Der Krieg in Bosnien
Nichts als ein Anlaß für den Kampf um die Dominanz unter den Weltmächten
I. Die moralisch Aufgewühlten haben sich wieder abgeregt:
Um die Menschen, um Hilfe und echte "Friedenslösungen"
geht es nicht.
Erstaunlich schnell hat sich der moralische Pulverdampf verzogen, der
zu Anfang des Jahres ’93 die deutschen Gemüter erregt und
den Blick auf die weltpolitischen Realitäten des Balkankrieges
verstellt hatte. Man weiß gar nicht zu sagen, ob Cohn-Bendit,
Vera Wollenberger und all die anderen, die sich vor Mitleid mit den
geschändeten Frauen nicht mehr halten konnten und am liebsten
persönlich gegen die serbischen Vergewaltiger in den Krieg gezogen
wären, ihre dringenden Appelle vergessen haben, oder ob sie in der
Öffentlichkeit damit nur kein Gehör mehr finden. Jedenfalls
behauptet niemand, daß eine inzwischen gebesserte Lage der
Kriegsopfer den Entzug der moralischen Anteilnahme rechtfertigen
würde, daß in Bosnien Frauen nicht mehr vergewaltigt,
Städte nicht mehr ausgehungert, Zivilisten nicht mehr vertrieben
würden. Die wirkliche Lage der Kriegsopfer, die vor einem halben
Jahr jede Parteilichkeit für die Moslems und jede Verhetzung der
bosnischen Serben begründen konnte, hat sich nicht verändert,
die moralische Kriegslage im Urteil deutscher Menschenrechtshüter
aber offenbar schon. Die moralische Sortierung der Parteien in Gut und
Böse scheint ihnen nicht mehr so klar zu sein, seitdem die
deutsche Presse ihre Leser darüber in Kenntnis setzt, daß in
Bosnien nicht unschuldige muslimische Menschen serbischen
Gewaltmonstern gegenüberstehen, sondern daß alle drei
Volksgruppen in ihrem Krieg um den eigenen Staat gegeneinander zu genau
denselben Scheußlichkeiten greifen. Massaker, Vergewaltigung und
Vertreibung – all die Verbrechen, mit denen angeblich nur die
bosnischen Serben die Muslime terrorisiert hatten, verüben nun die
Muslime gegen die kroatische Bevölkerung um Travnik, und Kroaten
gegen Muslime im Raum Mostar.
Erklärt das Verblassen des moralischen Unterschieds zwischen den
Guten und den Bösen das Verstummen der Rufe nach dem
menschenrechtlich erforderlichen Kriegseintritt – oder verschiebt
das nur die Frage? Warum nimmt die deutsche Öffentlichkeit,
angeleitet durch ihre Presse, jetzt Fakten zu Kenntnis, die es auch im
Winter schon gegeben hat, als man es noch so leicht und gerecht fand,
die Kriegsparteien in Täter und Opfer zu sortieren?
Läßt man sich von den Auskünften leiten, die politische
Moralisten zur Beurteilung des humanitären Engagements ihrer
nationalen Nachbarn und Konkurrenten vom Stapel lassen, dann ergibt
sich schon eine Antwort:
"Die kleine Irma Hadžimratović ist allen ein Begriff.
Während im Schnitt jeden Tag in Sarajewo drei Kinder getötet
werden, während Tausende anderer Kinder in der umkämpften
Stadt – wahrscheinlich vergeblich – auf eine
Spitalsbehandlung warten, wurde die schwerverletzte Irma in ein
englisches Krankenhaus geflogen und wurde von den britischen Medien
direkt ans Herz der Öffentlichkeit herangetragen. Irma sei Dank.
Sie hat uns – unbewußt – wieder einmal die Augen
geöffnet, wie weit westliche Hypokrisie im Falle Bosniens gehen
kann. Hunderttausende Tote können die Öffentlichkeit nicht so
bewegen, wie die großen Augen eines todkranken Kindes. Und manche
Politiker wie der britische Premier Major, die sich seit Monaten
beharrlich weigern, in Bosnien einen militärischen UN-Akzent zu
setzen, sonnen sich jetzt in der Publizität, die ihnen durch die
kleine Irma zufliegt." (Die Presse, Wien, 12.8.93)
Die UNHCR-Sprecherin Foa hat noch eins draufgesetzt: "Vielleicht
will Großbritannien nur Kinder unter sechs oder nur blonde und
blauäugige Kinder?" (FAZ, 16.8.93) Es ist offenbar keine
Kunst bei anderen den humanitären Willen zum Helfen als ein
berechnendes und berechnetes Spiel auf der Klaviatur der Moral zu
durchschauen, auf das die blöde Öffentlichkeit sowieso immer
dann hereinfällt, wenn die Regierung nur den rechten Ton
anschlägt. In Wien erkennt man sofort, daß die todkranke
Irma zur Propaganda mißbraucht wird – und das für die
Popularität Majors und seiner falschen Politik, die Vermittlung
und humanitäre Hilfe dem militärischen Aufmischen gegen die
Serben vorzieht. Nur ein Kriegseintritt würde die Not der kleinen
Irma nicht politisch mißbrauchen, sondern aus ihr die angebrachte
Lehre ziehen. In österreichischen Redaktionsstuben weiß man:
Nur richtiger Krieg wäre humanitäre Hilfe.
Auf der anderen Seite haben die Amerikaner Ende Juli keine individuelle
Lebensrettung, sondern zum zweiten Mal den Luftkrieg über Bosnien
angekündigt: Um einen lebensfähigen Staat für die
bosnischen Muslime zu ermöglichen und Sarajewo noch vor dem Winter
zu retten, wollten sie serbische Stellungen, Nachschubwege und
Kommandozentralen bombardieren. Daß sie im Unterschied zu den
Briten keine humanitäre Seifenoper, sondern vollgültige
Kriegsakte mit allen dazugehörigen Leichen planten, hat den USA in
der deutschen Würdigung freilich wenig geholfen. Echte "Hilfe für die Muslime" wollte auch da kaum einer
gelten lassen: Zu spät komme das alles, um Bosnien zu retten. Was
könnten selektive Bombenangriffe auf den Kriegsgewinner schon
erreichen? – zumal die richtige Intervention am Boden ja doch
niemand wolle. "Bomben gegen Gewissensbisse" vermutet Die
Zeit, andere wollen wissen, daß Clinton, nach 6 Monaten Amtszeit
schon der unbeliebteste US-Präsident aller Zeiten, aus
innenpolitischen Gründen Beweise seiner "Entschlossenheit" brauche.
Es wird sich schon so verhalten, wie die moralischen Fachleute
vermuten, aber vielleicht eben nicht nur bei Briten und Amerikanern.
Womöglich heucheln auch andere "Hilfe", wo es
tatsächlich um nationale Außenpolitik geht. Womöglich
durchschaut jede Nation beim Nachbarn die Heuchelei, die sie sich
selbst abnimmt, und moralische Aufwallungen in auswärtigen
Angelegenheiten sind überall nur von den Regierungen produziert,
je nachdem, wie sehr sie nationalen Handlungsbedarf anmelden und das
Volk hinter ihre Linie bringen wollen. Dann würde auch das
Verstummen des deutschen Rufs nach dem humanitären Krieg und die
Verunsicherung der Parteilichkeit nichts anderes anzeigen, als
daß die öffentliche Meinung gegenwärtig von oben nicht
ausreichend Nahrung für ihre stets abrufbare Bereitschaft
erhält, sich moralisch manipulieren zu lassen. Die Regierung aber
schürte die moralische Empörung nur deshalb nicht besonders,
weil sie gerade einmal keine speziell deutsche Eingriffschance und
-dringlichkeit sieht.
