NATO heute
Der Kriegspakt der Imperialisten:
Vorhaben, Leistungen, Grundlagen
I. Die neue NATO: Der Widerspruch einer Weltherrschaft im Kollektiv der imperialistischen Konkurrenten
Die NATO ist ein Kriegsbündnis. [1] Zwar hat sie ihren
Weltkriegsgegner verloren, deswegen aber noch lange nicht ihre
Gründe, Krieg ins Auge zu fassen und gemeinsam vorzubereiten. Zu
denen bekennt sie sich in Floskeln wie der folgenden:
"Wir begrüßen das neue Klima der Kooperation, das sich
in Europa mit dem Ende der durch den Kalten Krieg verkörperten
Periode weltweiter Konfrontation eingestellt hat. Wir müssen aber
auch feststellen, daß andere Ursachen für Instabilität,
Spannung und Konflikt entstanden sind. Wir bekräftigen daher die
bleibende Gültigkeit und Unverzichtbarkeit unserer Allianz."
(NATO-Gipfelkonferenz in Brüssel 1994, Bulletin Nr. 3/94, S.20)
Auf irgendeine, geschweige denn eine bestimmte Bedrohung von
außen, gegen die sie bedingungslos zusammenhalten
müßten, mögen sich die Bündnispartner nicht
festlegen. Das käme ihnen wie eine viel zu begrenzte, bedingte und
bedingungsweise Begründung ihres Zusammenschlusses vor. Damit
dessen unbedingte "Unverzichtbarkeit" zutage tritt,
kennzeichnen sie die Gefahrenlage dermaßen allgemein, daß
ein Verfallsdatum wegen Zweckerfüllung überhaupt nicht mehr
absehbar ist. Das läßt auf der anderen Seite natürlich
offen, ob, wie und in welchem Sinn es ihnen gelingen mag, sich auf die
Identifizierung und kriegerische Behandlung irgendeines bestimmten
Falles von "Instabilität, Spannung und Konflikt" zu
einigen. Doch davon gerade unabhängig bestehen sie
grundsätzlich darauf, bei der Kriegsvorbereitung und beim
Kriegführen gemeinsame Sache zu machen. Diesen Willen
bekräftigen sie mit einer Gewaltideologie, die ihren Pakt –
schon wieder, wie zu Zeiten des Kalten Krieges – als defensive
Reaktion auf die Schlechtigkeit der Welt definiert.
Damit machen sich die Allianzpartner dann doch einer gewissen
Tiefstapelei schuldig. Sie haben schon auch selber etwas vor auf der
Welt; und zwar mehr, als bloß gemeinsam auf Krisen u.ä. zu
reagieren, deren Ursachen "entstanden sind". Was –
das ist der Politik der NATO zu entnehmen.
Verteidigung Europas
Verteidigung war für die NATO schon immer mehr, als gegnerische
Soldaten am Einmarsch ins Bündnisgebiet zu hindern. Im Rahmen
ihrer "Vorwärtsverteidigung" mit für den Gegner
unkalkulierbarem offensivem Einsatz von konventionellen Kräften,
taktischen und strategischen Atomwaffen hat die Allianz stets geplant
und sich darauf vorbereitet, in die "Aufmarschzonen" des
Feindes "hineinzuwirken" und in der Tiefe des gegnerischen
Raumes Fronten zu eröffnen; nicht zuletzt in der Erwartung, die
Bündnispartner des "Ostblocks" wären auf diese
Weise vom sowjetrussischen Hauptfeind abzuspalten. Diese ausgreifende
Konzeption von Verteidigung entsprach der
Bündnis-"Doktrin" der "Abschreckung", die
für den vereinigten Westen auch schon immer etwas mehr enthielt
als das Programm, dem Feind für den Fall eines Angriffs
unannehmbar große Schäden in Aussicht zu stellen. Der "abschreckende" Zwang zum Stillhalten, die
Einschüchterung des Gegners war die unerläßliche
militärische Absicherung und insofern die Grundlage für
mannigfache Anstrengungen, politisch und ökonomisch in den
feindlichen Block hineinzuwirken, ihn zu schwächen und zu
zersetzen. "Verteidigung" war, dem politischen Inhalt nach
genommen, NATO-Jargon für die mit militärischen Drohungen
bewerkstelligte Erpressung der Sowjetmacht, auf weltpolitische "Abenteuer" zu verzichten, sich zurückzuziehen und den
Westen in ihre Parteiherrschaft und Planwirtschaft hineinregieren zu
lassen. Daß die Sowjetunion sich dazu im Laufe der "Entspannungs"-Ära immer positiver gestellt hat, weil
sie in zivilen Beziehungen eine Friedens- und insofern, völlig
verkehrterweise, für sich eine Bestandsgarantie sehen wollte,
nimmt vom erpresserischen Charakter der mit "Wettrüsten" untermauerten "Abschreckung"
nichts weg, beweist vielmehr, wie gründlich die politische
Offensive gewirkt hat – bei dermaßen friedens- und
anerkennungssüchtigen Kontrahenten wie den Kreml-Sozialisten.
Nun hat die "Abschreckungspolitik" über jede
vernünftige Erwartung hinaus ihre Wirkung getan. Nicht zuletzt aus
Hoffnung auf eine friedenssichernde westliche Existenzgarantie hat die
Sowjetmacht selbst ihre eigene Existenz zunehmend zur Disposition
gestellt; am Ende zur Disposition neuer Nationalisten, die das ganze
"Lager" und seine Hauptmacht selbst aufgelöst haben.
Für die NATO ist damit ihre überkommene Strategie an ein Ende
gekommen; ihre Kalkulation mit der taktische und strategische
Atomwaffen einschließenden "Triade" erübrigt
sich. Was bleibt, ist die atomare Abschreckung im engeren Sinn einer
letzten Garantie für die Sicherheit, die strategische
Herausgehobenheit des unter den "Atomschirm" der USA
gestellten Bündnisgebiets. Von da aus gilt es nun das
militärisch nicht mehr definierte Gebiet östlich davon unter
Kontrolle zu nehmen: Was in der alten "Verteidigungs"-Konzeption als
"Vorfeld" und "Aufmarschraum" des Feindes zu kalkulieren war, muß
– und kann nun als eigene äußere Sicherheitszone, mehr
noch: als Zuwachs an befreundeten Kräften verbucht und eingeordnet
werden.
Denn es ist ja nicht bloß einseitiger Anspruch der NATO,
daß die nationalistisch erneuerten osteuropäischen Staaten
sich auf die westliche Weltmacht hinorientieren und als deren
Anhängsel einstufen lassen, kaum daß sie ihre nationale
Emanzipation vom "sozialistischen
Völkergefängnis" zustandegebracht haben. Diese Staaten
selbst definieren sich als sicherheitspolitische Interessensphäre
der NATO-Mächte und wollen keine andere nationale "Sicherheitsidentität" für sich gelten lassen.
Die NATO muß weder drohen noch werben, um jedes gewünschte "Wohlverhalten" der Osteuropäer zu erreichen; sie
sieht sich lauter dringlichen Anträgen aus ihrem eurostrategischen
östlichen Vorfeld gegenüber, das Vor- zum voll integrierten
Hauptfeld der europäischen NATO aufzuwerten. Es ist an der
Allianz, diesen Ansturm zu bremsen und Zwischenstufen der immer engeren
Kooperation und Einbindung einzuschieben, bevor sie den Nachbarn im
Osten den Übergang vom Außenposten zum
mitentscheidungsbefugten Subjekt ihres Verteidigungssystems für
Europa gewährt. Die NATO sieht da nämlich die Gefahr,
undifferenzierte und unbesonnene Erweiterung könnte ihre
wohlerworbene "Sicherheitsidentität", ihre Einigkeit
in der Definition eines militärischen Sanktuariums und darauf
bezogener strategischer Vorfelder, verwässern und womöglich
auflösen. Sie stellt die mannigfachen noch unausgetragenen
Konflikte der östlichen Kandidaten in Rechnung sowie das "Problem Rußland". [2] Entsprechend umständlich
arbeitet sich das Bündnis daher auf das rein von ihm her
definierte Ziel hin, den national befreiten Staaten im Osten im Zuge
ihres militärischen Um- und Neuaufbaus jede strategische
Selbständigkeit und nationale Verteidigungskalkulation zu nehmen
und sie funktionell in ein militärisches Gesamtsystem
einzufügen. In dem sollen dann alle Armeen auf europäischem
Boden ein und demselben Auftrag dienen: "Europa" zu
garantieren. [3]
Mit dieser Perspektive sind die ehemaligen "Satelliten" der
Sowjetunion in den NATO-Kooperationsrat aufgenommen worden, werden im
Rahmen der "Partnerschaft für den Frieden" einzeln je
nach ihrer Fähigkeit, also Nützlichkeit für die
Brüsseler Sache an die NATO angebunden und haben sich nach deren
Vorgaben zu "entwickeln". [4] Die Allianz kommt ihnen mit
allen möglichen Unterstützungs- und Beratungsangeboten
entgegen, stellt sich auch schon auf gemeinsame Unternehmungen ein,
baut dafür bei sich selber passende Strukturen auf und geht
bereits die ersten gemeinsamen Manöver an. [5]
Diese "Fortschreibung" der
NATO-"Vorneverteidigung" entspricht den Fortschritten der
Sache, die die Allianz in Europa zu schützen hat. Im Osten des
Kontinents ist an die Stelle der Herrschaft einer realsozialistischen
Partei, deren Gewaltmonopol es nach Kräften zu zersetzen galt,
über Nationalökonomien, die der Freiheit kapitalistischen
Zugriffs verschlossen blieben und nur am Rande auszunutzen, zu
stören und zu verändern waren, flächendeckend die
Doktrin des freiheitlichen Kapitalismus getreten. Bzw. genauer: die
Staatsräson des katastrophenmäßigen Umsturzes aller
vorhandenen ökonomischen Beziehungen mit dem noch fernen Ziel,
durch Teilhabe am Weltmarkt eine nationale kapitalistische Akkumulation
in Gang zu bringen. Die Staaten des erfolgreichen Kapitalismus brauchen
diesen Menschheitsfortschritt bloß mit ebenso dämlichen wie
ruinösen Ratschlägen zu betreuen, müssen nur
gelegentlich mit handels- und finanzpolitischen Erpressungen gegen
sozialfürsorgerische Abweichungen vom Grundsatz der vorbehaltlosen
Auslieferung an den Weltmarkt vorgehen, sehen sich noch nicht einmal
ernstlich zu so etwas wie "Kapitaltransfer"
herausgefordert: Ihre östlichen Nachbarn haben sich ganz von
selbst dem Grundsatz verschrieben, ihr ökonomisches Dasein
völlig vom Interesse des kapitalistischen Weltgeschäfts an
ihren Ländern abhängig zu machen. Insofern gibt es definitiv
keine Alternativen mehr "abzuschrecken"; die Nachbarn
diesseits der GUS haben sich mit ihrem neuen Nationalismus eine so noch
nie dagewesene Art von "passivem Imperialismus" zugelegt.
Dennoch stehen die NATO-Staaten auf dem Standpunkt, daß die
weltmarktwirtschaftliche Staatsräson der ehemals sozialistischen
Staaten mehr Sicherheit braucht als die Entschlossenheit ihrer
Regierungen, keine Alternativen kennen zu wollen. Schließlich tun
die politischen Ökonomen des Westens nichts dazu, damit aus den
ruinösen Umstellungsbemühungen ihrer östlichen Kollegen
eine kapitalistische Erfolgsgeschichte wird, im Gegenteil: Die
Geschäftswelt nutzt, was zu nutzen ist, unterbricht so, was noch
an Arbeitsteilung funktioniert, und weiß nichts von "Entwicklungshilfe"; die in eigene nationale
Konkurrenzoffensiven verstrickten Politiker des Westens reklamieren
Einfluß, begrüßen alle Bemühungen, die von ihren
Nationalbanken herausgegebenen Devisen zu verdienen und Schulden zu
bedienen, haben aber auch nichts zu verschenken, schon gar keine
nationalen oder europäischen Marktanteile. Von da her sind alle
Bedingungen dafür gegeben, daß die Staatsdoktrin der "Systemtransformation" scheitert und in offenen Widerspruch
tritt zum erneuerten Nationalismus dieser Staaten, der –
vorläufig noch – keinen anderen Erfolgsweg kennen will.
Insofern ist auf die Stabilität dieser Staaten nicht allzuviel
Verlaß; um so weniger, als den regierenden Nationalisten des
Westens all die Übergänge zu einer Politik der
sittlich-moralischen Schadloshaltung an dem einen oder anderen schon
immer hinderlich gewesenen Ausland geläufig sind, auf die sich
ihre Kollegen aus dem "Völkergefängnis" auch ganz
von selbst verstehen. Für die NATO in ihrer Vorsorglichkeit ist
das jedenfalls Grund genug, um Vorkehrungen gegen "Instabilität, Spannung und Konflikt" zu treffen.
Und zwar die denkbar weitgehendsten; schließlich geht es um
Garantien für politökonomische Beziehungen, die ihrerseits
über Außenhandelskontakte zwischen autonomen Staaten
grundsätzlich hinausgehen, nämlich ganze Volkswirtschaften zu
Anhängseln auswärtiger Geschäftsinteressen machen. Man
will sich daher gar nicht erst Problemfälle einhandeln, die man
dann mit Gewalt auf die Linie der europäischen Räson bringen
muß. So versucht die NATO, alles, was die östlichen
Reformstaaten als Militärmächte noch oder jemals wieder
darstellen, unter die Mechanismen eines gesamteuropäischen
Kontrollsystems zu subsumieren: Es soll gar nicht dazu kommen
können, daß ein abweichender Nationalismus in diesen
Ländern eine frei verfügbare nationale Macht findet, die er
ergreifen könnte, oder daß eine freischwebende nationale
Macht sich berufen fühlt, das nationale Wohl anders, "Europa"-feindlich zu definieren. [6]
So verwirklicht die NATO ihr Ideal von europäischer Sicherheit: In
Gestalt eines supranationalen Systems der militärischen
Kooperation will sie nichts geringeres garantieren als die
Unmöglichkeit, daß Mitgliedsstaaten aus der Disziplin der
politischen Ökonomie des Kontinents und der dazugehörigen
politischen Verhaltensregeln ausscheren. Natürlich stellt sich die
Frage, gegen wen sich dieses europaweite Verteidigungswesen richtet. Es
gibt auch NATO-Politiker, die sie aufwerfen, um sie mit dem einzigen
Gedanken zu beantworten, den sie zeit ihres politischen Lebens
gefaßt haben: gegen die Russen. [7] Und natürlich treffen
sie damit mehr als eine alte Angewohnheit der Allianz: Deren
Kontrollbedürfnis einschließlich des defensiven Moments der
Gefahrenabwehr ist nach wie vor hauptseitig nach Osten gerichtet; sie
rechnet damit, Kriege im und Übergriffe aus dem Bereich der
ehemaligen Sowjetunion niederhalten oder auch
vorsorglich-"humanitär" dort eingreifen zu
müssen, und stellt sich darauf ein. Diese "Gefahr"
steht allerdings nicht mehr auch nur annähernd so im Zentrum der
Bündnisstrategie wie bislang die "sowjetische
Bedrohung". Die NATO plant und disponiert inzwischen noch viel
offensiver imperialistisch: Wenn sie im Osten Europas "Raum" okkupiert, und zwar in der Größenordnung
ganzer Nationen, dann nicht primär unter dem beschränkten
defensiven Aspekt des strategischen Vorfelds gegen einen Feind, an dem
sie sich und ihre ganze Politik ausrichten würde, sondern unter
dem Gesichtspunkt eines abzusichernden Besitzes, eines Umfelds, in dem
garantiert alles ihr zuarbeitet, den ökonomischen Interessen ihrer
Mitglieder ebenso wie ihren eigenen quasi internen, auf den eigenen
Bereich bezogenen Kontrollbedürfnissen. [8]
Damit stehen sie aber, und das ist das Bemerkenswerte, nicht bloß
vermeintlich, sondern wirklich in einer gewissen Opposition zu dem
Vereinnahmungskonzept, das der neuen Europapolitik der NATO und ihrer "Partnerschaft für den Frieden" zugrundeliegt.
Neutralisierung Rußlands
Für die ehemaligen Ostblockstaaten deckt sich ihre nationale
Emanzipation deswegen mit ihrer Unterordnung unter die NATO, weil ihr
Nationalismus sich gegen die alte sozialistische Führungsmacht
richtet [9] und sich deswegen durch Rußland bedroht sieht, ganz
gleich, ob die russische Regierung tatsächlich Ansprüche auf
oder auch nur an sie erhebt – derzeit hält sie ja noch nicht
einmal die Nachbarn beisammen, mit denen Rußland bis neulich noch
eine Großmacht gebildet hat. Mit dem Standpunkt der NATO
fällt diese Frontstellung nicht ganz zusammen. Der ist komplexer.
In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion hat der Westen politische
Gebilde vor sich, die für ihre Nationalökonomie und ihren
inneren Aufbau genauso wie die anderen osteuropäischen Länder
nur eine Staatsräson kennen: die der Unterwerfung unter die Maxime
des Geldverdienens, unter westliche Devisen als einzig wahres Geld und
unter die den Weltmarkt beherrschenden Bedingungen des
Geschäftemachens. Auch und erst recht aus Rußland & Co
macht der gute Wille aber noch keine brauchbaren Partner. Und noch ganz
anders als bei seinen nähergelegenen östlichen Nachbarn
rechnet der Westen bei Rußland auch auf lange Sicht mit
bleibender ökonomischer Unbrauchbarkeit und Unintegrierbarkeit.
Zwar kennt man interessante ökonomische Potenzen in dem
großen Gebiet. Dazu zählt aber nichts von dem, was die
Sowjetmacht dort an Industrie aufgebaut hat – atomare
Brennstoffkreisläufe, Flugzeugfabriken, Weltraumbahnhöfe
immerhin –; höchstens unter dem Interesse, davon
auszuschlachten, was geht. Ein paar westliche Großprojekte zur
Erdgasgewinnung gibt es, so wie andernorts im Urwald oder im offenen
Meer: Von so armseliger Art ist der Nutzen, der aus Rußland
kapitalistisch herauszuholen ist – und um dessen Monopolisierung
sich gleich schon wieder die Konkurrenten aus dem Westen streiten. Den
wirtschaftlichen Ruin Rußlands und seiner GUS-Partner aufhalten,
ihn auch nur bremsen helfen, geschweige denn aus dieser Gegend eine
entwicklungsfähige Domäne des EU-Wirtschaftsraums machen, das
kommt für die Heimatländer des kapitalistischen Erfolgs nicht
in Frage.
Schon von da her stellt sich für die NATO also gar nicht die
Aufgabe, die sie im nähergelegenen Osteuropa sieht: der Ausdehnung
der ökonomischen Interessens- und Zugriffssphäre der
kapitalistischen Gemeinschaft die Absicherung durch militärische
Integration folgen zu lassen. Stattdessen hat die Allianz mit dem
Rechtsnachfolger ihres alten Feindes ein viel schwierigeres Problem:
Sie trifft dort auf eine nicht beherrschbare Mischung von
militärischer Macht und staatlicher Ohnmacht.
