Bürgerkrieg in Jugoslawien
Ein Fall für europäische Weltordner
Die einstmals stolze "Sozialistische Föderative Republik
Jugoslawien" verschwindet von der politischen Landkarte.
Daß sich eine ganze Staatsgewalt einfach zersetzt, wird in der
deutschen Öffentlichkeit mit Selbstverständlichkeit
registriert. Die "Frieden und Freiheit" genannte
Weltordnung, die woanders das Prinzip der Unantastbarkeit von Grenzen,
also der genehmen Völkerrechtssubjekte hochhält, sieht hier
keinen Handlungsbedarf für "untaugliche"
Rettungsversuche.
Der Erfolg, daß die einstige feindliche Weltmacht sich selbst
aufgegeben hat, stiftet Durchblick: Allein der faktische Untergang des
jugoslawischen Staates – ehemals ein Bollwerk gegen den
Stalinismus – beweist jetzt dessen Zugehörigkeit zum
falschen System. Die verflossene SFRJ ist nurmehr ein weiterer Beleg
für den "unvermeidlichen Sieg der Geschichte", vor der
jeder kommunistische Staat zum "Untergang verurteilt" ist.
Dieselben Politiker, die neulich noch die besten Beziehungen zu den
jugoslawischen Staatsführern pflegten – immerhin hatten die
sich schon längst an die EG assoziieren lassen, ließen sich
ihre Wirtschaftspolitik vom IWF entwerfen und haben ihren Dinar an die
gute DM gebunden –, entdecken schlagartig in ihren Partnern von
gestern Repräsentanten eines "stalinistischen
Panzerkommunismus". Jetzt entlarvt sich der Staatsgründer
Tito, dessen mustergültige "Unabhängigkeit" und
herrlich "undogmatischer Sozialismus" zeit seines Lebens
gefeiert wurde, als ein kommunistischer Diktator, der seine Völker
mit harter Hand geknechtet und unterdrückt hat. Selbst den
einstigen Linken, die einmal die jugoslawische "Arbeiterselbstverwaltung" als die gesellschaftliche
Alternative sowohl zum Kapitalismus wie zum Staatssozialismus gepriesen
hatten, ist heute kein Nachruf auf das "gescheiterte
Modell" mehr zu entlocken. Das neue Dogma, daß der
Zusammenbruch des Kommunismus, weil faktisch, gleich auch noch
notwendig und gerecht sein muß, tobt sich auch an Jugoslawien
aus, so daß alle vorgestern noch bekannten, weil politisch
gewürdigten und ausgenützten Gegensätze zum Ostblock vom
Elementarfeindbild erschlagen werden. Aber warum soll man sich auch die
Genugtuung durch die Erinnerung an frühere Komplimente und gute
Beziehungen stören lassen, wenn die Dienste, die dieser Staat
einmal geleistet hat, angesichts der heutigen Weltlage gegenstandslos
geworden sind.
Da stellt sich natürlich erst gar nicht die Frage, warum denn die
politische Klasse eines anerkannten Staatswesens mitten in Europa
überhaupt darauf verfällt, ihr eigenes Staatswesen zu
zerschlagen und in absehbar ohnmächtige Kleinststaaten zu
zerlegen. So übermäßig selbstverständlich ist es
nämlich gar nicht, daß Serben und Kroaten im Jahre 1991
entdecken, daß sie partout keinen gemeinsamen Staat bilden
können, während Bayern und Preußen das nicht nur
können, sondern sich auch noch mit Sachsen und Mecklenburgern
zusammengelegt haben.
Nationaler Staatsgründungsfanatismus erledigt eine Staatsgröße
Ganz von alleine sind die Jugo-Politiker allerdings auch nicht darauf
verfallen. In ihrer glanzvollen Unabhängigkeit sind nämlich
auch sie Produkt und Opfer des Ost-West-Gegensatzes, den sie zur
Grundlage für ihren "Dritten Weg" benützt haben.
Dem verdanken sie den Erfolg ihres Staatswesens ebenso wie dessen
Mißerfolg, der sie so grundsätzlich unzufrieden gemacht hat.
Weltpolitisch interessant geworden war Jugoslawien überhaupt nur
durch seine frühe Abspaltung vom Ostblock, ironischerweise
verursacht durch Streitigkeiten um den wahren kommunistischen Weg, die
den legendären Staatsgründer Tito gegen Stalin aufgebracht
hatten. Der Tatsache, daß die jugoslawischen Partisanen Hitler
ohne entscheidende Hilfe weder durch die Alliierten noch durch die Rote
Armee vom Balkan vertrieben hatten, entnahm Tito das Recht auf
kommunistische Führerschaft und, nach dem Zerwürfnis, auf
einen unabhängigen Weg. Das Angebot des Westens, einfach das Lager
zu wechseln, widersprach aber auch der sozialistischen Staatsidee
Titos, so daß die jugoslawische Unabhängigkeit von beiden
Seiten "umworben", d.h. dafür bestochen wurde, nicht
mitsamt ihrer interessanten strategischen Lage mitten in der Hauptfront
in eines der Lager überzulaufen.
Unbestrittener Höhepunkt dieser Staatskarriere war die
jugoslawische Führung in einem veritablen Block der "Blockfreien", versehen mit der dazugehörigen
diplomatischen Würdigung durch beide Lager – ein Erfolg, der
dann leider durchs Verschwinden der Blockfreien sein Ende nahm. In der
Regel verloren die an diesem Bündnis beteiligten Staaten
nämlich die Lust an einer solchen Neutralität, weil die
Angebote des Westens in Sachen staatlicher Ausrüstung einfach
attraktiver waren. Seitdem schließlich Gorbatschow sich um die
einseitige Beendigung des Ost-West-Gegensatzes verdient gemacht hat,
ist die Geschäftsgrundlage der jugoslawischen Unabhängigkeit
ganz grundsätzlich entfallen, was sich den Tito-Nachfolgern als
ärgerlicher Mangel an Berücksichtigung und vor allem an
wirtschaftlichem Entgegenkommen bemerkbar gemacht hat.
Der jugoslawische "Dritte Weg" hatte nämlich die
berühmte Unabhängigkeit in Sachen Ökonomie so begriffen,
daß man sich die Vorteile beider Lager zunutze machen
könnte: als assoziiertes Mitglied im RGW mit geregelten Rohstoff-
und Energielieferungen auf Verrechnungsbasis und als Teilnehmer am
Weltmarkt, speziell an dem von der EG bestimmten, auf dem man per
Kredit fortschrittliche Industrien einkaufen konnte. Der schlagende
Erfolg dieser Geschäftsbeziehungen ist bekannt: Jugoslawien war,
solange es noch existierte, zum ökonomischen Anhängsel und
Hinterland der EG geworden, seine Politiker beschäftigten sich
seit Beginn der 80er Jahre mit ihrer "Krise", die sie in
immer neue Anläufe zu marktwirtschaftlichen Reformen umsetzten.
