
Frieden für Bosnien
Die imperialistische Logik des Abkommens von Dayton
Jetzt ist es also gelungen: Die Bomben und Granaten der
NATO-Großmächte, amerikanischer Druck und europäische
Erpressungen haben nach dem Waffenstillstand in Bosnien auch noch eine
Friedenslösung erzwungen. Die Erleichterung in den Staaten, die
diesen Verhandlungsabschluß herbeigeführt haben, hält
sich allerdings in Grenzen. Die Kommentatoren warnen noch nicht einmal,
wie noch beim ersten wirklich befolgten Waffenstillstandsultimatum im
Sommer, vor "verfrühter Euphorie" – kaum einer,
der von dem schließlich paraphierten Friedensvertrag viel
hält.
Die Eigenarten der erzwungenen "Lösung" sind ja auch wirklich nur zu offensichtlich:
– Schon die Verhandlungen sind nicht aus besserer Einsicht der
Bürgerkriegsparteien oder gar aufgrund entscheidend
zurückgenommener Zielsetzungen zustandegekommen, sondern nur unter
dauerndem äußerem Druck. Die Quasi-Kasernierung der
Verhandlungsdelegationen, ungeachtet ihres hohen Ranges, ist allgemein
als Sinnbild des erpresserischen Auftretens der amerikanischen
Vermittler beachtet – und deren rohe Art von Diplomatie als die
einzig passende gewürdigt worden.
– Die erzielte Einigung ist objektiv und nach dem Urteil der
westlichen Aufsichtsmächte selber nur soviel wert, wie sie an
militärischem Zwang dahintersetzen: Wenn sie eine schwerbewaffnete
60000-Mann-Armee im Land samt zusätzlicher
Luftwaffen-Unterstützung von außen für
unerläßlich halten, damit die Parteien vor Ort ihren eigenen
Friedensschluß respektieren, dann gehen sie fest von deren
ungemindert fortbestehender Feindschaft aus.
– Tatsächlich ist für die Parteien, die sich auf die
Existenz eines bosnischen Staates in den alten jugoslawischen
Republikgrenzen geeinigt haben und den jetzt machen sollen, die innere
Grenzziehung zwischen den Teilrepubliken der bisherigen Kriegsgegner
das Allerwichtigste. Gegeneinander bestehen sie auf Gebieten und
kritisieren deren Abgrenzung unter strategischen Gesichtspunkten wie
verteidigbaren Korridoren u.ä. – also im Hinblick auf
erneute bewaffnete Auseinandersetzungen.
– Auf die zielt auch eine der ersten Konsequenzen, die der
UNO-Sicherheitsrat aus dem glücklichen Friedensschluß
gezogen hat: Er hat sich beeilt, mit gewissen Fristen das über die
ex-jugoslawischen Republiken verhängte Waffenembargo aufzuheben.
– An die buchstäbliche Erfüllung der
Vertragsvorschriften über die Rückkehr der Flüchtlinge
in ihre angestammten Siedlungsgebiete wagt kein Mensch zu denken
– außer den regierenden Zynikern der Aufnahmeländer,
die ihre Flüchtlings-"Last" unter dem Vorwand, jetzt
sei doch anständige Behandlung bei Rückkehr garantiert,
schnellstmöglich loswerden wollen. Vorsorglich zünden die
Bürgerkriegstruppen – im jüngst geschilderten Fall die
kroatischen – stehengebliebene Häuser der erfolgreich
weggejagten Bevölkerungsgruppe an; das ist die erste Wirkung der
menschenfreundlichen Vereinbarung über die Heimkehr der
Vertriebenen. Absehbar ist eine weitere: Die verfeindeten Parteien
haben einen anerkannten Rechtstitel mehr gegeneinander in der Hand, der
allemal für Unruhestiftung und mörderische "Übergriffe" gut ist.
– Entsprechend unerfindlich sind die Bedingungen, unter denen die
Friedenserzwingungstruppe abgezogen werden könnte, ohne daß
die gesamte Vereinbarung zusammenbricht. In diesem Sinne wird an einem
denkbaren Abzugsdatum – das der US-Präsident seinem
Kongreß schuldig ist – herumproblematisiert, noch bevor die
Besetzung der innerbosnischen Frontlinien durch NATO-Kräfte
überhaupt in die Wege geleitet ist.
– Ganz nebenbei: Niemand weiß zu sagen, von welchen
Einkünften die neugeschaffenen Gemeinwesen überhaupt
längerfristig existieren sollen – von den daheimgebliebenen
und eventuell zurückkehrenden Landesbewohnern ganz zu schweigen.