Das eine ist Rußlands Militärmacht, die auf alle Fälle
viel zu groß ist, um in die Ordnungsstrategie des Westens
problemlos vereinnahmt werden zu können; zumal sie nach wie vor
das zweitgrößte Nuklearwaffenarsenal der Welt besitzt. Zwar
ist die Staatsführung auch in strategischen Fragen extrem
gutwillig; was sie überhaupt an eigenen außen- und
sicherheitspolitischen Interessen zustandebringt, hat keinerlei
antiimperialistischen Inhalt, sondern geht auf "Kooperation" um jeden Preis; umgekehrt hat kein NATO-Staat
ein Interesse daran, Rußland wieder zum Hauptfeind aufzubauen,
geschweige denn die eigene Weltpolitik an einer solchen Konfrontation
auszurichten. Deswegen hat die NATO auch ihren Kooperationsrat mit den
Ost-Staaten einschließlich Rußlands eingerichtet und den
Russen wie allen anderen Zusammenarbeit im Rahmen der "Partnerschaft für den Frieden" angeboten. Sie hat
aber auch keinen Zweifel daran gelassen, daß ein Einschluß
der russischen Militärmacht in das europäische
Sicherheitssystem unmöglich ist. Selbst wenn die Russen alles
mitmachen, würden sie alle inneren Proportionen des
europäischen NATO-"Pfeilers" sprengen und die dort
herrschende militärische Hierarchie über den Haufen werfen.
Zu dieser Gefahr kommt es allerdings gar nicht erst, weil Rußland
überhaupt nicht bereit ist, sich einen Status irgendwo zwischen
Polen und der Türkei anweisen zu lassen. Es fühlt sich
militärisch noch allemal stark genug und nimmt sich wichtig genug,
um der europäisch-amerikanischen Allianz als eigenständiges
weltpolitisches Subjekt mit autonomen Ordnungsvorstellungen, zumindest
für die GUS, und mit den Mitteln zu deren souveräner
Durchsetzung gegenüberzutreten. Das hat die NATO an den russischen
Widerständen gegen eine sofortige Erweiterung der Allianz bis an
die Westgrenze der GUS klar erkannt; den gleichzeitigen Moskauer
Anträgen auf Vollmitgliedschaft im Pakt hat sie dieselbe Absicht
entnommen, sich nicht einzuordnen, vielmehr ein Gegengewicht zur alten
Allianz in die Allianz selbst einzubringen und so am Ende den
Bündniszusammenhalt aufzulösen. Mit seinem Widerstreben gegen
das "Angebot", sich strategisch und militärisch mit
dem Status eines "PfP"-Partners unter einigen 20 anderen
zufriedenzugeben, hat Rußland schon wieder seine fehlende
Bereitschaft erkennen lassen, sich und seine Militärmacht auf eine
handliche Größenordnung zurückzunehmen; für seine
Bereitschaft mitzumachen hat es sich die formelle diplomatische
Anerkennung eines Sonderstatus ausgehandelt – was immer der
praktisch bedeutet. Der politische Wille und die militärische
Masse Rußlands verhindern somit seinen Einbau in eine
NATO-Ordnung, die seinen Nationalismus in seinen Machtmitteln auf die
Bündnisräson festlegen und an Brüsseler Vorgaben fesseln
könnte.
Dieses Sicherheitsproblem kann die NATO zwar nicht beseitigen; sie
weiß aber damit umzugehen. Sie bringt ihr altvertrautes
Repertoire an Drohungen und erpresserischen Angeboten zur Anwendung und
knüpft dabei sogar ein wenig an ihre alte ostpolitische "Arbeitsteilung" an. Russische Ansprüche auf ein
eigenständiges strategisches Mitspracherecht in und über
Europa – etwa vermittels der KSZE – werden strikt
zurückgewiesen, sei es mit oder ohne diplomatische Verbeugung vor
der bedeutenden Größe und großen Bedeutung des
eurasischen Landes. [10] Gegen russische Einwände, einen
NATO-Beitritt der früheren "Satelliten" des Warschauer
Pakts betreffend, hat die NATO die Sprachregelung aufgebracht, Moskau
maße sich damit ein Veto-Recht in inneren Angelegenheiten der
Allianz an; der ergänzende Vorwurf des Rückfalls in "altes" Block- und Konfrontationsdenken ist unschwer als
die Drohung zu entschlüsseln, fortgesetzten Bemühungen der
Russen um Einfluß westlich ihrer Grenzen mit westlicher
Konfrontationspolitik zu begegnen. [11] Die BRD begleitet diese Politik
mit einer Diplomatie der betonten Freundlichkeit, setzt sich für
Jelzin als Dauergast bei den G7-Treffen ein, setzt wohl auch am meisten
von allen kapitalistischen Nationen auf die Möglichkeit, aus
Rußland eine Art zuverlässiges, schuldendienstfähiges
slawisches "Entwicklungsland" zu machen; so bemüht man
sich, den russischen Nationalismus zu beschwichtigen, für den der "Weg nach Westen", den das Land eingeschlagen hat,
unweigerlich in Verdacht geraten muß, ein nationaler Irrweg zu
sein. Umgekehrt betonen die Amerikaner die Wohlverhaltensregeln, denen
das Land sich unterwerfen muß, um weltpolitisch überhaupt
geschäftsfähig zu bleiben; offensiv bestreiten sie russische
Rechte bezüglich der anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, weisen
die Moskauer "Doktrin des Nahen Auslands" zurück und
tun offenbar in Kiew und anderswo auch einiges für eine
entsprechende politische Linie bei Rußlands Nachbarn. [12]
Alle diese Initiativen, Rußland auf den Status einer
beherrschbaren Außenregion jenseits von Europa
zurückzuschneiden, tun zwar in Moskau ihre Wirkung; aber diese
Wirkung ist noch aus einem ganz anderen Grund als wegen der
Unhandlichkeit des russischen Nationalismus und der Menge seiner Mittel
äußerst beschränkt: Sie reicht über die Absichten
des guten Präsidenten Jelzin und seiner Mannschaft nicht so recht
hinaus. Deren Machtlosigkeit ist das Problem; denn die besten
Klarstellungen verfangen nicht, wenn der einsichtige Partner sich gar
nicht ordentlich durchsetzen kann in seinem Land. Mittlerweile
muß die NATO registrieren, daß ein Armeegeneral, den der
Präsident abberufen will, sich einfach nicht absetzen
läßt, weil er, seine Offiziere und übrigens auch die
Russen in Moldawien, wo er den Befehl innehat, eine starke bewaffnete
Schutzmacht fürs russische Volk wichtiger finden als Papiere aus
der Moskauer Staatskanzlei – ein Indiz mehr, daß die
ehemals Rote Armee weiter in quasi-autonome Bestandteile zerfällt.
Die NATO muß sich sorgen, daß aus russischen Rüstungs-
und Atom-Fabriken unkontrolliert Atomenergie freigesetzt wird. Denn
egal, ob deutsche Geheimdienste den Handel mit Nuklearwaffen-Rohstoff
abgefangen oder womöglich überhaupt erst inszeniert haben: Es
zeigt sich daran drastisch, was sich der Westen mit der von ihm
begrüßten, verlangten und unterstützten "Liberalisierung" des Sowjetsystems eingehandelt hat. Jetzt
ist die Zersetzung der Staatsmacht so weit vorangekommen, daß die
westlichen Rußlandpolitiker gar keine ordentliche Adresse
für ihre Ultimaten mehr finden. Solche "Entwicklungen"
lassen die NATO immer mehr um die Abrüstungsvereinbarungen
fürchten, die sie mit den einst regierenden Kommunisten zu ihrer
Zufriedenheit ausgehandelt hatte – nicht nur, weil neurussische
Nationalisten sie womöglich kündigen, sondern weil die Macht
fehlt, die ihre Erfüllung garantiert. [13]
Die Allianz reagiert auf diese horrende "Instabilität"
mit den Mitteln, über die sie als Militärpakt verfügt:
Sie mahnt bei der russischen Regierung wirksame Kontrollen an, fordert
vom Präsidenten Durchsetzungsfähigkeit, läßt
deutsche Minister und andere Experten in Moskau Druck machen, verlangt
von dem Land, das nach ihrem idealen Drehbuch zugrundegegangen ist,
gebieterisch eine intakte politische Macht, die ein Mindestmaß an
brauchbaren Verhältnissen gewährleistet, und kommt mit alldem
doch nicht darüber hinweg, daß eine machtlose Regierung
schlecht zur Souveränität zu erpressen ist.
Zumal es andererseits ja nicht bloß nicht in der Macht der NATO
steht, den Russen eine souveräne Obrigkeit zu spendieren, sondern
auch überhaupt nicht in ihrem Programm. Denn neben all ihren
Sorgen um die definitive Unregierbarkeit Rußlands treibt die
Allianz ihr Geschöpf im Kreml immer weiter voran auf dem Weg
ruinöser "Reformen", verbittet sich den Einsatz von
Gewalt zur Wiederherstellung von ein paar Kooperationsbedingungen in
der GUS, bekämpft eigenmächtige Stabilisierungsversuche als "Rückfall". Und vertieft so ihr eigenes
imperialistisches Dilemma. Ihre letzte Antwort darauf ist dann
endgültig die einzig bündnisgemäße: Der Kriegspakt
sieht sich vor. [14] Insofern ist seine strategische Interessenlage am
Ende dann doch ziemlich deckungsgleich mit der Russenfeindschaft seiner
neuen östlichen Kooperationspartner – die freilich aufpassen
müssen, daß sie nicht doch noch so heillos kaputtgehen,
daß sie selber zu nicht mehr handhabbaren Problemfällen
werden.
Kontrolle Jugoslawiens
Noch bevor sie ihr System der militärischen Einordnung Osteuropas
auf den Weg bringen, geschweige denn fertigstellen konnte, hat die NATO
es mit dem praktischen Problemfall zu tun bekommen, daß ein
staatliches Zerfallsprodukt der alten europäischen Ordnung mit
Waffengewalt seinen eigenen Weg probiert: Jugoslawien hat sich nicht
einfach friedlich in handliche Kleinstaaten zerlegt, dem
politökonomischen Umkreis der EU eingefügt und aus
Brüssel eine neue nationale "Sicherheitsidentität" abgeholt, sondern in
Staatsgründungskriege verstrickt; die Serben führen einen
Kampf um ihre nationale Zuordnung. Sie fordern damit die Herren der
Neuordnung des alten Kontinents in ihrer exklusiven Ordnungsbefugnis
heraus und werden mit ihrem Bürgerkrieg von außen auf eine
Weise betreut, daß die Schlächterei sich in die Länge
zieht. Denn die NATO-Mächte behalten sich die "Konfliktlösung" vor, verhindern autonome Siege und
Niederlagen und bringen die Sache selber nicht zum Abschluß.
Der Grund für dieses einstweilen offene Ende liegt darin,
daß die selbsternannten Ordnungsmächte sich in dem einen
entscheidenden Punkt einig sind: Die Kompetenz, Europas
nationalstaatliche Arrangements zu verändern, liegt exklusiv bei
ihnen. Folglich wird zwischen Ihnen ausgehandelt, wie mit Abweichungen
und Eigenmächtigkeiten umzugehen ist. Und damit steht
unausweichlich die viel höhere und wichtigere Streitfrage zur
Entscheidung an, welche der Europa beherrschenden Nationen sich im
Kreis ihrer Verbündeten durchzusetzen vermag. Die Einigkeit bei
der Wahrnehmung der Regelungskompetenz, die nur deswegen so fraglos bei
den NATO-Partnern liegt, weil diese zu einem konkurrenzlosen Pakt
zusammengeschlossen sind, ist logischerweise der erste Gegenstand einer
ordnungspolitischen Konkurrenz zwischen ihnen; und weil es im
jugoslawischen Bürgerkrieg um wirkliches gewaltsames Eingreifen
geht und nicht "bloß" um dessen umfassende
Vorbereitung, sind die Alliierten in ihrem Konkurrenzkampf hier ein
gutes Stück vorangekommen. Sie haben die Klärung erreicht,
daß es in solchen Ordnungsfragen auch dann, wenn die
Westeuropäer sich zuerst einmal als EU das entscheidende
Eingreifen vorbehalten, ohne die USA doch nicht geht. Sie haben die
Erfahrung gemacht, daß ihr internes Ringen um die
Richtlinienkompetenz beim gemeinsamen Vorgehen den Russen die
Gelegenheit bieten kann, sich als zwar konstruktiver, aber autonomer
Dritter ins Spiel zu bringen, ohne den eine definitive Entscheidung
über die neue politische Landkarte des Balkan dann so leicht auch
nicht mehr zu haben ist. Sie haben darüber zu gemeinsamer Aktion
gefunden, und zwar in ihrer Eigenschaft als NATO; in deren Rahmen
organisieren sie die Einhegung des innerjugoslawischen
Kriegsgeschehens, seine Beschränkung auf begrenzte Kämpfe am
Boden, und haben mittlerweile auch schon gegen serbische
Unbotmäßigkeit zugeschlagen. Daß die NATO diese Rolle
spielt, hat sich zwar keineswegs von Beginn an von selbst verstanden;
die zunächst in anderen Eigenschaften aktiven NATO-Mächte
haben ihren Pakt dann aber doch als die Körperschaft
betätigt, also bestätigt, die neben ihrer fortdauernden
Konkurrenz für das Maß an kollektivem militärischem
Eingreifen zuständig ist, auf das sie sich einigen können, um
der kollektiven Ordnungsmacht den nötigen Respekt zu verschaffen,
um die es ihnen schließlich zu tun ist in ihrem Streit um das
entscheidende letzte Wort.
Das Bündnis als solches kann somit einen bedeutenden Erfolg
verbuchen: Es hat – endlich, in seinem fünften Jahrzehnt!
– seine militärische Handlungsfähigkeit bewiesen und
– wie in Brüssel nicht ohne Stolz hervorgehoben wurde
– seine ersten Abschüsse feindlicher Kräfte
zustandegebracht. [15] Natürlich sind diese Einsätze die
Reaktion auf das bosnische Kriegsgeschehen; und doch ist das nicht die
Wahrheit über die NATO-Aktion: Es ging, übrigens
erklärtermaßen, darum, am Fall der unermüdlich
weiterkämpfenden post-jugoslawischen Vaterlandsfanatiker die
Ordnungsgewalt über Europa praktisch anzuwenden, die die
Allianzpartner prinzipiell für sich in Anspruch nehmen und mit der
sie den Kampf gegen jeden unbefriedigten europäischen
Nationalismus aufnehmen, der aus der Reihe tanzt.
Krisenreaktion weltweit
Auch von außerhalb Europas sieht die NATO "Instabilität, Spannung und Konflikt" auf sich
zukommen, denen sie mit ihrer kombinierten Militärmacht begegnen
muß:
"In der Wahrnehmung unserer gemeinsamen transatlantischen
Sicherheitserfordernisse wird die NATO zunehmend aufgefordert werden,
[16] Aufträge durchzuführen, zusätzlich zur
traditionellen und grundlegenden Aufgabe der kollektiven Verteidigung
ihrer Mitglieder, die eine Kernfunktion bleibt. Wir bekräftigen
unser Angebot, von Fall zu Fall in Übereinstimmung mit unseren
eigenen Verfahren [17] friedenswahrende und andere Operationen unter
der Autorität des VN-Sicherheitsrats oder der Verantwortung der
KSZE zu unterstützen..." (Erklärung der Staats- und
Regierungschefs der NATO im Januar in Brüssel, Bulletin Nr.3/94,
S.20f.) [18]
Räumliche Schranken ihrer Einsatzbereitschaft definiert die NATO
nicht; die Partner eröffnen insoweit einander die
Möglichkeit, sich wechselseitig über den
Bündniszusammenhang für Unternehmungen in Anspruch zu nehmen,
die sie von ihrer nationalen Rechnung her für fällig halten
– wo auch immer. Denn grundsätzlich erklärt das
Bündnis seine weltweite Zuständigkeit für stabile
Verhältnisse.
Auch dieser Standpunkt ist durchaus nicht neu. Zwar hat die NATO in der
Konfrontation mit der Sowjetmacht "bloß" das Gebiet
der Bündnispartner und den Atlantik nördlich des
nördlichen Wendekreises unter ihren unbedingten Schutz gestellt;
schon die Luftüberwachung Bosniens gilt als – erster –
Einsatz "out of area". [19] Die "Abschreckung",
die von diesem auch schon nicht bescheiden dimensionierten Gebiet 40
Jahre lang ausging, war aber immer auf einen globalen Gegensatz
bezogen, auf einen Welt-Krieg gemünzt, selber schon als "kalter Krieg" um Sieg oder Niederlage im
Weltmaßstab, als Ringen um die Weltmacht gemeint. In dem Sinne
wurde, nach einem geflügelten Wort der 60er Jahre, "die
Freiheit Berlins in Vietnam verteidigt", und das war sogar
bloß die uninteressantere Hälfte des grenzenlosen "Ost-West-Konflikts". Mit der Bedrohung, die die NATO in
Europa gegen die Ostblock-Partner und das europäische Kernland der
Sowjetunion aufgebaut hat, ist umgekehrt die Konfrontation aufgemacht
worden, die den gesamten Rest der Staatenwelt vor die alles
entscheidende Alternative "Freiheit oder Sozialismus"
– nämlich: gemeinsame Sache mit dem Imperialismus des
vereinigten Westens oder Abhängigkeit von der Sowjetunion –
gestellt hat. In Europa und von Europa aus hat die NATO der
übrigen Welt ihre strategische Lage zudiktiert – und damit
die entscheidende Grundlage für 40 Jahre "Weltordnung"
geschaffen. Was immer es warum auch immer an "Instabilität,
Spannung und Konflikt" gab, war als Teil des großen Ringens
und Front in der universellen Bekämpfung des sowjetischen
Störenfrieds definiert; und dementsprechend wurde gehandelt:
unterstützt oder zugeschlagen, ein Putsch in Auftrag gegeben oder
eine Opposition abgeschlachtet usw. Im Zeichen der großen
Konfrontation war grundsätzlich jeder Staat samt inneren
Verhältnissen im guten oder bösen Sinn Gegenstand eines
weltpolitischen Interesses und entsprechender Betreuung; Waffen und
Gelder, die unerläßlichen Lebensmittel staatlicher Gewalt,
wurden nötigenfalls verschenkt – so daß unter
wohlmeinenden Menschen für zwei bis drei Jahrzehnte sogar die
Ideologie aufkam, der Westen unterstützte dritte Staaten dabei, zu
kapitalistisch ebenso erfolgreichen Gebilden zu werden wie er selbst,
und leistete "Entwicklungshilfe".
Daß es den sowjetischen Feind nicht mehr gibt, hat die NATO auch
in dieser Hinsicht von einer gewaltigen Last befreit: Sie braucht den
Rest der Welt nicht länger vor dem Kommunismus zu schützen.