Und dabei bekamen sie dann den westlichen Unwillen zu spüren,
weiterhin die jugoslawische unabhängige Rolle mit
großzügigen Kreditkonditionen zu belohnen. Stattdessen
fanden sie sich auf einmal in der Position eines ziemlich
drittklassigen Industrielands mit einem Schuldenberg unter Aufsicht des
IWF wieder, dessen haushalts- und währungspolitische Auflagen
immer mehr die Finanzierung ihres inneren ausgeklügelten
Selbstverwaltungswesens, d.h. vor allem die finanztechnische Bedienung
des Vielvölkerausgleichs verunmöglichte.
An ökonomischer Abhängigkeit und politischer Ohnmacht, am
Verlust einst vorhandener nationaler Größe allein ist noch
keine Staatsgewalt zugrunde gegangen. Auf den hinteren Rängen der
Staatenwelt tummeln sich nur Subjekte, die ähnliche Staatsnotlagen
verwalten. Damit solche Dauerkrisen als zwingender Grund zur
Auflösung des Staats begriffen werden, müssen die
Zuständigen schon die Zentralgewalt selbst als den Fehler und das
Hindernis für politischen Erfolg begreifen – und das hatten
die jugoslawischen Staatsmacher im alten Bundesstaat nur zu gut
gelernt. Entgegen dem Gerücht von einer brutalen
Unterdrückung der Nationen hatte der Tito-Staat die nämlich
so wenig unterdrückt, geschweige denn kritisiert, stattdessen so
bitter ernst genommen, daß der gesamte Staatsaufbau nicht nur den
Werktätigen und Jugoslawen, sondern denselben auch noch in der
Rolle von Völkern und Völkerschaften beweisen sollte,
daß sich das Zusammenleben in der Eigenschaft als viele
Völker lohnte. In Gestalt eigener Republiken und autonomer
Regionen mit eigenen Regierungen und Bilanzen durften die vielen
Völker immer schon ihren Erfolg als ausgiebigen Streit miteinander
und mitden Bundesinstanzen um Zuteilung und Abtreten von Mitteln
betreiben, d.h. weniger die Völker, die auch in Jugoslawien
hauptsächlich mit Arbeiten beschäftigt waren, als deren
Führer.
In der nationalen Optik, die die jugoslawische
Vielvölker-Staatsraison ihren Unterabteilungen gründlich
beigebracht hatte, nahm sich der Mißerfolg des Gesamtstaates wie
eine schlechte Behandlung, Bevormundung oder Behinderung der
Unterabteilungen durch die Zentrale aus, so daß sich lauter
erprobte Funktionäre der alten Staatspartei binnen kurzem zu
echten nationalen Führern herausgemacht haben. Deren
Streitigkeiten um den gerechten Anteil ihrer Republik verwandelten sich
im Zeichen der Schuldenkrise in den Streit, wer den Schaden zu tragen
hatte. Die Auseinandersetzungen dieses Typs, als Vorwurf an die
Nachbarrepubliken gerichtet, daß sich die eigene Sache ihrer
Unzulänglichkeiten wegen nicht mehr lohne, leiteten die Zersetzung
ein. Der Auftakt zur heutigen Lage bestand in der Weigerung Sloweniens,
den gesetzlich vorgesehenen Anteil "seiner"
Deviseneinnahmen in den Bundesfonds zugunsten der südlichen "Armenhäuser" abzutreten. Damit hatten die Albaner im
Kosovo neue gute Gründe erhalten, gegen die Unterdrückung aus
Belgrad zu rebellieren, was die dortige serbische Regierung wiederum
zum Anlaß nahm, die autonomen Regionen unter ihre Aufsicht zu
stellen. Die gemeinsame Vergangenheit im Bund der Kommunisten hat
Milošević, Tuđman und Kućan gleichermaßen zu Demokratie
und Marktwirtschaft und zu der Überzeugung "Slowenien den
Slowenen, Kroatien den Kroaten und Serbien den Serben" bekehrt.
Für den Bund der Kommunisten, der den Staatszusammenhang
repäsentiert und verwaltet hatte, gab es damit keinen
Verwendungszweck mehr. Er löste sich in allen Republiken sang- und
klanglos in echt nationale Parteien auf. Seitdem das föderative
Band der Staatsgemeinschaft nur noch im Streit der Republiken darum
bestand, die ökonomischen und politischen Mittel des Staates zu
monopolisieren und sich darüber wechselseitig zu schädigen,
wurden die jeweiligen Völker gründlich darüber
unterrichtet, daß sie ihr zunehmendes Elend serbischer
Vorherrschaft oder slowenischen Alleingängen, auf jeden Fall der
Belgrader Zentrale verdankten. Als brave Staatsbürger entdeckten
auch sie immer mehr ihre Teil-Volksnatur als ihren eigentlichen
Daseinszweck und befanden es für überaus logisch, sich von
schlecht versorgten selbstverwalteten Werktätigen auf den Beruf
von Milizionären umzustellen.
Jetzt stehen sich nur noch Nationalisten im Weg, die als Führer
ihrer Nation mit Mehrheiten gewählt wurden, deren sich kein
sozialistischer Staatsmann aus alten Tagen hätte zu schämen
brauchen, und kommen sich über den Nachlaß ihrer
verflossenen gemeinsamen Jahre ins Gehege. Alle wollen von der alten
Staatsmacht nur noch deren Verbrechen an ihrer Nation kennen, wobei
Serbien von deren Machtmitteln noch einiges unter Belgrader Hoheit
retten möchte. Dieser Unterschied verschafft den aufstrebenden
Kroaten und Slowenen einerseits und den Serben andererseits den neuen
Feind, der die nationale "Identität" erst recht
stiftet.
Dem deutschen öffentlich-rechtlichen Lob auf bislang gänzlich
unbekannte Völkerschaften, deren Unabhängigkeitsdrang das
beste Zeugnis ausgestellt wird, sollte man sich lieber nicht
anschließen. An Jugoslawien – und nicht nur dort –
kann man sehen, welch schönen Verhältnissen die herzliche
Anteilnahme gilt: nichts Geringerem als Mord und Totschlag, Hunger und
Vertreibung. Das ist weder Zufall noch Ausdruck unzivilisierter
Manieren von Balkanvölkern.
Anders als durch Krieg und Gewalt läßt sich nun einmal kein
Staat begründen. Untertanen fix und fertiger Staaten können
sich den Glauben an die friedliche Natur ihrer Herrschaft nur leisten
und sie als Chance zum eigenen Zurechtkommen (miß-)verstehen,
weil ihre Staatsgewalt den Automatismus der Abhängigkeiten
längst eingerichtet hat, unter denen das staatsbürgerliche
Leben abläuft – die sind der "innere Frieden",
den die Staatsgewalt bloß schützt. Dahin wollen die
jugoslawischen Staatsgründer erst kommen. Nicht dümmer als
die Politiker, die soliden Staatswesen vorstehen, wissen sie, daß
die Schaffung der staatlichen Gewaltgrundlage jedem höheren Zweck
staatlicher Machtausübung vorausgeht. Dafür, und das ist der
elementare Sinn von "Unabhängigkeit" und "nationaler
Selbstbestimmung", wird in Jugoslawien
geschossen und gestorben. Als einziger Lohn winkt den Serben und
Kroaten, die aufeinander losgehen, daß sie künftig in einem
"eigenen" Staat leben, in heimischer Währung bezahlen
und ihre traditionelle Stammesfahne verehren dürfen. Mehr wird
ihnen von ihren führenden Nationalisten nicht versprochen.
