erneuert – also die üblichen
Handelsvergünstigungen mit der EU, die Freigabe der
Auslandsguthaben und die Aufnahme der BR Jugoslawien in die
internationalen Finanzorganisationen, d.h. der Zugang zu Krediten
verweigert. [45] Der Lohn für die Unterschrift unter Dayton bleibt
also für Restjugoslawien erst einmal aus, weil inzwischen der
Preis für Anerkennung erhöht worden ist.
***
Warum sich Noch-Präsident Milošević nach allen gescheiterten
Versuchen des Aussitzens, der partiellen Zugeständnisse und der
polizeilichen Einschüchterung doch zur bedingungslosen Anerkennung
der oppositionellen Wahlerfolge genötigt sah, sagte er selber so:
"Gute Beziehungen zu den Staaten der OSZE sind für Jugoslawien wichtiger als ein paar Parlamentssitze." [46]
Diese lapidare Feststellung kündet einerseits von einer
abermaligen Unterwerfung der restjugoslawischen Regierung unter die
Order der imperialistischen Gemeinschaft. Die mit dem Gestus der
Souveränität präsentierte Güterabwägung stimmt
andererseits vorne und hinten nicht. Hinten nicht, da es sich
längst nicht mehr nur um ein paar uninteressante kommunale
Parlamentssitze handelt, die zu vergeben sind, sondern um "den
ersten Schritt" zur endgültigen Bestreitung seiner Macht,
wie die Opposition längst öffentlich klarstellt:
"Ohne seine Absetzung wird es kein demokratisches Serbien geben." [47]
Strittig ist lediglich die beste Taktik der Entmachtung, ob sein Sturz
in freien Wahlen, durch die Fortsetzung des "gewaltlosen
Widerstands" oder durch eine Kombination aus beidem erfolgen soll.
Und vorne nicht, weil es gar nicht in der Entscheidung eines
serbisch-jugoslawischen Machthabers liegt, die Qualität der
Beziehungen zu den westlichen Ordnungshütern zu bestimmen. Nach
deren maßgeblichem Kommentar hat Miloševićs "unfreiwilliges Einlenken" bloß das Unrecht
bestätigt, das in Serbien an der Macht ist.
______________________________________
[1] In der Sprache des Vertrags von Dayton IEBL
("Inter-entity boundary lines") und "D+90" bzw. "D+120" genannt.
[2] Der "Hohe Beauftragte" Carl Bildt tut freilich
gerne so, als habe er noch nie etwas von nationalistischer Feindschaft
gehört. Er gibt laufend Aufrufe zur "Versöhnung"
heraus, die ganz naiv ein bißchen "guten Willen"
verlangen. Wie berechnend dieser Idealismus ist, macht dann aber sein
Nachsatz klar: "...sonst kann keine wirksame Hilfe von
außen kommen".
[3] Die USA drücken diesen Zwang ohne Umschweife so aus:
"Im Friedensabkommen waren die Wahlen ausdrücklich auf den
Erhalt der Kontinuität des Staates Bosnien-Herzegowina angelegt.
Die Dayton-Verfassung erlaubt keine Sezession, weder der
Bevölkerung des Gesamtgebietes noch von Teilgebieten. Ganz im
Gegenteil verpflichtet das Friedensabkommen die Parteien auf die 'Souveränität, territoriale Integrität und
Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas'.
Was auch immer während des Wahlkampfes gesagt werden könnte:
die Kandidaten haben die Regeln, die sie zur Einhaltung des
Friedensabkommens und der bosnischen Verfassung zwingen, mit der
Teilnahme an dieser Wahl akzeptiert... Ebenso wird keiner Seite des
Friedensabkommens erlaubt werden, die Bildung und das Funktionieren
gemeinsamer Institutionen, die durch die Wahlen geschaffen werden, zu
behindern..." (Erklärung des amerikanischen
Außenministeriums vom 9.9.1996)
[4] Die "ordnungsgemäße Durchführung der
Wahl" stand von vornherein fest. Die Versuche, durch Tricksereien
bei der Wählerregistrierung entweder einen der jeweiligen Seite
genehmen Ausgang zu manipulieren oder das gesamte Wahlverfahren zu
obstruieren, wurden teils unterbunden, teils einfach ignoriert. Die
OSZE ließ gar keinen Zweifel daran, daß sie
"Unregelmäßigkeiten" als Beweis für einen "insgesamt
ordnungsgemäßen Ablauf"
interpretieren würde und daß die völkische Festlegung
der Stimmenhaufen – die sich nicht alternativ-konkurrierenden
Regierungsprogrammen, sondern sich ausschließenden
Staatsprojekten verdankte – nicht den geringsten Einwand gegen
den "demokratischen Grundcharakter" abgeben würde.