Rechte Erleichterung schafft dieser Erfolg allerdings nicht. Denn kaum
ist die "Gefahr aus dem Osten" erledigt, stellt sich auch
schon heraus, daß sie die Notwendigkeit für die
kapitalistischen Führungsmächte, sich strategisch und mit
Waffengewalt um die vielen nachgeordneten Mitglieder der
Völkerfamilie zu kümmern, gar nicht geschaffen hat. Die
abschreckende Bekämpfung des "Weltkommunismus" hat
dieses Kontrollbedürfnis mit einbegriffen, politisch definiert und
gewissermaßen nebenher miterledigt. Nach dem Abtritt des
großen Gegners bleibt die Aufgabe, alle anderen Souveräne
den Richtlinien einer von den westlichen Metropolen entworfenen
Weltfriedensordnung zu unterwerfen, erstens bestehen; zweitens stellt
sie sich ganz anders als bisher. Und zwar sowohl nach der Seite der
aufsichtführenden imperialistischen Subjekte, die sich ihr
Kontrollbedürfnis nun ohne den alles subsumierenden Weltgegensatz
politisch zurechtdefinieren und mit passendem Aufwand und
befriedigendem Ertrag erfüllen müssen, als auch nach der
Seite jener Kräfte und Mächte, die der Einweisung in eine
Weltordnung ohne sowjetische Gegenmacht bedürfen.
Fest steht dabei erstens der politökonomische Inhalt des
Weltfriedens, den die NATO-Mächte beaufsichtigen wollen: Es geht
um die Indienstnahme der restlichen Staatenwelt für
Geschäfte, um deren Erträge sich nicht bloß die
Kapitalisten streiten, die sie machen, sondern auch die wenigen Staaten
– in Westeuropa, Nordamerika und Fernost –, deren Geld
dadurch zu Weltgeld wird. Fest steht zweitens ganz abstrakt und
grundsätzlich, daß diese politische Ökonomie Schutz
durch überlegene militärische Gewalt braucht, und zwar
prinzipiell, d.h. ohne daß sich irgendwo eine
umstürzlerische Bedrohung rührt. Nicht mehr fest steht
jedoch, was sich da rührt und bewaffneter Kontrolle bedarf. Es ist
ja ersatzlos außer Kraft gesetzt, was den Souveränen dieser
Welt als "Lage" vorgegeben war und für die Ausrichtung
ihrer politischen Motive an dem einen großen Entweder-Oder
gesorgt hat. Der Wegfall der sowjetischen Gegenmacht zum Imperialismus
hinterläßt in der Hinsicht ein "Machtvakuum"; er
läßt nämlich lauter eigenwillige Berechnungen zu, wo
bislang Gleichschaltung geherrscht hat. Und diese Freiheit wird
tatkräftig genutzt: Von Saddam Hussein bis zu den exilierten
Tutsi-Führern, von den kurdischen Nationalisten bis zu den
islamischen Fundamentalisten macht sich eine unübersichtliche
Vielfalt von "Kräften" und Machthabern auf und
vollstreckt in der eigenen Umgebung allerlei Korrekturbedürfnisse,
die unter den Bedingungen der alten "Ost-West-Lage"
entstanden, aber nie zu ihrem Recht gekommen sind. Es ist schon enorm,
was für offene Rechnungen die buntscheckigen Geschöpfe des
Imperialismus gegeneinander haben und begleichen, nachdem nicht mehr in
jeder Urwaldrevolte der Kampf zwischen Freiheit und Sozialismus
gekämpft wird, sondern nur noch die Freiheit herrscht, die
Auswirkungen des weltweiten Geschäftslebens und der konkurrenzlos
gewordenen demokratischen Kultur mit gewalttätigen
Selbstbehauptungsversuchen zu quittieren.
Diese "Lage" fassen die Alliierten in den Blick, wenn sie
den gemeinsamen Plan fassen, sich als Militärpakt von sich selbst
in ihrer Eigenschaft als tonangebenden UNO-Mächten zu bewaffneten
Interventionen bitten zu lassen. Daß sie sie so ins Auge fassen:
als Ansammlung möglicher Interventionsfälle, verrät eine
eigentümliche Art von Illusionslosigkeit: Sie rechnen mit Krieg
als Alltagserscheinung, und sie setzen dieser Perspektive kein
übermäßiges positives Interesse an einer politischen
Alternative entgegen. Nicht als ob sie früher unter dem Zeichen
des Anti-Sowjetkommunismus eine wunderbare Zukunft für Mitmacher
in aller Welt geplant hätten; aber die rechte Einordnung
kooperativer Staatsmänner war ihnen allemal das Angebot wert,
Waffen, Militärberater und Subventionen für den
Staatshaushalt vorbeizuschicken. Soviel politisches Interesse
können die Betreuer der Weltordnung der absehbarerweise instabilen
Staatenwelt von heute und morgen nicht mehr abgewinnen. Ihr Bezug auf
Kriege und Krisen ist negativ und abstrakt: Gewalt gegen
Störungen. Darauf bereiten sie sich mit ihren "Krisenreaktions"-Kräften vor.
Die Kalkulation, so die Welt in Ordnung zu halten, geht allerdings
nicht so einfach auf. Es ist nämlich mehr als fraglich, was die
Alliierten unter Aufbietung ihrer kollektiven militärischen
Supermacht gegen die Kriege und Krisen, mit denen sie fest rechnen,
überhaupt ausrichten können: Wie interveniert man denn
zweckmäßig gegen Parteien, die einander abschlachten, um
dadurch Korrekturen an ihrer Lage zu erkämpfen, an deren Erfolg
die imperialistischen Mächte allesamt genausowenig Interesse haben
wie an deren Verhinderung? Lassen sich mit Atomwaffen und
Flugzeugträgern bewaffnete Kräfte von störenden
Unternehmungen abschrecken, wenn diese Unternehmungen den Charakter von
Bandenkriegen haben? Für welche "Lektionen" sind die
supermodernen Waffen der NATO gut, wenn die Störenfriede sich
jeder Konfrontation mit diesen Waffen entziehen, weil sie mit einem
ganz anderen Waffengebrauch beschäftigt sind, nämlich zur
Eliminierung falscher Nachbarn? Der Westen mag sich ja vornehmen, alle
Regungen in der Staatenwelt sicher zu beherrschen – und dazu das
paradoxe Ideal der erzwungenen Gewaltlosigkeit verkünden –;
dafür müßte er aber, so wie heute die Dinge liegen,
schon selber mit überlegenen Truppen überall hingehen, die "Missetäter" verhaften und die Völker mit dem
Frieden einer neo-kolonialen Herrschaft beglücken, in der alle
Unbefugten ihre Gewalt los sind. Tatsächlich tun die
führenden Mächte der Allianz das ja auch; die USA sind, wo
sie es unerläßlich fanden, auf diese Weise militärisch
hingegangen, an den Golf und nach Somalia; und ihre Partner haben
mitgezogen. Die Notwendigkeit, den dort tätigen Unruhestiftern
Schranken zu setzen, hat auch ihnen eingeleuchtet – nachdem die
USA sonst alleine die Maßstäbe dafür gesetzt
hätten. Eine Weltordnung nach amerikanischem oder gar
gesamtwestlichem Geschmack ist dabei allerdings nicht herausgekommen.
Dazu wäre eben doch noch mehr nötig gewesen als die
eindrucksvolle Demonstration überlegener Waffenmacht; nämlich
die Übernahme der politischen Macht dort, wo sie nicht
wunschgemäß funktioniert – und das ist auch nicht
gerade die Ordnung, die die USA und ihre Verbündeten sich
wünschen. Nicht als ob sie die militärischen und moralischen
Fähigkeiten dazu nicht besäßen. Aber solange keine von
den großen Mächten diese Art der "Weltbeherrschung", nämlich per Okkupation, die
allemal "nur" Erd-Teile bewältigen kann, in Angriff
nimmt, haben auch alle anderen keinen selbstverständlichen Grund,
ihre Mittel an solche Vorhaben zu verschwenden. Sie wollen Aufsicht
führen über fremde Staaten und Regie über deren
Konflikte; aber sie wollen das nicht um den Preis, daß sie sich
damit am Ende bloß in fremde Machtkämpfe verstricken –
wenn schon, dann müßten sie auf diese Weise einen eigenen
Machtkampf um Anteile an der Welt eröffnen.
Und das liegt ihnen einstweilen fern. Deswegen belassen sie es bei
einer gemeinsamen Krisenvorsorge und hierfür bei "Krisenreaktionskräften" – einem Mittel, das sie
im Fall Somalia ausprobiert und nicht bloß für diesen Fall
als untauglich verworfen haben, das ihnen aber, gemeinsam eingerichtet,
die Fähigkeit verschaffen soll, wirksam zuzuschlagen, wenn ihnen
irgendein Potentat in der Welt zu weit geht oder irgendein
auswärtiges Durcheinander zu nahe kommt. So, meinen sie und nehmen
es sich fest vor, ließen sich die negativsten "Auswüchse" ihrer eigenen Weltordnung mit einem
vertretbaren Verhältnis von Gewaltaufwand und Ordnungsertrag in
erträglichen Grenzen halten.
Einen Störfall von allgemeinerer Art, durch den sie sich
militärisch durchaus herausgefordert sehen und den sie daher auf
gar keinen Fall auf sich beruhen lassen können, haben die
NATO-Partner bereits identifiziert: Keines ihrer Treffen vergeht, ohne
daß sie sich über die Gefahr einer unkontrollierten
Weiterverbreitung – "proliferation" – von
Atomwaffen einig werden und beschließen, nach Wegen zu suchen, um
dagegen wirksam einzuschreiten. Dabei rechnen die Verbündeten,
denen drei nationale Atomwaffenarsenale, darunter das weltweit
wuchtigste, zu Gebote stehen, nicht einmal mit einer Wiederkehr des
strategisch so unseligen "atomaren Patt", durch das sie
sich 40 Jahre lang trotz erbitterter Aufrüstung letztlich doch
haben zwingen lassen, die Existenz eines gegnerischen "Lagers" hinzunehmen. Alarmiert sind sie durch die Gefahr,
daß Staaten, bei denen sie den Willen vermuten, sich ohne
imperialistische Genehmigung eine bedeutendere Stellung in der Welt zu
erobern, sich mit der Atomwaffe die Fähigkeit verschaffen
könnten, die Ordnungskompetenz der berufenen
Führungsmächte des Weltfriedens zu ignorieren. Offenbar ist
ja die Welt, die die NATO intakt erhalten will, so geordnet, daß
ihre Mitglieder in dem Maße zu respektablen politischen Subjekten
werden, in dem sie Massenvernichtungsaktionen organisieren können.
Eben deswegen dürfen die bedeutendsten Instrumente internationaler
Achtung nicht in "unzuverlässige" Hände geraten
– wobei das Kriterium fehlender Zuverlässigkeit nichts
anderes ist als die fehlende Lizenz der NATO.
Für die Allianz geht es also um ihr letztinstanzliches
Gewaltmonopol über die Staatenwelt. Sie unterstützt daher die
amerikanische Offensive gegen das von Washington zum Präzedenzfall
erkorene Nordkorea. Eigenes militärisches Einschreiten behält
sie sich vor:
"Jüngste Ereignisse in Irak und Nordkorea haben gezeigt,
daß die Verbreitung von MVW (sc. Massenvernichtungswaffen) trotz
internationaler Nichtverbreitungsnormen und -Übereinkünfte
vorkommen kann. Um ihrer Rolle als Verteidigungsbündnis gerecht zu
werden, muß sich die NATO daher mit der Frage befassen, welche
militärischen Fähigkeiten benötigt werden, um der
Verbreitung und dem Einsatz von MVW entgegenzuwirken..." (Anlage
zum Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrates im Juni
in Istanbul: Bulletin Nr.58/94, S.551)
Kontrolle der Konkurrenz vs. Konkurrenz um Kontrolle
Die zukunftsweisenden Initiativen und Vorhaben der NATO lassen die
anspruchsvolle Zielsetzung erkennen, durch Bündelung der
Kräfte, die die Nationen kapitalistischer Staatsräson in
Europa und Nordamerika unterhalten, eine Art kollektiver Weltherrschaft
auszuüben. Sicherheit definieren diese Staaten als
durchorganisiertes Gewaltmonopol erstens über Europa, zweitens von
Europa aus über alle möglichen Krisenherde; Leistung dieses
Gewaltmonopols soll nichts geringeres sein als der Weltfrieden; und
dieser Menschheitstraum besteht realiter keineswegs in der Abwesenheit
von Krieg, schon gar nicht im Dahinschwinden seiner Ursachen, sondern
in einem globalen Geschäftsverkehr, der alle
Nationalökonomien für die Akkumulation des in drei bis
fünf Währungen beheimateten Kapitals nützlich macht. Die "zivile Weltgesellschaft", die dieser supranationalen
politischen Ökonomie unterworfen ist, existiert nur unter dem
Diktat militärischer Gewalt, die dafür sorgt, daß die
teilnehmenden Staaten ihren Völkern mit Gewalt das Nötige
diktieren und sich auch dann nichts Abweichendes vornehmen, wenn sie
darüber Schaden nehmen. So eine oberhoheitliche militärische
Weltkontrolle schafft kein Staat allein, nicht einmal der
US-amerikanische und nicht einmal mit Atomwaffen, die bloß
zerstören können, was doch zum Funktionieren gebracht werden
soll. Im Kollektiv trauen sich die NATO-Partner aber "Krisenmanagement" und "Kräfteprojektion"
im nötigen Umfang zu. Darum geht es jedenfalls bei ihrem
Zusammenschluß.
Und der hat, bei allen Treueschwüren, doch einen gewissen Haken.
Die Häuptlinge der Allianz werden offenbar selbst bisweilen von
bangen Ahnungen heimgesucht – warum sonst die wiederholten
Treueschwüre? Und sie selber vermissen bei jeder Gelegenheit die "stabilisierende" Wirkung, die bis neulich noch vom Druck
ihrer selbstgewählten Weltkriegsaufgabe auf ihr Bündnis
ausging. Dabei wäre der Verlust des Hauptfeinds wirklich nicht
weiter schlimm, wenn das Bündnis für alle Beteiligten eine
feine Sache wäre; dann käme ja bloß, endlich einmal,
uneingeschränkt der positive Bündniszweck zum Zuge. Wenn
dessen Gültigkeit umgekehrt ohne Weltkriegsperspektive prekär
erscheint, dann hat die Einigkeit der Imperialisten selber einen
gewissen Widerspruch an sich – und hat ihn schon immer gehabt;
nur daß der gemeinschaftlich eröffnete und durchgehaltene
offensive Gegensatz gegen ein gleichfalls atomar und für einen
Weltkrieg gerüstetes "sozialistisches Lager" die
abhängige Beteiligung an der US-Weltmacht zur obersten
strategischen Staatsräson der europäischen Verbündeten
Amerikas gemacht hat – und der angeblich so bedrohlich aggressive
Feind viel zu sehr auf Frieden und Anerkennung aus war, um die
Solidarität seiner Gegner jemals praktisch auf die Probe zu
stellen.
Tatsächlich leidet das so prachtvoll elaborierte Projekt eines
kollektiven Imperialismus an wenigstens zwei
Mißverhältnissen. Erstens ist der imperialistische Zweck,
anderen Staaten die eigenen nationalen Interessen als unbedingt zu
beachtende Friedensordnung vorzuschreiben, mit dem Mittel der
Unterordnung unter Bündnisentscheidungen, also des
Souveränitätsverzichts, nur vom Standpunkt der Schwäche
aus vereinbar, grundsätzlich also unverträglich. Und zweitens
ist die Rechnung der Stärksten, durch Konkurrenzverbot in der
Weltfriedensfrage beim weltfriedlichen Konkurrieren zu gewinnen, in die
Krise geraten.
a) Die maßgeblichen europäischen NATO-Staaten sind in dem
Bündnis, weil sie darüber, mehr als sie es sonst
fertigbrächten, bestimmendes Subjekt der Weltpolitik sein wollen.
Indem sie sich aber der Bündnisdisziplin ein- und der
transatlantischen Führungsmacht unterordnen, machen sie sich, wie
partiell und wie berechnend auch immer, zur Manövriermasse fremder
Dispositionen. In den vier antisowjetischen Jahrzehnten der NATO hat
sich zwar nur die französische 5. Republik praktisch bemüht,
diesen Widerspruch zugunsten ihrer nationalen Autonomie
aufzulösen, ohne den Nutzen der Allianz zu verlieren: Sie hat ihre
strategische Abhängigkeit von den Atomwaffen der USA als
Überantwortung ihres Allerheiligsten, der nationalen Sicherheit,
an amerikanische Ermessensentscheidungen begriffen, die nach
französischem Urteil unmöglich zugunsten der
Westeuropäer ausfallen konnten, weil die USA damit ihr
Allerheiligstes für andere aufs Spiel gesetzt hätten.
Frankreich hat deswegen eine eigene Nuklearmacht aufgebaut, die
freilich mehr den politischen Willen zu strategischer Autonomie
manifestierte als die Fähigkeit dazu herstellte: Selbst mit seiner
Force de Frappe kam das Land von der Atomkriegsplanung und
-vorbereitung der NATO nicht los. Die anderen westeuropäischen
Mächte haben sich auf denselben Widerspruch eines
Souveränitätsgewinns durch Souveränitätsverzicht
anders bezogen. Sie haben erst einmal die durch Amerikas
Atomkriegskonzept definierte strategische Lage und damit ihre
einseitige Abhängigkeit von amerikanischen Garantien akzeptiert:
Großbritannien mit dem Selbstbewußtsein des siegreichen
Weltkriegsalliierten und quasi gleichberechtigten Teilhabers der
atomaren Rüstung der USA; die BRD vom Standpunkt des
Weltkriegsverlierers, dem mit der NATO-Integration überhaupt die
Wiederkehr als Militärmacht ermöglicht wurde. Und alle haben
sich angestrengt, die Bündnisstrategie, wenn sie ihr schon
unterworfen waren, für ihre autonom definierte nationale Sache
auszunutzen – die BRD unter anderem, am Ende sogar erfolgreich,
für ihr Projekt der Angliederung der DDR. Dennoch: Alle Partner
der USA haben sich an deren Führungsrolle abgearbeitet und
dauernd, vor allem mit ihrem europäischen Zusammenschluß, um
ihre strategische Aufwertung gerungen – die Deutschen z.B. bis
hin zu dem NATO-"Doppel"-Beschluß, ihnen durch die
Aufstellung einer "eurostrategischen" Atomraketenwaffe ein
Stück strategischer Gleichrangigkeit ihres kostbaren
Frontstaatbodens mit dem US-Sanktuarium zu gewähren. Das
unendliche politische Gezerre der vergangenen 40 NATO-Jahre um
nationale Rechte und Pflichten im Bündnis zeugt von dem
unaufgelösten Konflikt zwischen Autonomie und Einigkeit der
Bündnispartner – und von der unaufhebbaren relativen
Schwäche der europäischen Partner Amerikas, die das
Bündnis haltbar gemacht hat.