Nationen schaffen sich ihren Staat
Jede Staatsgewalt gebietet über ihr Volk, das ausschließlich
ihr verfügbare Material für alle Ansprüche, die die
Verantwortlichen der Nation für unerläßlich erachten.
Diese innige Beziehung stiftet in fertigen Staaten der Paß, mit
dem der Inhaber seine prägende Charaktereigenschaft,
Staatsangehöriger und Mitglied der Volksgemeinschaft zu sein,
aufgestempelt bekommt. Dieser Verwaltungsakt macht sich nicht
abhängig vom Nachweis deutsch-nationaler Gesinnung oder
reinrassischer Herkunft des Paßinhabers. Des weiteren sorgen die
staatliche Rechtsgewalt und das durch sie garantierte nationale
Geschäftsleben von selbst dafür, daß kein Mitglied der
Nation umhinkommt, seinen Beitrag zum nationalen Ganzen zu liefern.
Dieses Band, das oben und unten automatisch verknüpft, geht den
jugoslawischen Teilrepubliken, die unbedingt nationale Staaten werden
wollen, ab. Mangels Sicherheit stiftender Bindungen, die mit dem Staat
auch schon das ihm zugehörige Volk definieren, sind sie beim Akt
der Staatsgründung auf die Abkunft und das Bekenntnis derer zur
nationalen Rasse verwiesen, denen sie Pässe ausstellen. Die
Einbürgerung aller, denen die nationale Staatsehre zuteil werden
soll, bedeutet umgekehrt die Ausbürgerung all derer, denen dieser
rassische Vorzug nicht zukommt; zumindest in der Form, daß sie
unter die Kategorie minderwertiger, unzuverlässiger Volksteile
fallen und entsprechend behandelt werden. Wenn es erst noch gilt, das
passende Staatsvolk zu schaffen, ist nicht Verwaltungsroutine, sondern
Sortierung gefragt.
Auf dem Gebiet des alten jugoslawischen Staatswesens, das den
nationalen Wahn seiner Völkerschaften nicht bekämpfen,
sondern versöhnen wollte, steht da entschiedenes Aufräumen
an. Unter dem sozialistischen Regime sind albanische, muslimische,
serbische und kroatische Jugoslawen munter von einem Landesteil in den
anderen gezogen und haben quer durcheinander geheiratet, ohne daß
es ein Wort für Mischehe gab. Den Angehörigen der
Hauptbevölkerung einer Republik, die in anderen Landesteilen
hausten, hatte der Vielvölkerstaat überall die gleichen
Rechte, die zahllosen Selbstverwaltungsorgane und eine penibel
beachtete gleiche Berücksichtigung von "Völkern und
Völkerschaften" garantiert.
Mit dieser laschen Praxis – jetzt als Diktatur der
kommunistischen Zentrale entlarvt – wird überall
Schluß gemacht. Serbien ist vorausgegangen und hat den
Autonomiestatus und die politische Selbstverwaltung der Vojvodina und
des vorwiegend von Albanern bewohnten Kosovo aufgehoben. Mit diesem Akt
waren diese Gebiete zur natürlichen Heimat aller Serben geworden.
Die Albaner, die auf dem Amselfeld, der historischen Stätte
serbischer Größe, wohnen, sind von einem Tag auf den anderen
störendes Inventar, das der geborenen Staatsrasse die Häuser,
die Arbeit und die staatlichen Verwaltungsstellen wegnimmt;
entsprechend werden sie behandelt.
Das neue Grundgesetz des unabhängigen Kroatien macht die serbische
Minderheit zu Staatsbürgern 2. Klasse. Als rassisches
Anhängsel der Republik, mit der sich Kroatien im Krieg befindet,
unterliegen sie automatisch dem Verdacht, sich als geborene
Staatsfeinde im Kroatien herumzutreiben. Wenn sich die Betroffenen
wehren, wobei ihnen auch nichts anderes einfällt, als sich
ihrerseits für unabhängig zu erklären oder sich ihrer
größeren Heimat Serbien anschließen zu wollen, dann
sind sie "Terroristen", an die Verhandlungsangebote
verschwendet sind. Diese neue Staatsmaxime sieht dann auch das Volk
ein. In den jugoslawischen Dörfern, in denen bisher getrennt
gebetet und gemeinsam gefeiert wurde, zünden sich jetzt die
Nachbarn die Häuser an.
Als erstes stellen die nationalen Staatsgründer Grenzschilder auf. Ein dem Zugriff anderer entzogenes
Territorium gibt dem Staatstraum erst den nötigen Halt. Gedacht
ist bei den eigenen Grenzen weniger an nationale Abschottung als an
Machtmittel, die dem eigenen Projekt unbedingt zustehen, so daß
einiges an Staatsboden über die alte Republikeinteilung hinaus
beansprucht wird. Das lebhafte Interesse, sich wirklicher Grenzen zu
versichern, läßt die feindlichen Brüder ein weiteres
Verbrechen des alten Regimes entdecken: Es hätte die Republiken
durch willkürliche und un-nationale "Verwaltungsgrenzen" eingeschränkt – ganz so,
als gäbe es irgendwo auf der Welt "natürliche"
Grenzen. Republikführer entsinnen sich ihrer nationalen
Brüder außerhalb, die heim ins Reich müssen, was nur
durch die Unterstellung des Bodens, auf dem sie leben, unter die eigene
Staatshoheit geht, oder eines nationalen Bodens, der ebenso heim ins
Reich gehört, auch wenn auf ihm die Falschen wohnen. Oder sie
entdecken, wie Slowenien, die Ungerechtigkeit, keinen brauchbaren
Zugang zur Adria zu besitzen, den Kroatien jetzt abtreten soll.