Auch über die Einigkeit, die die aufsichtsführenden
Mächte bei der Herbeiführung des Friedensschlusses
untereinander erzielt haben, macht kein weltkundiger Beobachter sich
etwas vor – maßgebliche Leute aus den beteiligten Staaten
machen ja selber aus ihrem Herzen keine Mördergrube:
– Dem demonstrativen Stolz des US-Präsidenten über den
amerikanischen Erfolg entspricht auf der anderen Seite des Atlantik
eine unübersehbare Verärgerung; erstens über das
Scheitern aller eigenen Versuche der westeuropäischen Mächte,
aus eigener Kraft eine – was für eine auch immer, jedenfalls
– wirksame Regelung durchzusetzen; zweitens über den Triumf
der USA, die europäischen Partner als die abhängige Variable
amerikanischer Entscheidungen vorgeführt zu haben. In der nahezu
undiplomatisch nachdrücklichen Verlautbarung vor allem der
französischen Regierung, am Zustandekommen des Abkommens von
Dayton mindestens genauso entscheidend beteiligt gewesen zu sein wie
die US-Administration, kündigt sich bereits an, was dann im
Nachhinein als absehbares Zerwürfnis zwischen den Alliierten
bedauert werden wird.
– Für den Einbau der russischen Macht in den ordnenden
Zugriff der NATO auf das bosnische Kriegsgebiet ist mit der
Unterordnung der Russen unter den NATO-Befehlshaber in seiner
Eigenschaft als Oberkommandierender der US-Truppen eine
militärdiplomatische Lösung konstruiert worden, deren
Fadenscheinigkeit jeder Kommentator durchschaut. Man findet das zwar
völlig in Ordnung, macht sich aber auch über die Haltbarkeit
des Einverständnisses der Russen mit ihrer total herabgeminderten
Rolle in der Balkan-Affäre keine Illusionen.
– Nicht einmal in Amerika selbst bleibt der Verhandlungserfolg
der Clinton-Leute unbestritten: Die republikanische Opposition greift
ihn mit der Frage nach dem eindeutigen nationalen Ertrag an, für
den sich das Opfer amerikanischer Dollars und Soldaten lohnen
könnte.
Über die Eigenarten des Friedens, der über Bosnien
beschlossen worden ist, weiß die Welt also ganz gut Bescheid;
ebenso über die gar nicht harmonierenden nationalistischen
Berechnungen der Großmächte, die diesen Beschluß
gegen- und miteinander herbeigeführt haben und durchsetzen wollen.
Bei allen Sorgen und Bedenken mag die demokratische Öffentlichkeit
sich aber nicht der tiefen Einsicht verschließen, daß "eine Lösung" anders wohl nicht zu erreichen war und
die gefundene zwar nichts taugt, aber von allen untauglichen wenigstens
noch die wirksamste sei. Mit demselben Verständnis, das sie der
jugoslawischen Kriegsgeschichte von Beginn an entgegengebracht hat
– angefangen bei der wohlwollenden Anerkennung des slowenischen,
kroatischen und später des bosnisch-muslimischen Standpunkts, das "Völkergemisch" im sozialistischen Tito-Staat sei
schlechterdings nicht mehr auszuhalten; fortgesetzt mit der weisen
Erkenntnis, daß den Angehörigen verschiedener "Ethnien", wenn diese sich erst einmal zerstreiten, ein
gesittetes Nebeneinander-Leben wohl auch nicht mehr zuzumuten sei, "bei all dem Haß"; zugespitzt zu der mehr oder
weniger billigenden Einsicht in die historische Notwendigkeit,
daß, einmal begonnen, keine Volksgruppe mit dem ethnischen
Säubern mehr aufhören kann, bis die völkische Lage
bereinigt, das Stammes- mit dem Staatsgebiet zur Deckung gebracht ist:
mit demselben Verständnis, das sie neben allem Bedauern für
die Opfer immer auch für die rassistische Logik eines echten
Staatsgründungskriegs hatte, begegnet die zivilisierte
öffentliche Meinung nun der NATO-Intervention, akzeptiert auch sie
wieder als – "offenbar!" – unvermeidliche und
insofern unzweifelhaft sinnvolle Maßnahme. Und das ist ja auch
nur konsequent:
– Wer das Staatsgründungsbedürfnis inmitten des alten
Jugoslawien plausibel findet, der kommt mit Bedenken gegen die zur
Herstellung eines gebiets- und volksmäßig saturierten
Gewaltmonopols fälligen Gewaltaktionen allemal zu spät.