Nach dem Ende des "Ost-West-Gegensatzes" macht sich dieser
Widerspruch nun nicht mehr bloß als Streit um die
Lastenverteilung im Weltkrieg und um das Recht nationaler Sonderzwecke
geltend, sondern schon bei der Frage, wie die strategische Lage in
Europa und darüber hinaus überhaupt zu beurteilen und wie
welcher Fall in die "Krisenreaktions"-Strategie des
Bündnisses einzubeziehen ist. Die Schwierigkeiten bei der
gemeinsamen Betreuung des post-jugoslawischen Bürgerkriegs geben
dafür ein Beispiel. An ihnen zeigt sich das Bemühen der
Hauptmächte Europas, das alte Mißverhältnis zwischen
Bündnisdisziplin und nationaler Autonomie neu aufzulösen,
nämlich vom Standpunkt gewachsener relativer Stärke und
darauf begründeter Gleichrangigkeit mit der alten
Führungsmacht. Sie konkurrieren um die Macht, "die
Lage" verbindlich zu definieren und ihre Bewältigung
herbeizuführen. Und natürlich fordern sie damit den
Führungswillen der USA heraus, die als Inhaber einer
gesamtwestlichen Richtlinienkompetenz noch lange nicht abgedankt haben.
Nun mag die NATO mit der Entwicklung des "Falles"
Jugoslawien zufrieden sein, das Zuschlagen in Bosnien sogar als
musterhaften Präzedenzfall für ihre innere
Einigungsfähigkeit und Entschlußkraft ansehen; und
vielleicht darf sie demnächst sogar noch mehr an angewandter
Waffenbrüderschaft organisieren, die dann die Partner so richtig
aneinanderschweißt. Und was den grundsätzlichen Widerspruch
zwischen dem Ziel konkurrenzloser Beherrschung der Lage und dem Preis
der Einordnung ins Kollektiv betrifft, so mag die NATO ihn auch
weiterhin von ihrem bürokratisch-bündnistechnischen
Standpunkt aus ignorieren bzw. als im Einzelfall allemal lösbares
Abstimmungsproblem ansehen und stets von neuem beschließen,
daß mehr jedenfalls nicht daran sein soll. Es ist nur inzwischen
so, daß die Konkurrenz der nationalen Lageanalysen und alle
abstrakten und konkreten Abstimmungsprobleme noch einen ganz anderen
imperialistischen Widerspruch widerspiegeln, den seine Urheber schon
gar nicht mehr recht erträglich finden.
b) Es stimmt nämlich die Grundgleichung nicht mehr, daß die
NATO mit dem Weltfrieden die Bedingungen des politökonomischen
Erfolgs der maßgeblichen kapitalistischen Nationen und
insbesondere der mächtigsten von ihnen sicherstellt. Genaugenommen
war ja schon in der Vergangenheit nicht der nationalökonomische
Nutzen der verbündeten kapitalistischen Staaten das Schutzobjekt
ihrer Allianzversicherung, sondern dessen Methode: die freie Konkurrenz
der Kapitalisten und der geregelte Kampf der Staaten um gute Bilanzen
und hartes Geld. Zusammengefallen sind Methode und gutes Ergebnis
zunächst einmal nur bei der Wirtschaftsmacht Amerika, die den
Weltkrieg als konkurrenzloser Gewinner überstanden hatte und mit
den Methoden des modernen Weltmarkts ihrem Kapital den geregelten
Zugriff auf die restliche Welt eröffnet hat. Für die
ökonomisch Schwächeren mußten schon mehrere Bedingungen
zusammenkommen: eine allgemeine Expansion des Welthandels und des
internationalen Finanzgeschäfts sowie die Sicherung der
konkurrierenden Währungen durch viel Bündnisdisziplin bei
ihrer wechselseitigen Stützung, damit die Beteiligten bei allen
Konkurrenzerfolgen der einen und Niederlagen der anderen doch im Ganzen
Wachstum verbuchen konnten. Immerhin war es aber lange Zeit so; die
Nationen, auf die es ankam, hielten ihren zivilen Konkurrenzkampf
gegeneinander für eine hinreichend ertragreiche Angelegenheit, um
diesem Friedenszustand gemeinsam den nötigen Schutz vor dem "Weltkommunismus" angedeihen zu lassen. Sie hielten an
ihrer Einigkeit im Strategischen fest, ohne ihre Konkurrenz in Sachen
internationaler Geldvermehrung zu vernachlässigen, und schenkten
sich in ihrem ökonomischen Konkurrenzkampf nichts, ohne ihn auf
ihre militärische Kooperation übergreifen zu lassen.
So relativ problemlos passen das weltweite Sicherheitssystem, für
das die NATO einsteht, und die zu sichernde politökonomische Sache
heute nicht mehr zusammen. Als erste – logischerweise, weil sie
die geborenen Nutznießer des Systems waren und nach wie vor daran
festhalten, daß es eigentlich ihr Recht auf Erfolg verbürgen
muß – sind die USA mit einer tiefen Unzufriedenheit an der
Verteilung von Aufwand, Ertrag und Schaden in der imperialistischen
Welt hervorgetreten und haben ihren Verbündeten den Skandal
vorgehalten, daß die Erwirtschaftung von Reichtum und Verlusten
seit längerem gegen Amerika läuft. [20] Deutlich gemacht
haben sie damit, daß die Konkurrenz der Großen schon
längst nicht mehr um die höchsten nationalen
Akkumulationsraten geführt wird, sondern um die Verteilung von
Krisenverlusten. Es geht mittlerweile um die Eroberung von Märkten
nicht auf Kosten sowieso konkurrenzunfähiger Dritter, sondern zum
Nachteil der Verbündeten; um die Sicherung des jeweils eigenen
nationalen Kreditgelds unter Schädigung "befreundeter"
Währungen, über deren Stützung bis vor kurzem noch
Absprachen getroffen und sogar eingehalten wurden; überhaupt um
Standortvorteile und Kapitalvernichtung in nationalem Maßstab.
Davon bleibt die jahrzehntelang – mehr oder weniger –
für alle so funktionale Scheidung zwischen der Welt des
Geschäfts, in der Freiheit der Konkurrenz herrschen sollte, und
der Welt der Sicherheitspolitik, in der alle Kräfte zwecks
Verteidigung eben dieser Freiheit gebündelt sein sollten, nicht
ganz unberührt. Militärs achten auf einmal auf die politische
Ökonomie: Anträge auf einvernehmliche Verteidigung der
Weltordnung – vom Irak bis Somalia – werden mit
Abwägungen über nationalen Aufwand und nationalen Ertrag des
strategisch eigentlich fälligen Durchgreifens verknüpft und
vom Rechenergebnis abhängig gemacht. Nicht als ob in der NATO
nicht schon immer um die Lastenverteilung gefeilscht worden wäre;
aber mitten in Strategiefragen Nutzenkalkulationen sprechen zu lassen,
ist schon ein Fortschritt. Vielleicht noch bedeutender das Umgekehrte:
Regierende Politökonomen beurteilen neuerdings zunehmend den Stand
und die Zuspitzung ihrer zivilen Konkurrenz unter dem Aspekt, was
daraus für ihre Bündnisbeziehungen, nämlich an
Zerrüttung folgt. Gewiß liegt keine Kündigung auf dem
Tisch; und die NATO ist nach wie vor nicht der Ort, wo die Vertreter
der verbündeten Nationen im Streit auseinandergehen. Aber was
heißt das noch, wenn sie das in anderen Zusammenhängen immer
öfter tun? Der europäisch-amerikanische Streit ums neue GATT
z.B. hat in allem Ernst Fragen nach der Haltbarkeit der
grundsätzlichen Kompromißfähigkeit und
Einigungsbereitschaft der G7 aufgeworfen. [21] Und was soll man davon
halten, wenn dem deutschen Außenminister für einen Vortrag
vor dem Council on Foreign Relations in Washington, in dem er für
die weitere Pflege der transatlantischen Beziehungen warb, als neues
Bündnisproblem die Frage einfiel:
"Wie verhindern wir, daß das Ringen um technologische
Vorherrschaft die drei großen Industrieregionen zu Gegnern
macht?" (Bulletin Nr.36/94, S.322)
Bei soviel Problembewußtsein ist es kein Wunder, daß die
NATO-Politiker bei der Festlegung der Leistungen, die ihr Kriegspakt
erbringen soll, zielstrebig auf eine einigermaßen kuriose,
nämlich nicht objektbezogene, sondern reflexive Funktion
verfallen: die Aufgabe, die Verbündeten überhaupt
beieinanderzuhalten, zwischen ihnen die "Ursachen für
Instabilität, Spannung und Konflikt" unter Kontrolle zu
halten und unliebsame Übergänge zu verhindern. Der verewigte
Generalsekretär der Allianz hat das schon vor drei Jahren klar so
gesehen:
"Wörner: ... Viele Konflikte entstehen gar nicht erst, weil
es die NATO gibt. Denken Sie sich die NATO weg, dann wird die Gefahr
von Kriegen und Konflikten in Europa mit Sicherheit größer.
Spiegel: Sie übertreiben. Wörner: Keinesfalls. Die NATO
bindet Nordamerika und Europa – die beiden großen
Machtzentren dieser Welt – zusammen. Nehmen sie die Allianz weg,
und Nordamerika und Europa werden auseinanderbrechen. Das hätte
verheerende Folgen für die Stabilität Europas und der
gesamten Welt. Denn die transatlantische Achse ist das eigentlich
stabile Element in der Weltpolitik unserer Tage. Ohne die Allianz
wäre eine Renationalisierung der Verteidigung zu befürchten,
und es bestünde die Gefahr, daß das alte europäische
Machtspiel wieder anfangen würde: Allianzen,
Gegenallianzen." (Der Spiegel 45/1991)
Der Denksport: Was wäre, wenn...? taugt zwar zu nicht mehr als
dazu, eine furchtbare Prophezeiung loszuwerden, und bringt keinen
Erkenntnisgewinn. Wenn ihn aber der zivile NATO-Chef anstellt, dann ist
das verräterisch. Denn wenn sich die Mitglieder und Manager des
Bündnisses schon so explizit und jenseits ihrer eigentlichen
strategischen Vorhaben um ihre Einigkeit als solche kümmern, dann
haben sie erstens das Problem, und das ist zweitens durch seine
fortwährende sorgenvolle Begutachtung ganz gewiß nicht aus
der Welt zu schaffen. Die Alliierten haben angesichts ihrer
imperialistischen Erfolge und Niederlagen national zu rechnen
angefangen; und da ist es zwar konsequent, hilft aber nicht viel, wenn
sie einander vor dem "Rückfall" in nationale
Abrechnungen warnen.
Einstweilen lebt die NATO aber weiter. Und zwar keineswegs bloß
als traditionsreicher Formalismus und leere Hülle. Sie wahrt noch
den Charakter einer strategischen Allianz, in der nicht bloß
verschiedene autonome und im Grunde selbständig
handlungsfähige Militärmächte sich in einem bedingten
und begrenzten Interesse, Krieg betreffend, zusammenfinden –
Wörners "Allianzen, Gegenallianzen" –; vielmehr
machen die USA über die NATO ihre europäischen Partner zu
Teilhabern ihrer Weltmacht, und diese Partner – oder wenigstens
einige davon – definieren sich selbst militärisch als Teil
eines Ganzen. Offenbar gehen die imperialistischen Kalkulationen der
maßgeblichen Nationen doch noch am besten in der seltsamen
Konstruktion einer kollektiven Weltmacht auf.
Wer rechnet da wie?
II. Die deutsch-amerikanische "Achse": Komplementäre Berechnungen imperialistischer Konkurrenten
Die NATO hat 16 Mitglieder; aber diese korrekte Feststellung ist keine
Wahrheit über die Allianz. Sie besteht nämlich erstens aus
der amerikanischen Führungsmacht, die sich nach dem Weltkrieg in
Westeuropa ihre Partner für die Einschnürung und
Einschüchterung der sowjetischen Gegenmacht gesucht hat. Und
über eine schlichte Fortsetzung der Weltkriegsallianz ist das
US-Bündnis im wesentlichen dadurch hinausgewachsen, daß
Amerika sich zweitens in der BRD einen mächtigen, dabei
abhängigen, und zwar bewußt und aus freier nationaler
Berechnung abhängigen Erfüllungsgehilfen seiner
antisowjetischen Kriegsdispositionen in Europa herangezogen hat. Dieses
spezielle deutsch-amerikanische Ergänzungsverhältnis hat die
Grundlage dafür geschaffen, daß die NATO zum supranationalen
Pakt unter US-Regie geraten ist, der seinen europäischen
Mitgliedern ihre wesentlichen strategischen Grundentscheidungen
gewissermaßen unverfügbar vorgegeben hat.
An der BRD und Amerika und der Komplementarität ihrer
strategischen und sonstigen nationalen Kalkulationen hängt das,
was die NATO heute noch ist und will und vermag, einerseits nach wie
vor, andererseits in völlig neuer Weise, weil von den Rechnungen
der antisowjetischen Ära keine mehr so einfach stimmt. Die USA
haben ihre Gründe, ihre Weltmacht in Europa fest verankern zu
wollen; und Deutschland hat neue Gründe, den USA zum Rang des
fortwährend beschworenen "Stabilitätsankers für
Europa" zu verhelfen.
A. Das post-antisowjetische Bündnisinteresse der amerikanischen Weltmacht
1.
Bei seinem Berlin-Besuch Mitte Juli hat US-Präsident Clinton in
bewußter Anknüpfung an seines Vorgängers Kennedy
Durchhalteparole für Frontstadt und -staat die
unverbrüchliche deutsch-amerikanische Freundschaft beschworen: "Amerika steht an Ihrer Seite – jetzt und für
immer!" und: "Nichts wird uns aufhalten, alles ist
möglich. Berlin ist frei."
Dieses Zukunftspathos war – der Hinweis auf Berlins "Befreiung" zeigt es überdeutlich – vor allem
einmal eine rückwärtsgewandte Sentimentalität:
beschwörender Rückblick auf Jahrzehnte einer
Waffenbrüderschaft zwischen Besatzungsmacht und Vorposten, mit der
es – das Pathos kommt eben nicht von ungefähr – vorbei
ist: Die gemeinschaftliche Weltkriegsdrohung trifft auf keinen
kampfbereiten Gegner mehr. Ein auch nur annähernd gleichrangiges
Ziel transatlantischer Waffenbrüderschaft: ein Gegner, der mit den
überdimensionalen Waffen des Atomkriegs niederzuhalten, notfalls
niederzukämpfen wäre, ist nicht in Sicht; also auch kein
äquivalenter strategischer Bündnisgesichtspunkt "jetzt
und für immer". Der Weltkrieg als Bündnisgrund, die
Atomwaffen als Argument für Amerikas Führungsrolle sind
entwertet.
Deshalb hat der US-Präsident seinen gefühlvollen
Rückblick auf den "Freiheitskampf" um Berlin usw. mit
einem vorwärtsweisenden Angebot an den deutschen Partner
verbunden: Der soll "führen", Europa nämlich in
Richtung auf eine auch den ehemaligen Ostblock umfassende Integration
unter Einschluß amerikanischer Interessen, und überhaupt
soll er in der Weltpolitik, auch militärisch, den Ton angeben
helfen. Nun ist es ja weder so, daß die USA gewissermaßen
den Posten einer europäischen Hegemonialmacht zu vergeben
hätten; noch ist es so, daß die USA sich in ihrer
Weltpolitik fortan nach deutschen Vorgaben richten wollten. Die
US-Regierung rechnet aber offenkundig mit dem politischen Willen der
neuen Berliner Republik, die europäischen Verhältnisse ihren
Interessen gemäß zu gestalten und über den
europäischen Bereich hinaus auch militärisch so in
Erscheinung zu treten – "Macht zu projizieren", wie
das militärdiplomatisch heißt –, wie sie als
Finanzmacht längst präsent ist. Diesem Willen bietet der
Präsident mit seinem laut geäußerten Wunsch nach
deutscher Führerschaft amerikanische Rückendeckung. [22] Er
setzt also auf einen deutschen Hegemonialanspruch auf Europa von
solcher Reichweite und auf einen globalen Willen zu so weitgehender
Bevormundung anderer, daß diese Ambitionen ohne
Unterstützung der USA gar nicht zu realisieren sind. Die
Größe der Vorhaben, zu denen er Deutschland ermuntert, soll
für alle Zukunft die Unentbehrlichkeit Amerikas für die
deutsche Politik begründen. Dafür steht Clintons drohende
Verheißung unterm Brandenburger Tor: "Nichts wird uns
aufhalten, alles ist möglich" – eben wenn BRD und USA
bloß weiterhin so "immer und ewig" zusammenhalten wie
zu antisowjetischen Zeiten.
2.
Das Angebot der USA, mit dem schon Clintons unmittelbarer
Vorgänger die Deutschen beehrt hat, ist nicht selbstlos. Es ist
von einer Sorge diktiert, die amerikanische Politiker durchaus auch
direkt aussprechen: Sie fürchten bei ihren europäischen
Freunden einen Trend zu einem "geschlossenen Europa"
– was soviel heißt wie: die USA könnten im Zuge der
Formierung der Europäischen Union aus Europa herausgedrängt
werden. Diese Sorge bezieht sich auf unterster Stufe ganz materiell auf
Marktanteile. Daß der Kampf um Konkurrenzerfolge kapitalistischer
Unternehmen nirgends schlicht mit den "ehrlichen" Mitteln
der Ausbeutung ausgetragen, sondern von den beteiligten Staaten –
nun auch im Rahmen der EU – mit den Waffen des Protektionismus
und staatlichen Kredits unterstützt oder überhaupt betrieben
wird, das wissen US-Politiker so gut wie ihre europäischen
Kollegen, denn sie führen ihn ja so. Deswegen ist ihre Sorge auch
gleich grundsätzlicher: Die Amerikaner wollen von der politischen
Willensbildung ihrer Verbündeten, von deren wirtschafts-, handels-
und überhaupt europapolitischen Entscheidungsprozessen nicht als
außenstehender Dritter bloß betroffen sein, sondern darin
bestimmenden Einfluß haben. Alles andere ruiniert nach
amerikanischem Urteil die politökonomische Ordnung, nach der sie
bislang mit den europäischen Wirtschaftsmächten in
gedeihlicher Symbiose gelebt haben, verletzt also das internationale
System, für das sie und ihre NATO-Partner doch immer eingestanden
sind. Von den außenwirtschaftlichen Besorgnissen der USA ist es
daher nur ein Schritt zu der fundamentalen Befürchtung, mit der
konkurrenzmäßigen Abschließung der Europäer,
nämlich einer Definition innereuropäischer Angelegenheiten
ohne gleichberechtigte amerikanische Beteiligung, wäre über
kurz oder lang unweigerlich der Verlust des "Brückenkopfes" verbunden, den die USA in ihren
Verbündeten haben. Ohne den wiederum wäre ihre Weltmacht nur
noch die Hälfte, als Macht zur Beherrschung des Globus also gar
nichts mehr wert. Denn auf der zuverlässigen Abstützung auf
den wichtigsten "Gegenküsten" beruht ihre
Fähigkeit, Ordnungsansprüche – und darüber auch
materielle nationale Interessen – weltweit geltend zu machen.