Gute Dienste leistete der eigens ersonnene Wahlmodus, den kundige
Beobachter als "den kompliziertesten der Geschichte" und
als reines "Mysterium" bezeichneten.
[5] Als "Symbol des Versöhnungswillens" war im
Wahlrecht ein Minderheitenschutz eingebaut, der gewährleisten
sollte, daß in den "Länder"-Parlamenten ein paar
Außenseiter Platz nehmen konnten. Damit drückte die "internationale Gemeinschaft" ihr Unverständnis
gegenüber der "nationalistischen Unvernunft" aus
– und beließ es dann dabei.
[6] "Wir sind hier, weil wir uns einer Sache sicher sind:
Wäre es uns nicht gelungen, vor zwei Jahren die Föderation zu
gründen, gäbe es heute keinen Frieden in Bosnien... Die
Föderation muß ihr volles Potential ausschöpfen, wenn
der Frieden Bestand haben soll... Es ist beispielsweise
unerläßlich, daß Sie ein neues Verteidigungsgesetz der
Föderation verabschieden und umsetzen, um die Streitkräfte
der bosniakischen und der kroatischen Gemeinden zu vereinigen. Nur wenn
die Streitkräfte integriert sind, kann die internationale
Staatengemeinschaft mit ihrer Ausbildung und Aufrüstung
beginnen..." (Außenminister Warren Christopher beim Treffen
des Föderationsforums, Washington 14.5.1996)
[7] Allerdings kreuzt sich dabei der besonders von den USA
vertretene Gesichtspunkt, ein militärisches
Kräftegleichgewicht herzustellen, mit dem von Europa angemeldeten
Interesse, den Konfliktherd in seinem besonderen Interessenbereich so
weit wie möglich auf ein von außen handhabbares Maß an
militärischer Potenz zurückzustutzen. Der US-Beschluß,
die bosnische Armee (ABiH) aufzurüsten und mit der der bosnischen
Kroaten (HOV) zusammenzuschließen, eine Maßnahme, die weder
im Plan noch in der Reichweite Europas lag, hat zu einer schönen
diplomatischen Heuchelei geführt: Man könne doch den Frieden
nicht durch die Einfuhr von Waffen befördern.
[8] Ein Versuch des bosniakischen Staatspräsidenten, unter
Berufung auf islamische Gemeinsamkeiten Ansätze einer eigenen
Außenpolitik aufzubauen und sich Waffen vom Iran zu besorgen,
wurde von den USA prompt unterbunden; der kühle Hinweis, die
Bosniaken müßten sich entscheiden, ob sie "sich
militärisch an die USA oder an den Iran binden", wurde als
die Drohung verstanden, die er ist, die Beziehungen zum Iran wurden
abgebrochen, und der von den USA als Verantwortlicher benannte
stellvertretende Verteidigungsminister wurde entlassen. Damit waren
wiederum die Bosniaken nicht zufrieden, was zu einem internen Streit
führte; daraufhin verweigerten die USA weiterhin die
Waffenlieferungen, und erst der Rücktritt des
Verteidigungsministers selbst zeigte ihnen an, daß sich die
Führung alle Ambitionen auf eine gewisse Selbständigkeit
abgeschminkt hat. Zumindest vorläufig. Wenn ein Kommentator auf
dem vermeintlichen Widerspruch herumreitet – "Der
größte Nachteil der 'Konstruktion' von Dayton
ist die künstliche Trennung von Außen- und
Verteidigungspolitik, was der Logik einer in sich geschlossenen
Sicherheitspolitik diametral zuwiderläuft." (NZZ 31.12.1996)
–, dann mißversteht er die ganze "Konstruktion"
gründlich: Da wird nämlich gar nichts getrennt, sondern ein
einheitlicher staatlicher Wille nach außen ist weder vorhanden
noch in dem Staatskonstrukt ernsthaft vorgesehen.