– Wer deswegen an den fälligen Kriegen Kritik nur in der
Form zu üben weiß, daß er böse Täter und
unschuldige Opfer nach Volksgruppen auseinandersortiert, also unter dem
Gesichtspunkt der gerechten Gegengewalt entrechteter Stämme
moralisches Licht ins Dunkel des rassistischen Gemetzels zu bringen
versteht, der kennt auch gute Gründe für auswärtige
Einmischung und hält an ihnen fest, auch wenn die Einmischung aus
völlig anderen als seinen guten Gründen geschieht.
– Und wer auf diese Weise imperialistische Berechnung mit
versuchter Friedenserziehung verwechselt, dem leuchten nicht bloß
Bomben als erster Schritt zu einer Verhandlungslösung ein; der
ergreift am Ende für eine Intervention Partei, die bemerkenswert
genau dem entspricht, was dem alten Jugoslawien – zu Unrecht
übrigens – immer vorgeworfen worden ist, und zwar gerade von
den Befürwortern dieser "Lösung": Die "ethnischen Konflikte",
über deren unverwüstliche "Sprengkraft" sich doch kein
verantwortungsbewußter
Kenner der Geschichte etwas vormachen könne, werden jetzt wirklich
bloß gewaltsam unterdrückt statt beigelegt und aus der Welt
geschafft. Das ist dann auf einmal das einzig Vernünftige!
Tatsächlich hat der seltsame Friedensschluß von Dayton ja
seine Rationalität. Die hat allerdings nichts mit einer
vernünftigen Lösung, geschweige denn der Auflösung des
Kriegsgrundes: der Feindschaft aufstrebender Nationalismen, zu tun.
Die Rationalität des NATO-Friedens für Bosnien ist von ganz
spezieller imperialistischer Art: die passende Krönung des
Aufsichtswesens, unter dem der innerjugoslawische Separatismus sich zu
einem so dauerhaften völkischen Gemetzel ausgewachsen hat. [1]
1. Weltordnungsmächte bereinigen ein selbstgeschaffenes Glaubwürdigkeitsproblem
Die staatliche Neuordnung Bosniens – wie die des ehemaligen
Jugoslawien überhaupt – hat nichts von einem praktischen,
Nutzen stiftenden Arrangement an sich. Nicht nur, daß keine
brauchbaren Lebensbedingungen für die betroffenen Leute
herbeigeführt werden – das Kriterium der Wohnlichkeit der
Gegend und einer gesicherten Existenz für ihre Bewohner hat noch
nie eine Rolle gespielt, darf also ein für allemal vergessen
werden. Die Neueinteilung des politischen Gewalthaushalts auf dem
Balkan ist auch nicht in dem Sinn zweckmäßig, daß
dadurch bestimmte äußere Benutzungsinteressen passend
bedient, Geschäfte in bislang nicht möglichem Ausmaß
gefördert oder die politischen Beziehungen auf durchgreifend
gebesserte Voraussetzungen gegründet würden. Das ist freilich
nur konsequent. Es war nämlich von Anfang an nicht so, daß
den Westeuropäern oder Amerikanern bei ihrer Einmischung in die
zunächst innerjugoslawischen Auseinandersetzungen eine bestimmte,
aus materiellen Nutzenerwägungen abgeleitete neue politische
Landkarte für die Region vorgeschwebt hätte, um deren
zielstrebige Durchsetzung, gemeinsam oder in Konkurrenz gegeneinander,
es ihnen dann gegangen wäre. Die Frage, wie und warum die EU oder
die USA eine neue postjugoslawische Staatenwelt eingerichtet haben
wollten, wurde von den interessierten Mächten selber so gar nicht
aufgeworfen. Deren Interesse stand von Beginn an fest, weil es
prinzipieller Natur ist.