Mit diesem Kampfprogramm gehen sie aufeinander los – so daß
es auch ausnahmsweise Übereinstimmung unter den größten
Feinden gibt:
"Die Teilung Bosniens ist die
beste Lösung. Er (Tuđman) stimme mit Milošević
überein, daß eine Grenzziehung zwischen Serbien und Kroatien
sowie eine Lösung des Muslimproblems im Mittelpunkt einer
friedlichen Beilegung des Konflikts (in Bosnien-Herzegowina) stehen." (SZ 15.7.91)
Die freundliche Überzeugung, daß gute Deutsche
auswärtigen Freunden nur dabei helfen, "ihre Grenzen zu
verteidigen", liegt also einigermaßen schief – in
Jugoslawien sollen Grenzen überhaupt erst gezogen werden, das
macht die Unversöhnlichkeit der streitenden Parteien aus. "Eroberung" oder "Verteidigung" läßt
sich da nur mit blinder Parteilichkeit unterscheiden, objektiv
vorhanden ist nur der Unterschied an verfügbaren Gewaltmitteln
– der macht aus der einen Republik noch keinen Täter und aus
der anderen noch kein Opfer. Daß der beiderseitige Anspruch auf
eine echt nationale Grenzziehung so schön unvereinbar ist, stiftet
schließlich überhaupt erst den Anlaß dafür,
daß sich die Deutschen mit ihrer notorischen Vorliebe für
Friedensprozesse einschalten können.
Der Krieg reduziert die Träume von einem serbischen oder
kroatischen (Groß-)Reich, das alle Volksgenossen in sich vereint,
auf ein praktisches Normalmaß. In ihm kommt es darauf an, den
Gegner zu schwächen, den Staatsboden zu behalten und dem anderen
abzunehmen, ohne sich sklavisch an eine Bevölkerungsstatistik zu
halten. Im übrigen werden die alten Heimatrechte von den
Kriegsparteien, die sich auf sie berufen, selbst gründlich
umgepflügt. Hunderttausende verlassen ihre bisherigen Wohnorte und
folgen den veränderten Grenzen und wechselnden Kampflinien. So
leistet die Kriegsführung immerhin ihren Beitrag zur Entmischung
der unordentlich beheimateten Volksteile.
Zur Grundausstattung jedes Staates gehört ein Personal, das sich
aufs Regieren versteht. Nach dem Vorbild erfolgreicher Staaten hat sich
in allen jugoslawischen Republiken die Bestallungsmethode der Demokratie und ihrer freien Wahlen eingebürgert. Gewählt
wurde das Lebensrecht der unabhängigen Nation und Führer, die
diesen Anspruch ohne Kompromiß durchzusetzen versprachen.
Dementsprechend müssen sich die Machtinhaber von der überall
vorhandenen Opposition befragen lassen, wie ernsthaft sie dieses
Staatsziel im Auge haben. Dabei gehen die Oppositionsparteien von der
nationalen Geschichte aus und blamieren Tuđman und Milošević
entweder mit der Einheit Kroatiens unter dem faschistischen
Ustascha-Regime oder mit der Größe des einstigen serbischen
Königreichs, und flugs entlarven sich die verantwortlichen
Politiker als Feiglinge und als Landesverräter. In Serbien hat
sich auch noch der alte Bundesstaat als Maßstab erhalten, so
daß Milošević auch damit kritisiert wird, daß er
durch verkehrten Nationalismus die anderen Nationen gegen die
Führungsnation Serbien aufgebracht hätte. Mitten im Krieg
ruft dort die Demokratische Partei öffentlich zur
Wehrdienstverweigerung auf, weil der Krieg Serbien nur schaden soll.
Aber das paßt nicht ins deutsche Bild vom serbischen
Panzerkommunismus.
So gut gemeint diese vaterländische Kritik auch ist, sie
fällt in den Augen der Regierungspartei unter Verbrechen an der
Nation. Den Spaltern der Volkseinheit werden Demonstrationen untersagt,
und einzelne Funktionäre werden in Schutzhaft genommen. Da der
anspruchsvolle Maßstab, was die Ehre der Nation alles gebietet
und erfüllen soll, immer nur unvollkommen eingelöst wird,
machen sich die nationalen Führer auf die Suche nach
Volksverrätern, die das Vorankommen der Nation sabotieren. Kaum
fällt das kroatische Vukovar, steckt Tuđman den
militärischen Ortskommandanten ins Gefängnis. Aus dem
Nationalhelden ist von einem Tag auf den anderen ein Agent des
serbischen Geheimdienstes geworden. Wo die Nation einen ganzen Staat
stiften soll, bekommt die demokratische Kontrolle auch sonst alle
Hände voll zu tun. Je mehr sich die Nation zusammenschart, desto
auffälliger werden die nicht dazugehörigen fremden
Minderheiten, deren politische Führer verfolgt, gejagt oder in
Haft genommen werden.
Wie jeder anständige Staat bilanzieren die neuen Souveräne
die ökonomischen Mittel und stoßen dabei auf eine
erschreckend einfache Bilanz. Das Geld, das den Wert allen heimischen
Produzierens ausmacht und zum nationalen Reichtum zusammenaddiert,
erweist sich durch seine Beschriftung als Eigentum eines fremden
Staates, durch den sich die Nation der Früchte ihres Fleißes
beraubt sieht. Abhilfe läßt sich schaffen: Die neue
nationale Währung hat freilich mit wirklicher Produktion vorerst
nur vermittelt über die Arbeit, die auch das Bedrucken von
Papierbögen erfordert, zu tun.
Als ideeller Beweis, daß die Nation bisher von der staatlichen
Zentrale und den anderen Republiken ausgeplündert, mindestens
jedoch ungerecht entlohnt wurde, wiegt der slowenische Tolar umso
schwerer. Dieser Befund wird jetzt exekutiert. Die Republiken
unterbinden ihren bisherigen Waren-, Handels- und Geldverkehr. Die
Hinterlassenschaft der bundesstaatlichen Wirtschaft wird vor allem der
nützlichen Verwendung zugeführt, die Nachbarn zu
schädigen: Jugoslawische Zölle werden in Slowenien
einbehalten, gemeinsame Ölleitungen unterbrochen, dem Bundesstaat
gehörige Betriebe in Kroatien enteignet, kroatische Raffinerien
bombardiert und gegenseitige Zahlungsverpflichtungen ignoriert. So
kommt auch die umgekehrte Seite der Tatsache, daß die Produktion
jeder Republik Teil einer übergreifenden Arbeitsteilung war, zum
Zug. Überall stellen Fabriken ihre Produktion ein, da die
benötigten Rohstoffe und Halbprodukte aus anderen jugoslawischen
Regionen nicht mehr eintreffen. Der Stolz Sloweniens, "seine"
devisenverdienende Industrie, die diesen "modernen" Volksschlag vor
anderen faulen
Balkanvölkern auszeichnete, ist schlagartig gesundgeschrumpft.
Dafür zieht überall die "Marktwirtschaft" ein,
vorerst freilich nur durch die Beseitigung der alten Planwirtschaft und
ihrer Garantien. Die künftige Nation macht sich bei ihren
Anhängern bis auf weiteres durch Versorgungsmängel, Hunger
und unbezahlbare Preise geltend.