[9] "IPTF-Hilfe schließt die Überwachung und
Kontrolle von Polizeimaßnahmen und -einrichtungen ein,
einschließlich dazugehöriger juristischer Organisationen,
Strukturen und Abläufe, die Ausbildung und Beratung von Polizisten
und Einrichtungen, die Erleichterung von Polizeimaßnahmen der
Seiten mittels der IPTF-Hilfsmission, die Beurteilung der Bedrohung der
öffentlichen Ordnung und die Beratung über die Fähigkeit
der Polizeibehörden, mit solchen Bedrohungen umzugehen, die
Beratung der Regierungsbehörden in Bosnien-Herzegowina in Hinblick
auf die Organisation wirksamer ziviler Polizeibehörden und die
Hilfe durch Begleitung von Polizisten der Seiten bei der Erfüllung
ihrer Verpflichtungen, wie es die IPTF für angebracht hält.
Die IPTF hat die Menschenrechtskommission auch über jede
Information die Verletzungen international anerkannter Menschenrechte
oder Grundfreiheiten betrifft, einschließlich der Rolle der
Gesetzesdurchführungsbeamten oder -kräfte bei solchen
Verletzungen, zu informieren." (Repatriierungsinformationsbericht
der Hohen Kommissarin für Flüchtlinge der Vereinten Nationen)
[10] Die beiden sollen sich durch "extremen
Nationalismus" auszeichnen, ein Charakterzug, ohne den allerdings
in der gesamten Gegend eine Politikerkarriere nicht denkbar wäre.
Daß das ausgerechnet den Zweien vorgeworfen wird, hat seinen
Grund darin, daß man in ihnen die renitentesten Gegner westlichen
Ordnungswillens sieht. Anderen, die wieder andere gerne als
Kriegsverbrecher angeklagt sähen, wie Tuđman, Izetbegović oder
Milošević, bleibt dies allerdings erspart; die einen stehen im
Prinzip
auf der richtigen Seite, der andere hat sich dafür gewinnen und
erpressen lassen, im Interesse einer "Normalisierung" des
westlichen Verhältnisses zu Serbien den bosnischen Serben seine
Unterstützung zu entziehen und sie damit zur Aufgabe zu zwingen.
[11] Das "Know-how" für die Aufgabe der
Flüchtlingsbetreuung und -"Repatriierung" braucht man
nicht erst zu entwickeln, es liegt – für Bosnien in Gestalt
von gleich vier internationalen Organisationen – ziemlich fertig
vor dank der gewohnheitsmäßigen Zuständigkeit der
zivilisierten Staaten für die Überwachung der ganzen Welt,
also auch der wachsenden Zahl von Hunger-, Elends- und Kriegsopfern
rund um den Globus.
[12] Erstens brauchen sich die Bosnier nicht zu beschweren, es gibt Schlimmeres:
"Die Spuren der Zerstörung im jüngsten Krieg sind
unübersehbar, lassen sich aber, gerade in der Altstadt Sarajewos,
kaum mit der Verwüstung etwa von Beiruts Zentrum vor anderthalb
Jahrzehnten vergleichen".
Zweitens gibt es noch Schlimmeres:
"Die Tristesse der weitgehend intakten Plattenbauarchitektur der
Wohnviertel aus der sozialistischen Ära mutet fast noch
deprimierender an als all die Einschußlöcher durch
Minenwerfer, Panzergranaten und Handfeuerwaffen."
Drittens wird für den Bosnier als Kulturgut gesorgt:
"Im Zentrum der Altstadt werden Gebäude der Habsburgerzeit sorgfältig restauriert." (NZZ 7.2.1997)
[13] Nur ein paar Beispiele:
– Parallel zur Einigung über Tagungsorte und -frequenz des
neuen Staatspräsidiums, womit die bosnischen Serben auch
Verfassung und Einheit Bosniens unterschreiben, tritt ihr Parlament in
Banja Luka demonstrativ neben einer abgerissenen Moschee zur
konstituierenden Sitzung zusammen und verlangt den Schwur vor einem
orthodoxen Kreuz, woraufhin die muslimischen Abgeordneten ebenso
demonstrativ ausziehen.
