Der Krieg auf dem Balkan
Zweifelhafte Fortschritte auf dem Exerzierfeld des deutsch-europäischen Imperialismus
Der Krieg um das ehemalige Jugoslawien wird immer mehr zur Sache
deutscher und europäischer Politik. Das ist kein Geheimnis. Die
Verantwortlichen sorgen schon dafür, daß auch der
Normalbürger um "unsere" Zuständigkeit für
die Regelung des dortigen Schlamassel weiß: Einmal hört er
von serbischen KZs – von UNO-Stellen läßt er sich zur
Not auch davon unterrichten, daß alle Kriegsparteien solche Lager
zwecks "ethnischer Säuberung" unterhalten – und
weiß, daß wir geläuterten Deutschen "wg.
unseliger Vergangenheit" für KZs, d.h. für deren
Niederreißen zuständig sind; ein ander Mal soll sich der
Bundesbürger vom Flüchtlingselend – vom richtigen
bosnischen, versteht sich, – rühren lassen, Geld
überweisen oder gleich eine Flüchtlingsfamilie aufnehmen und
damit persönlich für die Verantwortung einstehen, die wir
Deutschen da tragen. Schließlich darf er mit Außenminister
Kinkel vor Wut darüber platzen, daß "wir" leider
zu ohnmächtig sind, um dem Morden ein für alle Mal ein Ende
zu machen.
Jedenfalls soll man das mit der deutsch-europäischen
Zuständigkeit für diesen Krieg so verstehen, daß in
unserem früheren Urlaubsrevier ein blutiger Bürgerkrieg
irgendwie ausgebrochen ist und es in "unsere" seit der
Wiedervereinigung gewachsene Verantwortung fällt, das Töten
und Sterben, Erobern und Vertreiben zu beenden. "Unser"
Eingreifen soll schutz- und wehrlosen Menschen das Überleben
sichern, so daß "wir uns" fragen müssen, ob
unsere traditionelle Abneigung gegen militärische Expeditionen
nicht allmählich zur bequemen Ausrede für unterlassene
Hilfeleistung wird. Ein deutsch-europäischer Kriegseintritt
leuchtet inzwischen als angemessene Form humanitären Engagements
weithin ein – weniger hingegen, warum er immer noch nicht
passiert.
Allerdings soll man den Umstand, daß der Balkankrieg eine Sache
deutscher und europäischer Politik ist, nicht nach dem Wortsinn
nehmen: daß der Verlauf dieses Krieges, die Radikalität des
völkischen Auseinandersortierens, die mörderische
Gründung von lauter Kleinstaaten und die Zerschlagung des alten
Jugoslawien durchaus Produkt und Resultat der Einmischung der
maßgeblichen EG-Mächte ist.
Dafür kann sie gar nichts – und dagegen nicht genug. So will
die EG in dieser Affäre gesehen werden. Mittlerweile gehört
es zum guten Ton, selbstquälerisch über die Impotenz Europas
zu spotten. Das verrät einerseits das weitreichende Streben nach "Verantwortung" für die Welt, andererseits aber auch,
was alles noch fehlt, damit Europa so "handlungsfähig"
wird, wie seine Macher es heute schon verlangen. Diese produktive
Unzufriedenheit treibt das Schmieden der Weltmacht Europa voran.
Gemessen an der Ambition ist die Fähigkeit Europas, seinen Frieden
auf dem Balkan durchzusetzen, nach wie vor ungenügend. Verglichen
mit dem Zustand vor einem Jahr, als die ersten Schüsse an den
slowenischen Zollämtern fielen, sind die Entwicklung des deutschen
Kriegswillens, die europäische Militäremanzipation von der
Nato-Vormacht USA, die EG-Ansprüche an die innere
Verfaßtheit anderer Staaten, die Definition von deren Rechten und
Pflichten, sowie der Aufbau europäischer Institutionen zur
Legitimation von Interventionen (KSZE als Regional-UNO) enorm
vorangekommen.
Vorangekommen ist durch und unter dem europäischen
Einmischungswillen vor allem auch der Krieg auf dem Balkan, dessen
Parteien zwar ihre eigenen Ziele haben, aber durch die europäische
Einmischung erst richtig aufgestachelt und aufeinander gehetzt wurden.
Dieser Artikel zieht die Bilanz von beiderlei Fortschritten im letzten
– bosnischen – Kriegshalbjahr [1] und zeigt, wie die
Gründung des Vereinigten Europa einen Krieg braucht, benutzt und
radikalisiert, ohne daß es ihn angezettelt hätte.
I. Wie durch Einmischung und unter
Aufsicht der EG ein Krieg gedeiht: Vom inneren Verfassungskonflikt zum
völkischen Kampf um Lebensraum
1.
Die Vermittlung der EG zwischen den Streitparteien im alten Jugoslawien
internationalisiert die innere Staatskrise und gibt der Sezession eine
Perspektive.
Weder das große Deutschland noch die EG haben sich die alles
auslösenden Sezessionsabsichten der Slowenen und Kroaten bestellt
oder gar selbst gezüchtet. Deren nationalistische Deutung und
Konsequenz aus dem Scheitern der Staatsräson von Titos "Vielvölkerstaat" hat man vorgefunden. Von Anfang an
aber hat die EG sich in den internen Verfassungskonflikt mit
Friedensappellen und Vermittlungsangeboten eingemischt und ihn gegen
die damals noch existierende jugoslawische Souveränität zum
internationalen Konflikt gemacht, in dem die EG mitzureden hat. Damit
war jedenfalls einer "inneren Lösung" der Weg
abgeschnitten. Der in Nordirland, Korsika und Baskenland seit langem
übliche und nach strengen Euro-Standards demokratiekonforme Umgang
mit Separatismus war der jugoslawischen Staatsspitze aus der Hand
geschlagen: Indem sich die EG zum Vermittler zwischen den
abtrünnigen Landesteilen und der Belgrader Zentrale machte, hat
sie den Staat Jugoslawien zur Bürgerkriegspartei herabgesetzt und
die sezessionistischen Bundesländer im Vorgriff auf die
spätere Anerkennung zu prinzipiell gleichrangigen
Völkerrechtssubjekten aufgewertet. Die Anerkennung des
Selbstbestimmungsrechts von sich völkisch definierenden Teilen des
Staatsvolks hat umgekehrt auch den Versuch der Belgrader Zentrale, den
nicht völkisch konstituierten Staat durch Einsatz der Bundesarmee
gegen die aufständischen Landesregierungen zusammenzuhalten, zum
ebenfalls völkischen Interesse eines national bestimmten
Volksteiles, der Serben, umdefiniert.
Die "Anerkennungspolitik", die den Kroaten und Slowenen von
Deutschland schon früh versprochen und erst spät in der EG
durchgesetzt wurde, hat schließlich nur offiziell gemacht, was in
der Internationalisierung des internen Konflikts von Anfang an angelegt
war. Diese, von Deutschland geförderte Aussicht, als
vollgültiger eigener Staat international anerkannt zu werden, das
UN-Recht auf Selbstverteidigung gegen ein neues Außen zugestanden
und dafür Waffen von den neuen Schutzmächten zu bekommen, hat
den jugoslawischen Spaltprodukten Mut in ihrem Krieg gegen die eigene
Bundeswehr gemacht und ihren prinzipiell unterlegenen
Defensivkämpfen eine politische Perspektive verschafft. Die
Vielvölkerarmee ist über die neu eingeführten
völkischen Identitäten, über die Verweigerung von
Rekruten durch Kroatien und Slowenien sowie über Desertation
zerfallen und wirklich zu dem serbischen Gebilde geworden, als das sie
die Sezessionisten von Anfang an angegriffen hatten. Ohne die alte
Staatsräson als Besatzungsarmee hingestellt und geschwächt,
zog sie sich aus Slowenien und später aus den mehrheitlich
kroatisch besiedelten Gebieten Kroatiens zurück, ohne daß
sie es überhaupt zur militärischen Kraftprobe hätte
kommen lassen. Zum richtigen Krieg kam es erst in den serbisch
besiedelten Landesteilen Kroatiens, wo die auf Serben reduzierte
Bundesarmee ein Schutzobjekt fand, das nach der neuen völkischen
Staatsgrundlage einerseits in Kroatien wirklich gefährdet war,
andererseits aber nach demselben von Europa gültig gemachten
Staatsgründungsprinzip den Kroaten nicht zustand.
2.
Die von Deutschland in der EG durchgesetzte Anerkennungspolitik war der
Startschuß für die Ausweitung des Krieges auf bisher noch
friedliche Landesteile des alten Jugoslawien.
Einerseits definierte die gültig gemachte Sezession der
nördlichen "Völker" und ihre Gründung als
selbständige Staaten Restjugoslawien ebenfalls völkisch, als
Groß-Serbien. Nachdem die jugoslawischen Politiker die Sache erst
einmal von dieser Optik aus betrachteten, mußten sie
natürlich entdecken, daß durch den Auszug der bedeutenden
Republiken Slowenien und Kroatien sich die Gewichte im Staatsrat weiter
zugunsten der größten Volksgruppe, der Serben, verschoben
hatten. Andererseits war die völkerrechtliche Anerkennung der EG
nicht als ein gemeinsamer Schritt gegenüber Slowenien und Kroatien
vereinbart worden, sondern in der Form eines Katalogs von
Anerkennungskriterien, die beliebige Kandidaten erfüllen
müßten, um von den vereinigten EG-Staaten in ihre
europäische Staatengemeinschaft aufgenommen zu werden. Der
Kriterienkatalog war eine Einladung an weitere sezessionswillige
Landesfürsten: Auch ihnen wurde eine Anerkennung versprochen, die
sich nicht von den völkerrechtlich sonst üblichen Beweisen
eigener Staatlichkeit – Selbstbehauptung einer Macht, Sicherung
der äußeren Grenzen und der inneren Ordnung –
abhängig macht, sondern die von EG-Gnaden Antragsteller zum
autonomen und schutzwürdigen Völkerrechtssubjekt erhebt.
Daß bei diesem Kriterienkatalog neben dem Prinzip demokratischer
Mehrheitsentscheidungen hauptsächlich der – in Kroatien erst
durchzusetzende – Minderheitenschutz eine große Rolle
spielte, verweist mehr auf den völkischen Charakter der
EG-Staatsdefinition als auf deren Humanismus: Nur wo ein rassisch und
völkisch "eigentliches" Staatsvolk definiert wird,
gibt es auch die Staatsbürger zweiter Klasse, die den
Minderheitenschutz brauchen.