Die Abwesenheit von so etwas wie einer Nationalökonomie beunruhigt
die neuen Staatsgründer jedoch nicht im geringsten. Sie wissen,
daß es beim Staat zuallererst auf die Elementarform seiner
Gewalt, auf die militärische Ausstattung ankommt. Den neuen Staatsbürgern
wird als erstes der Militärdienst zur Verteidigung der Heimat
anvertraut. Die separatistischen Landesteile verweigern der Bundesarmee
die Rekruten, bis die auf eine serbische Armee reduziert ist;
aufgebrachte Mütter beschimpfen deren Offiziere als Mörder
ihrer Kinder, damit die Kinder dann zu Hause den richtigen Dienst tun.
Dort werden die Garnisonen der Armee belagert, damit die Kinder auch
ordentliches Gerät zum Kämpfen bekommen. Die
Unabhängigkeitsfeier fällt mit der feierlichen
Rekrutenvereidigung zusammen.
Alle verfügbaren Devisen werden für den Kauf von Waffen und
für die Ausrüstung der nationalen Kampfverbände
eingesetzt. Dafür werfen die Republiken – ebenso wie die
Belgrader Regierung für die Volksarmee – die Notenpresse an.
Die Scheidung zwischen Militär und Zivilbevölkerung wird
hinfällig. Aus Dubrovnik nach Zagreb geflohene Bewohner werden auf
kroatischen Schiffen postwendend zurückverfrachtet. Vor Ort
beweisen sie glaubwürdiger das Verbrechen der Volksarmee, auf
kroatisches Leben zu schießen, vor allem wenn italienische
Politiker vorbeischauen.
Hierzulande gebietet die öffentliche Moral, die Befreiung der
jugoslawischen Völker vom kommunistischen Einheitsstaat als
humanitäre Leistung zu würdigen. Dem sollte man sich lieber
nicht anschließen. Die praktische Inanspruchnahme der Völker
für das Recht auf einen eigenständigen Staat reduziert die
Lebensbedingungen auf pure Kriegswirtschaft. Dadurch werden die
Lebensmittel nicht mehr. Vom künftigen Staat haben die neuen
Staatsbürger erst einmal und auf längere Dauer nur eines:
seine Existenz. Das mag ein nationales Gemüt befriedigen, satt
wird es davon nicht.
Weil die potentiellen Staaten keine Macht haben, sondern dadurch
erobern wollen, daß sie sie sich wechselseitig bestreiten, machen
sie sich auch nur als politisches Material für das Aufsichtsrecht
und die Einmischungspflicht anderer Staaten zurecht. Aus Anlaß
des nationalen Wahns, der sich in Jugoslawien austobt, gelangt der
Balkan zur Ehre, zum "Krisenherd" und zur "Konfliktzone" ernannt zu werden. Mit dieser Kennzeichnung
sehen sich Staaten, auf die es wirklich in der Welt ankommt,
veranlaßt, dieser Gegend ihre Aufsicht und Kontrolle angedeihen
zu lassen.
Der jugoslawische Bürgerkrieg: Ein Fall für Zwölf
1.
Die EG-Staaten haben den Streit in Jugoslawien zur Krise erklärt,
die sie nicht ungerührt lassen kann; die nach einer Lösung
ruft, welche von Bonn und Paris ausgeht. Ohne Zögern haben
europäische Politiker die Zuständigkeit für das
kriegerische Geschehen übernommen. Ihr Grund: weil sich diese
blutige Unruhe "mitten in Europa" abspielt, "vor der
eigenen Haustür". Was will uns diese Begründung wohl
sagen? Etwa, daß demokratische Weltpolitiker kein Blut sehen
können – so aus der Nähe? Die Täuschung konnte
kaum aufkommen. Unerträglich am jugoslawischen Bürgerkrieg
und besonders verwerflich daran ist, daß er sich in direkter
Reichweite des politischen Einflusses abspielt, der von den
EG-Metropolen ausgeht. Hier ist man "betroffen", "zutiefst" betroffen, weil ein ökonomisches
Anhängsel der europäischen Wirtschaftsmacht, ein Transitland
für den innereuropäischen Geschäftsverkehr, ein
Abstellplatz für erholungsbedürftige Massen, ein Staat in
gefestigter politischer Abhängigkeit, also: ein Musterfall von "Hinterhof", wie man ihn den Amerikanern in Mittelamerika
nachsagt, in unerlaubte Unordnung und Verfall gerät.
2.
Europa mischt sich also ein. Und zwar so, daß es sich auf gar
keinen Fall zum bloßen Unterstützer einer der Parteien
herabwürdigt, die auf dem Balkan gegeneinander kämpfen. Die
EG hat sich ja auch weder die Auflösung Jugoslawiens in
Einzelteile bestellt, noch bei der dortigen Armee die nationale
Wiedervereinigung der Republiken in Auftrag gegeben. Die Anliegen der
Kriegsgegner sind keine Anliegen der EG oder eines ihrer Mitglieder;
umgekehrt wüßte weder die Gemeinschaft noch einer ihrer
Mitgliedsstaaten ein eigenes materielles Interesse anzugeben, das die
eine oder die andere Kriegspartei besser bedienen würde oder nach
dem alle sich richten sollten. Angesichts des Bürgerkriegs
ergreift Europa ganz entschieden Partei für seine
Regelungskompetenz, der sich kein Kriegsgegner entziehen können
soll. Tuđman und Milošević werden nach Den Haag einbestellt,
damit sie dort ihr europäisches Aufsichtspersonal kennenlernen;
also um klarzustellen, wer die übergeordnete Schiedsstelle
für ihre Streitigkeiten ist. Jugoslawien wird zum Fall für
ein Prinzip gemacht, das es vorher so noch gar nicht gegeben hat, das
an diesem Fall aber durchgesetzt werden soll: für europäische
Ordnungsstiftung.
Also ein Fall von selbstloser Vermittlungstätigkeit? Von purer
Friedensverantwortung? So sieht es die europäische
Öffentlichkeit und hat sogar einen Beweis: Weit und breit nichts
zu sehen von nationaler Berechnung, von Parteilichkeit und materieller
Vorteilssuche, wie sie doch sonst immer durchscheint. Ein wenig scheint
allerdings auch hier die Berechnung durch, wenn Europas betonte
Überparteilichkeit gar so sehr als denkbar bester Grund für
um so härteres und wirksameres Ein- und Durchgreifen
begrüßt wird. Denn darum wird es dann ja wohl gehen: um das
Recht der EG, über Staaten "vor ihrer Haustür"
maßgeblich zu entscheiden, bei den Nachbarn auftretende
Machtfragen hoheitlich zu beantworten. Also nicht bloß das eine
oder andere Interesse durchzusetzen, sondern die Souveränität
gewisser "souveräner Staaten" überhaupt
außer Kraft zu setzen, wenn deren innere Ordnung oder Unordnung
mißfällt. Ob dadurch Friede einkehrt oder die Streitigkeiten
und Schlächtereien nur schlimmer werden, ist schwer die Frage,
aber gar kein Kriterium: Die wüsten Verhältnisse in einem
Staat, über den die EG die Aufsicht führt, bekommen dadurch
einen tieferen politischen Sinn. Sie sind nicht mehr bloß Sache
der zerstrittenen Parteien vor Ort, die fürs Kriegführen ihre
Gründe haben, sondern Mittel, um der übergeordneten
europäischen Kontrollmacht Geltung zu verschaffen. Sie stellen das
"politische Machtvakuum" her, das die Aufsichtsorgane der
EG diagnostizieren, weil sie darauf scharf sind, es auszufüllen.