Umgekehrt würde mit einem "geschlossenen Europa" nicht
bloß ein für ihre Weltmacht unerläßlicher Helfer
entfallen; Amerika hätte darin einen unbeherrschbaren Konkurrenten
vor sich; und das nicht bloß, wie heute schon, auf wichtigen
Märkten, sondern in Fragen der Weltordnung überhaupt. Das
wiederum wäre ungefähr dasselbe wie ein strategischer Gegner.
Um nicht dermaßen in die Defensive zu geraten, fordern die USA
ein "offenes Europa". Darunter verstehen sie nichts
geringeres, als daß ihnen von ihren NATO-Alliierten der Status
einer europäischen Macht zugebilligt wird. Das schließt
außenwirtschaftspolitische Forderungen ein, die auf freien
Marktzugang lauten und amerikanische Markterfolge meinen. Doch jenseits
des Kleinkriegs, der da zu führen ist, hat der Anspruch der USA
grundsätzlichen Charakter. Politisch, also was die staatliche
Ordnung des alten Kontinents betrifft, und strategisch, beim
kontrollierenden Zugriff auf die Militärpotentiale der
europäischen Staaten, wollen sie so intensiv und dauerhaft
eingemischt sein, als wären sie allen europäischen Nationen
der nächste und wichtigste Nachbar. Und gerade in strategischer
Hinsicht können sie diesen Anspruch auch ganz gut begründen:
Militärisch sind sie eine Euro-Macht. Mit ihren 100.000 Mann samt
festen Einrichtungen, Gerät und Flotten "vor Ort" sind
sie in Europa stärker präsent als fast alle dort beheimateten
Souveräne; und weil sie so präsent sind, sind sie nicht
bloß mit diesen Truppen, sondern als transatlantische Supermacht
direkt in Europa anwesend, also praktisch Euro-Macht. Umgekehrt wird
ihre Macht nur darüber, daß sie in Europa verankert ist, so
global und so intensiv wirksam, wie die Amerikaner das für
unabdingbar halten.
Dieses "Argument" der militärischen Präsenz tut
seine Wirkung allerdings nur, wenn die Macht, die die USA nach Europa "projizieren", dort nicht bloß verloren herumsteht,
sondern von den Europäern als politische Anwesenheit Amerikas in
Europa anerkannt, den USA also der Status einer Euro-Macht auch
wirklich zugebilligt wird. Dafür baut der amerikanische
Präsident auf Deutschland. Er zählt auf die BRD – nicht
mehr als bedingungslosen Frontstaat, sondern einerseits als die
stärkste und entscheidende politische Macht Europas, auf die es
für Amerikas Verankerung in Europa also auf alle Fälle
maßgeblich ankommt, andererseits als diejenige Nation, für
deren eigene eurostrategische Vorhaben Amerika am meisten und
Entscheidendes zu bieten hat. Nämlich eben "Partnerschaft
beim Führen": eine konkurrenzlose deutsch-amerikanische
Doppel-Hegemonie über Europa.
3.
Den übergreifenden und insoweit unverfänglichen Bezugsrahmen
für so eine einzigartige imperialistische Symbiose braucht man
nach amerikanischer Auffassung nicht erst zu schaffen: In der NATO ist
die gewünschte Verschränkung deutscher und amerikanischer
Gewaltmittel und Ordnungsinteressen und ihre durch Mittun beglaubigte
Anerkennung durch die anderen Europäer bereits realisiert. Die
traditionsreiche "Arbeitsteilung" innerhalb der Allianz,
die immer für die USA die Rolle der strategischen
Führungsmacht vorsah und fürs demokratische Deutschland
diejenige des integrierten Teils und militärisch halb-autonomen
Teilhabers, soll auch in Zukunft die doppelte Gewähr bieten:
einerseits, daß die BRD auf Amerikas strategische
Rückendeckung angewiesen bleibt; andererseits soll sie daraus
soviel nationalen Nutzen ziehen, daß sie darauf verzichtet, diese
Abhängigkeit zu kündigen und nicht bloß
ökonomisch, sondern auch als Militärmacht zu den USA in
Konkurrenz zu treten. Im Atomwaffenverzicht der Deutschen und ihrer
abhängigen Beteiligung an Teilen seines Arsenals verfügt
Amerika überdies nach eigener Auffassung über eine Art Pfand
fürs deutsche Bündnisinteresse. [23]
So wird die NATO in neuer Weise interessant für deren
Führungsmacht: als Versicherung gegen strategischen Macht- und
Bedeutungsverlust. Ob die USA auf diese Weise abwenden, was sie von
einem "geschlossenen Europa" befürchten, und ob durch
Deutschlands Anerkennung die Weltordnung für sie wieder in Ordnung
kommt, nachdem sie nach amerikanischen Begriffen ökonomisch
längst gegen sie läuft und auch strategisch aus dem Ruder zu
laufen droht, ist eine andere Frage. Die wird in Washington einstweilen
offenbar so beantwortet, daß, wenn Amerikas Führungsmacht
schon sonst überall in der Krise ist, wenigstens die über die
NATO erhalten bleiben muß.
Auf so interessanten Abwägungen basiert heute der Kriegspakt der
Imperialisten. Und auch das nur, weil die Deutschen ihre
komplementären Berechnungen haben.
B. Der Sonderweg des deutschen Militarismus: Teilhabe an einer kollektiven Weltmacht als Mittel zu ihrer Instrumentalisierung
1.
Die deutsche Regierung ist nicht mit gleichem Pathos auf Clintons
Aufforderung eingestiegen, gemeinsam "leadership" zu
üben. Sie hütet sich vor der offenen und offensiven
Inanspruchnahme einer europapolitischen Rolle, die sich jeder Kenner
griechischer Fremdworte als "Hegemonie" erklären kann.
Pathetische Bekenntnisse legen deutsche Machthaber derzeit noch immer
am liebsten zur "gewachsenen Verantwortung" ihrer Nation
und zu den "Pflichten" und "Lasten" ab, die mit
den Rechten einer "normalen" Nation unabweisbar verbunden
seien.
Das ist nun freilich eine besonders verlogene Art, neue deutsche
Ansprüche anzumelden; Ansprüche, die durchaus nichts mit dem
weit überwiegenden "Normalfall" einer modernen
Souveränität zu tun haben. Seine Kriterien für die "Normalität", die ihm noch fehlt, entnimmt das
Deutschland der 90er Jahre nicht etwa den Maßstäben, die es
selbst beispielsweise für Rußland oder Nordkorea für
angebracht hält, sondern dem Vorbild der Amerikaner und insofern
auch dem der britischen und französischen Bundesgenossen, als die
es für sich völlig normal finden, die restliche Staatenwelt
als Objekt ihrer ordnenden Aufsicht und militärischen Kontrolle zu
behandeln und – mit argwöhnischem Blick aufeinander und auf
mögliche Dritte – frei zu entscheiden, welche "Fälle" sie als unabwendbare Eingriffstatbestände
definieren und mit Interventionen beglücken. Mit ihrem Bekenntnis
zu internationalistischer Pflicht und Verantwortung reklamiert die BRD
für sich einen Platz in dem elitären Zirkel imperialistischer
Mächte, die über Recht und Unrecht auswärtiger
Kampfeinsätze befinden, sich gewaltsames Einschreiten vorbehalten
und dabei ihrem nationalen Interesse alle nötigen
Völkerrechtstitel zu verschaffen wissen.
Die heuchlerische Selbstkritik des NATO-Frontstaats, bislang zu bequem
gewesen und geblieben zu sein; die absurde Selbstbezichtigung des
christlichen "Nachrüstungs"-Kanzlers, "beiseite
gestanden" zu sein, wenn es international um Mord und Totschlag
ging; solche Töne zeugen darüberhinaus von einer tiefen
nationalen Unzufriedenheit mit den militärpolitischen
Verhältnissen, in denen die BRD sich heute vorfindet, bloß
weil sie in 40 Jahren antisowjetischer Bündnispartnerschaft so
entstanden sind. Was in Wirklichkeit ein kostspieliger und
risikobereiter Einsatz der Nation war, nämlich die ins
Bündnis eingepaßte "Vaterlandsverteidigung" im
Rahmen der NATO-"Triade", das erscheint deutschen
Politikern heute als Flucht vor handfester Einmischung in die "Unwetter
der Geschichte"; und so etwas halten sie für "nicht akzeptabel mit
der Würde unseres Landes"
(Original Kohl vom Brandenburger Tor, Juli 94). Das ist schon beinahe
im Klartext die Absage an den überkommenen Bündnisstatus,
nämlich immerhin die Klarstellung, daß Deutschland sich zu
würdevoll vorkommt, um in irgendeiner Hinsicht militärisch
eine geringere Rolle zu spielen als seine größten
Verbündeten.
Dieser Standpunkt wird noch unterstrichen, wenn der Kanzler sich im
gleichen Atemzug umgekehrt dagegen verwahrt, nun marschierten die
Deutschen überallhin. Damit will er nämlich weniger einen
feindseligen Verdacht als eine freundschaftliche Zumutung
zurückgewiesen haben. Gegen die durch die regierungsamtliche
Rhetorik womöglich erzeugte Hoffnung, die Deutschen stünden
ab sofort für kriegerische Auftragsarbeiten im Dienste der
Völkerfamilie bereit, verweist er aufs nationale Interesse, das
noch allemal für oder gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr
den Ausschlag geben wird: "Wann und wo Deutschland sich
engagiert, wird in Deutschland entschieden" (gleicher Ort und
Zeitpunkt). [24] Das hört sich so an und soll auch so wirken, als
wären ausgerechnet im Falle Deutschlands die nationalen Interessen
nicht Grund, sondern Bremse für kriegerisches Eingreifen. Und das
ausgerechnet da, wo jedem unfreiwilligen Gewaltverzicht eine
entschiedene Absage erteilt und zugleich die bislang akzeptierte
Bündnisdisziplin gekündigt wird: die Funktionalisierung
für einen supranationalen Gesamtauftrag, die, bestünde sie
fort, für die neue BRD einen Mangel an strategischer
Selbständigkeit, militärpolitischer Autonomie und
weltpolitischer Souveränität bedeuten würde, wie ihn die
alte BRD nie verspürt hat.
2.
Um so bemerkenswerter nimmt sich die Politik aus, mit der die deutschen
Machthaber ihren Entschluß zu mehr bewaffneter Weltpolitik aus
entschiedenerem nationalem Interesse in die Tat umsetzen. Sie tun
nämlich alles, um mit dem alten überkommenen Bündnis
nicht zu brechen, vielmehr die deutsch-amerikanische "Achse" zu pflegen und die darum herum gebaute
transatlantische Allianz mit ihren Einrichtungen und Gepflogenheiten
der militärischen "Arbeitsteilung" zu erhalten und zu
erneuern. So definiert sich die deutsche Republik strategisch und
betätigt sich militärpolitisch in Anknüpfung an ihre
herkömmliche Rolle als integraler Bestandteil und
unselbständiger Teilhaber einer supranationalen Weltmacht, zu der
die USA den wichtigsten Anteil beisteuern. Nicht zuletzt mit ihren
Atomwaffen, für deren Einsatz das demokratische Deutschland nach
wie vor eigene Flugzeuge bereitstellt, um "nukleare
Teilhabe" zu verwirklichen – es ist also durchaus nicht so,
daß man in Bonn/Berlin atomare Kriegsmittel für
überflüssig hielte; man kennt im Gegenteil, bei aller
Fragwürdigkeit ihres operativen Nutzens, ihre überragende
Bedeutung für das strategische Gewicht einer Militärmacht.
[25] Doch ist das für Deutschland – einstweilen – kein
Beweggrund, auf kürzestem Weg die schwarz-rot-goldene Atombombe
anzustreben; die nicht-autonome Teilhabe am US-Arsenal scheint die bis
auf weiteres interessantere Option zu sein. Ebensowenig meldet sich das
vergrößerte Deutschland gleich mit dem Ehrgeiz in den Club
der eigenständigen militärischen Großmächte
zurück, auf eigene Faust und dementsprechend mit eigenen Mitteln
in dem Umkreis, den es doch als seine engere Interessen- und
Zuständigkeitssphäre ansieht, einen ungenehmigten Krieg
niederzuschlagen: Zwar mischt es sich in die Liquidierung des
ehemaligen Jugoslawien und in die gewalttätige Gründung von
Nachfolgestaaten von Beginn an ein; mit Ansprüchen auf eine
Schiedsrichterrolle, die ohne massiven Kriegseinsatz gar nicht
durchzusetzen sind; den nimmt es aber gar nicht in Angriff,
überläßt die Entsendung von Truppen unterm UNO-Blauhelm
völlig den großen EU-Partnern; freilich ohne sich nun auch
politisch zurückzuhalten. Bei ihren vorbereitenden
Weichenstellungen für die Kontrolle Osteuropas sowie für die
gewaltsame Aufmischung entfernterer Krisenherde verfolgt die deutsche
Militärpolitik eine ähnliche Linie: Sie untermauert die
Regelungskompetenz, die sie beansprucht, mit strategischen Arrangements
und rüstungstechnischen Initiativen, die deutlich machen,
daß für Deutschland nicht bloß viel zu tun bleibt, um
autonom handlungsfähig zu werden, sondern daß es auch gar
nicht – jedenfalls nicht gleich und auch nicht gleich morgen
– militärisch alles können will. Natürlich baut
man die eigenen Fähigkeiten aus; man setzt dabei aber auf "Arbeitsteilung" und macht sich nichts weiter aus
bewußt eingegangener Unselbständigkeit, wenn die fehlenden
Mittel durch die Verbündeten bereitgestellt werden. [26]
Verglichen mit dem Bemühen Frankreichs um eine autonome
strategische Rüstung und mit seiner quasi-kolonialen
Interventionspolitik, oder mit Großbritanniens Seemacht und einer
Unternehmung wie dem Falkland-Krieg, oder erst recht mit der
universalen Militärpräsenz der USA, an denen Deutschland doch
Maß nimmt, verglichen auch mit dem erklärten Willen der
Bundesregierung, aus dem Zustand der angeblichen selbstverschuldeten
militärischen Unmündigkeit herauszukommen, mag man diese
Militärpolitik als – begrüßenswerte oder
unglaubwürdige oder rätselhafte – Zurückhaltung
ansehen und hätte sie damit gründlich mißverstanden.
Sie ist nämlich unerläßlicher Bestandteil des
überhaupt nicht zurückhaltenden Bemühens der Deutschen,
die Militärmacht ihrer Partner für den eigenen nationalen
Nutzen zu instrumentalisieren. Wenn sie sich so diszipliniert und
"bescheiden" in die militärische "Arbeitsteilung" der Allianz
einfügt – durch die
sie gleichzeitig doch nicht mehr entselbständigt sein will
–, dann geht die BRD davon aus, daß ihre nationalen
Interessen und die supranationalen sicherheitspolitischen Anliegen der
Allianz allemal ineins gehen; daß ihr spezieller Bedarf an
militärisch herzustellender Sicherheit per se ein allgemeines
Bedürfnis aller verbündeten Nationen ist oder, dasselbe
umgekehrt, daß ihre Interessen in jedem Fall gewahrt sind, wenn
das Bündnis sicherheitspolitisch weiterfunktioniert und
ordentliche Verhältnisse garantiert. Wenn die BRD sich den
Widerspruch leistet, ihre überkommene
Bündnisabhängigkeit verlogen selbstkritisch zu kündigen
und gleichzeitig eine Militärpolitik der "wechselseitigen
Abhängigkeit" "schon in Friedenszeiten" weiter
zu betreiben, dann will sie und drängt darauf, daß eben
diese Gleichungen, von denen sie ausgeht, auch in Kraft bleiben. Und
wenn Deutschlands Chefpolitiker soviel Wert auf ihre guten Beziehungen
zu Amerika legen, dann wissen sie jedenfalls das Eine: was sie für
den Erfolg dieser Bündnispolitik an den USA und deren
Europa-bezogenen Weltmachtinteressen haben.
3.
Tatsächlich ist die widersprüchliche Bündniskalkulation,
durch Souveränitätsverzicht Souveränität zu
gewinnen, für keinen NATO-Staat so perfekt aufgegangen, und
für kein Mitglied hat sich die "den Westen"
kennzeichnende Kombination von Bündnisdisziplin und
Konkurrenzfreiheit dermaßen ausgezahlt, wie für die BRD. Der
selbsternannte und anerkannte Rechtsnachfolger des zerstörten und
demilitarisierten deutschen Reiches hat als militärisch
unselbständige Teilmacht der Allianz seine Remilitarisierung
geschafft, seine Rückkehr in den kleinen Kreis der
maßgeblichen Weltordner, effektivsten Waffenproduzenten,
gefragtesten weltpolitischen Adressen. Wie kein anderer Staat hat die
DM-Nation die gesicherten Konkurrenzbedingungen auszunutzen vermocht,
die sich unter dem Regime der NATO-"Abschreckung"
entwickelt haben. Unter dem Diktat einer Strategie, die
größere politische Feindseligkeiten zwischen den
kapitalistischen Nationen unterbunden und deren militärische
Kräfte für die gemeinsame Sache gegen den Osten reserviert
hat, haben die Deutschen Erfolge in der zivilen Konkurrenz der Nationen
um Weltmarktanteile und Währungsqualität akkumuliert, wie sie
ohne verpflichtenden Supranationalismus von den Unterlegenen kaum so
friedfertig hingenommen worden wären. Am Ende ist sogar die
Europas Kräfteverhältnisse umstürzende
Vergrößerung der BRD um die DDR von den betroffenen Nachbarn
akzeptiert worden. Die Deutschen selbst hätten es nie geglaubt,
aber sie haben der Welt praktisch vorgeführt, wieviel zivilen
Imperialismus ein funktionierendes Abschreckungsregime über die
Welt freisetzen kann. Die abhängige Teilhabe an der
bündnismäßig organisierten Weltmacht der USA ist
darüber zur weltpolitischen Staatsräson der BRD geworden.
Diesen Nutzen der "alten Weltordnung" will das neue
Deutschland sich unbedingt erhalten. Allerdings von dem etwas
geänderten Standpunkt aus, daß die alte Abhängigkeit
nicht länger "akzeptabel ist mit der Würde der
deutschen Nation". Daß der NATO ihr selbstgewählter
Feind im Osten abhanden gekommen ist, wird als Chance zur Befreiung von
alten Zwängen der Bündnisräson genommen; und mit der "Wiedervereinigung" und der formellen Beendigung letzter
Souveränitätsvorbehalte sieht die deutsche Politik sich
berechtigt und verpflichtet, die eigene Nation als autonomen Mittel-
und Ausgangspunkt einer neuen Strategie für Europa ins Spiel zu
bringen.