Sein erster und wichtigster Inhalt sind nicht
Außenhandelsbilanzen mit den Balkanstaaten oder
Flottenstützpunkte, sondern ist – das alles
einschließend, aber nicht dadurch bedingt – die
grundsätzliche Zuständigkeit für die Region und ihre
inneren Gewaltverhältnisse. Vom Standpunkt einer
selbstverständlichen Oberhoheit aus, nicht um einzelner dort
lokalisierter Vorteile willen, haben sich die europäischen
Großmächte, die USA und dann auch das demokratisierte
Rußland in Bezug auf das in staatliche Unordnung geratende
Jugoslawien als Ordnungsmächte definiert und mit der ultimativen
Forderung an die zunehmend zerstrittenen Parteien eingeschaltet, auf
sie zu hören und ihre Gegensätze höheren Orts schlichten
zu lassen. Da diesen Aufforderungen nur sehr bedingt bis gar nicht
Folge geleistet wurde, zog die prinzipielle
Zuständigkeitserklärung notwendigerweise praktische
Bemühungen der zuständigen Mächte nach sich, sich
– mit Drohungen und Versprechungen, mit Embargomaßnahmen
und Kontrolleuren vor Ort, dann über die UNO mit einer zunehmenden
Zahl eigener "Blauhelm"-Soldaten – zum Herrn des
Geschehens zu machen. Die Eskalation dieses Engagements zog sich
über die Jahre hin und folgte stets dem komplizierten
Maßstab, die Hoheit zu gewinnen, ohne sich dafür als Partei
unter die Kriegsparteien mischen und direkt gegen sie kämpfen zu
müssen. Auch diese Rechnung ging nicht auf; die über ein
UNO-Mandat arrangierte Intervention blieb schuldig, was die
Interventionsstaaten sich als einer die Lage beherrschenden
Aufsichtsmacht schuldig waren, eben weil sie – etwa mit dem
Konstrukt der "UN-Schutzzone" – die Frage der Geltung
ihrer Machtworte, des Respekts vor ihren Drohungen und Erpressungen in
das erbitterte Ringen der ortsansässigen Parteien um Gelände
und den Besitz von Dörfern, Städten und strategischen Punkten
hineindefiniert hatten. Am Ende stand die Glaubwürdigkeit des
europäisch-amerikanischen Ordnungsanspruchs auf dem Spiel –
und in so einem Zusammenhang ist Glaubwürdigkeit keine bloß
moralische Kategorie, sondern bezeichnet das Anspruchsniveau des
imperialistischen Willens: daß ihm aufgrund seiner Macht so
prompt Folge geleistet wird, daß er diese Macht gar nicht erst
praktisch beweisen muß. Deswegen – und nicht aus den
Gründen moralischer Empörung, die sich fürs
demokratische Volk allemal zusätzlich konstruieren lassen –
darf und kann mit unbotmäßigen politischen Subjekten
irgendwann nicht mehr pragmatisch berechnend umgegangen werden; eine
Demonstration wird fällig, daß die diplomatischen
Forderungen gewisser Mächte sich nicht ungestraft umgehen lassen.
So sind im August dieses Jahres die Serben in durchgreifend wirksamer
Weise zum Objekt einer exemplarischen Strafaktion des beleidigten
gesamt-westlichen Imperialismus geworden.
Der durch NATO-Bomben – sowie, damit abgestimmt, die kroatische
Offensive – gegen die Serben und gleichzeitigen Druck auf die
anderen Kriegsparteien herbeigeführte Friedensschluß von
Dayton folgt genau dieser Logik. Das Entscheidende daran ist nicht, ob
seine Regelungen menschenfreundlich, politisch brauchbar, strategisch
ausnutzbar, womöglich politökonomisch vielversprechend oder
auch nur ohne neue Gewaltaktionen, "Säuberungen" usw.
praktikabel sind, sondern daß hier die Unterwerfung der
kriegführenden Parteien unter die Übermacht der NATO erreicht
und anerkannt ist und in Form eines – befristeten –
Besatzungsregimes über Bosnien praktisch bewiesen wird. Insofern
liegen auch alle besserwisserisch zweifelnden Kommentare, die der
Durchsetzungstruppe wenig Chancen einräumen, daß sie am Ende
ein brauchbar befriedetes EU-Hinterland hinterläßt, etwas
schief neben der imperialistischen Sachlage: Auftrag der Truppe ist
tatsächlich nicht mehr und nicht weniger als die Wiederherstellung
der Glaubwürdigkeit westlicher Ordnungsmacht; und den Auftrag
erfüllt sie mit der demonstrativen Entfaltung einer
militärischen Überlegenheit, die jeder Eigenmächtigkeit
– d.h. jeder Aktion der Kriegsparteien, die von der NATO-Aufsicht
als Unbotmäßigkeit identifiziert wird – ein Ende
setzt. Mit 60000 Mann in das Land einzufallen, darunter 20000
US-Soldaten, für deren Unangreifbarkeit die amerikanische
Weltmacht mit ihrer Flotte und Luftwaffe zusätzlich garantiert:
das halten die Verbündeten für deutlich genug – und
stellen damit das Kriterium klar, dem ihr Aufmarsch genügen
muß.