Die Einladung wurde von diversen Landespolitikern auch so
(miß-)verstanden, daß sie nicht aus eigener
Machtvollkommenheit Staaten erst noch werden müßten, sondern
es durch EG-Geburtshilfe, d.h. durch die Erfüllung des
Kriterienkatalogs werden könnten. Der bosnisch-herzegowinische
Landeschef, der anläßlich der kroatischen Sezession noch in
düstersten Visionen ausmalte, was für furchtbare
Blutbäder eine völkische Segregation in seinem Bundesland,
das auf kleinem Maßstab den Vielvölkerstaat Jugoslawien
abbildete, bewirken müßte und der die kroatischen und
slowenischen Sezessionisten noch als Zerstörer des jugoslawischen
Friedens beschimpft hatte, stellte prompt in Brüssel den Antrag
auf Anerkennung.
3.
Vor die Anerkennung und als eines ihrer Kriterien hatte die EG aber
noch ein Referendum gesetzt, das logischerweise den bosnischen Staat
sprengen mußte.
Für ihre Ambitionen als Chefs autonomer Kleinstaaten mußten
die bosnischen Politiker nach dem herrlichen demokratischen
Mehrheitsprinzip einen Majoritätswillen für einen eigenen
bosnischen Staat präsentieren. Den Volkswillen zu einer nationalen
Hoheit aber gibt es in dem jugoslawischen Konstrukt Bosnien-Herzegowina
nicht und hat es nie gegeben. Nur weil sie keine Nation bilden
mußten, lebten die ungefähren Bevölkerungsdrittel
kroatischer, serbischer und moslemischer Abkunft einwandfrei zusammen;
wenn jetzt eine völkische Grundlage für Bosnien verlangt
wird, dann wird sie jedenfalls nicht gefunden. Zur negativen Einheit
unter dem Motto: "Weg von Belgrad!" haben sich zwar die
Kroaten und Moslems mit einer satten 2/3 Mehrheit zusammengefunden und
das Bekenntnis des serbischen Drittels zum Erhalt Jugoslawiens
niedergestimmt, nicht aber haben sie sich im Willen zu dem eigenen
Staat vereint. Wenn sich nun alles neu nach den vor-jugoslawischen
Stämmen sortieren soll, dann könnten sich Serben und Kroaten
viel leichter untereinander gegen die Moslems einig werden über
die Aufteilung dieses Bundesstaats zwischen den beiden anderen, wenn da
nicht auch noch der serbisch-kroatische Krieg wäre und wenn nicht
auch um die Grenzziehung im Moslemgebiet erst noch ein paar Schlachten
ausgefochten sein wollten. Nun gerieren sich die Muslime in Ermangelung
einer größeren Anlehnungsnation zum authentischen Staatsvolk
von Bosnien-Herzegowina, das den übrigen zwei Dritteln der
Bevölkerung den Willen zu einem eigenen Staat einbleuen muß,
aber nicht kann. Die bosnischen Politiker, die sich unbedingt von
Rest-Jugoslawien abspalten mußten, wollen eine analoge, von Lord
Carrington vorgeschlagene, Kantonalisierung ihres Landes nach
Volksgruppengebieten nicht zulassen. Das Argument, das vorher gegen die
Auflösung Jugoslawiens sprach, spricht jetzt für die
Schaffung eines bosnischen Einheitsstaates: "Bei uns kann man
keine Apartheid mehr einführen. Das wäre bei unserer ethnisch
vermischten Siedlungsweise Wahnsinn." Nun, man kann doch.
4.
Der Kampf um die ethnische Aufteilung von Bosnien-Herzegowina bzw. um
ihre Verhinderung hat einen Krieg eigener Art hervorgebracht: "Volkskrieg" im schlimmsten Sinn des Wortes.
Da stehen sich nicht "ordentliche" Heere mit sauberer
Befehlshierarchie gegenüber, die total verfügbares und
kontrolliertes Instrument ihres Staates zum Niederringen eines
entgegengesetzten Staatswillens sind, sondern Freikorps. Sie
rekrutieren sich aus der Unverträglichkeit des nun völkisch
definierten Lebens und entziehen sich jeder zentralisierten politischen
Kontrolle. Sie bewaffnen sich aus den Depots der
Territorialverteidigung, die Titos Staat für den Partisanenkrieg
gegen einen äußeren Feind in jedem Dorf und sehr reichlich
angelegt hatte, sowie aus erbeuteten Beständen der sich
auflösenden bzw. nach Serbien abziehenden Bundesarmee. Das
Sich-Bewaffnen wird zur allgemeinen Volkserhebung und in diesem
Maß zur Lebensnotwendigkeit. Jede der drei Volksgruppen
bekämpft die beiden anderen und verteidigt ihren serbischen,
bosnischen oder herzegowinisch-kroatischen Boden gegen die Nachbarn von
gestern, die auch darauf leben und auf einmal zu den Falschen
gehören.
Nur wegen der völkischen Staatsgründungsprogramme, mit denen
der einzelne Ex-Jugoslawe persönlich nichts zu tun haben, die er
nicht einmal billigen muß, repräsentiert jetzt jeder
Bewohner Bosniens leibhaftig Rechtsansprüche auf einen
völkisch so oder so bestimmten Staat, auf hier oder dort
verlaufende zukünftige Staatsgrenzen. Die Bevölkerung wird
nicht nur wie in jedem Krieg als Rekrutierungsmasse und abstrakte
Grundlage des feindlichen Staatswillens mit bombardiert und
hineingezogen, in diesem "Volkskrieg" ist die
Bevölkerung direktes Objekt der Kampfhandlungen, d.h. es geht um
ihre Beseitigung oder Behauptung. Die Kampfparteien machen sich
wechselseitig den Wahnsinnsspruch des Serbenführers Karadžić wahr:
"Wenn wir nicht weiterkämpfen, werden wir alle getötet
werden!" Er kennt sich aus, seine Seite hält es mit denen,
die ihr in die Hände fallen, ja auch so. So bringen sich die
Bürgerkriegsparteien gegenseitig bei, daß die
Zugehörigkeit zu einer wehrhaften völkischen Mannschaft das
erste Lebensbedürfnis, das Gegenteil ein Todesurteil und
Abseitsstehen unmöglich ist. Noch beim letzten Unbeteiligten, der
vielleicht schon vergessen hatte, ob er mehr Serbe/Kroate, mehr
Bürger von Bosnien-Herzegowina oder mehr Jugoslawe ist, bringen
jedenfalls die anderen die völkische Zurechnung zuverlässig
hin und tun sie ihm und sich so nachhaltig an, daß jeder wieder
lernt, daß es nichts wichtigeres gibt als die Zugehörigkeit
zum eigenen Volk. Wo die andere Volksgruppe wegen eines Staatswillens,
für den sie genommen wird, durch ihre pure Existenz dem
Lebensrecht der eigenen im Wege steht, da sind bestialische
Quälereien, KZs, Massenerschießungen und nackter Terror
zwecks Vertreibung die angemessenen Mittel einer Kriegführung, die
einer völkischen Gemeinschaft Lebensraum erkämpfen will.
Nichts ist absurder als der deutsch-europäische Humanismus, der
die völkischen Staatsgründungen der Slowenen, Kroaten,
Bosnier und Serben unter heftiger Berufung auf das
Selbstbestimmungsrecht der Völker ermuntert – und dann
über Massenmord, Vertreibung und "schmutzige"
Kriegführung empört tut. Krieg um völkische Rechte und
Lebensraum geht eben so; hier stimmt die Parallele zu Hitler und dem
deutschen Ostfeldzug.
5.
Das von der EG verkündete Recht auf Selbstbestimmung hat die
völkische Identität zur Staatsgrundlage gemacht und Grenzen
nach völkischer Besiedlung legitimiert. Das zweite Prinzip der EG,
daß gewaltsam veränderte Grenzen niemals anerkannt
würden, steht in direktem Widerspruch dazu; es kann nicht
gleichzeitig gelten und wird auch längst gebrochen. Es ist keine
abwegige Spekulation der Bürgerkriegsparteien, daß die EG
schließlich die faktische Zusammensetzung der Bevölkerung
honorieren und damit einen Preis für "völkische
Säuberung" aussetzen wird.
Gewaltsame Grenzveränderungen waren der Anfang der Zerstörung
des jugoslawischen Staats: Die Grenzen jedenfalls, die im alten
Jugoslawien das Innen vom Außen schieden, durften schon im ersten
Akt der slowenischen Sezession verletzt und weggeräumt werden. Die
ehemaligen innerjugoslawischen Verwaltungsgrenzen, die, wie man jetzt
feststellen muß, völkisch recht unbegründet waren,
sollen dagegen nach dem Willen der EG unantastbar sein. Das Recht der
Bundesstaaten zur Sezession garantiert sie, das Recht der
völkischen Siedlungseinheiten darunter nicht. Das aber
widerspricht dem "Selbstbestimmungsrecht der Völker",
das der von der EG gewollte Sprengstoff für den
Vielvölkerstaat gewesen war.
Je nach Interessenslage setzen die Bürgerkriegsparteien entweder
auf die Grenzgarantie der EG oder auf die von ihr verkündete
völkische Staatsdefinition – das ergibt einen schönen
Krieg. Mit diesem Staatsprinzip hat sie die Zusammensetzung der
Wohnbevölkerung zum Argument gemacht und die jetzt überall
laufenden und heftig beklagten "ethnischen Säuberung"
heraufbeschworen. Die völkischen Minderheiten verlangen
Gleichbehandlung in der Selbstbestimmung und hoffen auf ein Referendum,
das später einmal die Zusammensetzung der Bevölkerung
feststellen und danach die Zugehörigkeit dieser Gebiete regeln
soll – dafür stellen sie jetzt die Rassereinheit der
Bevölkerung in ihren Gebieten her. Die Aussicht auf
Volksabstimmung unter internationaler Aufsicht heizt die
Ausrottungspolitik überhaupt erst so richtig an: Solange die
Macht- und Rechtsverhältnisse nicht völlig geklärt sind,
wird ethnischen Minderheiten nicht einmal die Chance gelassen, sich mit
dem Status des geduldeten Ausländers und dem Diktat der
Majoritätsnation zu arrangieren (wie es Volksserben nun in den
mehrheitlich kroatischen Gebieten Kroatiens dürfen). Solange eine
Volkszählung durch die EG droht, zählt auch der
Unterwerfungswille der Minderheit nichts; ihr Vorhandensein selbst
gefährdet den internationalen Rechtstitel, der zustandekommen soll.
Daß die Spekulation auf die Anerkennung der faktischen
Volkstumsgrenzen nicht unrealistisch ist, zeigen die serbisch
besiedelten UN-Schutzzonen innerhalb Kroatiens, in denen die
Friedensregelung der völkischen Neusortierung vorweggenommen wird.