Mit diesem Anspruch will die BRD mit ihren gewohnten Partnern
bündnispolitisch neu ins Geschäft kommen – mit
Partnern, die ihrerseits auch nicht mehr zufrieden sind mit dem
Bündnis, allerdings aus entgegengesetzten Gründen und in ganz
anderer Hinsicht. Gerade die wichtigsten Alliierten sehen nämlich
die Trennung zwischen einer zivilen Konkurrenz, in der sie unter
Deutschland leiden, und einer militärischen Kooperation, mit der
sie deutsche Erfolgsbedingungen anerkennen und schützen, nicht
mehr ein. Nicht als ob sie gewaltsam gegen deutsche Erfolge an den
Export- und Finanzmärkten der Welt einschreiten wollten –
obwohl in den Grenzfragen des blühenden deutschen Waffen- und
Waffenproduktionsmittelhandels seit dem Golfkrieg auch so etwas nicht
mehr völlig undenkbar erscheint. Im Rahmen des Nordatlantischen
Paktes beschweren sich die Partner nicht über Deutschlands zivile
Erfolge, sondern über die andere Seite der von ihnen gesehenen
Ungleichung: seinen zu geringen militärischen Aufwand – mit
der Frage: zu gering wofür? wäre man natürlich gleich
bei der anderen Seite; aber so wird in einem Kriegspakt eben nicht
gefragt. Deswegen können die bundesdeutschen Militärpolitiker
auch ebenso elegant wie perfide die Unzufriedenheit ihrer Partner mit
ihrem eigenen Leiden an fehlender strategischer Autonomie ineins setzen
und so tun, als würden sie von allen Seiten zu mehr
Machtentfaltung ermuntert – wo sie in Wahrheit mit dem wenig
schlagkräftigen Versuch ihrer Kollegen konfrontiert sind,
Deutschland eine Rechnung für seinen aus der NATO-Weltordnung
herausgezogenen Welterfolg zu präsentieren, seit nicht mehr der
Druck der gemeinsamen antisowjetischen Sache solche Abrechnungsgedanken
unterdrückt oder auf das NATO-übliche Feilschen um
Stationierungskosten und Kompensationsgeschäfte beim Rüsten
beschränkt. Die Wahrheit ist nämlich, daß Deutschland
als zunehmend harter imperialistischer Konkurrent genau den Konsens
untergräbt, dem es nicht nur seine bisherige Erfolgsgeschichte
verdankt, sondern auf den es auch in Zukunft seinen Imperialismus bauen
will. Einen Imperialismus, der die Ungleichung zwischen ziviler und
militärischer Macht im entgegengesetzten Sinn wie die alliierten
Kompagnons korrigieren will, seine Erfolgsbedingung also nicht mehr "bloß" politökonomisch in Frage stellt, sondern
auch auf der Ebene militärpolitischer und strategischer
Entscheidungen angreift.
Die NATO-Politik Deutschlands ist der Versuch, die schon eingetretenen
und die absehbaren negativen Wirkungen seines eigenen erfolgreichen
Konkurrenzgebarens auf die ausgenutzten Konkurrenzbedingungen
aufzufangen und die Leistungen des Bündnisses nicht bloß zu
wahren, sondern im Sinne seiner neuen Freiheiten zu erweitern, die
Allianz zum Mittel einer ganz national kalkulierten Gleichung zwischen
zivilen Erfolgen und militärisch untermauerten
weltordnungspolitischen Rechten zurechtzumachen. Dafür setzt
dieser Staat erstens voll auf die USA – und zweitens auf die
Karte des europäischen Anti-Amerikanismus; einstweilen in dieser
Reihenfolge.
4.
Deutschland braucht und benutzt die USA vor allem, um jenes
militärische Gesamtsystem für Europa auf den Weg zu bringen,
das mit der Fortführung der NATO-Integration in Westeuropa und
nach Osten hin mit dem Kooperationsrat und der "Partnerschaft
für den Frieden" Gestalt annimmt. Der Nutzen dieses Systems
für die BRD liegt auf der Hand: Es stiftet den zuverlässigen
gewaltmäßigen Rückhalt für die den gesamten
Kontinent ergreifende politische Ökonomie des DM-Kapitalismus. Es
stiftet ihn außerdem so, daß Deutschland als
Militärmacht dabei hinter der Allianz zurücktreten und sich
sogar als "Hegemonialmacht" in dem milden Sinn anbieten
kann, daß es seine östlichen Nachbarn ans Bündnis "heranführt". So gewinnt die BRD neben dem
allgemeinen, bündnismäßigen, auch noch einen ganz
besonderen nationalen Einfluß auf die nach Westen strebenden "PfP"-Kandidaten und macht sich dabei noch nicht einmal
dessen verdächtig, was sie betreibt, nämlich des "machtpolitischen" Hegemoniestrebens. Was Deutschland
dafür leisten muß, ist nichts anderes, als seine Bundeswehr
in erneuerte "integrative Strukturen" einzubauen –
was praktisch so läuft, daß es von der eigenen Truppe her
die Vereinnahmung "befreundeter" Armeen durchorganisiert.
[27]
Die Teilnahme der USA an diesen "integrativen Strukturen"
ist erstens um der Stärke des Systems willen und im Interesse
seiner daraus resultierenden inneren Festigkeit vonnöten. Sie ist
zweitens unerläßlich, um jede Alternative
auszuschließen; sei es ein alternatives Bedürfnis auf Seiten
der Partner, etwa nach strategischen Beziehungen ohne Abhängigkeit
von der BRD, sei es ein konkurrierendes amerikanisches
Bündnisangebot, sei es der Aufbau konkurrierender Ententen und
Waffenbrüderschaften durch irgendwelche Dritte. Amerika schafft
drittens die nötige Sicherheit gegen Rußland, drängt
diese mit deutsch-europäischen Mitteln allein nicht sicher
beherrschbare Nation nämlich in den Status eines neutralisierbaren
Randstaats; daß die transatlantische "Supermacht" mit
besonderer Härte auf rigoroser Beschränkung der russischen
Handlungsfreiheit nach außen, auf "Wohlverhalten" und
Unterordnung besteht, ist für die deutsche Politik extra
günstig, weil ihr das eine Diplomatie des vereinnahmenden
Entgegenkommens gestattet [28] – im Dienst einer Politik der
versuchten Erpressungen in ökonomischen und
militärpolitischen Fragen. [29]
Viertens schließlich benutzen die Deutschen Amerikas Präsenz
und Status als militärische Euro-Macht, um ganz andere
Kräfte-Mißverhältnisse auszugleichen als das der
vereinigten West- und Ost-Mitteleuropäer gegenüber
Rußland; nämlich ihre militärischen Defizite
gegenüber den Intimpartnern Frankreich und Großbritannien.
Daß diese beiden Mächte in der Sphäre kriegerischer
Gewaltanwendung mehr vermögen oder jedenfalls – bislang!
– mehr unternehmen als die Bundeswehr, spielt in der Konkurrenz
um bestimmenden Einfluß auf die Definition gemeinsamer
strategischer Vorhaben schon gar keine so entscheidende Rolle mehr,
wenn die USA mit dem Gewicht ihrer Weltmacht mitentscheiden. In der
Konkurrenz, in der sie ihren europäischen Unions-Partnern
gegenüber auf die eigenen nationalen Mittel bauen, nämlich in
der um Kredit und kapitalistische Standortvorteile, sind die Deutschen
die Stärksten; wo sie nicht die Stärkeren sind, nämlich
in der Konkurrenz um strategische Führungskompetenz, bauen sie auf
die USA: Das ist die Logik der deutschen Amerika-Freundschaft.
Den berechnenden Rückgriff auf die europäischen Interessen
der Amerikaner haben die Bonner Politiker am Jugoslawien-Konflikt
erprobt – neben einer gegenläufigen Testreihe übrigens,
wie sich das Übergewicht der USA durch europäische
Solidarität relativieren läßt. [30] Angesichts
britischen und französischen Widerstrebens gegen deutsche
Kompetenzanmaßung bei der Zerlegung der jugoslawischen
Bundesrepublik haben sie die USA – die auch nicht
übermäßig gedrängt werden mußten – als
Interventionsmacht hereingezogen; geradezu triumphierend blickt der
deutsche Außenminister auf diese Leistung zurück:
"Auch bei diesem Konflikt hat sich wieder gezeigt: Ohne die USA
geht es nicht. Deshalb haben wir Amerika von Beginn an zu einem
stärkeren Engagement gedrängt." [31] (Kinkel im
Frühjahr 94 vor US-Außenpolitikern, Bulletin Nr. 36/94,
S.324)
Der militärische Beitrag, den die Deutschen dann im Gefolge der
Einmischung von USA und NATO über das große Bündnis bei
der Luftüberwachung Bosniens, daneben als WEU-Mitglied zur
Seeüberwachung der Adria geleistet haben, ist zwar immer noch
vergleichsweise geringfügig ausgefallen. Schon der hat aber
gelangt, um ihnen ihren gleichberechtigten und gewichtigen Platz in der "Kontaktgruppe" – dem Fünfer-Gremium der vier
Westmächte sowie Rußlands, das die Entscheidung über
Fort- und Ausgang des Bosnienkriegs mittlerweile an sich gezogen hat
– zu sichern.
Außer für seine europapolitischen Interessen braucht
Deutschland die USA ganz genauso für all die Initiativen, die in
der bundesdeutschen Diskussion unter dem Stichwort "out of
area" verhandelt werden. Worum es da geht, das bleibt hinter der
allseitigen Pflege des Scheins, deutsche Militäraktionen
könnten nie anderer als humanitärer Natur sein, ein wenig
verborgen. Es gilt einfach als feststehender Sachzwang der nationalen
Würde, daß eine Wirtschaftsmacht von der Reichweite der
deutschen auch entsprechend weitreichend mit Gewalt für brauchbare
Verhältnisse zu sorgen hat. Das kommt schon nahe an das
Eingeständnis heran, daß zwischen souveränen Staaten
noch der friedlichste Verkehr ein Gewaltverhältnis ist und
daß sich ein Staat, der das Geschäftsleben und die
Zahlungsfähigkeit anderer Nationen von seinem Kreditgeld
abhängig macht und für dessen Welterfolg in Dienst nimmt, auf
seine ökonomische Macht letztlich doch nur verlassen kann, wenn er
mit außerökonomischen Mitteln Respekt zu erzwingen vermag.
So will natürlich kein deutscher Weltpolitiker den dauernd
beschworenen inneren Begründungszusammenhang zwischen deutschem
Kapitalerfolg in aller Welt und deutschem Militarismus verstanden
wissen; kaum daß der oberste Soldat der Republik sich und seinen
Befehlsempfängern den neuen Auftrag der Bundeswehr mit dem Verweis
auf lebenswichtige Wirtschaftsinteressen, Rohstoffzufuhr z.B.,
plausibel zu machen versucht.
Die Notwendigkeit, allzeit für Auslandseinsätze bereit zu
sein, ergibt sich für die deutsche Politik freilich in der Tat
nicht so sehr aus allenthalben drohender staatlicher Piraterie gegen
Tanker nach Hamburg; und die stereotype Versicherung, man werde die
fälligen Auswärtsspiele nur im Bündnis abwickeln, ist
mehr als die vorsorgliche Verwahrung gegen den ohnehin albernen
Verdacht, die Bundeswehr plante in alle Himmelsrichtungen "Alleingänge". Es geht den Deutschen primär ums
Grundsätzliche: um eine Bündniskonstruktion, die die
Sicherung geordneter internationaler Geschäftsverhältnisse
auf dem Globus nicht bloß deklaratorisch, sondern am besten
sachzwangmäßig zum Gegenstand gemeinsamer Sorge der
kapitalistischen Nationen macht. [32] Mit solchen supranationalen
Militärstrukturen will die BRD sicherstellen, daß trotz
allem Widerstreben der Partner die gewaltsame Sicherung der Bedingungen
und Regeln zwischenstaatlicher Konkurrenz nach wie vor ein der
Konkurrenz enthobenes Werk aller maßgeblichen Staaten bleibt. Um
den Vorteil, daß die Wahrung deutscher Interessen nicht allein
auf deutsche, sondern auf gemeinschaftliche Rechnung geht, ist es ihr
dabei ebenso zu tun wie um die konkurrenzlose Überlegenheit der
notfalls einzusetzenden Militärmacht. Mindestens ebensosehr geht
es ihr aber um den Effekt nach innen, daß keiner der Beteiligten
die Kündigung dieser gemeinsam umsorgten Konkurrenzprinzipien je
für eine vollziehbare Option hält und als Alternative zur
Hinnahme nationaler Verluste ins Auge faßt. Was seinem Inhalt
nach der politökonomische Kampf der Nationen um die möglichst
einseitige Schädigung der je anderen ist, das soll nach deutschem
Willen als internationale Rechtsordnung Gemeinschaftswerk der
Kontrahenten sein.
Nun ergibt sich diese für Deutschland so nutzbringende
Konstruktion nicht mehr quasi automatisch aus der
Zwangssolidarität der Imperialisten unter dem selbstauferlegten
Druck ihrer antisowjetischen Weltkriegsstrategie. Die Bonner Politik
muß damit rechnen, daß ihre Partner den deutschen Bedarf an
militärischer Machtentfaltung nicht automatisch an gleicher Stelle
und im gleichen Sinn verspüren; umgekehrt umgekehrt; und daß
solche Diskrepanzen der Natur der Sache nach eher die Regel als die
Ausnahme sind, das bezeugt Kohl selbst mit seinem "Ja –
aber" zu weltweiten Bundeswehreinsätzen. Um dennoch einen
verläßlichen Supranationalismus der andern herzukriegen,
gibt die BRD mit ihrer Bundeswehr ein Beispiel für Kollektivismus
in der Weltsicherheitspolitik und macht damit eben vor allem den USA
ein Angebot, das diese aus Bonner Sicht kaum ausschlagen können:
Sie erkennt Amerika den Rang der Führungsmacht, auch für die
europäischen Staaten in deren weltweiten Ordnungsinteressen,
freiwillig zu und erklärt sich zum Mittun bereit. So sollen die
US-Politiker es jedenfalls begreifen, wenn ihre Bonner Kollegen sie in
alle europäischen Affären hereinziehen. Dafür, daß
sie es ernst meinen, haben die Deutschen, jedenfalls nach ihrer eigenen
Meinung, nicht zuletzt mit dem – einstweilen –
fortgesetzten Verzicht auf eigene Atomwaffen gewissermaßen ein
materielles Pfand hinterlegt – um dessen wirklichen politischen
Wert man zwar streiten kann; aber in der Welt der Waffen und Strategien
ist es allemal so, daß die freie Verfügung über die "absolute" Vernichtungswaffe einen Staat respektabel, weil
im Ernstfall unbeherrschbar macht.
5.
Damit ist der Widerspruch zu Deutschlands Politik der nationalen
Emanzipation aus überkommener Unterordnung perfekt; und weil diese
Politik für die BRD genauso essentiell ist wie die Strategie der
deutsch-amerikanischen Bündnis-"Achse", ist der
Widerspruch auch nicht aufzulösen.
Um ihn gleichwohl zu bewältigen, ist die deutsche Politik darauf
verfallen, ihr Bündniswesen zu reformieren und zu
vervielfältigen. Die BRD meldet an der NATO ein Bedürfnis
nach "Europäisierung" an, den Anspruch nämlich
auf – allmähliche – Gleichberechtigung der
europäischen mit der amerikanischen Seite. Und sie organisiert und
bedient neben der NATO einen weiteren, konkurrierenden
militärischen Zusammenschluß, arbeitet nämlich mit
Frankreich zusammen an der Wiederbelebung der WEU und will daraus,
jedenfalls nach Maßgabe des Maastricht-Vertrags, die
militärische Komponente der EU machen. So wird Deutschland als
EU-Führungsmacht militärisch mehr als bloß das deutsche
Ende der transatlantischen Beziehung und schafft sich auf diese Weise
– zumindest ist das die Absicht – eine europäische
Garantie gegen das Moment der Unterordnung, das es um der
Aufrechterhaltung des eigentlichen Weltmacht-Bündnisses, der NATO,
willen am Ende doch den Amerikanern zugestehen muß.
Die Inhalte dieser "europäischen
Sicherheitsidentität" sind exakt dieselben wie die neuen
Aufgaben der NATO: militärische Integration im Westen Europas,
zunehmende organisatorische Anbindung der Armeen des europäischen
Ostens, "Heranführung" der nicht mehr sozialistischen
Staaten an die EU, Neutralisierung Rußlands, Überwachung der
Kriegsfortschritte auf dem Balkan, Einsatzfähigkeit für
nötige "Krisenreaktionen" weltweit... Die deutsche
Seite erkennt deswegen auch keinerlei Gegensatz oder Widerspruch
zwischen dem Zusammenschluß der Europäer mit und dem ohne
Amerika an und hat ihre harmonisierende Sicht sowohl in der WEU als
auch in der NATO durchgesetzt. Dabei liegt der Widerspruch in der
Verdoppelung selbst: im Gegensatz zu den USA, der eben damit
konstituiert ist, daß man die transatlantisch gemeinsame Sache
noch einmal eigens europäisch aufzieht. Denn damit wird immerhin
der Standpunkt eingenommen, daß man eben diese Sache im
transatlantischen Arrangement für nicht hinreichend aufgehoben
hält. Und dieser Standpunkt wird auch durchaus explizit gemacht:
Mit der WEU wollen die Europäer auch dann "militärisch
handlungsfähig" sein, wenn die USA an Kriegsaktionen nicht
interessiert sind – also in Konkurrenz gegen deren
Lagebeurteilung.
Den Ministern, die sich selbst in WEU-Politiker und NATO-Ratsmitglieder
verdoppeln, bleibt dieser Widerspruch genausowenig verborgen wie den
Amerikanern, die bei der Beschlußfassung über dieselben
Fragen einmal dabei sind und einmal nicht. Eine Klärung des
Verhältnisses war also nötig, und sie ist in genau dem Sinne
herbeigeführt worden wie der zu lösende Widerspruch selbst:
Der NATO wurde in aller Form der Vorrang vor der WEU zuerkannt und das
Monopol auf supranationalen Streitkräfteeinsatz genommen; den soll
die WEU in eigener Verantwortung und nach ihren "eigenen
Planungsverfahren und -fähigkeiten" [33] auch anordnen
dürfen. Die Verbindlichkeit der transatlantischen Allianz für
ihre Mitglieder ist damit in Frage gestellt; aber die Frage wird
sorgfältig umgangen, und zwar mit einer Kompromißformel, die
den verdoppelten Allianzmitgliedern so gut gefällt, daß sie
sie bei jeder Gelegenheit zitieren, so als hätten sie damit alle
Widersprüche bereinigt und nicht erst eröffnet: Es ginge um "trennbare, jedoch nicht getrennte militärische
Fähigkeiten", die – jedenfalls in erster Linie –
von und bei der NATO organisiert, für die WEU aber jederzeit
abrufbar sein sollen. [34]
Im ersten Ernstfall, bei den Jugoslawien-Einsätzen, hat das alles
funktioniert – weil die Konflikte zwischen den Alliierten um die
Definition der Lage und der Eingriffsnotwendigkeiten in wieder anderen
Gremien und auf noch anderen Ebenen ausgetragen worden sind. NATO und
WEU haben sich Einsatzfelder, Kommandos und militärische Mittel
nach denkbar verzwickten Regeln, aber einvernehmlich geteilt; die
Flugzeuge fliegen als NATO-Maschinen, die Schiffe überwachen teils
als US-, teils als NATO-, teils als WEU-Marine die Adria; von der
Landseite organisieren WEU-Einheiten das Embargo gegen
Rest-Jugoslawien. Gleichzeitig treiben die Europäer nach der
Wiederbelebung der WEU deren allmähliche Emanzipation aus dem
Status des Schmarotzers an NATO-Arsenalen vorsichtig voran, z.B. auf
dem für moderne Gewaltapparate so interessanten Gebiet der
Satelliten-Aufklärung: Ausgerechnet da scheint die Europäer
ihre Abhängigkeit von NATO-Fähigkeiten am meisten zu
schmerzen, und so "bekräftigten" ihre Minister in
ihrer "Kirchberg-Erklärung" "ihren Wunsch, ein
unabhängiges europäisches Satellitensystem aufzubauen."