Auf ein dauerhaft bleibendes Ergebnis ihrer Machtdemonstration kommt es
dabei freilich schon auch noch an: Der Respekt vor den Imperialisten,
den für die nächste Zeit die amerikanisch kommandierte
Militärmacht erzwingt, muß anhalten, auch wenn die Truppe
wieder abgezogen wird; sonst hätte die beabsichtigte Klarstellung
der gültigen Machtverhältnisse ihr Ziel doch noch verfehlt.
Es geht eben auch bei der Besetzung Bosniens nicht um die dauerhafte
Okkupation eines Einflußgebiets, sondern um einen Machtbeweis,
der dann gelungen ist, wenn die Präsenz einer für Ruhe
sorgenden Besatzungsarmee wieder entbehrlich wird. Ob der nötige
Respekt gewahrt ist, das ist allerdings nicht an irgendeiner objektiven
Meßlatte zu entscheiden, sondern eine Definitionsfrage, die die
imperialistischen Aufseher letztlich selber entscheiden; je nach dem,
was sie meinen, sich schuldig zu sein.
Was sie da meinen werden, das ist ebenso wie die zweckmäßige
Ausübung des IFOR-Regimes über Bosnien und wie die
Herbeiführung des Friedensabkommens selber und wie die
schrittweise eskalierte Einmischung in Jugoslawien überhaupt eine
Sache der Konkurrenz der Aufsichtsmächte. Aus der ergibt sich
nämlich, als jeweiliges Zwischenergebnis im Ringen der
Großmächte um weltpolitische Dominanz, die imperialistische
Vernunft der westlichen Balkan-Politik.
2. Die NATO-Führungsmacht renoviert die Hierarchie unter den konkurrierenden Weltordnern
Die maßgeblichen EU-Mächte und die USA haben sich durch den
Staatsgründungsterror auf dem Balkan in ihrer oberaufsichtlichen
Zuständigkeit herausgefordert gesehen; nicht zur Okkupation des
Gebiets oder von Teilen davon als besondere nationale
Einflußsfäre, sondern zur Wahrnehmung einer Kontrolle
über das Geschehen mit dem Ziel, nicht bloß die Parteien vor
Ort zur Unterordnung zu zwingen, sondern – dies vor allem!
– die rivalisierenden Partner mit ihren gleichgelagerten
Ambitionen in einer nicht so völlig gleichgewichtigen
Mitentscheidungs- und Helferrolle in die jeweils eigenen nationalen
Initiativen einzubinden. Die Berechnungen, die dafür angestellt
worden sind, haben den imperialistischen Eingriffswillen ebenso
beflügelt wie im Entschluß zu stärkerem
militärischem Engagement mehrfach gebremst: Fakten zu schaffen, um
die die Partner nicht herumkommen, mit denen sie also zu einer gewissen
Anerkennung fremder Regelungskompetenz gezwungen werden können,
war immer das eine Gebot; das andere: nicht auf eigene Unkosten Fakten
zu schaffen, die der Konkurrenz Optionen eröffnen.
Zur Bewältigung dieser Problemlage sind zwischen den vier
hauptsächlich zuständigen Staaten, jeweils unter berechnender
Einbeziehung oder Ausschaltung Rußlands, verschiedene Koalitionen
gebildet und hintertrieben, gemeinsame Aktionen verabredet, gestartet
und sabotiert worden – bis schließlich auch in diesem Fall,
den eine Zeitlang die Europäer gemeinsam als ihre
Bewährungsprobe beansprucht hatten, die imperialistische Rangfolge
wieder klar war: Unterstützt von den Deutschen, mit leicht
widerstrebender Billigung der russischen Regierung, haben die
Amerikaner vermittels der NATO die Federführung an sich gezogen.
Sie vor allem haben nämlich seit Jahresbeginn den Standpunkt
forciert, daß eine weitere Duldung des gar nicht mehr so
entscheidungsträchtigen Kampfgeschehens um Sarajewo und andere "UN-Schutzzonen" herum die Glaubwürdigkeit der unter
UNO-Mandat viel zu zurückhaltend operierenden
Großmächte beschädigen müsse; so haben sie zur
Blamage des britisch-französischen Engagements kräftig
beigetragen und die im Sommer dann wahrgemachte Entscheidungssituation
herbeigeführt. Wahrgemacht haben sie sie mit einem
Großaufgebot ihrer Luftwaffe, das den Partnern nur noch die
Alternative zwischen Mittun und Ausscheiden ließ [2] – das
Hin und Her der Abwägungen zwischen national zu tragendem Aufwand
und national zurechenbarem Ertrag einer drastischen Eskalation des
eigenen Engagements war eindeutig entschieden, und das hat Früchte
getragen: Die Briten und Franzosen haben mitgemacht und sich zum
gemeinsamen Einprügeln auf die zum Hauptproblem aufgebaute
bosnisch-serbische Seite entschlossen.