Daß Grenzen nicht verändert werden dürfen, gilt da nur
mehr sehr bedingt: In diesen Teilen Kroatiens darf keine kroatische
Hoheit ausgeübt werden, im Gegenzug mußte die Bundesarmee
samt Tschetniks abziehen. Jetzt verwalten die lokalen Serben das Gebiet
und gliedern es mehr oder weniger offen Restjugoslawien an.
6.
Dieser Krieg wird nicht nur gegen den benachbarten Gegner um Land
geführt, sondern stets zugleich um Berücksichtigung seitens
der EG, deren Schiedsspruch doch letztlich den Ausschlag geben und den
künftigen Frieden definieren wird. Unter Aufsicht und auf
Beeindruckung der Aufsichtsmächte ausgerichtet, bekommt der Krieg
eine ganz eigene Schärfe, Verlaufsform und Langlebigkeit –
denn in ihm werden auch Niederlagen in gewisser Weise zweckdienlich.
Für jede der Kriegsparteien kommt es darauf an, durch eigene
Kriegshandlungen diesen Schiedsspruch zu beeinflussen und jeden
militärischen Erfolg sowie jede Niederlage in eine Zuerkennung von
Rechten durch "Europa" umzumünzen. Zwar teilt die EG
nur Rechte zu, spricht Anerkennungen aus und macht sich zum Vermittler
von und zum Interessenten an Waffenstillständen. Das
Durchkämpfen ihrer Staatsgründungsprogramme und
Territorialforderungen überläßt sie ihren
jugoslawischen Geschöpfen aber selbst. Also muß erstens
regulär Krieg geführt, erobert, Gelände gehalten und
ethnisch gesäubert werden. Zweitens aber braucht jeder Sieg, um
politischen Nutzen zu bringen, den Segen der EG – und dafür
braucht es den Beweis, daß die jeweilige Kriegspartei nur von der
EG erlaubte Ansprüche durchgekämpft und Kriegsmittel
eingesetzt hat: Deshalb legt Serbien, das durch den Auszug der
übrigen Völker aus Jugoslawien zum Alleinerben der
Bundesarmee wurde und damit überlegene Mittel besitzt, bis heute
Wert auf die diplomatische Lagebestimmung, daß nicht Serbien im
Krieg mit Kroatien und Bosnien liege und für einen
auswärtigen Eroberungskrieg die geerbte Bundesarmee einsetze,
sondern daß in der Krajina und der Banja, in Slawonien und
Bosnien dort ansässige Volksgruppen aneinander geraten seien;
daß die Bundesarmee nicht in Bosnien operiert; daß Serbien
allenfalls seine dortigen Verwandten unterstütze. Egal, ob das
gelogen ist, eine gewisse Hemmung, das gesamte Arsenal der einst
fünftgrößten Armee in Europa zum Einsatz zu bringen,
ist das schon.
Das erlaubt ihren kroatischen und bosnischen Gegnern erst, sich einen
Krieg zu trauen, den sie sich von ihren militärischen Mitteln her
in gar keiner Weise leisten können. Nun klagen sie die Fiktion des
reinen Volksgruppenkrieges bei Lord Carrington ein – eine neue
Art von "fair play" – und fordern die internationale
Kontrolle der schweren Waffen, d.h. die diesbezügliche Entwaffnung
der serbischen Seite, damit sie mit ihren Freikorps wieder eine faire
Kriegschance bekommen. Die Serben, die im Laufe des Juli ihre
Kriegsziele in Bosnien im Wesentlichen erreicht haben, stimmten sogar
zu, forderten nun ihrerseits den Waffenstillstand und erklärten
jeden Bruch desselben für ein strafwürdiges Verbrechen.
Das Stop and Go eines Krieges über mittlerweile 39, immer neue und
immer neu gebrochene Waffenstillstände ist die Art und Weise, wie
die EG diesen Krieg einerseits gar nicht bestimmt und andererseits
politisch total beaufsichtigt: Wenn Lord Carrington zum Frieden mahnt,
dann müssen die Kriegsparteien ihren Willen zur "politischen
Lösung" dokumentieren und einem neuen Versuch, die Waffen
schweigen zu lassen, zustimmen, zumal eben dadurch jede erreichte
Kriegslage ein Stück weit durch die EG anerkanntes Recht wird.
Trotzdem sind die Waffenstillstände nicht das Interesse der
Kampfparteien, sondern das Interesse der EG an der politischen
Kontrolle der Lage. Lord Carrington hat das negativ ausgedrückt,
als er sich weigerte, nach 39 gebrochenen einen 40. auszuhandeln:
"Er werde keine weiteren Worte verschwenden mit
Volksgruppenführern, die sich ohnehin nicht an ihre Abmachungen
hielten. Einen Waffenstillstand in Bosnien werde es geben, wenn die
Serben der Ansicht seien, sie hätten genug Land erobert, oder wenn
eine der unterlegenen Volksgruppen aus Erschöpfung aufgebe,
vermutlich die Muslime." (FAZ 28.7.92)
Die europäischen Waffenstillstände und ihr zuverlässiger
Bruch, weit davon entfernt, den Krieg einzudämmen, heizen ihn
vielmehr an und verlängern ihn, weil sie endgültige
Niederlagen verhindern: Vor dem und zum Termin des Waffenstillstands
muß um so heftiger gekämpft – hinterher ist ja erst
einmal wieder Pause, in der die Fortschritte in London fixiert und zur
Grundlage der weiteren Friedenssuche gemacht, also in Rechte verwandelt
werden. Deshalb ist es kein Wunder, was der kanadische UN-General
MacKenzie sarkastisch aussprach:
"Es ist ein wenig unglücklich, daß die Waffenruhen
gewöhnlich bedeuten, daß mehr gekämpft wird als sonst
üblich." (FAZ 21.7.92)
Aus demselben Grund muß der Waffenstillstand hinterher von der
Seite, die ihre Ansprüche im aktuellen Verlauf der Linien nicht
befriedigt sieht, wieder gebrochen werden – nur das verhindert,
daß der Stand der Dinge zur Grundlage für Ansprüche und
Regelungen in London genommen wird. Und wenn sie sonst nichts
hinbringen – daß das Schießen weitergeht, bringen
auch die unterlegenen Parteien immer noch zustande. So bleiben ihre
nationalen Ambitionen, die sie aus eigener Kraft gar nicht durchsetzen
können, als Rechtsanspruch weiter neben denen der anderen
bestehen. Natürlich darf das nicht wie ein mangelnder Wille zur
politischen Lösung aussehen, das nimmt die EG übel:
"Die kämpfenden Truppen schrecken vor nichts mehr
zurück. Sie sind sogar bereit, ihre eigenen Leute zu
beschießen, um die Sympathie der Weltöffentlichkeit zu
gewinnen." (MacKenzie, FAZ 25.7.92)
Das sind die Schönheiten eines Krieges unter imperialistischer
Oberaufsicht. Militärisch ist die Zerstörung eigener
Stellungen und die Tötung eigener Soldaten gewiß nicht
sinnvoll, aber politisch.
7.
Trotz der prinzipiellen Anerkennung von Seiten aller Kriegsparteien
bleibt die politische Aufsicht der EG über diesen Krieg ein
Widerspruch: Ihre politischen Mittel bringen diesen Krieg nicht unter
Kontrolle.
Was die serbische Seite betrifft, so wurde sie für die EG Schritt
für Schritt immer mehr der Störenfried am Balkan, der
Aggressor, weil diese größte der jugoslawischen Volksgruppen
mit dem Erbe der Machtmittel von Titos Staat in der Lage war, nationale
Rechtsansprüche auch aus eigener Kraft durchzusetzen. Serbien hat
letzten Endes doch aus freien Stücken, d.h. weil es seine Zukunft
wie alle anderen Balkanstaaten auf das Europa der EG aufbauen will, auf
den Erhalt der jugoslawischen Einheit und auf definitiv nicht zu einem
serbisch definierten Machtbereich gehörige Gebiete und
Bevölkerungen verzichtet: auf Slowenien, den Kernbereich Kroatiens
und nun die Herzegowina. Was es aber als Serbengebiet reklamiert hatte,
konnte es behaupten bzw. wenigstens aus Kroatien ausgliedern. Die
UN-Verwaltung umstrittener Gebiete nimmt das Gliederungsprinzip, sie
schließlich doch nach Volksgruppenanteilen den neuen Staaten
zuzuschlagen, schon halb vorweg. Wenn es dabei bleibt, sanktioniert die
EG nur, was die Serben sich im Krieg sichern konnten.
Die anderen, besonders Kroaten und Bosnier, drücken das umgekehrt
aus: Die EG spricht Recht und setzt es nicht durch, sie genehmigt die
völkischen Ausgründungen aus dem alten Staatsverband, erkennt
die Spaltprodukte an und gewährt den neuen Nationen doch keinen
Schutz ihrer beanspruchten Grenzen, ja, noch nicht einmal eine
Aufrüstung im gewünschten und nötigen Ausmaß.
Tuđman und Izetbegović treten fordernd auf, fühlen sich von der
EG verraten, zu Ansprüchen ermuntert, deren Durchsetzung ihnen die
EG dann verwehrt. Besonders in Bosnien besteht die Kriegsführung
immer mehr nur noch im anklagenden Untergang: Die bosnischen
Autonomie-Politiker verheizen eine Stadt nach der anderen samt
Bevölkerung, wenden sich in der jetzigen, für sie
verheerenden Kriegslage gegen jeden Waffenstillstand als "Bluff
der anderen Seite" und bekämpfen sogar die Evakuierung der
von Vertreibung und Terror bedrohten Bevölkerung. Bosnische
Politiker sehen ihre Bevölkerung mit denselben Augen wie ihre
serbischen Feinde: Sie wollen sich die menschlichen Geiseln ihrer
Ambitionen auf den eigenen Staat und dessen Ausdehnung nicht
humanitär wegnehmen lassen.
"Ganić gegen die heimatferne Unterbringung von
Flüchtlingen." "Trotz aller Dankbarkeit über die
humanitäre Hilfe für die bosnischen Flüchtlinge
erklärte der bosnische Vizepräsident Ganić, dabei handle es
sich um nichts anderes als eine Flucht der westlichen Welt, die
eigentlich notwendigen Maßnahmen zu ergreifen –
nämlich militärisch zu Hilfe zu eilen oder Waffen an
Bosnien-Herzegowina zu liefern. Enttäuscht und verbittert zeigte
sich Ganić über die Untätigkeit und die Inflation der
Resolutionen der internationalen Politik. ... Bis die UN-Sanktionen
gegen Serbien wirkten, sei sein Volk schon von der Landkarte
gelöscht." (SZ 1.8.92)
Der von der EG angestachelte und mitgestaltete Krieg bringt es selbst
zur Entscheidung: Der imperialistische Wille zum Ordnen der
europäischen Staatenwelt hat die EG-Staaten zur politischen
Einmischung veranlaßt. Aber ein richtiger Krieg läßt
die bloß politische Einmischung, die methodische
Schiedsrichterrolle, das Zuteilen und Entziehen von Rechten, das die EG
beansprucht und auch anerkannt bekommen hat, nicht zu: Entweder der
Krieg wird durch die EG entschieden, oder sie sanktioniert, was eben
doch autonome Mächte vor Ort unter sich auskämpfen.