In dem Maß, in dem sich die Dringlichkeit der "Hilfe"
durch Intervention verloren hat, machte sich Ernüchterung auch
darüber breit, was die "Hilfe" denn allenfalls
bewirken könnte: der "Frieden", die "Lösung
der bosnischen Krise" und ein "akzeptabler
Verfassungsrahmen für den vom Bürgerkrieg zerrissenen
Staat" werden jedenfalls nicht mehr verwechselt damit, daß
die Intervention und Vermittlung der "Weltgemeinschaft"
dafür sorgen würde, daß in Bosnien das Schießen,
das Vertreiben und Morden aufhört. Alle Alternativen dessen, was
da als "Lösung" kursiert, mag ihre Autoren, die
EG-Vermittler, die UNO, die Nato etc. aus Gründen, die nur sie
etwas angehen, zufriedenstellen – oder auch nicht. Für die
bedauerten Kriegsopfer und für den mörderischen
Staatsgründungswahnsinn, der sie alle beherrscht, machen die
alternativen "Lösungen" keinen Unterschied
untereinander und auch keinen Unterschied gegen das, was jetzt Krieg
heißt und von der "Lösung" beendet werden soll.
Es ist kein Geheimnis, daß die "Friedenslösung",
die unbedingt durch auswärtige Einmischung herbeigeführt
werden muß, nur eine neue Rechtslage definiert, unter der der
völkische Wahnsinn – international abgesegnet –
weitergehen kann: "Owens Karte teilt Bosnien entlang ethnischer
Grenzen und legt damit die Grundlage für weitere ethnische
Säuberungen." (Die Zeit Nr.33, 13.8.93) Teilte er das Land
dagegen entlang nicht-ethnischer Grenzen, würde dasselbe
passieren: die Landkarte wäre für die völkischen
Kriegsparteien nicht akzeptabel und der Krieg würde zwecks
Herstellung "national gerechter Grenzen" weitergehen. Das
gilt notwendigerweise für jede international beaufsichtigte
Vermittlung zwischen den drei Volksgruppen, die man beschränken
und zur Selbstbeschränkung zwingen, aber nicht durch einen eigenen
Einmarsch unterwerfen und unter Besatzungsstatut stellen will. Dem
alten, von den Ereignissen überholten "Vance-Owen-Plan", der die ethnische Dreiteilung offiziell
vermied und notdürftig hinter 10 Provinzen, je drei für eine
Volksgruppe plus Sarajewo, versteckte, wurde dasselbe nachgesagt. Der
neue "Verfassungsrahmen" sieht drei selbständige
Republiken im ehemaligen Bosnien vor, die durch ein machtloses, nur
formelles Staatsdach zusammengezwungen werden sollen. Da zwei dieser
drei neuen Staaten in Bosnien Anschlußgelüste an ihre
größeren Vaterländer verspüren, schreit diese "Friedenslösung" geradezu nach einer zweiten Runde des
Krieges, in der die Parteien ihre nur halbfertigen, aber auch nicht
unterbundenen Ziele endgültig durchsetzen. Ganz abgesehen von
Bosnien kommt die zweite Runde des serbisch-kroatischen Krieges um die
serbischen Siedlungsgebiete in Kroatien langsam wieder in Gang –
an der Brücke bei Maslenica wird schon wieder richtig
gekämpft. Auch da haben die Vereinten Nationen die
unversöhnlichen Standpunkte beider Seiten beschränkt und
anerkannt, ihre Ambitionen weder gebrochen noch zufriedengestellt.
So wenig die "Lösungen", Waffenstillstände und
politischen Konstruktionen für die Bewohner des ehemaligen
Jugoslawien einen Unterschied zum Krieg machen – und so wenig
sich die westliche Öffentlichkeit über die Qualität
dieses Friedens täuscht –, das Interesse an diesem
undankbaren Geschäft verlieren die Interventionsmächte
deswegen noch lange nicht. Keinesfalls erlauben sie den Bosniern, sich
unbehelligt totzuschießen, so lange sie es wollen. Nur unter
Aufsicht! Je unattraktiver die "Lösungen" sind, die
von den diversen Gremien gewälzt werden, desto heftiger und
giftiger streiten sich die Weltmächte darum – und das auch
nicht deshalb, weil irgendeine dieser Lösungen einer der
Weltmächte mehr und einer andren weniger nationalen Vorteil
versprechen würde: Es ist nicht zu sehen, inwiefern das
französische, britische, amerikanische Interesse mehr von 10
bosnischen Provinzen als von einer offiziellen Dreiteilung
zufriedengestellt werden sollte. Der Streit unter den
Aufsichtsmächten ist prinzipiell. Zu seinem Unglück ist
Jugoslawien Material für die Entscheidung einer Streitfrage
geworden, mit der das zerfallende Land auf dem Balkan nichts zu tun hat.
II. Wer hat das Sagen bei Aktionen der "Weltgemeinschaft"?
1. Die USA drohen den Serben mit Bombardements, um sie endlich zu
ernsthaften Friedensverhandlungen zu zwingen – sagen sie. Sie
sagen aber auch, was dabei mindestens genauso wichtig ist.
"In der letzten Woche hat die Clinton-Administration mehr als nur
ihre Politik bezüglich des Waffengebrauchs in Bosnien-Herzegowina
geändert: Sie änderte auch ihre Strategie im Umgang mit den
europäischen Alliierten. Monatelang wollte Washington
Militäraktionen in Bosnien nur mit Zustimmung der Alliierten
unternehmen. Die neue US-Linie heißt nach Auskunft offizieller
Stellen: 'Dont’t ask, tell.' Indem sie ihr
Versprechen, sich mit den Alliierten abzustimmen vielleicht etwas zu
wörtlich genommen hatte, hatte die Clinton-Administration den
Europäern effektiv ein Veto zugestanden über ihre
Vorschläge, die Moslems zu bewaffnen und sie mit Luftschlägen
zu beschützen. Diesmal jedoch scheinen die Außenpolitiker
eine fundamentale Lektion darüber gelernt zu haben, wie mit
Alliierten umzugehen ist: Um irgendeine Hoffnung darauf zu haben,
daß etwas durchgeführt wird, muß Washington das
Resultat vorbuchstabieren. ... Es wäre ein katastrophaler
Rückschlag für die US-Außenpolitik, wenn sie ein Bild
von Schwäche heraufbeschwören würde. Die erfolglose
Mission zur bosnischen Krise von Mr. Christopher im Mai schmerzt die
Clinton-Leute noch immer." (International Herald Tribune, 6.8.93,
aus: New York Times)
Wahr ist, daß Clinton Mittel und Wege sucht, im westlichen Lager
eindeutige Über- und Unterordnungsverhältnisse
einzuführen, wie es sie im Kalten Krieg gegeben haben soll, obwohl
die Blockdisziplin damals wegen des gemeinsamen Interesses der
Alliierten gegen die Sowjetunion gerade nicht einfach auf Diktat und
Gehorsam zurückging. Wahr ist, daß Clinton öffentlich
mit dem Alleingang beim Bombardieren der bosnischen Serben gedroht, und
damit der Nato das Resultat ihrer Konsultationen diktiert hatte,
daß er also ein Veto, d.h. die gleichberechtigte Mitsprache der
Verbündeten bei der gemeinsamen Aufsicht über den
jugoslawischen Krisenfall nicht mehr zulassen wollte. Unwahr ist
dagegen, daß solche "Führung" nötig sei, um "irgendetwas getan zu bekommen", um
Entscheidungsschwäche und Handlungsunfähigkeit der
Verbündeten zu überwinden und die gemeinsame Aufsicht
wirkungsvoller zu gestalten. Unwahr ist weiter, daß dies
nötig und nützlich für den Fortgang der
Friedensdiplomatie sei, die den Krieg begleitet.