Mit dem neuen Entscheidungswillen der Clinton-Regierung hat sich der
amerikanische Standpunkt gar nicht einmal grundsätzlich
geändert gegenüber den Jahren, in denen die USA
entscheidungsträchtige Friedensinitiativen der EU- und
UNO-Vermittler eher hintertrieben, durch die Ermunterung der bosnischen
Regierung zur Unnachgiebigkeit beinahe in letzter Minute zu Fall
gebracht, mit ihrer kroatisch-bosnischen Bündnispolitik
konterkariert – und jedenfalls alles andere als gefördert
haben. Um eine Bündnisaktion zur Durchsetzung imperialistischer
Aufsichtsmacht ging es ihnen immer; und so wenig wie in den
zurückliegenden Jahren findet bei ihnen heute ein Vorgehen als
Bündnisaktion Anerkennung, das nicht von ihnen initiiert und
kommandiert wird. Mit der ziemlich frühen Erklärung der USA,
im Fall Jugoslawien handele es sich im Grunde um eine genuin
europäische Affäre, war nie eigene Abstinenz
angekündigt, sondern eine Position der Kontrolle über die
europäischen Kontrolleure des Kriegsgeschehens eingenommen; eine
Position, die immer entschiedener zu dem Unternehmen herangereift ist,
die NATO als das klassische Vehikel der amerikanischen Europa-Politik
für die Handhabung dieser neuartigen europäischen
Ordnungsaufgabe zu mobilisieren. Über die NATO die Kontrolle
über die neuen imperialistischen Ambitionen der großen
EU-Mächte zu gewinnen: Das ist zum Leitfaden des US-Engagements
geworden, bis hin zur nun in die Wege geleiteten Etablierung einer
NATO-Besatzungstruppe unter amerikanischem Kommando; Bosnien hat die
Ehre, dafür als "Fall" zu fungieren. [3] Dieser
Einsatz ist noch nicht einmal – wie man es im Brüsseler
Hauptquartier sicher gerne ansieht – eine Bewährungsprobe
für die Funktionstüchtigkeit des Bündnisses, sondern die
von der US-Regierung herbeigeführte und ergriffene Gelegenheit,
die Allianz exemplarisch zum funktionstüchtigen Instrument
amerikanischer Führung, also der Unterordnung der Europäer in
Entscheidungsfragen des Euro-Imperialismus zu machen.
Unbestritten bleibt dieser amerikanische Vorstoß natürlich
nicht. Der Widerstand der europäischen NATO-Partner gegen die neu
etablierte Führungsrolle der USA hat aber nichts mit
Kündigung und noch nicht einmal mit Entzug zu tun. Der
französische Hauptkontrahent amerikanischer Dominanz im
Bündnis macht mit – und reklamiert zugleich seine
mitentscheidende Rolle; die passenden Symbole dafür, wie eine
feierliche Unterzeichnung des Dayton-Vertrags in Paris, fallen ihm
gleich ein. Die Deutschen laden, kaum daß das Waffenembargo
gefallen ist, zu einer Abrüstungskonferenz nach Bonn und preisen
den Wert ihrer Erfahrungen mit der Entsorgung des Nachlasses der
DDR-Volksarmee. [4] Die EU macht, auch dies unter deutscher
Federführung, auf sich als allererste Adresse für den zivilen "Wiederaufbau" der Produkte des postjugoslawischen
Nationalismus aufmerksam, so als wäre mit dem Abkommen von Dayton
friedensmäßig schon alles klar. Es mag sogar sein, daß
in diese Initiative ein paar Momente von Spekulation auf den Balkan als
vielleicht doch wieder oder neu ausnutzbare Peripherie des großen
kapitalistischen Euro-Blocks eingehen. Bis auf weiteres ist noch nicht
einmal dem deutschen "Schützling" Kroatien der
Charakter einer Beute eigen. Politisch geht es auf alle Fälle
darum, die Dominanz der USA in der Frage der letzten imperialistischen
Glaubwürdigkeit ein wenig auszubalancieren, indem die EU sich als
Meister des zivilen Normalfalls der imperialistischen Ordnung
aufführt. Und eine kleine deutsche Spezialität, den
NATO-Eingriff in Bosnien betreffend, ist außerdem noch zu
notieren: Der unter allen Anzeichen unkriegerischer Zurückhaltung
auffällig klein dimensionierte deutsche Truppenbeitrag hat, ohne
daß diplomatisch viel davon hergemacht würde, ganz nebenbei
auch den politischen Gehalt, daß diese große Nation sich
ihre Bereitschaft, unter amerikanischer Führung militärische
Gemeinschaftsdienste zu versehen, wieder einmal sehr genau einteilt...