Zu einer Politik, die materielle Staatsinteressen anderswo
durchzusetzen versucht, verhält sich dieser Anspruch auf
Oberhoheit wie die Methode zur Sache, wie das Prinzip zum
Anwendungsfall – von wegen "selbstlos"!
3.
Deswegen folgen aus der Überparteilichkeit der EG auch zunehmend
klare und parteiische Unterscheidungen zwischen den unterschiedlichen
Kriegsparteien. Zu Anfang, im Juni 91, beschloß sogar noch der
deutsche Bundestag mit den Stimmen aller Parteien,
"daß für einen stabilen Zustand des Friedens in Europa
auch politische Stabilität auf dem Balkan, und für diese
wiederum politische Stabilität in Jugoslawien erforderlich ist,
weil dies im Interesse der europäischen Staatengemeinschaft
sicherstellen würde, daß die sechs Republiken miteinander
verbunden bleiben."
Am Ende machen alle EG-Staaten bei der Anerkennung der abtrünnigen
Republiken Slowenien und Kroatien als selbständiger Staaten mit.
Warum? Etwa, weil ein anständiger Staaten immer für die
Kleinen und Schwachen ist und sie gegen die Großen in Schutz
nimmt? Da gäbe es viel zu schützen; die neuen kleinen
Serben-Republiken im bisherigen Kroatien zum Beispiel; aber die
heißen "selbsternannt" und sind damit schon unten
durch. Oder weil die Bundesarmee blutiger zu Werk geht? Das wäre
ja das allerneueste Kriterium für die unvoreingenommene
Beurteilung eines Krieges – nachdem man doch gerade gelernt hat,
daß im Krieg der Erfolg die brutalsten Mittel heiligt. Oder
werden die Spalter des alten Staates ganz überparteilich
dafür belohnt, daß sie nach Marktwirtschaft und Demokratie
lechzen, während die Serben ... – was bleiben die eigentlich
schuldig? Aufs freie Wählen verstehen sie sich wie alle anderen
Völker, und für den marktwirtschaftlichen Neuaufbau setzen
sie auf die EG nicht anders als ihre Nachbarn. Das Schreckensbild vom "serbischen Panzerkommunismus" mag ja zur Erbauung eines
Publikums, das Kommunismus schon immer für eine Sache von
geborenen Untermenschen gehalten hat, ganz nützlich sein; wahr ist
es deshalb noch lange nicht. Ein reichlich verlogener öffentlicher
Moralismus hat da das Seine getan, den politischen Entscheidungen zu
entsprechen und sie anzustacheln.
Daß die alte Zentralmacht, insbesondere ihre Armee, sowie die
Republik Serbien, die sich immer dahintergestellt hat, so rasch und
eindeutig zum Bösewicht geworden ist, das ist von der
Konstellation her vorgezeichnet. Die Zentralregierung und ihre
Hintermänner maßen sich eine Ordnungsbefugnis an, eine
Entscheidungshoheit über Erhalt oder Zerfall des "Vielvölkerstaats", welche die EG-Instanzen für
sich in Anspruch nehmen. Und weil ein hoheitliches Gewaltmonopol nun
einmal unteilbar ist, bleibt an der Bundesarmee und an Serbien als
Makel hängen, daß sie überhaupt nach eigenen
Vorstellungen ein neues Jugoslawien gestalten wollen und auch noch ein
paar Gewaltmittel dafür haben und die sogar ein Stück weit
einsetzen. Umgekehrt liegt das entscheidende Plus der abtrünnigen
Republiken und ihrer separatistischen Machthaber schlicht darin,
daß ihre Souveränität gar nichts anderes ist als eine
Schöpfung der EG, ein Produkt ihrer Kontrolle. Deswegen ist immer
klar und bedarf nicht erst ausführlicher, unbestechlicher
Recherchen und Nachweise, daß Bundesarmee und -regierung und ihre
serbischen "Drahtzieher" jeden EG-Friedensplan
hintertreiben, wohingegen in Slowenien und Kroatien die Friedensliebe
zuhause ist. Letztere sind Geschöpfe des europäischen
Anspruchs auf Oberhoheit über den Balkan, wie er schon aus der
noch pro-gesamtjugoslawischen Bundestags-Resolution spricht, erstere
konkurrieren damit – keine Frage, wer da besser den
EG-Vermittlungsvorschlägen entspricht.
4.
Damit kürzt sich die EG-Intervention keineswegs wieder auf eine
platte Parteilichkeit zusammen, so daß man sich doch auf die
Suche nach materiellen oder sonstwie bestimmten Vorteilen des
slowenischen und kroatischen Nationalismus für den Gemeinsamen
Markt begeben müßte. Hier entsteht Parteilichkeit aus dem
Willen, den Standpunkt der übergeordneten, alleinzuständigen
Ordnungsmacht geltend zu machen; Partei genommen wird für Gebilde,
deren staatliches Lebensrecht mit der in Brüssel – oder Den
Haag oder Lissabon, jedenfalls in Bonn und Paris – beschlossenen
Anerkennung zusammenfällt. Die EG schafft sich so eine politische
Einflußzone, die ihr in noch anderer Weise verpflichtet ist als
die Regionen, die die Gemeinschaft längst zum Anhängsel ihrer
Wirtschaftsmacht hergerichtet hat, wie das ja mit dem alten Jugoslawien
auch schon weitgehend der Fall war. Aus den Trümmern
untergegangener Staaten neue Souveräne erschaffen, das
begründet Satelliten-Verhältnisse der besseren Art. Und so
etwas will die EG im Rest des Kontinents, nach dem sie ihre
Gemeinschaft benannt hat, einrichten.
5.
Daß sie sich damit in eine gewisse Konkurrenz mit anderen
altehrwürdigen Organen zur Aufrechterhaltung einer internationalen
Hausordnung begibt, ist bekannt und beabsichtigt.