Tatsächlich haben die USA mit ihrer Ankündigung von
Bombardements gegen die bosnischen Serben zum zweiten Mal – nach
der "erfolglosen Mission von Mr. Christopher im Mai"
– eine fast fertige Verhandlungslösung der EG- und
UN-Vermittler erfolgreich zu Fall gebracht – also sich ein
kleines Veto in der "weltgemeinschaftlichen" Betreuung des
bosnischen Krieges genehmigt. Wie schon im März, als der
Vance-Owen-Plan kurz vor seiner Unterzeichnung stand, haben die USA
auch im August mit der Ankündigung militärischer Angriffe auf
die Serben die Verhandlungsrunde zum Platzen gebracht, in der nach
einem Vorschlag der siegreichen bosnischen Serben und Kroaten die
Dreiteilung des Landes ausgehandelt werden sollte. Mit der Eroberung
der Berge Igman und Bjelašnica haben die Serben Sarajewo endgültig
eingekesselt, abgeschnürt. Sie drohten die Hauptstadt des
Staatsprojekts der Moslems und den Kern des von ihnen noch gehaltenen
Landes einzunehmen. Weil sich ein militärisches Kriegsende,
nämlich ihre endgültige Niederlage abzeichnete, hatte die
muslimische Partei von ihrem Anspruch auf einen ganzen, von den
Muslimen majorisierten Staat Bosnien Abstand genommen. Ihr Staatsrat
war gespalten, er hatte Izetbegović, das Symbol der Unbeugsamkeit des
bosnischen Staatswillens, zeitweilig entmachtet und
kompromißbereitere Mitglieder nach Genf zum Verhandeln geschickt.
Sogar Izetbegović hatte daraufhin eingelenkt, ist nach Genf gekommen
und war fast schon weichgeklopft, als die Amerikaner ihre Pläne
zur Bombardierung der Serben publik machten. Izetbegović monierte
sofort und nicht ganz zu Unrecht, daß das geplante Staatsdach
über die drei selbständigen Republiken in Bosnien auch als
UNO-Mitglied kein richtiger Staat werden würde, und blieb weiteren
Verhandlungen fern. Der Verlierer des Krieges, der in Bosnien kaum mehr
größere Landstriche kontrolliert, verweigerte
Friedensverhandlungen und benahm sich konsequent so, als ob es die
Sieger seien, die Verhandlungslösungen nötig hätten
– und nicht er. Izetbegović verstand die diplomatische Heuchelei
der USA genau richtig. Ihre Ankündigung, sie würden einen
machtvollen Beitrag zum Frieden und zum schnellen Fortschritt der
Verhandlungen leisten, indem sie mit Drohungen und Bomben die
Konzessionsbereitschaft der bosnischen Serben förderten, nahm er
als Chance nun selbst keine Kompromißbereitschaft mehr zeigen zu
müssen. Mit mehr oder weniger Frieden, einem früheren oder
späteren Kriegsende haben die amerikanischen Bombendrohungen
nichts zu tun.
"Die Nato-Pläne über Luftangriffe gegen die Serben
passen Owen deshalb gar nicht ins Konzept. Das Bombengerede sei schuld
daran, daß die Muslime in Genf nicht ernsthaft verhandelten. 'Bis
wir mit den Luftangriffen konfrontiert wurden, hatten wir in
den ersten Tagen dieser Runde ein besseres Gespräch als jemals
zuvor in diesem Jahr'. Der Vermittler von Genf will als der
verkannte Held in die Geschichte eingehen, der im Verhandlungsmarathon
kurz vor dem Ziel zu Fall gebracht wurde." (Die Zeit Nr. 33,
13.8.93)
Die USA haben den EG-Frieden, den Lord Owen aushandelt, unterbunden,
indem sie den militärisch hoffnungslos unterlegenen Muslimen
wieder Hoffnungen auf militärischen Beistand machten. Jetzt kann
der Krieg erst einmal weitergehen, bis eine "Lösung"
in Sicht kommt, die eindeutig als amerikanische erkennbar ist.
Die USA sind nicht bereit, irgendwo auf der Welt, auch nicht im
europäischen Hinterhof der alten Verbündeten, eine
international beaufsichtigte Neuordnung zuzulassen, ohne daß sie
die klar dominierende Macht dieser internationalen Einmischung
wären: Sie lassen sich nicht zum Notar einer EG-Regelung machen,
die sie nicht auch inhaltlich selbst bestimmt haben; und das nicht,
weil die von der EG vermittelte Konstruktion einer bosnischen
Verfassung amerikanischen Interessen weniger dienen würde als eine
durch US-Bomben modifizierte. Sie sind es einfach leid, von ihren
früheren Vasallen instrumentalisiert zu werden, – und kehren
dieses unschöne Verhältnis nach Kräften um: Sie leihen
ihre Macht nicht per Nato und UNO den Europäern für deren
Vorherrschaft auf dem Balkan und über Europa. Im Gegenteil:
Amerika führt die Welt und wenn es Lord Owen erlaubt wird,
irgendeine diplomatische Vereinbarung zwischen den Kriegsparteien in
Bosnien herauszuhandeln, dann nur unter der Bedingung, daß er
letztlich im US-Auftrag unterwegs ist.
Für diesen Beweis hat die US-Regierung einen dreifachen Angriff
auf die Rolle ihrer europäischen Partner/Konkurrenten, besonders
auf die in Bosnien engagierten Briten und Franzosen geführt:
Erstens hat sie, wie besprochen, den Erfolg der britischen
Vermittlungsdiplomatie und des französischen "humanitären Militäreinsatzes" mit ihrer
Ankündigung von Bombardements hintertrieben und verhindert.
Zweitens versucht sie den gegenwärtig federführenden
Interventionsmächten eine weitgehende Umdefinition von ihrer
Einmischung und deren Zweck aufzuzwingen: Die britisch und
französisch bestimmte Bosnienpolitik der EG nahm die Rolle des
unparteiischen Vermittlers der Kriegsparteien ein. Sie zielte darauf,
den Krieg einzudämmen, auswärtige Einmmischung
zurückzudrängen, auch die aus Serbien und Kroatien, alle
Kriegsparteien auf sich und die eigenen Vermittlerdienste und damit auf
die "politische Lösung" zu verpflichten. Mit von ihr
vermittelten und militärisch überwachten
Waffenstillständen, mit Schuldzuweisungen und
Kriegsrechtsgesichtspunkten nahmen die EG-Mächte Einfluß auf
das Kriegsgeschehen und ordneten die Kriegsparteien ihrer politischen
Aufsicht unter, ohne sich militärisch in den Krieg einzumischen,
Partei zu werden und ihn zu entscheiden. Das amerikanische Projekt
dagegen, die Serben zu bombardieren, um Sarajewo und einen bosnischen
Rumpfstaat für die Moslems zu retten, will das Kriegsresultat
durch Parteinahme und aktives Bekämpfen der siegreichen
Kriegspartei zugunsten der Muslime verändern. Mit der neuen
Zweckbestimmung und der breiten Definition möglicher Angriffsziele
nehmen die USA eine völlige Umdefinition der bisher vereinbarten "Luftunterstützung für die UN-Kontingente am
Boden" vor. Vor der neuen "Hilfe" aus der Luft
müssen sich die Blauhelme am Boden fürchten.