II. Anspruch und Wirklichkeit der Weltmacht Europa und der Aufsicht in ihrem Hinterhof
Es ist das Pech der Jugoslawen, daß die Chefs der wichtigsten
Mächte der EG, Kohl und Mitterrand beschlossen haben, den inneren
Verfassungsstreit des Vielvölkerstaats zum Fall zu machen, zum
ersten Anwendungsfall einer "gemeinsamen europäischen
Außenpolitik". Was sie als langfristiges Projekt im
Fahrplan hatten – die Fort- und Umgestaltung der
Wirtschaftsgemeinschaft zur europäischen Weltmacht – wurde
anläßlich der jugoslawischen Wirren zur aktuellen
Tagesaufgabe: "Europa" erhob hier zum ersten Mal seinen
Ordnungsanspruch – und sah gleich sich, seine innere Einheit,
seine äußere Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit,
sowie den Respekt auf dem Prüfstand, den es von Seiten des Rests
der Welt genießt. Worauf sich die Chefs der konkurrierenden
europäischen Mächte an diesem "Fall" gemeinsamer
Außenpolitik einigen können, was sie für nötig und
hinreichend befinden, um europäische Ansprüche zur Geltung zu
bringen, was darin als Fortschritt und was als Scheitern gilt, hat mit
dem Ende des jugoslawischen Schlachtens herzlich wenig zu tun. Zugleich
aber ist die "Selbstbehauptung Europas" bitter ernst mit
diesem entschlossen ausgerufenen Testfall verknüpft: An ihm
bewährt sich oder scheitert, entwickelt, beweist oder blamiert
sich das neue weltpolitische Subjekt "Europa".
1.
Im Frühsommer 91 hatte allen voran Deutschland für den
völkischen Zerfall Jugoslawiens diplomatisch Partei ergriffen, im
Glauben, mit dem bloßen diplomatischen Machtwort die Politik der
friedlichen Eroberung fortsetzen zu können, die gerade mit dem
Anschluß der DDR an das westliche Deutschland so glänzende
Triumphe gefeiert hatte. Dieses anspruchsvolle Programm, das inzwischen
die anderen europäischen Staaten teilen, ging nicht auf.
Die erst noch zu schaffende Weltmacht betrat die außenpolitische
Bühne mit der Formulierung eines Anspruchs: Sie definierte sich
einen Hinterhof – genau das, was die kulturvollen Europäer
in Mittelamerika naserümpfend US-Imperialismus schimpfen. Vor der
eigenen europäischen Haustür würde man Bürgerkrieg
und Staatskrise nicht ihren Weg gehen lassen. Ordnungsstiftung der EG
war selbstverständlich. Man beanspruchte, daß das Wort aus
Brüssel auf dem Balkan Gesetz zu sein hatte – und zwar nicht
wie bis dato nur in Sachen Kreditbürgschaften und EG-Marktzugang,
sondern in Bezug auf das Werden und Vergehen von ganzen Staaten, ihrer
inneren Verfassung und ihre äußeren Rechte. Der
erfolgsverwöhnte Genscherismus wollte sich zur
außenpolitischen Leitlinie der neuen Weltmacht Europa machen,
hatte gerade damit aber seine Erfolgsbedingung vergessen: die von den
USA beherrschte und wegen der West-Ost-Konfrontation allen
Nato-Partnern zugänglich gemachte Staatenwelt einerseits, die
freiwillige Kapitulation der SU und ihres Blocks andererseits. Die
geminesame europäische Außenpolitik im Fall Jugoslawien
wollte die einmalige deutsche Ausnahme zur Methode machen und
regelrechte Kriegsergebnisse mit zivilen Erpressungsmitteln erzielen.
Das Ziel der Balkanpolitik, das nach einigem Hin und Her in der EG
feststand, war von der Art: die Zerschlagung des jugoslawischen
Vielvölkerstaats und die Gründung von ebensovielen
europahörigen Kleinstaaten, wie es "Völker" am
Balkan gibt.
Als das nicht gelang, als sich die jugoslawischen Kriegsparteien nicht
an die guten Vermittlerdienste der EG und den von ihr verordneten
Frieden hielten, war man in den europäischen Hauptstädten
betroffen. Aber nicht über die eigene Einmischung und was man mit
ihr losgetreten hatte, sondern über die europäische "Ohnmacht". Die EG hatte sich mit ihren Ansprüchen an
die jugoslawischen Parteien wie eine Macht aufgestellt, die es schon
gibt, und auf die wegen ihrer Durchgesetztheit gehört werden
muß. Nun mußte sie feststellen, daß sie diese Macht
nicht ist; daß außer den Ambitionen ihrer entscheidenden
Mitgliedsnationen noch gar nichts feststeht, und diese ihren Anspruch,
Ordnungsmacht Europa zu sein, erst noch durchsetzen müssen.
2.
Die Wirkung der diplomatischen Einmischung auf dem Balkan ist ein
Krieg, den die EG mit zivilen Erpressungsmitteln nicht mehr
kontrollieren kann. Die Protagonisten Europas sehen sich vor die
Notwendigkeit militärischen Eingreifens gestellt – und damit
vor die Notwendigkeit, die Militärmacht Europa überhaupt erst
zu schaffen. Das wirft für alle Beteiligten neue und
schwerwiegende Fragen auf.
Denn eine Militärmacht "Europa", die einen Krieg
entscheidet, wäre nichts weniger als eine grundsätzliche
Veränderung der Machtverhältnisse in Europa und weltweit. So
sehr die aufstrebenden Euro-Mächte sich einig sind, daß
ihrem gemeinsamen Richterspruch Respekt zu verschaffen sei, so uneinig
sind sie über das Programm, das zur Herstellung ihrer
politisch-militärischen Einheit und der Bereitstellung der
dazugehörigen Mittel ansteht. Es wird darüber gestritten, was
zu geschehen hat, damit der Balkan auf "Europa" hört,
welche Nation was für Mittel und wieviel davon einzusetzen bereit
ist. Das macht das Leiden an der europäischen Ohnmacht produktiv.
a) Am meisten wird in Deutschland an der Ohnmacht Europas gelitten,
weil hier der Bedarf nach der handlungsfähigen Weltmacht
dringender verspürt und verbissener um die Fortschritte der
europäischen Einmischung am Balkan gerungen wird als bei den "Partnern":
"Die serbische Aggression auf dem Balkan und die 'Hilflosigkeit der europäischen Reaktion' hat in der
CDU/CSU Bundestagsfraktion Überlegungen für eine
Weiterentwicklung der deutschen Sicherheitsinteressen beschleunigt. Ihr
Vorsitzender, Schäuble, hatte angesichts des serbischen Krieges
die Unionsparteien dazu aufgerufen, ihre Bemühungen um die
politische Einigung Europas zu verstärken. 'Das ist die
tiefere Bedeutung von Maastricht', schrieb Schäuble. 'Die in den Verträgen von Maastricht vereinbarten
nächsten Schritte – eine gemeinsame und handlungsfähige
Außen- und Sicherheitspolitik für ganz Europa ... –
müssen unverzüglich in Angriff genommen werden. Die in
Maastricht vereinbarte Währungsunion sei kein Selbstzweck, sondern
notwendiger und geeigneter Schritt auf dem Weg zur Einheit
Europas...' " (FAZ, 18.8.92)
Am Fall Jugoslawien stellen die Macher klar, wie das europäische
Einigungswerk gemeint ist: Letztes Ziel ist nicht eine
Wirtschaftsunion, vielmehr wird die Vollendung der wirtschaftlichen
Abhängigkeit der Partner untereinander bis hin zur
Währungsunion als Hebel zur Herstellung der politischen Weltmacht
Europa genommen. Die wirtschaftliche Einigung wird als Bestandteil
eines Weltmacht-Programms definiert, das nun auch durch Fortschritte
auf einem Kriegsschauplatz vorangetrieben wird.
Der erste und entscheidende Schritt zur Bildung eines europäischen
Willens nach Neuregelung des Balkans war die deutsche
Anerkennungspolitik. Sie wurde den EG-Partnern durch die Drohung eines
deutschen Alleingangs ein Stück weit gegen ihren Willen
aufgezwungen. Die völkerrechtliche Anerkennung der
sezessionistischen Republiken formulierte ein europäisches
Schutzobjekt und markierte das Hindernis der oktroyierten
Friedensstiftung, die Serben.
Nicht daß Serbien von vornherein der Feind der EG gewesen
wäre, gegen den man auf dem Balkan Einfluß gewinnen wollte.
Ebensowenig waren Slowenen und Kroaten von vornherein die Freunde und
Schützlinge Europas, deretwegen Serbien in die Schranken gewiesen
werden sollte. Es war die Einmischung selbst, die die Scheidung in
Freund und Feind vorantrieb: Der europäische Anspruch auf
Neusortierung des Balkan stieß auf den Widerstand Serbiens, das
sich militärisch zum Erben des alten Jugoslawien machte und damit
über die Mittel nationaler Selbstbehauptung verfügte. Deshalb
erklärte die deutsche Außenpolitik Serbien zum Feind Europas.
Mit der Anerkennungspolitik schuf die deutsche Diplomatie ferner die
Rechtstitel für eine zukünftige Kriegserklärung an
Serbien: Sie hat den Bürgerkrieg im alten Jugoslawien zum
Grenzkrieg zwischen völkerrechtlich anerkannten Staaten, die
Untersezession der serbischen Bevölkerung in Kroatien und Bosnien
aber zur grenzverletzenden Aggression Serbiens gegen seine Nachbarn
umgedeutet. Die deutsche Politik läßt sich vom Krieg der
völkisch sortierten Bürgerkriegsparteien nicht ablenken und
zielt direkt auf die Macht, "die dahinter steht", weil sie
Europas Machtwort nicht gelten läßt.
Kaum war gegen die nie ganz ausgeräumten Vorbehalte der EG-Partner
Serbien zum Feind erklärt, kam Bonn mit Forderungen, daß nun
mit der Feindschaft auch ernst gemacht werden müsse: Vom
Handelsembargo und seiner militärischen Überwachung,
über die Anprangerung der Internierungslager, bis hin zur
Forderung nach Schutzzonen, Korridoren, Bombardements und
Nürnberger Prozessen für serbische Kriegsverbrecher –
stets forderte Deutschland von seinen Partnern: "Die Serben
müssen in die Knie gezwungen werden"(Kinkel), und trieb sie,
soweit es an ihm lag, in eine Kriegserklärung gegen Serbien. Jetzt
werden überall von Generalstäblern Kriegsoptionen
durchkalkuliert.