Amerikas europäische Bündnispartner tun also, was sie
können, um die Führung der großen Militärmacht,
der sie sich im Interesse des unzweifelhaften Respekts vor ihrem
ausgreifenden Ordnungswillen und Kontrollwesen als Mitmacher
unterordnen, mit einer größeren Fußnote zu versehen.
Diese betrifft das keineswegs nur logische Verhältnis zwischen der
grundsätzlichen Klarstellung und Festschreibung der
Bündnisbeziehungen, die die USA mit ihrer Bosnien-Politik
erreichen wollen, und diesem Einzelfall, in dem ihnen die Herstellung
eines so eindeutigen Kommandoverhältnisses gelungen ist: Was die
USA über diesen Fall hinaus von ihrer daran bewiesenen
Führerschaft haben, ist nach dem Willen der Geführten eine
durchaus offene Frage; und die Nörgeleien der republikanischen
Kongreß-Opposition zeugen davon, daß die Botschaft in
Washington ihr nationalistisches Echo findet. So klar die amerikanische
Berechnung, so uneindeutig ist ja tatsächlich auch in dieser
Hinsicht das bestenfalls zu erreichende Ergebnis: Den Willen zu
imperialistischer Führerschaft kann es gar nicht saturieren.
Das scheint aber auch nicht nötig zu sein, ebensowenig wie die
Erfüllung der konkurrierenden Berechnungen der EU-Mächte,
damit die Allianz 60000 Mann eigene und untergeordnete Hilfs-Truppen
als "robuste" Implementation-Force nach Bosnien schickt. Es
genügen die guten Gründe, die alle imperialistischen
Mächte dafür haben: Jugoslawien ist zu ihrem
Demonstrationsobjekt dafür geworden, wie heutzutage eine
glaubwürdige strategische Aufsicht über die Welt
funktioniert, wenn sie herausgefordert wird; wie die
Souveränität "dritter" Staaten definiert ist,
wenn die Großmächte sich ihrer annehmen; und welcher
Zwischenstand in der Konkurrenz der Allianzpartner um Führung und
Unterordnung 5 Jahre nach dem Ende des eigentlichen
bündnisstiftenden Weltkriegsvorhabens erreicht ist. Das ist die
imperialistische Vernunft des erzwungenen Friedensschlusses, so wie es
die der vorangegangenen jahrelangen fördernden, bremsenden,
verschärfenden und selber verschärften Einmischung in das
völkische Gemetzel auf dem postjugoslawischen Kriegsschauplatz
gewesen ist. Dessen Opfer sind also nicht bloß in dem Sinn nicht
umsonst gestorben, daß nunmehr bevölkerungsmäßig
wundervoll sortierte Nationalstaaten an die Stelle des
menschenrechtlich unerträglichen multikulturellen Jugo-Sozialismus
getreten sind – Staaten, die zwar einerseits für nicht
übermäßig existenzfähig erklärt werden, die
dafür aber mit umsomehr kämpferischem Handlungsbedarf in
Sachen Volk und Raum ausgestattet sind, der mit dieser Regelung heute
schon feststeht. Die europäischen und amerikanischen Weltordner
haben sich auch nicht lumpen lassen und ihr Bestes aus den Opfern
gemacht. Am – vorläufigen – Ende einen Frieden, der
die Herrschaft des nationalistischen Wahnsinns als Errungenschaft
langer Kriegsjahre und ihrer überlegenen Abschreckungsmacht
– also noch ein Stück "neue Weltordnung"
festschreibt.