– Kroatien liefert ein oder zwei "Kriegsverbrecher"
aus, und zugleich wird ein weiterer öffentlich von Präsident Tuđman belobigt.
– Kroatien akzeptiert zwar den Status Mostars als
multi-ethnisches "Versöhnungsprojekt", weigert sich
aber mit Hingabe, die Wahlen in Mostar anzuerkennen, will es doch
letztlich Mostar zur Hauptstadt der Republik Herceg-Bosna machen. Die
EU droht mit Abzug aus Mostar, was wenig Eindruck macht, ganz im
Gegenteil müssen die USA bei Tuđman intervenieren, damit die EU
vorläufig mit ihrer "Mission" überhaupt bleiben
kann. Unter deren Aufsicht ist die Stadt faktisch geteilt, Gewalt an
der Tagesordnung und die Kontrollinstanzen insofern laufend neu
herausgefordert.
– Die bosnische Serbenführung gibt zwar dem "internationalen Druck" gegen Karadžić und Mladić nach und
entfernt sie aus ihren Ämtern, weigert sich aber, sie
auszuliefern, nimmt sich stattdessen das Recht auf eigene "Kriegsverbrecherprozesse" heraus und klagt ihren
Intimfeind, Alia Izetbegović, mit dem sie im Präsidium
zusammensitzt, vor einem serbischen Kriegstribunal an.
– Brčko bleibt "ein weiteres Jahr" unter
internationaler Kontrolle, weil klar ist, daß man diesen
lebenswichtigen Korridor weder den bosnischen Moslems zuschlagen, noch
den Serben überlassen kann, ohne daß ein neuer Ausbruch von
Gewalt droht, so wissen und sagen die Verantwortlichen und ihre
Öffentlichkeit...
[14] Der über den Atlantik ausgehandelte Kompromiß
– die Nachfolgetruppe SFOR ist kleiner, insbesondre wird der
US-Anteil reduziert, das Mandat lautet auf 18 Monate, eine
Überprüfung findet alle 6 Monate statt – hat diesem
amerikanischen Interesse im Prinzip Rechnung getragen.
[15] "Aus Feinden seien Verbündete, aus
Verbündeten Freunde und nun aus Freunden Partner im Einsatz
für das neue, geeinte Europa geworden. Dadurch gewinne, so hob
Rühe hervor (während des Truppenappells in Sarajewo), die
europäische Verteidigungsidentität konkrete Gestalt."
(NZZ 7.2.1997)
[16] Die HDZ verlor bislang alle Wahlen in Istrien an die Dieta,
ein Wahlbündnis aus Ex-Sozialisten, Vertretern der italienischen
Minderheit im Lande, die nicht verwechselt werden wollen mit den echten
Irredenta-Revanchisten in Italien, und Anhängern eines
autochthonen istrianischen Kulturpatriotismus, der nostalgisch
Jugoslawien nachtrauert, weil die kroatisch-slowenische Staatsgrenze
jetzt Istrien geteilt hat.
[17] Die Tageszeitung Novi List z.B. wurde wegen "Unterstützung eines subversiven Regionalismus" unter
Zensur gestellt und faktisch verstaatlicht.
[18] Die Verantwortlichen verweisen mit Vorliebe darauf,
daß der Staatsgründungskrieg laut offizieller Statistik 37%
des Produktivvermögens in Kroatien zerstört habe, wie wenn
sich damit jede Kritik daran erledigt, daß die "sozialistisch gefesselte" Wirtschaft noch 1991 bessere
Bilanzen zustandebrachte, als 1996 in der souveränen Republik
Kroatien erwirtschaftet werden – wie gelebt wird, steht sowieso
nicht zur Debatte. Der nationale Befreiungskampf – so ihr
Argument – hat eben seinen Preis. Daß umgekehrt ein solcher "Preis" gegen das nationale Unternehmen sprechen
könnte, kommt ihnen offensichtlich nicht in den Sinn.