Denn die USA bürden drittens die ganze Last ihrer Neubestimmung
der internationalen Intervention den europäischen Mächten
auf, die die Hauptkontingente der UN-Blauhelmtruppen stellen: Die USA
selbst haben keine Blauhelme am Boden und weigern sich konstant, auch
nur die kleinste Einheit dafür abzustellen. Sie wollen die UNO und
ihre Verbündeten in einen antiserbischen Krieg verwickeln, den
diese gar nicht wollen. Dafür aber tragen die USA nichts anderes
bei als die Luftangriffe, mit denen sie die antiserbische Wendung der
UNO herbeizwingen – und sonst gar nichts. Einige US-Senatoren
gaben zu Bedenken, daß Bombardements für sich gar nicht
geeignet seien, die Serben nachhaltig zu schwächen und im
militärischen Sinn das Blatt zu wenden, aber der militärische
Einwand kam in der amerikanischen Außenpolitik nicht zu Geltung.
Für ihren Zweck taugen die Bomben durchaus: Den USA kommt es
lediglich auf die Demonstration ihrer einseitigen Kriegsbereitschaft
und ihrer Fähigkeit an, dadurch den verbündeten
Großmächten eine Umdefinition ihrer Rolle im bosnischen
Krieg aufzuzwingen. Die europäischen Verbündeten sollen dann
die Konsequenzen der neuen militärischen Rolle tragen. Ihre
Soldaten – die trotz UN-Auftrag eindeutig als nationale
Streitkräfte betrachtet werden und nationalen Einfluß
verkörpern – würden durch die antiserbische Parteinahme
der UNO zu Feinden und Zielscheiben der Serben, von denen sie bisher
wie von den anderen Kriegsparteien als verlängerter Arm der
diplomatischen Vermittlung respektiert wurden.
Das ist die amerikanische Vision der neuen Nato – nur unter der
Bedingung, daß die USA alleine entscheiden, will Christopher an
der supranationalen Militärorganisation festhalten und die alten
Verbündeten in die amerikanischen Entscheidungen einbeziehen:
"Er machte den europäischen Alliierten klar, daß,
falls sie es auch diesmal an Handlungsbereitschaft fehlen lassen
sollten, die amerikanische Unterstützung für die Nato
ernsthaft betroffen wäre. Sie sollten wissen, daß die
Vereinigten Staaten einseitig handeln würden, wenn Mr. Clintons
neue Initiative zurückgewiesen würde." (International
Herald Tribune, 18.8.93, aus: The Washington Post)
2. Die europäischen Verbündeten sagen nicht Nein, aber sie fügen sich auch nicht
Selbstverständlich haben Briten und Franzosen den Angriff auf ihre
Federführung und ihre Definition der UN-Mission bemerkt, der in
der "neuen amerikanischen Initiative" lag. Politiker des
zweiten Gliedes, die französischen, belgischen und kanadischen
Offiziere der UN-Truppen sowie die britischen Diplomaten der Genfer
Bosnienkonferenz haben mit offenen Worten gegen das Umwerfen ihrer Art
von Einflußnahme auf den Bürgerkrieg nicht gespart. Ein
einfaches Nein haben die damit degradierten Verbündeten der neuen
amerikanischen Entschlossenheit zum Luftkrieg aber auch nicht
entgegensetzen wollen. Sie fürchten die endgültige
Zurückstufung, die ein offiziell einseitiges Handeln der USA
mitten in Europa für ihre weltpolitische Position bedeuten
würde, da es ihnen nur mehr die Alternative purer Unterordnung
oder offener Kampfansage ließe. Deshalb funktioniert die
US-Drohung mit dem Alleingang: Der Nato-Rat beschließt, was die
USA wollen – aber nur im Prinzip. Dem Ja zur Vorbereitung
gemeinsamer Bombenangriffe der Nato-Staaten werden Bedingungen
nachgeschoben, ihnen werden Funktionen zugewiesen, die der
amerikanischen Absicht, die eigene Durchsetzungsfähigkeit zu
beweisen, geradewegs entgegengesetzt sind.
Erstens wird betont, daß das grüne Licht, das der Nato-Rat
gegeben hat, nicht den Bombenangriffen, sondern nur den logistischen
und bündnistechnischen Vorbereitungen davon gilt. Der eigentliche
Beschluß zum Luftkrieg steht noch aus und müßte
Gegenstand einer späteren, dann endgültigen Ratstagung
werden. Allein das hält die FAZ, die "wieder Hoffnung haben
könnte", wenn endlich gebombt würde, für eine
einzige Falle:
"Diese (Sitzung) muß aber erst wieder von einem
Mitgliedsland, den UN oder vom Nato-Oberbefehlshaber Europa einberufen
werden, 'falls die Situation es erfordert'. Dies ist eine
Ermessensfrage, die denjenigen, der sie positiv beantwortet, in eine
exponierte Lage bringt. Die Gefahr des Scheiterns ist erheblich, denn
der Nato-Rat muß einstimmig votieren – und England,
Frankreich, Griechenland sowie andere Nato-Länder sind bisher
gegen den Einsatz bewaffneter Kräfte eingetreten." (FAZ,
11.8.1993)
Die Sorgen der FAZ zeigen immerhin, wie wenig bisher gemeinsam
beschlossen ist. Die komplizierten, wiederholten und mit verschiedenen
supranationalen Institutionen verschachtelten Entscheidungsstrukuren
– ob sie den Luftkrieg letztendlich verhindern oder ihn
beschließen – bewirken jedenfalls die formelle Bindung der
USA, die mit dem Beweis ihrer einseitigen Handlungsfähigkeit genau
auf das Gegenteil hinauswollten: Alleine lassen die Verbündeten
sie nicht handeln – und wenn es am Schluß dazu kommt,
muß sichtbar sein, daß auch die USA nichts tun durften, ehe
nicht der endgültige und offizielle gemeinsame Beschluß auf
dem Tisch war.
Aber auf eine nur formelle Bindung der USA durch die verzögernden
Entscheidungsprozeduren beschränkte sich die Konditionierung des
europäischen Ja zu den Luftschlägen nicht. Die USA, die mit
und ohne Nato, mit und ohne UNO Angriffe gegen die bosnischen Serben
fliegen wollten, treffen in der damit erpreßten Nato auf Partner,
die ihrerseits das Angebot, die Nato könnte sich hinter und unter
den USA als Über-UNO etablieren, ausgeschlagen haben. Der Nato-Rat
legte fest, daß alle seine Militäraktionen strikt unter dem
Dach der UNO, im Rahmen der vorliegenden Sicherheitsratsresolutionen
und – zum erkennbaren Ärger der USA – nur auf den
persönlichen Einsatzbefehl von UN-Generalsekretär
Boutros-Ghali hin stattfinden sollten. Die Einbindung und Unterordnung
der USA, die gerade wieder verstärkt auf Vormacht machen, unter
die Institutionen des Supranationalismus war offenbar der gemeinsame
Wille aller anderen Nato-Staaten unbeschadet dessen, ob sie in der
Sache nun die Luftangriffe favorisierten oder nicht. Sie haben ihre
eigenen Nato-Ratsbeschlüsse einem weiteren Gremium zur Beurteilung
vorgelegt und unter eine zusätzliche Kautele gestellt; einem
Gremium freilich, bei dem sich die Hauptakteure des Nato-Streits
wieder, nun in ihrer Rolle als Mitglieder des UN-Sicherheitsrats
gegenübersitzen. Aber nicht nur sie: Mögen sich Briten und
Franzosen für dort ein Nein vorbehalten, das sie, um die Nato
nicht zu zerstören, in Brüssel vermieden, jedenfalls haben
sie mit dem UN-Sicherheitsrat die Russen und Chinesen als eine weitere
Hürde amerikanischer Handlungsfreiheit ins Spiel gebracht. Die
politischen Erben des ehedem gemeinsamen Hauptfeindes, die das
Vetorecht der einstigen Sowjetunion im Sicherheitsrat innehaben, werden
von den konkurrierenden Mächten des Westens nach Kräften
für die Behinderung der Partner und für eigene Freiheiten
weltpolitisch benutzt. Daß die neuen Russen mit der Erlaubnis zur
internationalen Mitsprache, die sie bisher ohnehin nur zum Ja-Sagen
benutzt haben, und mit ihrem UN-Kontingent in Jugoslawien selbst
kontrolliert und in die von ihnen nicht bestimmten Aktionen der "Weltgemeinschaft" eingebunden werden, findet die
politische Meinungsbildung inzwischen interessanter als die Frage,
welcher der alten anti-sowjetischen Verbündeten "die
russische Karte" gegen den anderen zu spielen versteht.