Der Kriegstreiber Nr.1 will aber nicht vorausgehen, den Krieg, den er
fordert, müssen die Partner schon selber wollen. "Serbien
muß militärisch in die Schranken gewiesen werden.
Deutschland kann sich aber keinesfalls an einer militärischen
Aktion im ehemaligen Jugoslawien beteiligen." Das ist einerseits
geheuchelt – wenn sich Europa auf ein militärisches
Eingreifen einigt, findet auch Deutschland seine Rolle darin. Bei allen
bisher beschlossenen Militäraktionen ist es voll dabei und
Kriegsbeiträge knapp unterhalb der direkten Kampftruppen sind auch
nicht dasselbe wie ein Heraushalten. Und so lassen deutsche Politiker
auch keinen Zweifel offen, daß sie sich an einer
Militäraktion beteiligen wollen: "Wir können unsere
Partner nicht in eine militärische Intervention treiben, an der
sich Deutschland nicht beteiligen wird!" Andererseits will
Deutschland, gerade weil es so offen auf Krieg aus ist, den Verdacht
auf einen deutschen Krieg ausräumen – und Verdächte auf
deutsche Sonderinteressen an Slowenien und Kroatien mußten sich
beim Durchpeitschen der Feinderklärung gegen Serbien ja
einstellen. Also tritt Deutschland ein wenig zurück und
verkündet großzügig: Wir können England und
Frankreich nicht zu unseren Hilfstruppen machen – das genau
verlangt die Nation nämlich, die das politische Kriegsziel
für die EG und gegen die Partner festgesetzt hatte. Deutschland
weiß sich von einem eigenständigen Kriegswillen der Partner
abhängig, weil es am Fall Jugoslawien um die Etablierung einer
europäischen Militärpolitik und eines europäischen
Militärs geht. Deutschland betrachtet sich als Vormacht Europas,
die es in wirtschaftlicher Hinsicht längst ist, und geht deshalb
anders als mancher EG-Partner davon aus, daß die Etablierung
europäischer Macht unmittelbar nationales Interesse ist und
nationalen Einfluß mehrt. Deutschland besteht auf solchen
Fortschritten – und wenn die nur mit der Zeit zustandekommen,
weil die Partner erst ihre Einflußmöglichkeiten unterhalb
des großen europäischen Militäreinsatzes ausprobieren
und weil UNO und USA erst gewonnen sein wollen, dann kann Jugoslawien
warten. Das ganze Geschrei, man könne dem Morden am Balkan nicht
länger zuschauen, signalisiert keine Eile bei der Beendigung des
dortigen Krieges, sondern die Dringlichkeit des Vorhabens, die
Militärmacht Europa zu etablieren – und das ist nicht
dasselbe.
b) Diese Dringlichkeit sehen die europäischen Partner Frankreich
und England im Fall Jugoslawien nicht in gleicher Weise. sie sind von
Haus aus in ganz anderem Sinn eigenständige
Militärmächte, als das der deutsche Nato-Frontstaat bisher
war, der seinen Weg zur militärischen Handlungsfreiheit über
Europa sucht. Zur deutschen Anerkennungspolitik ließen sich
Franzosen und Engländer zwar herbei, wohl weil auch ihnen
einleuchtete, daß die Ohnmacht der europäischen Einmischung
nach Eskalation der Einmischung verlangte. Sie waren aber nicht bereit,
die Maßstäbe, die Deutschland vorgegeben hatte, auf
nationale Kosten durchzusetzen und sich zum Büttel deutsch
definierter Ziele zu machen. Die alten Militärmächte
rücken daher die militärischen Schwierigkeiten ins Zentrum
und lassen Generäle erläutern, daß es billige, schnelle
und glänzende Siege auf dem, wie zum Guerrilla-Krieg geschaffenen,
Balkan nicht geben wird. Vor einem neuen Vietnam wird gewarnt und
horrende Zahlen von benötigten Soldaten und zu erwartenden Toten
genannt. Die Wahrheit ist es natürlich nicht, daß sie die
Option Krieg ablehnen, weil dieser kein Spaziergang sein und Opfer
kosten würde. Die Partner haben ihre Zweifel, ob sie eine von den
Deutschen für Jugoslawien geforderte Militärmacht Europa
überhaupt wollen. Sie setzen deshalb mehr auf den Einfluß,
den sie sich durch eine gewisse Distanz zum antiserbischen deutschen
Aufmischen auch auf diese Kriegspartei bewahrt haben.
Frankreich war lange bemüht, mit Zustimmung der Serben und unter
Anerkennung gewisser Ansprüche von ihnen den Krieg unter Kontrolle
zu bringen – wovon Mitterrands mit den Serben vereinbarter Flug
nach Sarajewo und die darauf folgende Öffnung des Flughafens
für Versorgungsflüge zeugt. England machte lange den
universellen, ganz unparteiischen Vermittler und Ausrichter von
Konferenzen. Beide Partner stellten ihre mit der deutschen Linie
konkurrierenden Kontroll- und Einmischungsversuche dabei aber unter das
gemeinsame europäische Erfolgskriterium, den Respekt vor dem
europäischen Machtwort durchzusetzen. In dem Maße, wie
Serbien seinen Selbstbehauptungswillen aufrechterhielt, schlossen sich
Frankreich und England je länger desto mehr der einseitigen
deutschen Beschuldigung der Serben an. Die Londoner Konferenz Ende
August findet Europa geeinter denn je in dem Willen, Serbien als den
Alleinschuldigen "an den Pranger zu stellen" und zu
isolieren.
c) Bei Definition und Durchsetzung eines europäischen
Ordnungsanspruchs und der Etablierung der politisch-militärischen
Union sind aber nicht nur Schwierigkeiten zu überwinden, die die
Partner mit sich haben – ihren nicht von Anfang an identischen
außenpolitischen Interessen und ihrer unterschiedlichen
Bereitschaft, für europäische Anliegen Mittel zur
Verfügung zu stellen. Schwierigkeiten macht auch nicht nur das
balkanische Gelände und die autonome serbische Militärmacht.
Schwierigkeiten stellen sich vor allem in Bezug auf andere
Weltmächte, denen ein politisch-militärisches Europa eine
ganz neue Art von Konkurrenz macht. Das Podium für diesen Konflikt
ist die UNO, denn seit dem Golfkrieg müssen Kriege von der UNO
genehmigt werden: Nur dann dienen sie dem Weltfrieden, dem
Völkerrecht; ohne Genehmigung sind sie ein Bruch des
Völkerrechts und Angriff auf die neue Weltordnung, d.h. auf die
Mächte, die sie definieren. Seit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes
ist die UNO nicht mehr durch das Njet der alternativen Weltmacht
blockiert und seitdem offen das Instrument der Mächte, die sich
dort wechselseitig ihre Weltaufsichtsmaßnahmen genehmigen. Die
beiden europäischen Veto-Mächte und die USA sind dabei mehr
oder weniger unter sich; denn den Russen traut und gesteht man keine
weltpolitische Rolle zu, und die Chinesen enthalten sich bei allen
heiklen Abstimmungen aus der nicht abwegigen Sorge, zum neuen
Hauptfeind "der Welt" zu avancieren. Gerade weil das
Monopol auf Weltordnung den verbliebenen Westmächten zugefallen
ist, machen sie die UNO zur Bühne, auf der sie ihre
Ordnungsansprüche anmelden und auf Zustimmung durch die
Konkurrenten dringen. Es versteht sich, daß gerade die
Etablierung des neuen weltpolitischen Subjekts Europa, das seiner Natur
nach ein Angriff auf das gültige Kräfteverhältnis ist,
und sich auf Kosten der USA eine eigene Peripherie besonderer
Zuständigkeit schaffen will, diesen Akkord mit der Macht suchen
muß, deren weltpolitische Rolle es schmälert.
Schließlich will sich Europa in der alten Weltordnung gegen sie
etablieren.
Den Europäern ist es gelungen, über die Beauftragung der UNO
auch die USA "in die Verantwortung" für ihre
europäische Balkanpolitik zu ziehen. Damit haben sie diese in den
Rang einer Ordnungsmaßnahme der Weltgemeinschaft erhoben. Butros
Ghali, der sich noch vor Wochen ärgerlich darüber
geäußert hatte, daß die EG die UN in ihre
antiserbische Parteilichkeit dränge und sie zum ausführenden
Organ ihrer militärischen Ambitionen machen wolle, sieht das
Verhältnis zur EG zu Anfang der Londoner Konferenz bereinigt: Die
UN behalten die Federführung über die Intervention, indem sie
sich der deutsch initiierten, europäischen Freund-Feind-Sortierung
am Balkan anschließen.
3.
Der Fortschritt von der diplomatischen Intervention zur
militärischen kommt Schritt für Schritt voran, als Resultat
des Streits in der EG und der EG mit UNO und USA. Jeder Schritt ist
verbunden mit dem Test, ob die Einmischung niedrigerer Intensität
nicht vielleicht auch schon den nötigen Druck entfaltet, um
Europas Ordnungsanspruch zur Geltung zu bringen.
a) Die gemeinsam beschlossene Anerkennungspolitik hatte zunächst
die EG-Staaten auf eine gleichgerichtete parteiische Einmischung
festgelegt – und dadurch erst einmal die Wucht diplomatischer
Feindschaft gegen Serbien gerichtet. Weder hat sich ein
europäischer Staat erlaubt, den Krieg auf dem Balkan allein
national auszunutzen, noch hat Serbien die Gelegenheit erhalten,
Differenzen in Europa auszunutzen.
b) Mit dem Schwenk der USA und der UNO hat es die europäische
Politik geschafft, der entscheidenden Staatenwelt eine Feindschaft
vorzugeben, die die anderen Staaten vorher und von sich aus sich nicht
gesucht hätten. Damit war Serbien weltweit isoliert, konnte auf
keine nachhaltige Unterstützung im Krieg und schon gleich auf
keine Hilfe im Fall einer Verwicklung mit der EG rechnen. Seitdem
werden die Töne Kinkels und die angedrohten Maßnahmen der EG
gegen die wenigen Staaten, die die Ausgrenzung Serbiens nicht voll
mittragen – Rußland, Rumänien, Griechenland –
immer schärfer.
c) Die EG hat erreicht, daß Slowenien und Kroatien inzwischen aus
Jugoslawien ausgegliedert und von der Welt anerkannte selbständige
Staaten sind und Serbien den weiteren Zerfall Jugoslawiens nicht mehr
stoppen kann.
d) Die EG hat die UNO zum Instrument ihrer praktischen Bekämpfung
Serbiens gemacht. Das von der EG gewünschte Handelsembargo wurde
von der UNO beschlossen und damit zur Pflicht der UN-Mitgliedsstaaten.