________________________
[1] Diese Zeitschrift hat zu jeder Fase dieses Krieges nach
bestem Wissen eine Analyse der jeweils aktuellen Winkelzüge
beigesteuert – für Interessierte hier ein Überblick:
GegenStandpunkt 1-92, S.139: Bürgerkrieg in Jugoslawien –
Ein Fall für europäische Weltordner; 3-92: Der Krieg auf dem
Balkan. Zweifelhafte Fortschritte auf dem Exerzierfeld des
deutsch-europäischen Imperialismus; 2-93: Moralische und wirkliche
Weltpolizei: Unzufrieden über den unzulässigen Krieg am
Balkan; 3-93: Der Krieg in Bosnien: Nichts als ein Anlaß für
den Kampf um die dominanz unter den Weltmächten; 1-94: Die Paten
des "Friedens für Jugoslawien": Einig in der
Konkurrenz um die Weltherrschaft; 1-95: Der Balkankrieg und seine
Betreuer: Die NATO zwischen UNO-Abzug, wirksamer Einmischung und
Kriegseintritt; 3-95: Vom UNO-Mandat zum NATO-Krieg in Bosnien:
Konkurrierende Imperialisten einigen sich auf eine Gemeinschaftstat.
[2] Der Sicherheitsberater Lake wurde nach Europa gesandt, wo
Außenminister Christopher zwei Jahre zuvor erfolglos
amerikanische Vorschläge präsentiert hatte, und zwar mit
einem klaren Auftrag: "Er hatte die Vollmacht, den amerikanischen
Plan als eine Angelegenheit zu präsentieren, die Präsident
Clinton auf jeden Fall und mit aller Entschlossenheit durchziehen
würde – sei es mit oder ohne Unterstützung der
Verbündeten. Und die Verbündeten ordneten sich unter (fell
into line)." (Time, 11.9.95)
[3] "Wo beginnen wir den Aufbau eines neuen
Sicherheitsrahmens für Europa? Meines Erachtens sollte unsere
erste Priorität in der Bewahrung des Erreichten bestehen. Das
beinhaltet Amerikas strategisches Engagement in Europa...
Das Kernstück dieser Verpflichtung ist die NATO. Es ist die NATO,
die amerikanische Macht und die Zielsetzung der Vereinigten Staaten auf
dem europäischen Kontinent zum Tragen bringt." (Der
amerikanische Botschafter Redman im Juni 95, Amerika-Dienst 21, 21.6.95)
"Die einzige zur starken und wirksamen Erfüllung dieser
(Friedensstiftungs-)Pflichten fähige Organisation ist die NATO.
Und als führendes Bündnismitglied müssen die Vereinigten
Staaten das Ihrige tun und Truppen entsenden... Sollten wir scheitern,
wäre die Konsequenz für Bosnien und die Zukunft der NATO
gravierend. Wir dürfen nicht versagen." (Clinton,
Amerika-Dienst 30, 25.10.95)
"Dies ist der schwerwiegendste Konflikt auf dem Kontinent seit
dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die NATO muß zu seiner
Beendigung beitragen. Wenn es uns nicht gelingt, diesen Frieden zu
sichern, wie könnten wir dann ein integriertes, friedliches und
geeintes Europa schaffen? Wenn es uns nicht gelingt, diesen Frieden zu
sichern, werden unsere Erfolge auf der Welt und ein Großteil
unseres Erfolgs im Inland, der von der amerikanischen
Führungsrolle herrührt, geschwächt." (Clinton,
Amerika-Dienst 31, 8.11.95) Man beachte die Identität von NATO und "Wir Amerikaner".
"Der Sprecher des Pentagon ... sagte, Bosnien sei 'wichtig', wenngleich nicht 'vital' für
Amerika, aber die Aufrechterhaltung der US-Führung in der NATO
stehe bei dieser friedenserhaltenden Mission auf dem Spiel. ‚Wir
schützen die NATO‘, sagte der Sprecher. 'Das ist
vital'." (Time, 23.11.95)
[4] Unter der Überschrift "Buhlen um den Lorbeer von
Dayton" notiert das wie immer neutrale Schweizer Weltblatt: "Die Friedensvereinbarung für Bosnien ist nach Ansicht des
französischen Außenministers de Charette nicht allein das
Verdienst der USA. Vielmehr gehörten auch Rußland,
Deutschland, Großbritannien und Frankreich zu den Vätern des
Erfolges... Ähnlich äußerte sich auch
Bundesaußenminister Kinkel. Deutschland und seine Partner in der
Gruppe hätten das Abkommen entscheidend mit vorbereitet...
Bundeskanzler Kohl und er selbst hätten sich immer wieder
eingeschaltet." (NZZ vom 23.11.95)
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