"Es muß ausgeschlossen werden, daß
innereuropäische Krisenherde wie Jugoslawien plötzlich vor
den UNO-Sicherheitsrat gelangen, weil es keine europäische
Vermittlung gibt",
meinte der große deutsche Sozialdemokrat, für den Frieden
schon immer dasselbe wie europäische Alleinzuständigkeit war,
Nobelpreisträger Willy Brandt im Mai 91. Und das Echo aus New York
war nicht einmal ablehnend:
"Da sich die Europäer schon engagiert haben, ist jede Doppelgleisigkeit zu vermeiden",
hieß es aus dem Generalsekretariat der Vereinten Nationen, die
doch durch ihre Rolle im Irak-Krieg so entscheidend aufgewertet worden
sein sollen, zum entscheidenden Welt-Kontrollorgan. Die organisierte
Völkerfamilie nahm damit die gleiche Haltung ein wie ihr
führendes Mitglied; welche auch sonst. Die USA bemerken
nämlich auch, daß die Europäer sich auf dem Balkan an
einer Alternative versuchen; und zwar nicht bloß zu den
diplomatischen Institutionen, die für "Krisenherde"
zuständig sind, sondern zu der Macht selber, die sich durch Krisen
in aller Welt zum Ordnen herausgefordert sieht, zur amerikanischen
Weltmacht. Sie halten den Konkurrenzwillen der Europäer aber
für nicht so bedeutsam, daß sie ihm eine Abfuhr erteilen
müßten; erstens, weil sie sich ihrer Konkurrenzlosigkeit in
Weltordnungsangelegenheiten noch immer oder wieder sehr sicher sind -
"Der Auftrieb der USA nach dem Golfkrieg schiebt den
europäischen Ehrgeiz aufs Nebengleis" (International Herald
Tribune im Juni 91) –,
zweitens, weil sie den Erfolg der europäischen Bemühungen nicht sehr hoch veranschlagen:
"Die jugoslawische Krise hat nur zu überzeugend bewiesen,
daß Europa weit davon entfernt ist, zu einer politischen Macht zu
werden, die seinem ökonomischen und militärischen Gewicht,
das es besitzt, entspricht" (dasselbe Blatt im September 91).
Gleichgültig, wieviel an dieser Diagnose stimmt – dazu
später –: Die politische Absicht der EG-Staaten ist
eindeutig, und daß sie fortwährend betonen, ihre
Friedensmission sei als ein weiterer Beitrag im Rahmen und zum Nutzen
des westlichen Bündnisses zu verstehen, ist verräterisch.
Tatsächlich haben sie in ihrem Ehrgeiz außer ihrem
großen Verbündeten keinen Gegner mehr. Im Juli, vor dem "Putsch", hat die Sowjetunion sich zum letzten Mal mit
einer höflichen Warnung vernehmen lassen:
"Die Position einer Reihe westlicher Politiker hat die
Führung Sloweniens und Kroatiens zu den extremen Schritten
ermutigt, die heute die Welt so alarmieren." (Prawda, 1.7.91).
Mittlerweile sind ihre Nachfolgestaaten selber "Fälle", und zwar für genau den Regelungsbedarf,
den die EG in Jugoslawien erkannt und zu ihrer Sache gemacht hat. Den
Bezug stellen die europäischen Politiker selber her, indem sie
für die Betreuung der GUS und ihrer erwartungsvoll begutachteten
internen Konflikte denselben KSZE-Konfliktregelungsmechanismus ins
Spiel bringen wie für den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens.
Dieser "Mechanismus" ist zwar für sich genommen kein
übermäßiges Machtmittel; aber darauf kommt es auch gar
nicht so sehr an. Er verbrieft immerhin als Recht, was die EG-Staaten
im Fall Jugoslawien praktiziert haben, nämlich die neue
europäische Doktrin von der begrenzten Souveränität
unordentlicher Nachbarn: ein Eingriffsrecht im Interesse der richtigen
Ordnung, gegen die der betroffene Staat kein Veto-Recht haben soll.
6.
Am Fall Jugoslawien übernimmt Europa – das organisierte,
westliche – selbstbewußt die schwere Bürde, sich zur
alternativen Weltordnungsmacht aufzubauen, deren Wille der restlichen
Staatenwelt grundsätzlich und methodisch übergeordnet ist;
und es ist kein Geheimnis, zu wem sie die Alternative sein will. Sie
entnimmt ihr anspruchsvolles Vorhaben dem Vergleich mit der
Führungsmacht der westlichen Welt. Die kann es sich herausnehmen,
das politische Treiben anderer Staaten streng nach seiner
grundsätzlichen Übereinstimmung mit ihren Aufsichtsinteressen
zu kontrollieren – und das will die EG auch. An der Neugestaltung
des Balkan will sie ihre Kompetenz beweisen. Das – und nicht das
Sterben von Serben und Kroaten oder der nationalistische Wahn, für
den sie geopfert werden – macht die weltpolitische Bedeutung des
jugoslawischen Bürgerkriegs aus.
Der europäische Weltordnungsfall Jugoslawien:
Eine Chance für Deutschland
Ihren gemeinsamen Standpunkt hat die EG in derselben Weise
herausgebildet, wie sie noch alle ihre politischen Fortschritte
geschafft hat: im Streit. Deutschland auf der einen, Frankreich und
Großbritannien auf der andern, die niederländische
Ratspräsidentschaft auf der dritten Seite waren sich herzlich
uneinig. Aber worüber?
1.
Das Material für internen Ärger geben natürlich die
Kampfparteien in Jugoslawien her: Bekanntlich sind die Deutschen schon
viel länger und viel mehr für ein selbständiges
Slowenien und Kroatien als die andern; Frankreich hat irgendwie noch
immer was für ein Gesamtjugoslawien übrig. Aber so ist es
gerade nicht, daß ein jeder "seine" Partei im
Bürgerkrieg unterstützt und schaut, daß sie gewinnt.
Ganz jenseits der Frage, was in Jugoslawien für oder gegen wen
läuft, streiten die EG-Partner miteinander um ihre Einigkeit in
der Jugoslawien-Affäre. Sie gehen nicht auseinander und treiben
nationale Sonderinteressen auf dem Balkan voran, sondern bemühen
sich in erbitterter Konfrontation um die gemeinsame europäische
Linie. Der Inhalt dieses Streits sind also gar nicht die Kampfparteien
und was aus ihnen wird, sondern die interne Konkurrenz der großen
EG-Partner um die für sie viel entscheidendere Frage der
Federführung beim gemeinsamen Ordnungsprojekt. Die Serben und
Kroaten können jedenfalls am allerwenigsten dafür, daß
es hier neue Kräfteverhältnisse und Prioritäten
auszufechten gibt.
Die Nettigkeiten, die die EG-Parteien einander um die Ohren hauen,
lassen an diesem Inhalt und tieferen Sinn ihres Streits keinen Zweifel.
2.