"Selbst wenn Boutros-Ghali dies (den Luftkrieg) wollte,
könnte er vom UN-Sicherheitsrat zur Ablehnung gebracht werden.
Dafür müßten sich die Sicherheitsratsmitglieder England
und Frankreich nicht einmal selbst exponieren, auch Rußland
könnte den Einsatz ablehnen. Tatsächlich hat der russische
Außenminister Kosyrew bereits angekündigt, er wolle
Luftangriffe der Nato auf serbische Stellungen verhindern:
‚Wichtig ist jetzt, unkontrollierten Aktionen in Bosnien
vorzubeugen, die Anlaß zu Gewaltaktionen werden
könnten.‘" (FAZ, 11.8.1993)
Außer den beiden formellen, den Entscheidungsprozeß
betreffenden Vorbehalten haben die europäischen Nato-Staaten noch
zwei inhaltliche Bedingungen in ihrem Ja zu den Bombenangriffen
untergebracht, die auf das Gegenteil dessen hinauslaufen, was die USA
beabsichtigt hatten: Die neue Linie, die auf richtige Kriegsakte und
antiserbische Beeinflussung des Kriegsresultats zielt, erklärt der
Nato-Rat nur dann für akzeptabel, wenn sie sich in die alte
humanitäre, methodisch beaufsichtigende EG-Intervention
einfügt:
"Der Rat betont nochmals, daß die Luftangriffe auf
humanitäre Zwecke beschränkt sind und nicht als Entscheidung
zur militärischen Intervention interpretiert werden
dürfen." (FAZ, 11.8.1993)
Man möchte am Verstand der Nato-Botschafter aus den 16 Nationen
zweifeln! Sie planen den Luftkrieg und wollen damit humanitäre
Zwecke befördern! Wie sollen Bomben dem Füttern Hungernder
dienen, und das ohne in das militärische
Kräfteverhältnis zwischen den Kriegsparteien einzugreifen?
Der schreiende Widerspruch von Zweck und Mittel, den der Nato-Rat sich
vornimmt, ist hier einmal nicht, wie sonst oft, die leicht
durchschaubare moralische Rechtfertigung für einen feststehenden
Kriegswillen, sondern die Zuschreibung von konkurrierenden Zielen
gegenüber eigentlich sehr eindeutigen Maßnahmen. Wenn sie
die US-Entschlossenheit zum Bombardieren schon nicht stoppen und offen
zurückweisen können, dann legen die Europäer halt deren,
gegenüber einem Luftkrieg sachfremde, Ziele fest und versuchen so,
entweder die amerikanische Machtdemonstration zu blockieren oder sie
für ihre Bosnienpolitik zu funktionalisieren. Sie bemühen
sich, die amerikanische Eskalation doch noch zum Mittel der
Durchsetzung ihrer ordnungspolitischen Vormachtrolle in Europa zu
machen.
Außer der Verpflichtung auf den Zweck der humanitären Hilfe
und der Unterstützung von Verhandlungen hat der Nato-Rat die
Luftangriffe schließlich noch unter die Bedingung gestellt,
daß sie die Sicherheit der in Bosnien stationierten Blauhelme
nicht gefährden dürfen und mit ihrem französischen
Oberbefehlshaber General Cot abgesprochen sein müssen. Die neue
Rolle der kriegerischen Einmischung gegen die Serben darf die Blauhelme
in der alten neutralen Aufsichtsrolle, die zwischen den feindlichen
Linien stationiert sind, nicht zu Geiseln und Zielscheiben der Serben
werden lassen. Gleichgültig dagegen, wie und ob das überhaupt
geht, formulieren die konkurrierenden Mächte einen gemeinsamen
Beschluß, der die Unterordnung dann doch ziemlich vermissen
läßt, auf die die USA gedrängt hatten; einen
Beschluß, der Durchsetzung und Nachgeben, Führung und
Gefolgschaft überhaupt nicht regelt oder entscheidet, sondern
vielmehr der Fortsetzung dieses Ringens überläßt, das
alle Seiten von nun an mit diesem Nato-Rats-Beschluß betreiben.
3. Ein verbissenes Tauziehen um die Interpretation des Nato-Beschlusses
läßt die Bekenntnisse zur supranationalen "Krisenbeherrschung" immer scheinhafter werden
US-Präsident Clinton hat die obige Beschlußfassung des
Nato-Rates "begrüßt" und als Unterstützung
seiner Initiative genommen. Er macht sich zum allein befugten
Interpreten des gemeinsamen Beschlusses und sagt, wie er gemeint war.
Dabei ist er entschlossen, diesem nur das Ja zu entnehmen und das
ebenso große Nein, das in den Konditionen steckt, zu ignorieren.
Er läßt einen Pentagonsprecher verlautbaren, jetzt
hätten die USA Handlungsfreiheit und einen weiteren "Pfeil
im Köcher", um das Notwendige zur Beendigung des bosnischen
Krieges zu unternehmen. Dieser nationalen Sicht entspricht auch eine
Praxis; dafür, daß noch kein Beschluß zum wirklichen
Bombardieren vorliegt, läuft schon eine ganze Menge: Zusammen mit
den Amerikanern führen die Nato-Stäbe unter ihrem deutschen
Generalsekretär Wörner – gewissermaßen das
personifizierte Interesse an Fortbestand und Funktionsfähigkeit
der Nato – alle nötigen Vorbereitungen für den
Luftkrieg durch, sie bringen Feuerleit-Offiziere der Nato schon einmal
überall in Bosnien in Stellung und fliegen Scheinangriffe "zur Übung". Das erhöht den Entscheidungsdruck
auf die Alliierten und entwindet ihnen das Argument zu einer weiteren
Verzögerung ohne offenes Nein. Währenddessen interpretiert
Amerika den UN-Oberbefehl über die geplanten Luftschläge
vorsorglich nach dem Muster des Golfkrieges:
"Amerikanische Diplomaten haben Boutros-Ghalis Anspruch in ihrem
Sinn als 'Eisbrechertaktik' ausgelegt: Man werde, wenn das
Eis gebrochen ist, nach eigenem militärischen Gutdünken
verfahren." (Die Zeit, 13.8.93)
Die britische Bosnienpolitik, verkörpert durch den EG-Vermittler
Lord Owen, tut genau dasselbe vom britischen Standpunkt aus: Owen, der
die Luftangriffe als Zerstörung und Boykott seiner
Verhandlungsdiplomatie abgelehnt hatte, instrumentalisiert sie nun
dafür. Mit den drohenden Bombardements im Rücken formuliert
er ein Ultimatum an die bosnischen Serben – und dessen
Erfüllungsbedingungen gleich mit. Ohne es offen auszusprechen,
hatte sein Ultimatum bedeutet, daß die Serben die Situation, "in der Luftangriffe erforderlich wären", dadurch
vermeiden könnten, daß sie sich von den Bergen Igman und
Bjelasnica zurückziehen, von denen aus sie Sarajewo "strangulieren".