Kaum verabschiedet, mußte es überwacht werden, um
Verstöße festzustellen. Kaum waren diese bewiesen, ging es
an die Ausgestaltung des Handelsboykotts zur regelrechten Blockade zu
Wasser und zu Land – unter rücksichtsloser Indienstnahme der
Souveränität der Anrainerstaaten. Die Londoner Konferenz
verspricht diesen Fortschritt.
e) Bei der militärischen Überwachung des Embargos in der
Adria, fand die EG eine erste Gelegenheit, ihr Projekt einer
eigenständigen europäischen Militärorganisation in die
Tat umzusetzen. Dem weltweit durchgesetzten Gewaltmonopol der Nato
stellen die europäischen Nato-Mitglieder die Anfänge eines
autonomen europäischen Militärs zur Seite, d.h. ein
Stück weit entgegen. Die Partner haben ihrer WEU zum ersten Mal
ein Betätigungsfeld verschaffen können und sie damit aus dem
Stadium des Projekts in das einer militärischen Realität
gehoben. Darüber ist es zu der Eigentümlichkeit gekommen,
daß in der Adria nun alle europäischen Nationen doppelt
auftreten, als Nato und WEU, und alle ihre Schiffe und Flugzeuge der
einen oder anderen Bündnisorganisation zugewiesen haben, die dann
miteinander kooperieren müssen.
f) Der Weg in die direkte militärische Intervention ist durch die
Luftbrücke nach Sarajewo und die bewaffneten Hilfskonvois im
Kriegsgebiet schon fast vollständig zurückgelegt. Der
UN-Sicherheitsrat hat seinen interessierten Mitgliedern nun den
großangelegten Militäreinsatz genehmigt, freilich –
schön UNO-mäßig – nicht zur Durchsetzung
militärischer, sondern nur humanitärer Ziele, zum Schutz von
Korridoren oder Konvois. So neuartige Perversionen kommen heraus, wenn
Mächte, einen Staat, der in ihrem Hinterhof stört, in die
Schranken weisen wollen und das in der Form eines UN-Auftrags tun
müssen. Der genehmigte Militäreinsatz soll auf dem
Kriegsschauplatz Macht entfalten, aber den Krieg nicht entscheiden,
sondern humanitäre Versorgungsaktionen sichern. So wird das
Anliegen nicht weniger anspruchsvoll. Ein ganzer Krieg wird in allen
Momenten seiner Durchführung unter Aufsicht gestellt:
Internierungslager werden kontrolliert, belagerte Städte versorgt,
Korridore offengehalten.
Dabei hat das militärische Flaggezeigen in humanitärem
Auftrag durchaus Einfluß auf den Krieg: Die Versorgung der
belagerten Städte und die Evakuierung von Kindern und Verwundeten
stärkt die Kampfkraft der bosnischen Seite. Der militärische
Nutzen der Belagerung wird durchkreuzt, wenn "Hilfe" den
Belagerten die Kapitulation aus Hunger erspart. Insofern ist diese "Hilfe" ein Versuch, unter dem Titel des Humanitären
und mit Duldung beider Kriegsparteien doch den Krieg zu beeinflussen:
Ein serbischer Sieg, die Beseitigung des bosnischen Gebildes, darf
nicht herauskommen. Die Erbteilung Jugoslawiens darf am Ende jedenfalls
nicht so aussehen, wie die Serben sie sich jetzt erschießen. Das
Konstrukt der humanitären Militärintervention ist der Test
darauf, wieviel militärische Beschränkung sich die
überlegene Kriegspartei unter dem Titel des Humanitären
gefallen läßt, ohne die Helfer als militärische Gegner
zu nehmen und anzugreifen. Mitten ins Kriegsgeschehen werden Soldaten
plaziert, die für die Kriegsparteien sakrosankt zu sein haben.
Damit steht einiges an nationalem Prestige auf dem Spiel –
französisches und britisches Leben. Wieder haben sich die EG- und
UNO-Mächte unter Erfolgs- oder Eskalationszwang gesetzt.
Anhang
Zur neuen deutschen Kriegsmoral
Die demokratische Öffentlichkeit der Nation befaßt sich
intensiv mit der Frage, ob, wie und warum unsere Bundeswehr sich auf
dem Balkan einmischen und für Ordnung sorgen muß. Für
alle Teilnehmer der erregten Debatte steht dabei fest, daß das
neue große Deutschland sich "in einer geänderten
Weltlage" auch in Militärfragen neu sortieren muß.
Wenig Klarheit wird allerdings darüber gestiftet, auf welche
großen Aufgaben sich die europäische Führungsmacht mit
ihrer Bundeswehr wirklich vorbereitet.
Diskutiert wird die ganze Angelegenheit nämlich
ausschließlich unter zwei hochmoralischen, also sachfremden
Gesichtspunkten. Erstens wird gefragt: Sind wir, als Europäer im
allgemeinen und als Deutsche im besonderen, nicht moralisch zu
militärischem Eingreifen verpflichtet? Und weil das keine Frage
ist, geht es zweitens um das Problem: Wie paßt unser
Eingriffswille zu unserer Verfassung?
"Wir schießen nur auf Böse."
Die alte Friedensmoral, mit der die BRD ihren Aufstieg zur
zweitstärksten Nato-Macht begleitet hat, ist schon vor zwei
Jahren, beim Golfkrieg, als pseudofriedliebende Drückebergerei
erkannt und ad acta gelegt worden. Früher hatten wir unsere
hochgerüstete Bundeswehr bekanntlich bloß, damit sie nie und
nimmer einen Schuß abgeben muß. Seitdem aber die USA Bagdad
kurz und klein gebombt haben, um einen Aggressor zu bestrafen, wissen
wir, daß Kriege immer dann moralisch hochstehende Aktionen sind,
wenn sie gegen "das Böse" geführt werden. Diese
Lehre kommt heute erst richtig zum Tragen, wo deutsche Politiker sich
nicht einem von den USA definierten Feindbild unterordnen, sondern
selber und ganz aus eigener Machtvollkommenheit den "serbischen
Hauptverantwortlichen für den Völkermord auf dem
Balkan" als Feind ausgemacht haben.
Ganz in diesem Sinne sind die energischen Befürworter eines
weltweiten deutschen Engagements heute in der moralischen Offensive.
Das Gemetzel im ehemaligen Jugoslawien gilt allgemein als schlagender
Beweis für die "Unsicherheiten der neuen Weltlage",
die nach potenten "Friedensstiftern" schreien. Am guten
Sinn und Zweck eines deutschen Militäreinsatzes bestehen damit ab
sofort keine Zweifel mehr – zumindest in der pluralistischen
deutschen Öffentlichkeit; ausländische Nationalisten sehen
die Sache naturgemäß etwas skeptischer.
"Wir schießen nur für den Frieden."
Was auch immer als Militäraktion ins Auge gefaßt wird,
hört auf den Namen "Frieden". Die für
Bundeswehreinsätze in Frage kommenden Aktionen reichen von "humänitären Einsätzen", bei denen
garantiert allenfalls zurückgeschossen wird, über "friedenserhaltende Missionen", bei denen unter
Umständen wahrscheinlich schon mal zurückgeschossen werden
muß, bis zu "friedenstiftenden Maßnahmen", bei
denen für den Weltfrieden garantiert zurückgeschossen werden
muß.
Angesichts dieser nach oben ziemlich offenen Eskalationsstufen
bundesdeutscher Friedfertigkeit wird die deutsche Öffentlichkeit
nicht am schönen Titel "Frieden" irre. Ganz im
Gegenteil, alle friedliebenden Demokraten gewöhnen sich schnell
und gern an den Gedanken, daß deutsche Kriege nur dem Frieden und
der Menschlichkeit dienen, dafür allerdings auch unvermeidbar sind.
Es handelt sich hier um keine besonders originelle Zweckbestimmung
für den nationalen Militärapparat: Die Logik, nach der immer
"die anderen angreifen" und man selber "bloß
zurückschießt", hat bisher noch jede
kriegführende Nation beherrscht. Den Oberbefehlshaber hat die Welt
noch nicht gesehen, der seinem Fußvolk erklärt hätte:
"Jungs, wir sind die Aggressoren und hauen einschließlich
unschuldigen Kindern und Frauen alles kurz und klein." Das ist
auch deutschen Pressekommentatoren durchaus bekannt; die Verlogenheit
der Kriegspropaganda durchschauen und entlarven sie nämlich
lässig – immer bei "den anderen", versteht sich.
Um so mehr fühlen sie sich moralisch berechtigt, flammende Appelle
an die Bonner Herrschaften zu richten, sie sollten endlich ihre
"Zögerlichkeit" aufgeben und im Namen der
Menschenrechte zuschlagen. Das macht nun mal die Wirksamkeit jeder
Kriegspropaganda aus: Ihre Glaubwürdigkeit richtet sich nicht nach
ihrem Wahrheitsgehalt, sondern nach dem Grad der Parteilichkeit
für die Staatsgewalt, die sich zum Krieg entschlossen hat oder
entschließen soll.
"Wir schießen nur zum Schutz von Witwen und Waisen."
Nichts ist leichter und billiger, als im Krieg Opfer ins Bild zu
setzen. Täglich bekommt der Fernsehzuschauer sie jetzt geliefert,
die zerfetzten Kinder, die Leichen, Vertriebenen und die
Kriegsgefangenen in den Lagern, die zeigen, daß es mitten in
Europa wieder KZs gibt. Jede Menge Opfer – von der kroatischen
und bosnischen Seite. Das Mitleid wird auf diejenigen gerichtet, die
Sympathie genießen und Unterstützung bekommen sollen.
Bosnische Opfer beweisen die Grausamkeit des serbischen Feindes und
rufen nach der Hilfe, die der deutsche Militärapparat mit seiner
geballten Menschlichkeit zu bringen verspricht. Die kriegsbereite
Empörung, die sich an solchen Bildern nährt und
bestätigt – aber nicht begründet –,
läßt sich auch dadurch nicht mehr irritieren, daß das
serbische Fernsehen mit absolut demselben Recht die gleiche miese
Propaganda umkehren, und sein Publikum für unschuldige serbische
Opfer vereinnahmen kann. Die Parteinahme für die eine oder andere
Seite folgt eben nicht aus dem Mitleid mit den Opfern; sie entscheidet
darüber, von wessen Opfern man sich rühren läßt.