[19] Populäre Volkslabsale wie Slivović und Ajvar finden
ihren Weg aus Serbien und Montenegro über bayerische Grossisten,
die sich fürs Etikettenwechseln einen Preisaufschlag gönnen,
nach Kroatien, wo sie heute kaum bezahlbare Luxusgüter geworden
sind. Solch’ süße Früchte der Unabhängigkeit
stoßen auf ein Publikum, das Ende 1995 der offiziellen Statistik
zufolge zu 18% arbeitslos gemeldet war.
[20] 1991 ratifizierte der Sabor das "Umwandlungsgesetz", mit dem das Eigentum unter
Arbeiterselbstverwaltung privatisiert werden soll. Im sozialistischen
Jugoslawien gehörten die Betriebe ihrer Belegschaft als
Eigentumstitel, über den sie allerdings nur begrenzt verfügen
konnte. Verkauf war nur unter besonderen staatlich reglementierten
Bedingungen möglich. Auch die Betriebsleitung wurde zwar von der
Belegschaft gewählt – nominiert und faktisch eingesetzt aber
von der Partei über ihre kommunalen, republikmäßigen
und Bundesorgane. Die Festsetzung der Höhe des ausbezahlten Lohnes
war Sache der Arbeiter mit der entscheidenden Einschränkung,
daß per Gesetz der prozentuale Anteil von Rücklagen,
Investitionen, Steuern festgelegt war. Für die jetzt vorgesehene
Verwandlung in Privateigentum wurden in Kroatien erst einmal alle
größeren Betriebe richtig verstaatlicht: 1992 ging alles
Eigentum an den Kroatischen Privatisierungsfonds (KPF) über. Bei
einem Betriebswert, den das Management auf Grund der letzten Bilanzen
festsetzte, bis zur Höhe von 5 Mio. DM (im alten Jugoslawien
wurden seit 1985 alle Geldbeträge von relevanter Höhe gegen
die Inflation in DM fixiert und mit der Inflation zum Tageskurs in
Dinar bezahlt) erfolgte die Umwandlung in privates Eigentum durch den
Betrieb selbst. Die Belegschaft erhielt ein Vorkaufsrecht. Die Arbeiter
konnten per Ratenzahlung innerhalb von 5 Jahren ihren eigenen Betrieb
kaufen.
[21] Dank diesem staatlichen Manöver hatte der Kroatische
Privatisierungsfonds bis Ende 1994 für 7 Mrd. DM Betriebe
verkauft, nahm aber dafür nur 1 Mrd. DM ein. Verkauft wurden
bislang hauptsächlich Betriebe in der Tourismusindustrie und im
Dienstleistungsbereich. Letztere fast durchwegs an die Belegschaften,
die jetzt ihren Arbeitsplatz als Miteigentümer besetzen, erstere
zusätzlich auch an ausländische, vor allem deutsche
Reiseveranstalter.
[22] Vervollständigt wurde dieses Programm durch das
Regierungsdekret "Instruktionen zur Durchsetzung der
Lohnfestsetzung", mit dem 1996 erstmals der Staat die
Lohnhöhe festsetzt. 1996 beträgt der Durchschnittslohn DM 550
DM, das sind DM 330.- weniger als 1990. Der Lohn bezahlt in der Regel
knapp die Hälfte vom Lebensunterhalt einer Familie mit 2 Kindern.
(Alle Zahlen nach: Transition 20/96)
[23] Die verzögerte Aufnahme Kroatiens in den Europarat und
die ständigen kritischen Belehrungen durch den
BRD-Außenminister Kinkel bei seinen Besuchen in Zagreb in Sachen
"Herzeg-Bosna" und Menschenrechte auch für Serben bzw.
die deutsche Behauptung, es gäbe auch kroatische Kriegsverbrecher,
haben die Begeisterung für die BRD in HDZ-Kreisen merklich
gebremst.