Sobald abzusehen war, daß der serbische Rückzug zustande
kommt, verkündete US-Außenminister Christopher, dieser
Rückzug genüge nicht, die Belagerung von Sarajewo müsse
grundsätzlich aufgegeben werden, und erklärte Sarajewo zum "Gegenstand des nationalen Interesses der USA". In den
folgenden Tagen zettelte die UN-Botschafterin Albright einen
öffentlichen Streit mit den UN-Kommandeuren in Bosnien
darüber an, was eine Belagerung sei und wann man sie als beendet
ansehen müsse. Der Sprecher von UNPROFOR sah die Belagerung
dadurch beendet, daß Sarajewo nicht mehr beschossen wurde und
Lebensmittelkonvois die serbischen Stellungen passieren durften. Die
US-Diplomatin erklärte die "beherrschende militärische
Stellung" der Serben in der ganzen Region zur Belagerung und
verlangte, daß die Serben den militärischen Vorteil in
Zentralbosnien überhaupt aufgeben müßten, um die
Luftangriffe abzuwenden. Ihre Forderung nach einer Revision der
Kriegsergebnisse auf Kosten der Serben zielte bewußt auf die
Unerfüllbarkeit des Ultimatums und sollte den USA ihren im
Nato-Beschluß festgelegten Eingriffstitel erhalten. Sie forderte
weiter von Boutros-Ghali, die UN-Kommandeure in Bosnien zu
maßregeln, die es sich herausgenommen hatten, "die
Bosnienpolitik des US-Präsidenten zu kritisieren, anstatt ihre
militärische Pflicht zu tun". Das fand Mrs. Albright "unerträglich" angesichts dessen, wie sich die USA die
korrekte Befehlskette bei den Vereinten Nationen vorstellen.
"Die Nato als Koalition hat Luftangriffe als eine Drohung
behandelt, die nur eingesetzt werden sollte, um Erleichterung für
Sarajewo durchzusetzen, – was, um es zu wiederholen, noch lange
nicht erledigt ist. Die Vereinigten Staaten geben nun zu verstehen,
daß diese Drohung für das ambitioniertere Ziel eingesetzt
werden sollte, die Genfer Verhandlungsposition der Moslems in noch
unbestimmtem Maß zu verbessern. Um die beträchtliche
Differenz zwischen diesen Standpunkten dreht sich die nächste
Runde Diplomatie. Traurig, daß die Europäer zu einer
breiteren Wahrnehmung ihrer Verantwortung bewegt werden müssen;
sie bezieht sich nicht nur darauf, die Waffen in einem Krieg vor ihrer
Haustür zum Schweigen zu bringen, sondern auch darauf,
sicherzustellen, daß sich der Krieg nicht anderswohin ausbreitet,
und auf das Erreichen eines Friedens, der auf regionale Stabilität
zielt. Für all das braucht es ein neues Maß von
Unmißverständlichkeit in Washington: Um beutehungrigen
Serben und Kroaten klar zu machen, daß es schließlich eine
Grenze amerikanischer Geduld gibt." (International Herald
Tribune, 18.8.93, aus: The Washington Post)
Die Ambivalenz dieses Plädoyers für amerikanische
Unmißverständlichkeit ist aufschlußreich: Braucht es
sie nun, um den verantwortungslosen Europäern, oder um den
beutehungrigen Serben die Grenzen amerikanischer Geduld klarzumachen?
Der Washingtoner Journalist hält beides unter dem Stichwort "all das" für identisch: Indem Amerika den Serben ihre
Grenzen aufzeigt, erteilt es auch den Europäern die anstehende
Lehre.
III. "Den Westen" gibt es nicht mehr. Die Akteure der Weltpolitik geben es nur noch nicht zu
In ihrem jugoslawischen Engagement geht es den Weltmächten schon
lange nicht mehr um bestimmte "Lösungen", sondern um
die jeweilige nationale Initiative dabei. "Lösungen"
verfechten sie und lassen sie fallen, um andere "Lösungen" aufzugreifen, die gerade eine
Konkurrenznation fallengelassen hat, je nachdem, welche Chancen sie
sich zur nationalen Initative dabei ausrechnen. Es ist nicht so
entscheidend, was ihre Einmischung auf dem Balkan bewirkt; entscheidend
ist, welche Nation die gemeinsame Einmischung der Siegermächte des
Kalten Krieges anführt, weil sich vorerst alle darauf festgelegt
haben, die Klärung, Veränderung oder Zementierung ihres
gegenseitigen Kräfteverhältnisses als Konkurrenz um die
Führung bei der gemeinsamen Aufsicht über die nachgeordnete
Staatenwelt zu betreiben. Daß Großbritannien die
Vermittlungsdiplomatie anführt und Lord Owen die politischen
Ergebnisse des militärischen Kräftemessens definiert,
daß Frankreich sich die Definition der "humanitären
Militärintervention der UNO" reserviert und mit dem
größten Kontingent die Truppen der Weltorganisation
militärisch anführt, daß auf der anderen Seite die USA
sich diese alten Privilegien auch im Hinterhof der EG-Mächte nicht
nehmen lassen, – das sind die Interessen, die bei der Aufsicht
über den bosnischen Krieg im Konflikt liegen.
Den Angriff auf die Führerschaft der anderen führen die
Weltmächte dadurch, daß sie den Verbündeten vorwerfen,
deren Art Einmischung und Aufsicht würde vor Ort nichts bewirken,
wäre zu nachgiebig, unentschlossen, schwächlich oder gar, so
der US-Verdacht gegen Lord Owen, im stillen Einverständnis mit den
siegreichen Serben. Der Vorwurf wird praktischerweise dadurch
untermauert, daß man die Initiative der jeweils anderen erst in
den gemeinsamen Gremien von UNO und Nato (und EG) hintertreibt und,
falls sie dennoch zur offiziellen Linie werden, durch entgegengesetzte
Initiativen zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Man macht sich zum Patron
der gerade zu kurz gekommenen Kriegspartei und erspart ihr damit die
Submission unter die "Friedensstiftung der
Weltgemeinschaft".
Die Durchsetzung der diversen nationalen Ordnungskonzepte und
Vorstöße scheitert nicht an Serben, Kroaten oder Muslimen in
Bosnien, sondern an der Macht der lieben "Partner in
Leadership". Es scheitert auch kein positiver, gemeinsamer
Ordnungswille – den gibt es bei der gemeinsamen Intervention
nämlich gar nicht –, vielmehr scheitert die versuchte
Instrumentalisierung der Macht der Partner für eigene nationale
Ambitionen auf die Rolle der Vormacht in Europa und/oder gleich der
Welt. Die deutsche Balkanpolitik scheiterte an der Macht der Briten und
Franzosen, die sie brauchte, aber nicht einfach zum Instrument des
Aufbaus einer deutschen Einflußzone degradieren konnte. Die
spätere Bosnienpolitik der EG, die inzwischen von Franzosen und
Briten dominiert wird, scheitert an den USA, die eine autonome
europäische Ordnungsstiftung hintertreiben, und sich immer wieder
als einzige militärisch einseitig handlungsfähige Macht
störend ins Spiel bringen; die USA aber scheitern ebenfalls bei
dem Versuch, mittels ihrer nationalen Sonderrolle alle anderen unter
ihre Führung zu beugen.