[35] Was da aus- und aufgebaut wird, geht auf jeden Fall zu Lasten der
überkommenen, an die NATO gebundenen Strukturen und Potenzen. Und
daß die WEU-Politik der Europäer so auch gemeint ist,
verraten sie am deutlichsten in ihrem stereotypen Dementi: der Vorrang
der NATO werde damit nicht in Frage gestellt, alles sei mit der
kollektiven Verteidigung im nordatlantischen Rahmen vereinbar. [36]
Tatsache ist: Wenn es darum gehen soll – und darum geht es
erklärtermaßen –, der EU ein eigenes, frei
einsetzbares Militär zu verschaffen, dann betreiben die
Europäer neben ihrem Bündnis mit Amerika ihren Aufstieg zur
Gleichrangigkeit mit den USA, also die Beseitigung des Vorrangs der
transatlantischen Supermacht, dessen Anerkennung die NATO so
eigentümlich supranational gemacht hat.
Genau deshalb stellen die Deutschen den Ausbau der WEU, den sie
vorantreiben, zugleich nachdrücklich unter den Vorbehalt,
daß er nicht sein soll und werden darf, was er ist, nämlich
die Eröffnung einer Konkurrenz mit den USA um strategische Fragen.
Die BRD besteht auf einer "Ökonomie" einander
widersprechender Bündnisverpflichtungen, die alle Vorteile der
transatlantischen "Achse" sichern soll, ohne die Nation
weiter unter dem Nachteil der Abhängigkeit von den USA leiden zu
lassen.
6.
Das mag gehen, solange es eben geht. Dafür, daß es fürs
erste gutgeht, bürgen die überkommenen und derzeit im
entsprechenden Sinn umgebauten Militärstrukturen der Allianz und
die im Rahmen der WEU neu aufgebauten Verflechtungen. So werden die
NATO-Truppen auf deutschem Boden in mehrere multinationale Armeekorps
umgebaut – zwei deutsch-amerikanische, das eine unter deutschem,
das andere unter amerikanischem Kommando; ein
deutsch-belgisch-amerikanisches; ein deutsch-niederländisches; ein
deutsch-dänisches; eine
deutsch-belgisch-niederländisch-britische Eingreiftruppe; daneben
das der NATO nicht integrierte, aber verfügbare
deutsch-französisch-belgisch-spanische Euro-Corps als designierte
Keimzelle einer späteren Euro-Streitmacht... Auf niedrigerer
Ebene, aber durchaus auf Ausbau angelegt, werden feste bi- und
trilaterale Kooperationsbeziehungen eingerichtet, insbesondere zu den
östlichen Nachbarn, neben oder innerhalb der "Partnerschaft
für den Frieden" oder der entsprechenden WEU-Verdoppelungen:
mit Polen einmal unter Einschluß Dänemarks, einmal gemeinsam
mit Frankreich; mit der tschechischen Republik; mit der Slowakei... Ein
groß dimensioniertes Rüstungsgeschäft mit Schweden
unterstreicht die strategische Weiterentwicklung der Ostsee zum
deutsch-europäischen Binnenmeer... Und so weiter. In allen
Himmelsrichtungen baut die BRD mit ihrer Bundeswehr multinationale "Strukturen" auf.
Die immanenten Argumente für die hier angestrebte Integration von
Truppen verschiedener Nationalität sind Effektivität und
Ersparnis. Sie hat aber daneben eine politische Bedeutung; und es ist
unverkennbar, daß es den Deutschen nicht bloß in
Sonntagsreden darum ganz wesentlich geht: Vorkehrungen gegen einen
fortschreitenden Rückzug der USA aus der Verstrickung mit
Euro-Kräften zu treffen und für eine Handlungsfähigkeit
der Europäer zu sorgen, die mit deren Einbindung in ein
eurostrategisches Gesamtnetz steht und fällt. So versucht
Deutschland seiner berechnend-widersprüchlichen NATO-WEU-Politik
möglichst viel materielle Realität zu geben. Der deutsche
Militarismus arbeitet daran – das ist sein neuer "Sonderweg"! –, Europa bis an die Grenze der GUS mit
einem Netzwerk supranationaler militärischer Strukturen zu
überziehen; durchaus auch mit festen Verbindungslinien zum
großen transatlantischen Partner, dessen taktische Atomwaffen
auch weiterhin auch von deutschen Maschinen transportiert werden
sollen; und zwar alles von Deutschland aus und auf Deutschland hin.
Militärisch soll viel laufen auf dem alten Kontinent – und
nichts an Deutschland vorbei: Das bringt die BRD mit ihrer Bundeswehr
in Gang.
So will sie einen reibungslosen Übergang hinkriegen von der
dominierenden Wirtschaftsmacht Europas zur Konkurrenz um die
strategische Hegemonie: in aller Freundschaft zu Amerika, die sie damit
untergräbt.
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[1] NATO ohne Hauptfeind – Von der Abschreckung zur totalen Kontrolle, in: GegenStandpunkt 1-92, S.167.
Daß Staaten, wenn sie ihre Apparate zur technologisch
perfektionierten Massentötung zusammenlegen, kein
Kriegsbündnis, sondern eine Wertegemeinschaft bilden, sagt alles
über Werte. Daß sie damit ausschließlich dem Frieden
dienen, sagt alles über den Frieden und die Bedingungen, unter
denen Staaten ihn halten.
[2] Dazu mehr im nächsten Abschnitt.
[3] Im Jargon der NATO-Gipfelkonferenz Anfang des Jahres in
Brüssel: "Aufbauend auf der engen und langjährigen
Partnerschaft zwischen den nordamerikanischen und europäischen
Bündnispartnern treten wir dafür ein, Sicherheit und
Stabilität in ganz Europa zu stärken. Wir haben den Wunsch,
Bindungen zu den demokratischen Staaten im Osten von uns zu festigen.
Wir bekräftigen, daß die Allianz, wie in Artikel 10 des
Washingtoner Vertrags vorgesehen, für eine Mitgliedschaft anderer
europäischer Staaten offenbleibt, die in der Lage sind, die
Grundsätze des Vertrages zu fördern und zur Sicherheit des
nordatlantischen Gebiets beizutragen. Wir erwarten und würden es
begrüßen, wenn eine NATO-Erweiterung demokratische Staaten
im Osten von uns erfassen würde, als Teil eines evolutionären
Prozesses, unter Berücksichtigung politischer und
sicherheitspolitischer Entwicklungen in ganz Europa." (Bulletin
Nr.3/94, S.21)
Und Außenminister Kinkel im März in Paris: "Wir
streben eine multidimensionale, abgestufte Vernetzung der
Sicherheitsinteressen aller Staaten der Region an. Es wäre
schlichtweg falsch, den Staaten Mittel- und Osteuropas in diesem Europa
einen Platz zwischen West und Ost zuweisen zu wollen." (Bulletin
Nr.29/94, S.258)
[4] Das "Rahmendokument" der "Partnerschaft
für den Frieden", das die NATO-Gipfelkonferenz im Januar 94
verabschiedet hat, sieht in seinem Punkt 3 dazu folgendes vor:
"Die anderen unterzeichnenden Staaten dieses Dokuments werden mit der NATO gemeinsam auf die folgenden Ziele hinarbeiten:
a) Förderung von Transparenz nationaler Verteidigungsplanung und Haushaltsverfahren;
b) Gewährleistung demokratischer Kontrolle über die Verteidigungskräfte;
c) Aufrechterhaltung der Fähigkeit und Bereitschaft, zu
Einsätzen unter der Autorität der VN und/oder Verantwortung
der KSZE beizutragen, vorbehaltlich verfassungsrechtlicher
Erwägungen;
d) Entwicklung kooperativer militärischer Beziehungen zur NATO mit
dem Ziel gemeinsamer Planung, Ausbildung und Übungen, um ihre
Fähigkeit für Aufgaben auf den Gebieten Friedenswahrung,
Such- und Rettungsdienst, humanitäre Operationen und anderer
eventuell noch zu vereinbarender Aufgaben zu stärken;
e) auf längere Sicht Entwicklung von Streitkräften, die mit
denen der Mitgliedsstaaten der Nordatlantischen Allianz besser
gemeinsam operieren können." (Bulletin Nr.3/94, S.24)
Die leitende Absicht bringt ein Sicherheitsberater der US-Regierung
folgendermaßen auf den Punkt: "Der Weg zu kollektiven
Verteidigungsverpflichtungen und militärischer Integration
würde die Verteidigungspolitik entnationalisieren und
Mißtrauen der Mitgliedsstaaten untereinander aus deren jeweiliger
Kalkulation des Sicherheitsrisikos entfernen." (Daniel Hamilton,
Jenseits von Bonn. Amerika und die ‚Berliner Republik‘
Frankfurt/M – Berlin 1994, S.115)
[5] Verbindungsbüros sind eingerichtet, Verbindungsoffiziere
abgestellt, politische Konsultationen für jeden Bedarfsfall
zugesagt; in Belgien arbeitet bereits eine "Partnerschaftskoordinierungszelle". Die Eingreiftruppen,
auf die die NATO ihre Streitkräfte zum großen Teil umstellt,
sollen als "Combined Joint Task Force" unter dem Kommando
eigener, alle Waffengattungen übergreifender Hauptquartiere
stehen: eine für Militärfachleute offenbar aufregende
Neuerung, die es u.a. erleichtern soll, auch NATO-fremde
Streitkräfte an NATO-Unternehmungen mitwirken zu lassen. Ein
Beispiel für den neuen Blick auf Europa als ganzheitliche
strategische Sphäre unter NATO-Kommando ist die Gründung
eines eigenen Ostsee-Kommandos (BALTAP), übrigens unter
dänischem Oberbefehl. Und für den Herbst dieses Jahres sind
im Rahmen der "PfP" ein erstes Seemanöver mit neuen
Kooperationspartnern sowie das erste NATO-Manöver in Polen
vorgesehen.
[6] Der Bundesverteidigungsminister sieht das alles als
Gesamtpaket: "Wenn wir ihnen (sc. den "zentraleuropäischen Staaten") helfen wollen im Aufbau
demokratischer Verhältnisse, in der Herstellung einer
funktionierenden sozialen Marktwirtschaft und in ihrer sicherheits- und
verteidigungspolitischen Neuorientierung, dann müssen wir bereit
sein, sie als Mitglieder in der Union (sc. der EU) aufzunehmen. Dabei
kann es natürlich keine Schieflagen geben – etwa
wirtschaftliche Gemeinschaft ja, Sicherheitsgemeinschaft nein."
(V. Rühe vor dem Bergedorfer Gesprächskreis im März 94
in Petersburg; Bulletin 29/94 S.261)
[7] Nach Erkenntnissen des ehemaligen US-Außenministers und
Friedensnobelpreisträgers H. Kissinger ist der Russe seit
altersher folgendermaßen beschaffen: "In seiner Geschichte
hat Rußland nur selten die Grenzen seiner Nachbarn infrage
gestellt. Seine Politik bestand vielmehr darin, die Nachbarn unter
Druck zu setzen oder zu erpressen." Offenbar einfach nur so, aus
Bosheit. "Rußland hat sich auch niemals als rein
europäische Macht betrachtet. ...und hat sich niemals ernsthaft
mit dem Gedanken befaßt, seine Beziehungen zu seinen Nachbarn
– einschließlich jener in Europa – internationalen
Entscheidungen zu unterwerfen." So wie das Amerikaner, Deutsche,
Briten usw. immer mit ihren weltweiten Affären getan haben. "Und
es ist nicht anzunehmen, daß es mit der Partnerschaft
für den Frieden eine solche Verpflichtung verbindet." Obwohl
die doch genau so gemeint ist! "Der Zusammenbruch des
sowjetischen Imperiums, das ja eine Fortsetzung des zaristischen
Großreiches war, ist von vielen Russen als Demütigung
empfunden worden; im nun demokratischen Rußland ist die
Versuchung zu erkennen, den Nationalismus zu benutzen, Einheit
anzustreben..." (Welt am Sonntag Nr.33, S.4)
[8] Genau diese Priorität mißfällt manchen
unverbesserlichen Haudegen des "Ost-West-Konflikts" als
Konfusion und Zersetzungsgefahr für den guten alten Pakt. Sie
fordern:
"Eine sinnvolle atlantische Politik muß ... zwei
Erfordernisse erfüllen: Einmal den Kern der Atlantischen Allianz
wieder in eine eindeutige Richtung zu bringen, zum andern die
Aktivitäten der Partnerschaft für den Frieden organisatorisch
von denen der Allianz zu trennen." (H. Kissinger in der Welt am
Sonntag Nr.33, S.4)
[9] Schon die regierenden Realsozialisten mochten
Klassenkampf von nationaler Autonomie und proletarischen
Internationalismus von Völkerfreundschaft nicht unterscheiden.
Für die jetzt herrschenden Nationalisten fallen bei ihrer Absage
an die Disziplin des "sozialistischen Lagers" die Abkehr
vom Sozialismus hin zum Nationalismus und die nationalistische
Abneigung gegen Rußland erst recht ineins.
[10] Die Deutschen tun sich hier gern mit Verständnis
für die Russen hervor. Verteidigungsminister Rühe in Sankt
Petersburg: "Rußland knüpft an die Teilnahme an diesem
Programm (sc. "PfP") die Erwartung, daß die NATO mit
Rußland eine Kooperationsbeziehung von besonderer Qualität
entwickelt. Die Atlantische Allianz ist gut beraten, auf die russische
Erwartungshaltung einzugehen." Zum Inhalt dieser "Sonderbeziehungen" wird dann allerdings gar nichts weiter
angegeben, als daß das inskünftige Groß-Europa sie
verspricht. Fest steht das "aber", daß nämlich
aus Rußlands Größe keine gleichberechtigte Mitsprache
über Europa folgen darf. Rühe: "Wir müssen
allerdings darauf achten, daß die besondere Qualität der
Partnerschaft zwischen der NATO und Rußland nicht den
Integrationsprozeß anderer in die westlichen Institutionen
erdrückt." (Bulletin Nr.29/94, S.263) Oder in einer Rede im
Mai in Ludwigsburg: "Rußland und die NATO brauchen eine
tragfähige Partnerschaft. Rußland muß das Gefühl
haben" – und das wird sich ja wohl noch vermitteln lassen!
–, "als Großmacht und Partner behandelt zu werden.
Aber Rußland muß dabei vor allem durch sein eigenes Handeln
das Vertrauen seiner Nachbarn und Partner erhalten." (Bulletin
Nr.43/94, S.378) Aufschlußreich auch die klaren Worte, mit denen
der deutsche Außenminister im Juni in Istanbul beim Treffen mit
seinen NATO-Kollegen die heftig angestrebten guten Beziehungen zu
Rußland umrissen hat: "Rußland hat im Hinblick auf
Größe, geographische Lage, Bevölkerung und
Militärpotential wie auch als ständiges Mitglied des
VN-Sicherheitsrats für Sicherheit und Stabilität in Europa
besondere Bedeutung. Ich sehe daher die Notwendigkeit, über den
Rahmen der Partnerschaft für den Frieden hinaus zu einer
vertieften Beziehung zwischen NATO und Rußland zu kommen."
Soweit ein doppeldeutiges Entgegenkommen: Rußland sprengt den
Rahmen, den Deutschland und die NATO um Europa ziehen wollen; es hat
ein Anrecht auf Sonderbehandlung. Wie die gemeint ist, folgt sogleich:
Rußland gehört auf gar keinen Fall zu den Mächten, die
um Europa einen Sicherheitsrahmen ziehen dürfen. "Eines
muß allerdings außer Zweifel stehen: Damit ist keinesfalls
ein Direktorium der NATO und Rußlands für europäische
Sicherheitsfragen gemeint." Dieses Direktorium ist noch immer die
NATO allein: "Die NATO bleibt auch nach Ende des Kalten Krieges
der Sicherheits- und Stabilitätsanker in Europa." (Bulletin
Nr. 58/94, S.545)
[11] Daß die Russen zu Jugoslawien eine eigene Meinung
haben, weist NATO-Denker in dieselbe Richtung: "Die auf dem
Balkan und im ‚nahen Ausland‘ sichtbar gewordene
selbstbewußtere russische Außenpolitik hat die
Notwendigkeit westlicher kollektiver Sicherheitsvorsorge wieder in
Erinnerung gerufen." (Senior Planning Officer M. Rühle von
der NATO-Abteilung für Politische Angelegenheiten in dem "Informationsdienst zur Sicherheitspolitik": Der
Mittler-Brief Nr.2/2. Quartal 1994, S.2) Wenn so wenig reicht, um
NATO-Offiziere an einen Krieg gegen Rußland denken zu lassen,
dann können sie diese Option kaum sehr vergessen haben.
[12] Deutlicher als die regierenden Politiker drücken sich
deren Vordenker aus. Der schon zitierte Clinton-Berater Hamilton mahnt
u.a. an: "... müssen wir unsere zeitweilig etwas
gönnerhafte Haltung aufgeben, die politischen Führer in
Moskau dürften nur mit Samthandschuhen angefaßt werden.
Rußland ... verdient ohne Frage unseren Respekt. Dies bedeutet
jedoch keinesfalls, daß wir jedem russischen Wunsch oder
Verlangen zustimmen müßten. Wir haben beispielsweise zu
häufig das russische Argument akzeptiert, Rußland müsse
angesichts der Tatsache, daß 25 Millionen Russen in seinen
Nachbarstaaten lebten, auch ein Recht zur Verteidigung dieser
Konationalen erhalten. ... müssen wir uns daran erinnern,
daß Deutschland Ende der dreißiger Jahre ähnliche
Argumente vorbrachte und schließlich die Vereinigten Staaten mit
Deutschland Krieg führten. ... Wenn wir Rußland ein Recht
auf eine derartige Politik einräumen, dann wird dies zu
weitergehenden russischen Forderungen führen, zu einer
Stärkung der russischen Armee und des
militärisch-industriellen Komplexes und – im Ergebnis
– zu Rückschritten im Reformprozeß." (a.a.O.