Selbstverständlich warnen verantwortungsbewußte Moderatoren
bundesdeutscher Nachrichtensendungen gelegentlich, bevor sie zur
täglichen Leichenschau nach Sarajewo umschalten lassen, Vorsicht
walten zu lassen, weil Kriegspropaganda der kämpfenden Parteien
vor Ort und "echte Information" oft nicht genau zu
unterscheiden wären. Und die Korrespondenten vor Ort berichten
schon mal, die bosnischen Milizen in Sarajewo würden manchmal ihre
eigenen Stellungen beschießen, um den anwesenden Vertretern der
Weltöffentlichkeit die Unmenschlichkeit der Serben, die sich an
keinen Waffenstillstand halten, drastisch vor Augen zu führen.
Einen Ekel vor ihrem Job, eine Sinnkrise oder wenigstens Zweifel an
ihrer Botschaft kriegen die Kriegsberichterstatter aus der Welt der
freien Meinung deswegen aber nicht. Sie ordnen alles ein: in ein Bild
der Lage, das den Kriegseintritt Europas zur humanitären Pflicht
erklärt und jeden, der nicht auf der richtigen Seite
mitschießt, zum Mittäter.
"Die Menschen sterben vor unseren Augen, wer wird sich noch guten
Gewissens fragen können: Warum haben wir nichts getan?"
(Joseph Joffe, SZ, 11.6.92)
Daß "wir", genauer gesagt die deutsche Regierung in
Sachen Jugoslawien "nichts getan" hätte, kann man zwar
nicht gerade behaupten. Aber Ursachenforschung ist ohnehin nicht die
Sache eines Pressemenschen, für den die Konsequenz des angeblich
rein menschlichen Mitleids längst feststeht: gegen Serbien in den
Krieg eintreten. Nur ein richtiger Krieg, von vornherein nicht zu knapp
dimensioniert, hilft gegen das "Sterben vor unseren Augen":
"Die Welt hilft bei Erdbeben, Fluten und Hungersnöten. Warum
nicht auch, wenn der Mensch des Menschen Feind ist? ... Wenn sie
wirklich helfen will, müßte die Weltgemeinschaft eine
schmerzliche Entscheidung treffen: eine echte, wenn auch begrenzte
Militäroperation, die nicht billig sein wird – da möge
sich niemand etwas vormachen. Es wäre nicht damit getan, Landebahn
und Tower zu besetzen. Die umliegenden Berge, wo die Serben verschanzt
sind, müßten ebenfalls eingenommen werden, dann die
Zufahrten und das Vorfeld – mindestens so weit, wie schwere
Geschütze und Raketenwerfer reichen. Nicht ein Bataillon (1000
Mann), sondern mehrere Brigaden (jeweils ca. 4000 Mann) wären
vonnöten, Einheiten, die selbständig und über einen
längeren Zeitraum hinweg operieren könnten. Dahinter
müßte eine Luftwaffe stehen, welche die Schutzzone sichert
und notfalls den Preis der anhaltenden Aggression durch Bombardements
im Hinterland hochtreibt. Es ginge – wohlgemerkt – nicht um
die Unterwerfung Jugoslawiens wie anno 1941-1945. Das überstiege
bei weitem die Kräfte der Weltgemeinschaft. Es ginge um Schutz, um
Versorgung und um eine Atempause für die bosnischen
Todeskandidaten. Kein vernünftiger Mensch kann sich diesem
moralischen Impuls verschließen. Das Problem liegt natürlich
anderswo: bei den nackten nationalen Interessen. Bosnien sitzt nicht
auf den größten Erdölreserven der Welt, sein
strategischer Wert ist gleich Null. Und die Staaten bluten nicht um des
Altruismus willen." (ders.)
Weil der Oberhetzer der Süddeutschen gar so dick aufträgt,
einmal ein paar Hinweise aufs Detail der Gedankenführung. "Der Mensch des Menschen Feind": Ist das die Wahrheit
über ein Gemetzel, das rabiate Nationalisten um die Gründung
souveräner Staaten veranstalten und mit dem sie tatkräftig
beweisen, daß ihnen dafür kein Opfer zu hoch ist? Freilich
würde jede Erinnerung an Grund und Zweck des Balkankrieges auch
das idealistische Bild von der "Weltgemeinschaft"
stören, die als Retter angerufen ist: Bei dieser
kampfkräftigen "Gemeinschaft" handelt es sich immerhin
um Staaten, die für ihre Souveränität und schon für
viel geringere Werte, ihre Weltordnungsinteressen z.B., das eine oder
andere Menschenopfer veranstalten. Versteht man sie aber anders, als
reine Wohltätigkeitsveranstaltung, dann braucht man gar nicht mehr
die Lüge zu bemühen, ihr Eingreifen würde Opfer
ersparen. Das Entscheidende wäre ja schon dadurch erreicht,
daß nicht mehr "der Mensch" seinesgleichen umbringt,
sondern für einen so vernünftigen Zweck wie ein
antiserbisches Klein-Bosnien das "Hinterland", also das von
lauter Menschenfeinden bewohnte Serbien "bombardiert" wird.
Wer wollte noch groß darauf herumreiten, daß der "Preis", den Sankt Joseph hochtreiben möchte, aus
lauter Bombenopfern besteht! Mit gewissen historischen Bedenken rechnet
der Kriegstreiber von der Süddeutschen auch und
räumt sie aus: Mit der seinerzeitigen "Befriedungsaktion" der Wehrmacht will er seine
Rettungsaktion nicht vergleichen lassen. Um Unterwerfung des Feindes
soll es nicht gehen – aber gefügig machen muß man ihn
schon. Für richtiges Unterwerfen wäre die "Weltgemeinschaft" zweitens sowieso zu schwach – aber
den Serben einen inakzeptablen "Preis" auferlegen, dazu
soll ihre Macht schon ausreichen. Wofür es drittens dann doch
wieder ein Hindernis gibt: Die Mächte, die gerade noch als
Mitglieder einer hochmoralischen Veranstaltung namens Weltgemeinschaft
angesprochen waren, sind näher betrachtet dann doch wieder
bloß berechnende Imperialisten. Um so mehr wäre ein
Jugoslawienkrieg die Probe darauf, ob von diesen Gangstern nicht doch
ein bißchen wirkliche weltordnungspolitische Selbstlosigkeit zu
haben ist. Das Kriterium steht jedenfalls: Wer dort nicht bombardiert,
der bombardiert wohl nur für eigene Interessen. Imperialismus
nannte man einmal Militärexeditionen, mit denen
Großmächte auswärts die ihnen genehme Ordnung
einrichteten. Jetzt ist Imperialismus in genau diesem Sinn so
grundsätzlich zum Auftrag der moralisch besseren Staaten geworden,
daß es als nationaler Egoismus gilt, sich mal herauszuhalten!
"Wir schießen nur, weil wir aus unserer Vergangenheit gelernt haben."
Umzuwerten sind auch die Lehren aus der unseligen Nazi-Vergangenheit:
Haben "wir" bisher "Nie wieder Krieg!" aus der
Vergangenheit lernen sollen, so jetzt, daß man keinen auslassen
darf, denn das faschistische Böse herrscht immer und überall,
und gerade der geläuterte Deutsche ist berufen, es nicht wieder
hochkommen zu lassen. Serbische Volkstumspolitik und "ethnische
Säuberung" muß Deutschland schon in den Anfängen
bekämpfen, denn (!) gegen Hitlerdeutschland sind die Alliierten
damals viel zu spät eingeschritten.
Außerdem haben "wir Deutschen" von Hitler gelernt,
daß deutsche Alleingänge und Sonderwege nicht gutgehen
können – auch deshalb muß endlich Schluß sein
mit militärischer Zurückhaltung:
"Wir wollen so reagieren können, wie es unsere
demokratischen europäischen Nachbarn auch tun. Es ist ja nicht so,
als ob wir Deutsche ihnen unsere Normalität aufdrücken
wollten. Die Nachbarn sagen vielmehr: Werdet endlich normal ... Wenn
wir mit anderen zusammen handeln, können wir nie verkehrt liegen.
... Wir würden Deutschland aber in eine Sonderrolle bringen, wenn
wir uns verweigern würden. Wir müssen zusammen mit anderen
bereit sein, internationales Recht wiederzuherstellen. Alles andere
bedeutet eine Negativ-Position und einen Alleingang nach hinten."
(Rühe im Spiegel, 20.7.92)
Na also! Früher war der deutsche Sonderweg, vor dem gewarnt werden
mußte, ein Eroberungskrieg; heute wäre es Kriegsabstinenz.
Sonderweg bleibt eben Sonderweg; und wenn Krieg die Normalität
unserer Nachbarn mit demokratischen Traditionen ist, dann dürfen
wir nicht beiseite stehen – schon wegen Hitler.
"Wir schießen nur aus weltweiter Verantwortung."
Die ganze Sache kann man auch schlicht als "die gewachsene
Verantwortung des wiedervereinigten Deutschland" bezeichnen, der
sich "dieses große Land" nicht länger entziehen
kann. Dieser Standpunkt braucht kein weiteres Argument: Gewachsene
Macht bedeutet Recht, ja Pflicht zum weltweiten militärischen
Engagement.
Außerdem heißt es, daß die ganze restliche Welt nach
den Deutschen ruft. Auf jeder internationalen Konferenz leidet unser
Außenminister angeblich unter dem Zustand, daß "Deutschland dem Rest der Welt nur gute Ratschläge gibt,
aber immer wenn es ernst wird, nicht mitmachen kann." Den
naheliegenden Schluß, die Welt künftig mit guten deutschen
Ratschlägen zu verschonen, will Kinkel damit nicht angedeutet
haben. Nein, er hält es einfach nicht aus, von den
ausländischen Kollegen immer heftiger gedrängt zu werden, die
Voraussetzungen für vermehrte deutsche Militärpräsenz zu
schaffen, und dann immer eingestehen zu müssen, daß er
eigentlich bloß einen "machtlosen Zwerg" vertritt,
militärisch gesehen... Die "Erwartungshaltung" der
restlichen Welt wäre so eindeutig; ihr könnte Deutschland
sich nicht länger entziehen. Soll man so etwas noch widerlegen?
Seit wann läßt dieser Staat sich vom Ausland zu etwas
drängen, außer er will es sowieso? Dem jahrelangen
Drängen der Entwicklungsländer auf Schuldenerlaß zum
Beispiel – das war wirklich einmal eine "Erwartungshaltung"! – hat man in Bonn immer mannhaft
widerstanden. Und auch in Sachen militärische Einsätze ist
man durchaus wählerisch, wozu man sich drängen
läßt. Der Vorschlag des UNO-Generalsekretärs, deutsche
Soldaten sollten für eine "Schnelle Eingreiftruppe der
UNO" zur Verfügung stehen, wurde von
Bundesverteidigungsminister Rühe mit dem Hinweis beschieden:
"Die Deutschen werden nicht einfach auf Abruf bereitstehen, wenn
es irgendwo Konflikte auf der Welt gibt." (SZ 8.8.92)
Zu welchem Kriegseinsatz wir Deutsche uns von der UNO rufen lassen, das
bestimmen wir immer noch selbst. Dafür haben wir die UNO –
und nicht umgekehrt.