Das aber sprechen die konkurrierenden Seiten nicht ehrlich aus. Nur in
ihrer Lüge bekennen sie sich noch zu der strategischen
Gemeinschaftlichkeit und dem Supranationalismus ihrer Weltherrschaft:
Sie klagen nicht über ihre nationale Ohnmacht gegenüber den
hinderlichen, nicht instrumentalisierbaren Partnern/Konkurrenten,
sondern über ihre Ohnmacht gegenüber den Serben. Sie
denunzieren eine Ineffizienz ihrer Entscheidungsstrukturen, eine
Entschlußlosigkeit ihrer gemeinsamen Gremien und
schließlich eine Uneinigkeit untereinander als den Grund ihrer
gemeinsamen Ohnmacht gegenüber Milošević. Mit dem Appell an ein
gemeinsames Interesse versucht jede der Interventionsmächte die
anderen zur Unterordnung und Mitarbeit beim eigenen Einmischungsprojekt
zu verpflichten – und dabei beweist doch dieselbe Uneinigkeit,
daß ein gemeinsames Interesse, die Serben kleinzumachen, gar
nicht vorhanden ist. Die Erinnerung an den Feind, gegen den man sich
zusammenschließen und die nationalen Potenzen zusammenwerfen
muß, um keine Schwäche zu zeigen, die 40 Jahre lange den
Westen begründet und zusammengehalten hat, funktioniert nach dem
Ende der Sowjetunion nicht mehr: Weder ist ausgemacht, daß alle
Mächte von weltpolitischem Gewicht die Serben für ihr Problem
halten – manchem kommen sie als Gegengewicht zu einer
befreundeten aber übergewichtigen Macht womöglich gerade
recht [1] –, noch sind die Serben ein Feind von einer Dimension,
die die Ein- und Unterordnung unter ein gemeinsames Programm ihrer
Bekämpfung zu einem fraglosen Interesse aller beteiligten Nationen
machen würde. Erst jetzt, wo die Bekämpfung eines wirklich
gemeinsamen Feindes nicht mehr positives Interesse aller Beteiligten
ist, wird die Verpflichtung darauf zur reinen Unterordnung einer Nation
unter eine andere.
Diese Unterordnung wird erstens gefordert und zweitens verweigert.
Solange aber drittens die Verpflichtung auf die Gemeinsamkeit bei der
Beherrschung der Welt nicht offen gekündigt ist, werfen die USA
ihren Nato-Verbündeten nicht vor, daß sie zuviel autonome,
ihrer Kontrolle entzogene Macht in Europa entfalten, sondern daß
sie zuwenig Gewalt gegen die von den USA ausgemachten Bösewichter
aufbieten: Nur wenn sie Saddam Hussein, Milošević und General Aidid mit
mehr Einsatz und im US-Auftrag bekämpfen würden, könnten
die USA ein wachsendes militärisches Gewicht Europas tolerieren.
Noch werfen die Europäer den USA ihre militärische
Präsenz in Europa nicht als Imperialismus und Einmischung in ihre
inneren Angelegenheiten vor, sondern beklagen, daß die USA der
EG-Ordnungsstiftung im europäischen Hinterhof ihre unbestreitbare
Macht zu wenig zur Verfügung stellt. Nur zur Erweiterung ihrer
Macht könnten die Europäer US-Soldaten auf dem Kontinent auf
Dauer akzeptabel finden.
Weil jede der Weltmächte die Macht der anderen nur als Instrument
zur Erweiterung der eigenen noch gelten lassen würde, weil das
aber nicht zu haben ist und keine der Weltmächte sich
instrumentalisieren läßt, wird der Supranationalismus, den
sich die Großen über das Ende des ihn begründenden
sowjetischen Feindes hinaus erhalten wollten, zunehmend als Last
empfunden. Alle Regierungen geben Maßstäbe von
Eigenständigkeit und Führungskraft vor, an denen sie gemessen
werden wollen – und an denen sie wegen der Bindung an die
Gemeinsamkeit der weltweiten Einmischungspolitik alle miteinander
schlecht aussehen. Das befördert die Verdrossenheit von Regierten
und Regierungen mit den Bündnissen:
"Auch die amerikanischen Medien kritisieren Clintons
Bosnienpolitik wieder als verworren und von Verfahrensfragen gefesselt.
Mit voller Wucht hat die Regierung Clinton zu spüren bekommen, was
'Multilateralismus' als außenpolitisches Axiom in der
Praxis bedeutet." (Die Zeit, 13.8.93)
Der Schluß, den die Amerikaner daraus ziehen, ist eindeutig. Und
wenn sie mit der Praktizierung dieser Einsicht Ernst machen, dann
beenden sie den Schein, daß es den Westen, die Nato und die UNO
als weltpolitische Subjekte noch gäbe:
"Mr. Christopher und seine nächsten Mitarbeiter haben schon
einige sehr schmerzhafte Lektionen aus der Ineffektivität der Nato
in Bosnien gelernt. Vor allem die Erkenntnis, daß es keinen
Ersatz für selbstbewußte US-Führung gibt, auch nicht in
den schwierigen Fällen der Welt nach dem Kalten Krieg. Zu den
Opfern des bosnischen Konflikts zählen auch die früheren
Hoffnungen der Administration, sie könnte sich die Last
amerikanischer Führung erleichtern und sich mehr auf multilaterale
Lösungen für Europas Sicherheitsprobleme verlassen."
(International Herald Tribune, 18.8.93, aus: The Washington Post)
Da die europäischen Weltmächte die Sache genauso, nur
umgekehrt sehen, ist es längst das Überleben der
supranationalen Institutionen zur Beherrschung der übrigen Welt,
die im jugoslawischen Konflikt auf dem Spiel stehen. Alle Mächte
ringen miteinander um deren nationale Dienstbarmachung – daran
gehen die Institutionen gemeinsamer Aufsicht kaputt.
"Die Hoffnung, die Nato werde bereit und fähig sein, auch
für sie (die aus dem ehemaligen Ostblock hervorgegangenen neuen
Staaten) Sicherheit und Frieden zu gewährleisten, ist im
Schwinden. Die Nato hat die Beschäftigung mit dieser
Herausforderung vertagt. Statt dessen bemüht sie sich in
quälenden Verhandlungen mit sich selbst um die Fähigkeit,
wenigstens einen symbolischen Schlag gegen die serbischen Aggressoren
in Bosnien zu führen. Die Erfolglosigkeit dieses Unternehmens
scheint programmiert. Über den derzeit nicht aktuellen Auftrag zur
kollektiven Selbstverteidigung hinaus haben die sechzehn Nato-Staaten
bisher keine gemeinsame außen- und sicherheitspolitischen
Interessen zu finden vermocht. ... Es geht darum, ob die Nato als
Bündnis einer vergangenen Epoche verblaßt oder das
Rückgrat 'des Westens' bleibt, den es ohne diese
Allianz auf Dauer nicht geben kann." (FAZ, 16.8.93)
Jetzt müßte die Nato in Bosnien also nicht wegen Bosnien
oder der Serben, sondern wegen des Überlebens der Nato
schießen: Ob sie überhaupt noch gemeinsame
außenpolitische Interessen finden, ob sie sich überhaupt
noch auf einen Auftrag für ihr altes Kriegsbündnis einigen
können, das ist die Frage, die den Krieg auf dem Balkan zum bitter
ernsten Testfall auf Konkurrenz und Einigungsfähigkeit der
imperialistischen Hauptmächte macht. Darin liegt seine
weltpolitische Bedeutung. Gleichgültig ob dieser Krieg mit ca. 250
000 Toten zu einem Ende kommt oder erst nach einer Million und einigen
weiteren Kriegsjahren, weltpolitisch viel schwerer wiegt, daß die
Geschäftsordnung der gegen die Sowjetunion vereinten
kapitalistischen Mächte darüber durcheinanderkommt und sich
ihre von damals überkommene Gemeinschaftlichkeit auflöst. Die
vielgelobte Zivilisierung des Imperialismus, eine rationale
Außenpolitik, die auf Kooperation und multilaterale
Interessensbalance setzt, war eben doch nur durch den
äußeren Feind erzwungen. Kaum freigesetzt, empfinden die
verbündeten Mächte den Multilateralismus als Fessel ihrer
Nationalinteressen. Wenn eines Tages feststehen wird, daß "es" wieder einmal am Balkan angefangen hatte, dann wird
man von neuem dieses "Wettereck der Weltpolitik" und seine
kriegerischen Bewohner dafür verantwortlich machen, obwohl die
überhaupt nichts damit zu tun haben.