[24] Deshalb kann der Präsident, Wahl hin oder her, zum
Beispiel in der Hauptstadt nur einen Bürgermeister akzeptieren,
der aus seiner Klientel kommt! Und in der HDZ überlegt man, wie
sie ihre Regierungsmacht über die kommenden Präsidentenwahlen
hinaus sichern kann. Angesichts der Vollmachten, die die kroatische
Verfassung dem Präsidenten zuschreibt, und der Unsicherheit, ob
das HDZ-Zugpferd, der krebskranke Tuđman, noch einmal kandidiert,
erwägt man in HDZ-Kreisen eine Verfassungsänderung weg von
der Präsidialdemokratie zum Ministerpräsidialsystem. Dies
würde der Staatspartei aufgrund des Wahlergebnisses von 1995 und
ihrer komfortablen Mehrheit im Sabor die Macht auch unter einem
konstitutionellen Präsidenten aus den Reihen der Opposition bis
ins nächste Jahrtausend hinein sichern. Das alles findet im
Ausland einiges Verständnis. Die Weigerung, das Wahlergebnis
anzuerkennen, disqualifiziert Tuđman in den Augen der auswärtigen
Demokraten jedenfalls nicht wie Milošević für die
Staatsführung. Genausowenig geben die Überlegungen der HDZ
den demokratischen Wächtern wie im Fall Serbiens den Vorwurf ein,
hier gehe es einer korrupten Mannschaft nur noch um den Erhalt ihrer
Macht mit allen Mitteln.
[25] Zu den Gründen der feindseligen Aufkündigung des
ehemals stolzen "Vielvölkerstaats Jugoslawien" und
ihrer Förderung durch den Westen vgl. GegenStandpunkt 1-92, S.139
[26] Der letzte Staatspräsident Jugoslawiens, Jović, ein Parteigenosse Miloševićs, Spiegel 2/97 S.110
[27] Zitiert nach Time 17.7.95
[28] "Von den 2,3 Millionen arbeitsfähigen
Bürgern sind 1 Million arbeitslos und 700000 wurden in unbezahlten
Urlaub geschickt. Das BSP sank von 2330 Dollar pro Kopf 1991 auf 1225
Dollar 1993. Geschätzte 2 Mio. der 10 Mio. Serben leben unterhalb
der Elendsgrenze. Das Embargo behindert alle Optionen des Landes
für einen industriellen Neuaufbau." (Time 17.7.95)
[29] Neben dem Embargo und dem Verlust an Auslandsguthaben haben
die Auflösung Jugoslawiens und der Krieg der Föderation rund
eine Millionen Flüchtlinge eingebracht, die, weil in der
Volkswirtschaft nicht benötigt, auf Dauer nicht integrierbar und
eine Belastung der Staatskasse bleiben. Zwar bekommen sie pro Kopf nur
ca. 45 DM im Monat, können also kaum überleben; für den
Staat zählt diese Ausgabe aber als eine völlig unproduktive
Belastung seines Haushalts, weswegen er das Geld nur mit zwei bis
dreimonatigem Verzug auszahlt.
[30] Die Staatsbank stattete die Banken mit Valuta aus, um die
Wechselwünsche von Bürgern zu befriedigen. Tatsächlich
zeigte die Maßnahme zunächst die erhoffte Wirkung: Die
Massen tauschten ihre Devisen gegen Neue Dinar, um damit in den
aufgefüllten Staatsläden billiger einzukaufen als auf dem
Schwarzmarkt.
[31] "Wir dürfen die Gelegenheit nicht verpassen; es
reicht nicht, wenn der Dieb das Geld zurückgibt." (El
País 12.1.97)
[32] Spiegel 50/96
[33] SZ 9.12.96
[34] Daß die Unterstützung für den Kampf der
bosnischen Serben bloß eine (Hinter-)List gewesen sei – "Dafür sind wir jetzt die einzige Partei, die unsere
Brüder in Bosnien überzeugen kann, daß der Westen nicht
ihr Feind ist." (Spiegel 50/96) – glaubt man Đinđić
natürlich sofort. Und daß er im letzten Jahr mit dem
großserbischen "Revanchisten" Šešelj ein Bündnis
versucht hat, übersieht man vorläufig geflissentlich.