"Wir schießen nur im Namen der UNO."
Das ist nationaler Konsens: Wir Deutschen greifen nur zu den Waffen,
wenn wir von der UNO oder sonst einer internationalen ehrenwerten
Gesellschaft gerufen werden. Auf diesen diplomatischen Schein legt man
in Bonn den allergrößten Wert. Und die gesamte deutsche
Öffentlichkeit ist sich einig, daß das Ausdruck einer
verantwortungsvollen militärischen Zurückhaltung ist. Wir
führen schließlich nie allein einen Krieg, sondern die Guten
dieser Erde in Gestalt der UNO oder KSZE sind immer mit dabei.
Dabei stört es überhaupt nicht, daß jeder
aufgeklärte Demokrat natürlich weiß, welches
eigenartige Subjekt die in der UNO versammelte "Weltgemeinschaft" tatsächlich ist:
"Die UN-Organisation hat keine eigene Macht. Ihre Macht ist
geliehen. Sie ist so schwach oder stark, wie ihre Mitglieder es
wollen."
Auf gut Deutsch: Die UNO ist das Instrument ihrer mächtigsten Mitglieder.
"Der Golf-Krieg ist dafür das beste Beispiel."
Im Klartext: Die USA haben unter dem Titel eines UNO-Auftrags ihre
eigenen nationalen Berechnungen versteckt und ihre Verbündeten
genötigt, sich als "Weltgemeinschaft" ihrem Oberbefehl
unterzuordnen.
"Wer ihn (den Golf-Krieg) als amerikanisches Unternehmen
abqualifiziert, in dem der Sicherheitsrat nur die Rolle des
völkerrechtlichen Feigenblattes spielte, der zerstört die UN.
Wenn nicht durch ein Wunder Utopien wahr werden, bleibt die UN auf
geliehene Macht angewiesen. Diese kann nur von den großen
Nationen kommen."
Also: Die UNO ist zwar ein "Feigenblatt" für die
Interessen der Mächte, die sich in ihr durchsetzen. Aber das darf
man keinesfalls so sehen, weil man sonst nicht mehr an die schönen
Titel glauben könnte, mit denen die "großen
Nationen" in den Krieg ziehen. Man muß im Gegenteil das "Feigenblatt" für die Sache nehmen, um die es geht,
und "das Erdöl" – außer Erdöl kennt
der bürgerliche Verstand offensichtlich keine staatlichen
Interessen, für die ein Krieg ihm spontan einleuchtet –
für einen zusätzlichen materialistischen Anreiz, der im Fall
Bosnien leider fehlt; und schon verbieten sich alle Zweifel an der
Ehrenhaftigkeit eines Militäreinsatzes auf dem Balkan. Fragt sich
nur, ob die Sache nicht schon zu ehrenhaft wäre für diese
schlechte Welt:
"Doch die Vereinten Nationen, die doch nach dem Überfall
Iraks auf Kuweit unter dem Druck der Weltmacht USA so flugs mit
Sanktionen bis hin zur Anwendung von Waffengewalt bei der Hand
waren...sind offensichtlich nicht willens und in der Lage, mehr zu tun,
als warnend den Zeigefinger zu erheben. Aber in Kuweit ging es ja auch
um Öl und nicht nur um das Blut unschuldiger Frauen und
Kinder."
(Dieter Schröder, SZ 25.7.92)
Die Entdeckung, daß der Golf-Krieg nicht wegen der UNO-Moral
geführt wurde, führt also keineswegs zur Entkräftung
dieser Moral, sondern zu ihrer immer entschlosseneren
Bekräftigung: Spätestens wenn Deutschland im Namen der UNO in
den Krieg zieht, stehen die höchsten UNO-Ideale und sonst nichts
auf dem Spiel.
Ein paar versprengte Pazifisten
hat die deutsche Öffentlichkeit auch noch zu bieten. Sie fallen
nicht übermäßig ins Gewicht, wenn sie sich ab und zu
mit dem Kalauer zu Wort melden: "Krieg löst keine
Probleme!" Abgesehen davon, daß sie mit diesem Einfall
ihrer Regierung auch nur die besten Absichten unterstellen – um
Problemlösung soll es der gehen, aber leider hat sie sich in den
Mitteln vergriffen –, sehen sie mit ihren zaghaften Mahnungen an
die Adresse der Machthaber reichlich alt aus, wenn die Nation das
Problem gerade so definiert, daß der Feind entwaffnet werden
muß.
Fazit: Die Nation ist kriegsbereit, die Kriegsmoral steht. Alle
erstzunehmenden Einwände im Lande gegen eine militärische
Intervention auf dem Balkan kritisieren weder die Kriegsbereitschaft
noch die dazugehörige Moral. Sie antizipieren und problematisieren
die strategischen Schwierigkeiten eines vorgestellten
militärischen Einsatzes und raten wegen des höchst fraglichen
Kriegserfolgs zur (vorläufigen) Zurückhaltung. Daneben jedoch
darf sich alle Welt erfreuen an einer heißen Debatte um
Das große "nationale Aber" – Unsere Verfassung
Die Nation debattiert auf Grundlage ihrer Kriegsbereitschaft ein
verfassungsrechtliches Problem: Dürfen deutsche Soldaten nach der
bestehenden Rechtslage, was sie nach Auffassung aller Beteiligten
unbedingt tun sollen, nämlich weltweit Frieden stiften,
Menschenleben retten usw. usf. (siehe oben)? Oder – und ein
anderes Oder kennt die deutsche Verfassungsdebatte überhaupt nicht
mehr – muß, zuerst, die Verfassung der neuen Auftragslage
angepaßt werden? Oder noch genauer: Wie sollte die fällige
Aufmöbelung des Grundgesetzes in dieser Herzensangelegenheit alle
anständigen Deutschen aussehen?
Die SPD erinnert die Regierung an die jahrelang gültige
Verfassungsinterpretation, die erst neulich noch während des
Golf-Kriegs in Anschlag gebracht wurde: daß die Bundeswehr
außer zur Vorwärtsverteidigung der Nato nicht kämpfen
gehen dürfte. "Hilfsflüge" nach Sarajewo fielen
für die Opposition noch unter die Definition "humanitäre Aktionen"; anläßlich der
Entsendung eines Zerstörers der Bundesmarine in die Adria hat sie
dann aber ihr verfassungsrechtliches Gewissen entdeckt. Als
Oppositionspartei macht die SPD sich zum Anwalt des Arguments,
daß die gültige Verfassung eine Schranke für derartige
Einsätze "out of area" ist. Zum Anwalt dieser von ihr
behaupteten bisherigen Verfassungsschranke will sie sich allerdings
nicht machen. Sie plädiert für eine Änderung des
Grundgesetzes, die "in dieser Legislaturperiode nur den Einsatz
von Blauhelmen zuläßt", und will "in dieser
Legislaturperiode keinem Kampfeinsatz ihren Segen geben" (Karsten
Voigt). Für ihr Recht, auf diesem Antrag zu bestehe, hat die
parlamentarische Opposition das Bundesverfassungsgericht angerufen.
Für eine Grundgesetzänderung ist die Regierung zu haben; aber
zu irgendeiner Sorte Zurückhaltung erpressen läßt sie
sich nicht. Die regierende Christenfraktion ist sich nämlich
mittlerweile sicher, daß das Grundgesetz sowieso schon immer
alles erlaubt hat, was politisch erwünscht ist:
"Eine verfassungsgerichtliche Klärung ist eine Chance,
daß mehr Klarheit über die Verfassungsrechtslage geschaffen
wird, als sie offenbar bis jetzt bei manchen besteht. Insofern mag das
auch für die SPD hilfreich sein. Für uns ist klar, daß
eine Grundgesetzänderung rechtlich nicht notwendig, aber politisch
erwünscht ist. Aber wir werden diese politisch wünschenswerte
Klarstellung nicht dazu benutzen lassen, die rechtlichen
Möglichkeiten substantiell einzuschränken. Das ist ja das
Ziel der Sozialdemokraten. Sie wollen keine Klarstellung, sondern eine
Einschränkung. Und das werden wir nicht mitmachen. Wenn wir durch
eine Grundgesetzänderung die wünschenswerte Klarstellung
schaffen, dann auch für Einsätze der Bundeswehr bei
friedenschaffenden Maßnahmen – sei es im Rahmen der UNO
oder dem eines europäischen Streitkräfteverbandes. Diese
Möglichkeit muß nicht neu geschaffen, sondern nur
klargestellt werden." (Wolfgang Schäuble in der SZ, 15.7.92)
Eine schöne Klarstellung zum Thema "Was kümmert mich
mein Geschwätz von gestern". Über 40 Jahre lang hat die
Bundesrepublik ihre außenpolitischen Aktionen mit einer
Interpretation des Grundgesetzes begründet, nach der
Auswärtsspiele nur in genau definiertem Nato-Auftrag möglich
waren. Herr Schäuble selber war kürzlich noch Minister einer
Regierung, die mit dem Verweis auf "verfassungsrechtliche
Schranken" ihre "leider unvermeidbare
Zurückhaltung" im Golf-Krieg begründete. Jetzt gibt der
Mann ganz offiziell und nebenbei zu, daß das alles berechnend
eingesetzte politische Ideologien waren und man sich
selbstverständlich schon immer – unter besonderer
Würdigung des Artikels 24 oder von was auch immer – eine
etwas anderen Auslegung unserer einzigartig friedliebenden Verfassung
hätte zurechtlegen können.
Ob mit oder ohne Verfassungsänderung, die Frage, was die
Bundeswehr darf, kann also durchaus positiv beantwortet werden: Sie
darf prinzipiell alles, wenn sie es nur im Auftrag einer höheren
Instanz macht – und der wird sich garantiert einstellen. Wir
Deutschen weisen schließlich nicht umsonst alle Naselang in aller
Bescheidenheit darauf hin, daß wir uns einem Ruf in den
UNO-Sicherheitsrat nicht entziehen würden. Und was einen
künftigen "europäischen Streitkräfteverband"
betrifft, falls so ein Ding je zustande kommt, haben wir ebenfalls
keine Sorge, daß unsere Bundeswehr darin ihren angemessenen "friedensstifenden" Platz einnehmen wird.
_______
[1] Zur Entstehung des völkischen
Staatsgründungswillens im alten Jugoslawien und zum Einstieg von
Deutschland und der EG auf diese Chance internationaler
Ordnungsstiftung siehe: GegenStandpunkt 1-92, S.139, Bürgerkrieg
in Jugoslawien – Ein Fall für europäische Weltordner.
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