P.S.: Deutschland im Abseits – auf der Suche nach neuen Gelegenheiten, sich ins Spiel zu bringen
Das Land, das zur Entstehung dieses Krieges mehr als andere von
außen beigetragen und in den ersten Kriegsmonaten einiges Gewicht
bewiesen hat, als es darum ging, den jugoslawischen Staat zu
zerstören und neue Staaten in die Welt zu setzen, dieser
imperialistische Aufsteiger muß jetzt leidvoll erfahren,
daß er beim Ringen um die Hierarchie der Weltmächte auf
diesem Schauplatz nicht mehr richtig dabei ist.
Im Frühjahr hat der deutsche Verteidigungsminister den Protest
aller übergangenen Nato-Staaten gegen die Politik der Schutzzonen
angeführt, auf die sich USA, Frankreich, England und Rußland
geeinigt hatten. Die kurzfristige Wiederauflage der
Anti-Hitler-Koalition hatte die deutsch initiierte Schaffung und
Erhaltung eines bosnischen Staates offiziell aufgegeben und sich dem
Schutz der belagerten Menschen verschrieben. Rühe hatte
verhindert, daß diese antideutsche Einigung von der Nato
militärisch in die Tat umgesetzt wurde. Daraufhin hatte sich der
US-Außenminister Christopher weitere Störmanöver von
seiten Deutschlands verbeten und dafür eine kleine Wahrheit zur
diplomatischen Waffe gemacht: Deutschland solle sich zurückhalten,
es habe der Welt diesen Krieg durch seine Anerkennungspolitik
überhaupt erst eingebrockt. Der Amerikaner hat Deutschland zum
Schuldigen, gewissermaßen zum Ordnungsproblem erklärt und
sprach ihm das Recht zur (Mit-)Aufsicht über die Krise ab. Es war
das erste Mal, daß die Konkurrenz der westlichen Mächte
soweit ging, daß eine die andere statt als Mitverantwortlichen
für die gemeinsame Weltordnung als Unruhestifter ansprach. Als
Bonn kurz darauf den US-Wunsch zur Aufhebung des Waffenembargos
gegenüber den Moslems in der EG durchsetzen wollte, lehnten die
EG-Partner ab – und die USA dementierten einen Brief Clintons an
Kohl, den dieser öffentlich verlesen hatte: Die Deutschen
brauchten gar nicht zu versuchen, durch Berufung auf die USA und durch
Unterstützung ihrer Linie sich wieder ins Spiel zu bringen. Dabei
wäre man sich in der Sache durchaus einig gewesen: Deutschland wie
die USA wollten durch die Bewaffnung der Moslems den Krieg neu
anheizen, der zu einem unerfreulichen Ende zu kommen drohte –
unerfreulich selbstverständlich nur für sie und ihre
nationalen Bemühungen, die internationale Einmischung zu
dominieren.
Seitdem findet Deutschland keinen rechten Hebel mehr, um sich und den
eigenen Einfluß auf dem Kriegsschauplatz zur Geltung zu bringen.
Die Nation muß lernen, daß bei der Konkurrenz der
höchsten Güteklasse nur mitmischen kann, wer vollwertig
militärisch engagiert ist. Auch dort, wo zweifellos deutscher
Einfluß vorliegt – in Bezug auf seine Schöpfung, den
kroatischen Staat –, kommt Deutschland nicht in die erstrebte
Rolle der gestaltenden Ordnungsmacht. Stattdessen wenden sich Franzosen
und Briten an das deutsche Außenamt, es solle seine Kreaturen,
die Kroaten, zur Räson bringen und dafür sorgen, daß
diese die UN-Waffenstillstandsvereinbarungen an den Grenzen zur Krajina
respektieren, in Mostar UN-Hilfskonvois durch ihren Belagerungsring
lassen, ihre KZ auflösen etc. Weil Deutschland seiner
Schöpfung außer der internationalen Anerkennung kein
weiteres Recht verschaffen kann, an dem sich alle Welt orientieren
muß, behält der kroatische Staatswille stets das Manko einer
– deutsch verschuldeten – Störung der internationalen
Balkan-Aufsicht, die Deutschland im Ordnungsinteresse anderer
Weltmächte unter Kontrolle halten soll. Weil die kroatische
Regierung von ihrem deutschen Patron schließlich so wenig
militärische Unterstützung bekommt, gehorchen diese
undankbaren Kerle dem Kinkel noch nicht einmal prompt.
Aus purem Mangel an besseren und eigenen Eingriffsmöglichkeiten
spielt die Nation, deren Alleingang die neuen Staaten am Balkan zum
internationalen Faktum gemacht hat, vorübergehend den Verteidiger
eines denkbar umfassenden Multilateralismus. Gegen Briten und Franzosen
hat der deutsche Nato-Botschafter den amerikanischen Wunsch nach
Bombardements unterstützt – bei Nato-Aktivitäten ist
man wenigstens überhaupt wieder dabei! –, dies aber so,
daß darin auch keine Wendung gegen die europäischen Partner
und gegen Rußland liegt, auf die man eben auch setzt:
"Die deutsche Unterstützung war allerdings an die Bedingung
geknüpft, daß ein Einsatz der Luftwaffe die Interessen der
Länder wahrt, die Soldaten im humanitären Auftrag in Bosnien
haben, und daß alle Aktionen in Übereinstimmung mit den UN
erfolgen. Dadurch soll Rußland die Möglichkeit der
Mitbestimmung behalten und in die anti-serbische Koalition eingebunden
bleiben." (FAZ, 4.8.93)
Aus der imperialistischen Not, in Kriegsdingen noch nicht voll
zugelassen zu sein, fand die deutsche Außenpolitik wieder ein
bißchen zu dem Genscherismus zurück, den sie nun schon seit
längerem verlassen will: Man könne auch einen ungerechten
Frieden in Bosnien nicht verhindern, wenn sich die Kriegsparteien
darauf einigten, aber Deutschland werde keine Mark Wiederaufbauhilfe an
diejenigen zahlen, die Grenzen mit Gewalt verschoben hätten. Man
würde ja sehen, wieweit Staaten in Europa ohne deutsches Geld
kommen.
Was in dem Krieg um Staatsgründung und Grenzen eine matte Drohung
sein mag, zeugt doch davon, daß die beleidigte Vormacht nicht
daran denkt, anderen das Feld zu überlassen, und daß sie
sich auf lange Sicht sicher ist, am längeren Hebel zu sitzen. Aber
auch kurzfristig hält sie es nur noch schwer aus, daß ihrer
Rechtsetzung für die Staaten im ehemaligen Jugoslawien nicht Folge
geleistet wird, daß sich statt ihrer andere Mächte Respekt
verschaffen. Welche Lehren die Macht in der Mitte Europas daraus ziehen
wird, steht schon fest. Man darf gespannt sein, womit sie sich auf dem
Kriegsschauplatz zurückmeldet.
[1] Von seinem radikal deutschen Blickwinkel aus leuchten dem
Leitartikler der FAZ die Rechnungen der europäischen Partner ein:
"Im einstigen Jugoslawien ziehen die Nato-Staaten nicht an einem
Strang; nicht nur weil Frankreich kein Interesse daran hat, daß
Amerika bei einem militärischen Eingreifen der Nato abermals als
maßgebliche Ordnungsmacht in Europa auftrete. Bei der britischen
und französischen Ablehnung militärischer Aktionen gegen
Serbien spielt nach Überzeugung vieler Beobachter auch der Wunsch
eine Rolle, in Südosteuropa eine Macht zu erhalten, die dort den
Einfluß Deutschlands begrenzen kann." (FAZ, 16.8.1993)
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