[35] Hierbei tun sich besonders die Studenten hervor, die sich
auf ihre Distanz zu allen politischen Parteien so viel zugute halten.
Knoblauchschmuck zur "Abwehr der kommunistischen
Blutsauger"; "Desinfizierung" des Platzes, auf dem
die Anhänger der "Roten Bande" zuvor demonstriert
haben; Küßchen für die Polizisten etc. sprechen zwar
nicht für die geringste Einsicht in die Natur der auf dem Balkan
konkurrierenden Herrschaftsinteressen, wohl aber für einen frommen
Demokratieidealismus. Der ist allemal dafür gut, sich ganz
realpolitisch hinter den Karren von Wendenationalisten vom Schlage
eines Drašković und Đinđić zu spannen: "Die haben jetzt eine
Chance verdient, glauben wir." (Ein Studentenführer im ZDF)
[36] Hier sind sich die Studenten vollkommen einig mit den
Zajedno-Führern. Stolz berichtete einer ihrer Sprecher im
Deutschen Fernsehen, daß einer von ihnen zum Inaugurationsritual
von US-Präsident Clinton eingeladen war: "Wir sollten
Serbien repräsentieren, nicht Milošević oder die
Oppositionspolitiker. Das zeigt, daß wir auf der wahren Seite
sind."
[37] Nach demselben Motto macht das serbische Beispiel in Bulgarien Schule.
[38] So hatte Milošević die bosnischen
Serbenhäuptlinge Karadžić und Mladić zu entmachten, die Republik
Srpska auf die
Teilnahme an den zentralbosnischen Institutionen zu verpflichten und
die Staaten Bosnien und Kroatien förmlich anzuerkennen. Das tat er
auch; anderes, wie die verlangte Auslieferung der
"Hauptkriegsverbrecher von Pale" an das internationale
Tribunal, tat er nicht.
[39] Vgl. FAZ 26.11.96
[40] Bezeichnenderweise hatte der ursprünglich aufgestellte
Spitzenkandidat von Zajedno, der angeblich sehr populäre ehemalige
Nationalbankchef Avramovic, kurz vor den Parlaments- und Kommunalwahlen
seine Kandidatur zurückgezogen, nachdem er die amerikanische und
die deutsche Botschaft konsultiert hatte. (FAZ 1.11.96)
[41] Kornblum, SZ 6.12.96
[42] Spiegel 50/96
[43] SZ 22.1.97
[44] Daß halbherzige russische Vermittlungsversuche
zwischen Regierung und Opposition in Serbien scheitern, dafür
sorgt die Opposition, die ganz auf westliche Rückendeckung
für ihre Unversöhnlichkeit rechnet, schon
höchstpersönlich: "Ich halte einen Erfolg für
unrealistisch." (Đinđić im Deutschen Fernsehen)
[45] Dabei hat sich Deutschland von Anfang an als Scharfmacher
hervorgetan. So kritisierte der deutsche Außenminister laut dem
Vize-Chef der OSZE schon im Dezember die "ängstliche
Unterstützung Europas für die jugoslawische Opposition, vor
allem die Rolle Italiens." (El País 16.12.96) Und "Kinkel drohte der serbischen Führung indirekt mit deutschen
Sanktionen, zusätzlich zu der weiterhin suspendierten EU-Hilfe. Er
erinnerte daran, daß ein großer Teil der serbischen
Industrie und Infrastruktur auf früheren deutschen Lieferungen
basiere. Deutschland habe damit einen besonderen Hebel in der Hand,
denn ein Ausfall von Ersatzteillieferungen könnte die Wirtschaft
Jugoslawiens treffen." (SZ 8.1.96) Natürlich hindert das die
deutsche Öffentlichkeit überhaupt nicht, die Brutalität
eines Regimes zu anzuprangern, das sein Volk mutwillig hungern
läßt.
[46] Offizielle Erklärung der Regierung Milošević, mit der
sie einen Gesetzentwurf zur Billigung der von Zajedno reklamierten
Wahlerfolge einbrachte.
[47] Đinđić, SZ 8.2.1997
© 1992-2007 by GegenStandpunkt Verlag, München. Alle Rechte vorbehalten.