S.108f.) Zu den rußlandpolitischen Differenzen zwischen den USA
und Deutschland äußert sich Hamilton im Hinblick auf
zukünftige Gefahren für die deutsch-amerikanische
Freundschaft so: "Das Ende der Reformen im Osten würde
höchstwahrscheinlich einen bitteren Streit zwischen Deutschland
und den USA über Gründe und Folgen auslösen. Aus Furcht
vor einer weiteren Destabilisierung oder gar erneuten Bedrohung aus dem
Osten wären die Deutschen aufgrund der geographischen Nähe
wahrscheinlich eher geneigt, sich auf stabilisierende Maßnahmen
zu konzentrieren, als die distanzierteren Amerikaner, die eher auf
gewisse Kriterien nationalen Verhaltens pochen und schneller bereit
wären, zur Unterstreichung ihrer Haltung ein Instrumentarium
politischer, wirtschaftlicher und sogar militärischer
Maßnahmen einzusetzen." (a.a.O. S. 105)
[13] Erst im Mai hat die Nukleare Planungsgruppe der NATO bei
ihrer Ministertagung in Brüssel wieder einmal Gründe zur
Besorgnis ausgemacht: "Einer der wichtigsten ist die
Notwendigkeit, daß die Kontrolle über das
Nuklearwaffenarsenal der ehemaligen Sowjetunion erhalten bleibt."
(Bulletin Nr. 55/94, S. 523)
[14] Dazu gibt es von deutscher Seite schöne Floskeln: "Wir müssen alles tun, daß Rußland in
schwieriger Lage den richtigen Weg geht. Aber wir müssen auch
dagegen gefeit sein, daß dort die falschen Kräfte die
falschen Entscheidungen treffen." (Verteidigungsminister
Rühe im Mai bei der Verabschiedung der Bundeswehr aus Ludwigsburg:
Bulletin Nr. 43/94, S.378)
[15] Mit dem erfolgreichen Sarajewo-Ultimatum "war ein
entscheidender Schritt in eine gesamteuropäische Sicherheitsrolle
der NATO vollzogen worden. Der Ende Februar erfolgte Abschuß von
vier die Flugverbotszone verletzenden serbischen
‚Galeb‘-Jägern wirkte vor diesem Hintergrund wie eine
Bestätigung dieser neuen Rolle." (M.Rühle, a.a.O. S.4)
[16] Das ungelöste sprachliche Problem, ein aktives Subjekt,
das seine eigenen Erfordernisse wahrnimmt, ins Passiv des Adressaten
auswärtiger Anforderungen zu versetzen, sagt alles darüber,
wer hier wen wozu auffordert.
[17] Auch dies ein interessanter sprachlicher Kunstgriff, um
klarzustellen, daß die NATO nur macht, was sie beschließt.
[18] Die Militärplaner der Allianz bestimmen das
Verhältnis zwischen der NATO und ihren supranationalen "Auftraggebern" etwas klarer, weil sie den dauernden
diplomatischen Eiertanz um jedes bißchen Eingreifen nicht leiden
können. So schlägt der bereits zitierte Senior Planning
Officer M.Rühle im Mittler-Brief vor: "Die Option einer von
Mandaten unabhängigen Handlungsfähigkeit der Allianz sollte
untersucht und gegebenenfalls konkretisiert werden. ... Die
gegenwärtig sich abzeichnende Zweiteilung jedenfalls, derzufolge
die NATO entweder nach Artikel 5 und 6 des Washingtoner Vertrages oder
unter UN-Mandat handelt, genügt einer umfassenden westlichen
Krisenbeherrschungsstrategie nicht und kann daher bestenfalls als eine
Übergangsphase betrachtet werden, in deren Verlauf sich – so
bleibt zu hoffen – ein neues Allianzverständnis durchsetzt,
das auch eigenständige Handlungsoptionen einschließt."
(a.a.O. S.7)
[19] Zugleich als letzter: Mit der Emanzipation des
Bündnisses von seiner alten "Abschreckungs"-Aufgabe
fällt auch die Scheidung zwischen einem angestammten
Zuständigkeitsgebiet, der "area", und dem Rest der
Welt, "out of...", weg.
[20] Näheres in GegenStandpunkt 4-92, S.121: Die USA in der
Krise, sowie GegenStandpunkt 3-93, S.79: IWF heute: Supranationaler
Kredit unter der Bedingung der Krisenkonkurrenz. Schon der Golfkrieg
der USA war nicht zuletzt ein machtvoller Einspruch gegen die Art, wie
die konkurrierenden Nutznießer des Weltmarkts sich unter dem
Schutzschirm und zugleich auf Kosten Amerikas eingerichtet hätten.
Seither sind die einschlägigen Vorwürfe an die Japaner und
Europäer immer deutlicher zur Sache gekommen – vgl. die
Artikel zum Fortschritt vom GATT zur WTO: Szenarien für einen
Weltwirtschaftskrieg neuen Typs in GegenStandpunkt 2-94, S.26, sowie
zur amerikanisch-japanischen Partnerschaft: So frei ist der Welthandel,
in GegenStandpunkt 2-94, S.40.
[21] Daß britische Kriegsschiffe zum Schutz der
königlichen fish&chips-Produktion auf spanische Fischerboote
schießen, ist noch kein Krieg, aber auch nicht gerade liebe
Gewohnheit unter EU-Partnern.
[22] Daß die Vereinigten Staaten "Deutschlands
unersetzlicher Partner in der Welt bleiben", begründet der
schon zitierte Berater der Clinton-Regierung, D. Hammilton, u.a. mit
folgender aufschlußreicher Einschätzung des
innereuropäischen Einigungswillens: "Die Vereinigten Staaten
sind die einzige Nation, die in Europa ohne innere Vorbehalte
gegenüber oder sogar latente Angst vor Deutschland engagiert ist.
Sie können offene und freundschaftliche Beziehungen unterhalten,
ohne von Mißtrauen geplagt zu werden, während so
gleichzeitig ein beruhigendes Gegengewicht jenen gegenüber
geschaffen wird, die Deutschlands neue Größe nervös
macht." (a.a.O. S.88) Sprachlich ist zwar nicht ganz klar, ob die
Amerikaner ein – für die andern trostreiches und insofern
für Deutschland nützliches – Gegengewicht gegen
Deutschland oder gegen seine mißtrauischen Nachbarn sein wollen.
Sachlich ist dafür um so klarer, daß Amerika anbietet,
Vorbehalte gegen eine deutsche Hegemonie in Europa brechen zu helfen.
[23] Berater Hamilton legt den Deutschen diesen Aspekt als
besonderen bleibenden Nutzen der NATO für sie ans Herz: Die NATO
"erlaubt es Deutschland auch, sich selbst den Besitz oder die
Kontrolle nuklearer Waffen weiterhin zu versagen, während sie ihm
gleichzeitig in nuklearen Fragen eine Stimme gibt, die es sonst nicht
hätte" (a.a.O. S. 114) – und die, darf man wohl
ergänzen, die USA ihm auch vorzuenthalten wüßten.
[24] Zur Klarheit in dieser Grundfrage des deutschen Militarismus
trägt auch die innenpolitische Debatte zwischen Regierung und
Opposition bei. Die SPD mahnt unaufhörlich die gute alte "Kultur
der Zurückhaltung" an – so absichtsvoll
mißdeutet die Partei des Kanzlers der eurostrategischen
"Nachrüstung" 40 Jahre militärischen Aufwuchs der
BRD zum Eckpfeiler der "Abschreckung". Sie gibt sich genau
dann betont anti-interventionistisch, wenn sie die nationale
Bereitschaft zu bewaffneten Interventionen im Zeichen
völkerrechtlicher Legitimationen bekräftigt. So sorgt sie
für den Schein internationalistischer und zugleich
friedensmoralischer Gewissenhaftigkeit beim Bundeswehreinsatz –
und läßt es gar nicht dabei: Ihren Moralismus legitimiert
sie nationalistisch, indem sie nachdrücklich fordert, alle
militärischen Unternehmungen strikt am nationalen Interesse
auszurichten, das mit der bisherigen "Zurückhaltung"
doch gut gefahren sei. Die Christlich-Liberalen antworten darauf mit
der Polemik, die Sozialdemokratie bestände wieder einmal auf einem
"nationalen Sonderweg", während es ihnen darum ginge,
unpassende deutsch-nationale Abweichungen vom imperialistisch Normalen
zu beseitigen: weltweites Zuschlagen gewissermaßen als
Richtschnur eines angepaßten, unauffälligen staatlichen
Verhaltens. So streiten zwei Spielarten moralischer Legitimation um die
Legitimation des Gleichen: des nationalen Aufbruchs aus strategischen
Verhältnissen, unter denen das neue Deutschland sich mittlerweile
unerträglich fremdbestimmt vorkommt.
[25] Die aktuelle Sprachregelung der NATO dazu lautet: "Wir
haben ... die wesentliche Rolle der Nuklearstreitkräfte
bekräftigt einschließlich substrategischer Kräfte, die
in europäischen Mitgliedsstaaten stationiert und auf dem zur
Gewährleistung von Sicherheit und Stabilität erforderlichen
Mindestniveau gehalten werden." (Kommuniqué der
Ministertagung des Verteidigungsausschusses und der Nuklearen
Planungsgruppe der NATO – die gibt es nämlich nach wie vor
– im Mai in Brüssel, Bulletin Nr.55/94, S.521)
[26] Der Verteidigungsminister erklärt diese Politik so: "Wir haben uns schon in Friedenszeiten bewußt in
gegenseitige Abhängigkeiten begeben" – das "wir" sind die NATO-Partner. "Dieses Maß an
Integration ist der größte Fortschritt in Europa, den gerade
Deutschland nicht in Frage stellen darf. Sonst zerstört man die
europäische Integration, sonst zerstört man die
NATO-Integration und öffnet den Weg zur Renationalisierung der
Politik, die am allerwenigsten wir Deutsche uns leisten
können." (V.Rühe am 6.5.94 in Ludwigsburg, Bulletin
Nr.43/94, S.378) Solche Sprüche sind kein propagandistisches
Ablenkungsmanöver, sondern rüstungspolitische Leitlinie.
Nicht nur bei der Luftraumüberwachung durch die AWACS-Systeme der
NATO, die Rühe in diesem Zusammenhang erwähnt, sondern auch
z.B. bei der Marine: "FR: Kann man stärker international
zusammenarbeiten? Weyher (sc. Inspekteur der Bundesmarine): Das tut man
bei der Marine bereits. Es gibt keinerlei Pläne einer deutschen
Marine, sich ein strategisches Potential zuzulegen. Also nukleare
U-Boote oder Flugzeugträger oder ähnliche Fahrzeuge, das
machen im Bündnis ohnehin andere." Immerhin: "Für
Transportzwecke planen wir zusammen mit Heer und Luftwaffe ein
Mehrzweckschiff als eigenständige Möglichkeit, Heeres- oder
Luftwaffeneinheiten zu internationalen Einsätzen zu
bringen." (Interview in der Frankfurter Rundschau, 16.7.94)
[27] Dazu ein paar Details in Punkt 6.
[28] Dazu gehören auch militärdiplomatische Gesten der
folgenden Art: "Nach dem Abzug der russischen Truppen aus
Deutschland ist die Fortentwicklung unserer verteidigungspolitischen
Beziehungen von besonderer Bedeutung" – schließlich
sollen die Russen nicht auf die Idee kommen, sie könnten jemals
wieder vor der Notwendigkeit stehen, sich gegen Deutschland
verteidigungspolitisch zu behaupten. "Ich habe daher mit meinem
russischen Kollegen beschlossen, in diesem Jahr noch eine gemeinsame
Marineübung durchzuführen, der 1995 eine deutsch-russische
Stabsrahmenübung in Rußland und 1996 ein deutsch-russisches
Manöver in Deutschland folgen werden." (Rühe im
März in Sankt Petersburg, Bulletin Nr.29/94, S.263)
[29] Zu den gestanzten Formeln der deutschen Amerika- und
NATO-Diplomatie gehören Beteuerungen wie die folgende des
Bundesaußenministers: "Ohne Bündnis kein Gleichgewicht
in Europa, vor allem aber keine gleichgewichtige Partnerschaft mit
Rußland, wie wir sie gemeinsam anstreben." (Kinkel in
Washington, Bulletin Nr.36/94, S.322) Ohne Position der Stärke
geht also kein deutsches Rußland-Engagement; für die stehen
die USA gerade. Umgekehrt wissen auch die Amerikaner, was sie an den
Deutschen haben: eine Wirtschaftsmacht, die Rußland –
ähnlich wie die anderen Osteuropäer – auf die
politische Ökonomie der Unterwerfung unter den Weltmarkt festlegt,
die für sie immer noch ihre Weltordnung ist: "Ohne
Deutschland wird es sich als unmöglich erweisen, Osteuropäer
und Russen in westliche Strukturen einzugliedern. Ohne Deutschland ist
es unwahrscheinlich, daß diese Länder sich wirtschaftlich
erholen." (D. Hamilton, a.a.O. S.104)
[30] Zu deren Logik s. Punkt 5.; zur Sache vgl. zuletzt
GegenStandpunkt 1-94, S.165: Die Paten des "Friedens für
Jugoslawien".
[31] Eine schöne Dialektik der Reihenfolge: Die Lehre vom
Ende haben die Deutschen von Anfang an beherzigt. Sie waren sich eben
von Anfang an sicher, wozu sie im Bedarfsfall die Amerikaner brauchen!
[32] Was und wen die Deutschen mit-meinen, wenn sie sich selbst "Bündnisfähigkeit" abverlangen, das hat ihr
Verteidigungsminister Rühe im Mai in Ludwigsburg sehr schön
klargestellt: "Internationale Einsätze der Bundeswehr sind
in erster Linie eine politische, viel weniger eine militärische
Frage. Wir werden bündnisunfähig, wenn wir nicht in der Lage
sind, grundsätzlich dasselbe zu machen wie unsere Verbündeten
und Freunde. ... Die Geschäftsgrundlage muß für alle
gleich sein. Niemand darf Exklusivklauseln beanspruchen."
(Bulletin der Bundesregierung 43/94, S.378) Die Verfassungslage, die
die Deutschen eine Zeitlang als "Exklusivklausel"
strapaziert haben, weil sie sich auf gar keinen Fall als Helfershelfer
fremder Anliegen hergeben wollten, so wie sie es ihrerseits ihren
Partnern zumuten: diese Verfassungslage ist ja nun
höchstrichterlich in Ordnung gebracht; rechtzeitig und passend zur
allmählich in Fahrt kommenden neuen deutschen Außenpolitik.
Nach der Dialektik der deutschen Bündnispolitik haben die
Karlsruher Richter damit gleiche Bedingungen für alle geschaffen:
Niemand "darf Exklusivklauseln beanspruchen"!
[33] Aus der "Kirchberg-Erklärung" der WEU vom Mai dieses Jahres, Bulletin Nr. 46/94, S.406.
[34] Die Staats- und Regierungschefs der NATO haben Anfang des
Jahres auf ihrer Gipfelkonferenz in Brüssel beschlossen, den Um-
und Ausbau der Paktstreitkräfte im Hinblick auf die neuen
Zielsetzungen des Bündnisses "unter Beratung durch die
Militärbehörden und in Abstimmung mit der WEU ... so
an(zu)gehen, daß trennbare, jedoch nicht getrennte
militärische Fähigkeiten entstehen, die durch die NATO oder
die WEU genutzt werden können." (Bulletin Nr.3/94, S.21) Der
Ministerrat der WEU hat dann im Mai in Luxemburg in seiner "Kirchberg-Erklärung"
‚begrüßt‘, "daß das
Gipfeltreffen", nämlich eben jenes der NATO, "den
Grundsatz bestätigte, wonach kollektive Ressourcen und
Fähigkeiten des Bündnisses für WEU-Operationen zur
Verfügung gestellt werden können, um die WEU als
Verteidigungskomponente der Europäischen Union und als Instrument
zur Stärkung des europäischen Pfeilers der Allianz zu
stärken", ‚betont‘. "wie wichtig die
laufenden Arbeiten in der WEU zu den mit der WEU zusammenhängenden
Aspekten der Anpassung der Strukturen des Atlantischen Bündnisses
sind", und ‚unterstrichen‘, "wie wichtig eine
Abstimmung mit dem Bündnis über die Umsetzung des Konzepts
alliierter Streitkräftekommandos und die Entwicklung trennbarer,
jedoch nicht getrennter militärischer Fähigkeiten ist, um
gegebenenfalls ihren effektiven Einsatz durch die WEU und in diesem
Falle unter ihrem Kommando zu gewährleisten." (Bulletin
Nr.46/94, S.406) In ihrer Eigenschaft als NATO-Minister haben dieselben
regierenden Häupter gemeinsam mit ihrem amerikanischen Kollegen im
Juni in Istanbul wiederum "die Standpunkte der WEU-Minister in
der Kirchberg-Erklärung ... zur Kenntnis genommen", "messen" der Arbeit "zur weiteren Anpassung der
Strukturen und Verfahren der Allianz" "große
Bedeutung bei, die die Fähigkeit der Allianz verstärken wird,
auf Krisen zu reagieren und trennbare, jedoch nicht getrennte
militärische Fähigkeiten bereitzustellen, die durch die NATO
oder die WEU eingesetzt werden können", und bekennen sich zu
einem "Kurs", "der die Bereitschaft der Allianz
einschließt, auf der Grundlage von Konsultationen im
Nordatlantikrat ihre kollektiven Ressourcen für WEU-Operationen
zur Verfügung zu stellen, die von den europäischen
Bündnispartnern in der Verfolgung ihrer gemeinsamen Außen-
und Sicherheitspolitik durchgeführt werden." (Bulletin
Nr.58/94, S.547) Die letztere Formulierung hat den Ministern so gut
gefallen, daß sie sie 10 Punkte weiter noch einmal wörtlich
genauso aufschreiben.
[35] Bulletin Nr. 46/94, S.407. Der deutsche Außenminister
hatte zuvor für dieses Projekt geworben: "Dies ist ein sehr
ehrgeiziges Konzept. Wir stehen hier vor der Entscheidung, ob wir ...
in die Projektphase übergehen. Ich glaube, wir sollten diese
Herausforderung im Prinzip annehmen. Denn ohne eine gemeinsame
europäische (!) Aufklärungskapazität ist eine gemeinsame
(!) Krisenbekämpfung letztlich kaum realisierbar." (ebd.
S.410)
[36] "Die Minister (sc. die des WEU-Ministerrats im Mai in
Luxemburg) verwiesen auf die längerfristige Perspektive einer
gemeinsamen Verteidigungspolitik in der Europäischen Union, die im
Laufe der Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen
könnte, die mit der des Atlantischen Bündnisses vereinbar
ist." (Bulletin Nr.46/94, S.406) Zur einschlägigen deutschen
Heuchelei gehört die auch in zahllosen Dokumenten niedergelegte
Sprachregelung, mit der Emanzipation der WEU würde letztlich doch
nur dem alten amerikanischen Wunsch nach "Stärkung des
europäischen Pfeilers" entsprochen. Die USA haben zu Zeiten
klarer strategischer Ost-West-Verhältnisse von ihren Alliierten
mehr Bündnisleistungen verlangt und diese Forderung ins Bild vom "eigenständigen Pfeiler" gefaßt. Was die EU
jetzt mit der WEU anstrebt, haben sie damit ebensowenig gemeint wie
das, was die Deutschen tun, um Amerikas Präsenz in Europa national
emanzipiert auszunutzen.
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