Nachbemerkung zum Jugoslawien-Artikel in diesem Heft, S.165 ff
Vier Thesen zum NATO-Ultimatum an die serbischen Belagerer Sarajewos und zu seinem vorläufigen Ablauf
1.
Das Ultimatum der NATO an die bosnischen Serben, innerhalb von 10 Tagen
alle schweren Waffen aus einem Umkreis von 20 km um Sarajewo
abzuziehen, ist nicht auf Erfüllung berechnet, sondern auf eine
drastische Machtdemonstration der militärisch maßgeblichen
NATO-Mächte. Die sind sich eine gemeinsame Aktion gegen den
erklärten Hauptstörenfried im Balkankrieg schuldig, nachdem
sie in ihrem Streit um die Federführung bei der Aufsicht über
diesen Krieg und bei der staatlichen Neuordnung der Region seit Jahren
alles Mögliche zustandebringen, aber kein bedingungslos Respekt
gebietendes Diktat an die kriegführenden Parteien. Ihr
gemeinschaftlich erhobener Anspruch auf Kontrolle und Ordnung der "Lage" leidet bereits unter ihrer Konkurrenz um die
Führung beim Ordnen: Er läßt sich von den
Kriegsparteien glatt ignorieren, ungestraft. Das kann so nicht ewig
weitergehen. Eine Einigung auf eine Aktion ist fällig, die dem
Kontrollanspruch der aufsichtführenden Ordnungsmächte
unmißverständlich Geltung verschafft. Und diese Einigung
wird erzielt: Frankreich, die USA und ihre NATO-Verbündeten
bringen einen Eingriffsbeschluß zustande, der die Frage, wer
dabei Anführer und wer bloß Mitmacher ist, unentschieden
läßt und trotzdem für einen wirksamen Schlag gegen die
zunehmend störende serbische Eigenmächtigkeit gut ist.
In diesem Sinne dürfen sich alle guten Menschen auf ein bißchen guten und gerechten Krieg freuen.
2.
Sie werden um ihren sittlich hochstehenden Genuß betrogen. Und
das ausgerechnet von dem Russen, den die westlichen
Aufsichtsmächte mit ihrem Kunstgriff, als NATO zu agieren und die
vorliegenden UNO-Resolutionen frei als Freibrief für ein Ultimatum
und seine Vollstreckung zu interpretieren, gerade ausmanövriert
haben. Das russische Gesuch, als UNO-Staat mit Veto-Recht im
Weltsicherheitsrat gefragt zu werden, ist glücklich
zurückgewiesen; das Verhältnis, daß die NATO sich von
der UNO die Aufträge abholt, die sie bei der Weltorganisation in
Auftrag gibt, ist geklärt; außer der Zeit, die zu einem
Ultimatum nun einmal dazugehört, steht dem Bombardement nichts
mehr im Weg. Da kommt Rußland in die Quere, nimmt das Ultimatum
wörtlich, bewegt die serbische Seite zu seiner Befolgung,
übernimmt sogar mit eigenen UNO-Truppen die doppelte Garantie,
daß von serbischen Kanonen keine Gefahr für Sarajewo mehr
ausgeht, den serbischen Stellungen deswegen einstweilen auch keine
Gefahr durch NATO-Bomber mehr droht. Und statt einer Klarstellung des
Ordnungs- und Kontrollmonopols der verbündeten Westmächte
kommt die Demonstration der russischen Fähigkeit heraus, friedlich
zu regeln, was die NATO durch Zerstörung hat erpressen wollen. Die
Serben räumen das Feld – aber nicht vor der gerechten Gewalt
der NATO.
In diesem Sinne müssen sich alle guten Menschen über eine entgangene Lektion für die Bösen ärgern.
3.
Der Ärger macht sich in dem Vorwurf Luft, Rußland
übernähme mit seiner Intervention die Rolle einer Schutzmacht
der Serben. Dieser Vorwurf ist aufschlußreich. Tatsächlich
mischen sich die Russen nämlich gerade nicht als Schutzmacht einer
Seite ins Geschehen ein, sondern als Ordnungsmacht im UNO-Auftrag
– wie die westlichen Mächte. Genau diese Rolle der
Ordnungskraft, die autonom einen UNO-Auftrag exekutiert, wird ihnen
nicht zugestanden, wenn ihre Intervention gleich als Parteinahme, noch
dazu für die Falschen, gilt. Da hilft es auch nichts, daß
Rußland sich gemäß dem Buchstaben des NATO-Ultimatums
einmischt – es verstößt gegen dessen Intention. Dieses
Ärgernis unterstreichen gerade auch die wohlabgewogenen Kommentare
etwa des deutschen Außenministers, der übertriebene Sorgen
vor russischer Einmischung mit dem gönnerhaften Hinweis
dämpft, man solle Jelzin, nicht zuletzt im Hinblick auf die
wirklich gefährlichen Nationalisten in seiner Staatsduma, "den Erfolg gönnen", nämlich sein Land
weltpolitisch wieder ins Spiel gebracht zu haben (Kinkel im Rheinischen
Merkur v. 25.2.94). Das ist also der weltpolitisch interessante Inhalt
der russischen Intervention: daß diese östliche
Ex-Supermacht sich eine Ordnungsrolle anmaßt, wo "der
Westen" ein Monopol aufs Ordnen beansprucht. Gegönnt wird
ihr allenfalls der Schein, etwas bewirkt zu haben – von einem
Diplomaten, der mit diesem Schein schon wieder Politik machen will.
Nicht zugestanden wird ihr damit das Recht auf eigene europapolitische
Ordnungsinteressen. Um dessen Bestreitung geht es also.
In dem Sinn dürfen sich alle guten Menschen mit gerechter
Empörung über einen gerade zur passenden Zeit öffentlich
hochgenommenen – seit Jahren enttarnten – russischen Spion
ein wenig schadlos halten.
4.
Mit ihrem bosnischen Winkelzug bekunden die Russen ihre
Entschlossenheit, sich von der Kontrolle europäischer Krisen nicht
ausschalten zu lassen. Das ist ihre Antwort auf den Entschluß der
NATO-Mächte, europäische Krisen unter die alleinige Kontrolle
ihrer Gewalt zu bringen und notfalls sogar ihre Konkurrenz punktuell zu
überwinden, um sich Geltung zu verschaffen und um den Russen jede
eigene Ordnungsbefugnis und jedes Mitspracherecht zu verwehren. Wie
wenig diese Antwort dem Westen paßt, das wird er seinen
östlichen "Partner" noch spüren lassen. An
Gelegenheiten dazu ist ohnehin kein Mangel; sie reichen vom bosnischen
Kriegsschauplatz bis zu den Kreditkonditionen des IWF. Die Anlässe
sind in Arbeit.
Und mit 60 toten Bosniern hat das alles schon wieder gar nichts zu tun.
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