Die alten Siegermächte – und zwar beider Weltkriege! –
Frankreich und Großbritannien entdecken den Einbruch der
vergangenen Geschichte des Kontinents in die heile Welt der EG, so als
wäre ihr eigener Entschluß für Europa und die
gemeinsame Absage an jenen Nationalismus, der diesen Erdteil einst in "verhängnisvolle Kriege" gestürzt hat, ein
bloßes Gerücht gewesen. Kaum ist der gemeinsame Feind im
Osten und der Zwang, gegen ihn gemeinsame Sache zu machen, weggefallen,
gilt es auf den alten neuen Gegner in den eigenen Reihen aufzumerken:
"Eine Art von intellektuellem Terrorismus, der aus dem Kalten
Krieg stammt, verbietet bis jetzt, daß man die Folgen einer
deutschen Vormacht im Herzen Europas, das Verschwinden jeder soliden
Macht im Osten und einer allgemeinen Grenzrevision erwähnt, die
auf die Dauer auch die Verlierer von 1945 begünstigen
könnten." (Libération, nach FAZ vom 11.10.91)
Die schöne innereuropäische Kompetenzverteilung, die zwar nie
die Wahrheit über die EG war, an die man aber jenseits des Rheins
gern geglaubt hat, ist schlagartig kaputt, und gute Europäer
finden ihr eigenes Argument für Europa nicht wieder:
"Der letzte Gipfel von Maastricht hat gezeigt, daß Europa
angesichts der großen Auflösung des Ostens wie ein robuster
Pfeiler der Stabilität zu erscheinen wünscht. Das verhindert
nicht, daß alle sich einer neuen Gegebenheit bewußt sind:
des Anspruchs Deutschlands, eine bedeutende Rolle sowohl innerhalb der
EG wie in Europa und auf der Welt zu spielen. ... Damit ist ein
stillschweigendes Übereinkommen aufgekündigt: Die politische
Bestimmung (der EG) war irgendwie die Sache Frankreichs; Deutschland
bildete den ökonomischen Motor. Diese Konstruktion ist in Gefahr.
Deutschland, das heute 80 Millionen Menschen zählt, hat keinen
Feind im Osten mehr. Für Deutschland ist die Nachkriegszeit vorbei
und damit auch seine politische Unterlegenheit. Seine ökonomischen
Ziele sind so hoch gesteckt – trotz der Kosten für die alte
DDR –, daß selbst der französische Franc zum
Gefangenen der DM-Zone wird ..." (Le monde diplomatique 1/92)
Nachträglich gehen den Partnern Deutschlands die Augen darüber auf, was sie früher alles übersehen haben:
"Nachdem Deutschland seine Einheit und Souveränität
wiedergefunden hat, will es jetzt ohne Komplexe eine größere
Rolle in der Region spielen, mit der es immer enge Beziehungen
unterhalten hat... (Es folgt die Erinnerung an die von Strauß
begründete Staatengemeinschaft "Alpenregion":) ...eine
friedliche Möglichkeit, einen Keil nach Jugoslawien zu treiben,
von der die Deutschen nicht viel Aufhebens gemacht haben." (Le
Monde, 4.7.91)
So wird der Europäischen Gemeinschaft geradezu die neue Bedeutung angetragen, die Deutschen in Schach zu halten:
"Wenn die Gemeinschaft verdünnt wird, wird Deutschland
Europa beherrschen. Die Deutschen erstreben selbst keine
Vormachtposition. Aber wenn man die Tschechoslowakei, Slowenien,
Kroatien und Ungarn nimmt, dann sieht man, daß eine deutsche
Welt, ein barockes Europa sehr wohl existieren." (der ehemalige
französische Außenminister François-Poncet in der
Süddeutschen Zeitung vom 18.10.91)
Bei allem Unsinn doch eine klare Aussage darüber, welche
prinzipiellen, wieder gewissermaßen methodischen Fragen des
innereuropäischen Kräfteverhältnisses das deutsche
Engagement in der Jugoslawien-Krise für die Partner aufwirft,
gerade weil sie von Europa als ihrem nationalen Projekt nicht lassen
wollen.
3.
Hierzulande werden "antideutsche Ressentiments" aus dem
Rest Europas gemeldet und für absurd befunden. Mit Empörung
wird aus serbischen Zeitungen zitiert, die ihren Vorwurf einer
deutschen Großmachtpolitik – "Viertes Reich"
– mit einer Blütenlese aus amerikanischen,
französischen und englischen Quellen untermauern. Ansonsten nehmen
deutsche Politiker jedoch den Ärger des Auslands als neidische
Anerkennung, die ihnen da vom Ausland gezollt wird.
Und die ihnen auch zusteht. Wg. "Wiedervereinigung"
nämlich. Von wegen, hier hätte eine große nationale
Familie endlich wieder zusammenfinden dürfen. Deutsche Politiker
im Jahr der Jugoslawien-Krise reden Klartext darüber, was dieses
zwischenmenschliche Großereignis wirklich bewirkt und ihnen
gebracht hat: das Ende der Nachkriegszeit und der "Bonner
Bescheidenheit", neue europäische Machtverhältnisse und
eine Weltlage mit neuen Eingriffsmöglichkeiten und -rechten
für sie. Ein Erfolg ihrer nationalen Macht, der gebieterisch seine
Fortsetzung fordert. Darauf stehen die Deutschen und können nicht
anders:
"Die Deutschen hätten schon im Grundgesetz klargestellt,
daß sie ihre Einheit zusammen mit der Einheit Europas sähen.
Dabei werde es bleiben. Wenn trotzdem Sorge aufkomme, die Deutschen
würden zu stark, müsse man dem weltoffen begegnen und
ansonsten damit leben. Wer immer nur beliebt sein wolle, werde nichts
bewegen und am Ende allein dastehen." (Bundeskanzler Kohl nach
Süddeutscher Zeitung vom 11.1.92)
Die deutsche Gier nach weltpolitischer Stärke wird nicht mehr
dementiert; das käme den starken Männern in Bonn selbst
unglaubwürdig und unwürdig vor. Sie versprechen ihren
Nachbarn dafür hoheitsvoll, ihnen nicht groß
übelzunehmen, wenn sie darunter leiden:
"Unser Land ist weltoffen und solidarisch. Wir sind Nummer Eins,
aber wir ordnen uns ein. Mit der deutschen Wiedervereinigung ist
deutsche Außenpolitik schwieriger geworden, weil wir jetzt
überall Einfluß haben. Ressentiments aus der Geschichte
kommen hoch und Neid auf Deutschland. Deutsche Außenpolitik
muß deshalb taktvoll sein." (derselbe im ARD-Interview am
15.1.92)
Das haben die Partner eben nicht geschafft: Sich aus der Konkursmasse
des Sozialistischen Lagers gleich einen ganzen Staat einzuverleiben.
Und egal was sonst noch aus Deutschlands neuer Ostzone wird: Ein
enormer Zuwachs an "weltpolitischer Verantwortung" ist sie
auf alle Fälle. Das berechtigt nicht nur dazu, in diesem Sinne
weiterzumachen und in Europa einiges zu "bewegen": Europa
umzuräumen ist deutsche Pflicht. Schon aus Dankbarkeit für
den nationalen Erfolg müssen die Deutschen sich konsequent
einmischen und neue Staaten gründen:
"Wir können anderen nicht verwehren, was wir für unser
Volk erfolgreich in Anspruch genommen haben. Logischerweise muß,
was gerade gestern für die baltischen Staaten galt, heute für
die Slowenen und Kroaten gelten." (Engholm laut Frankfurter
Rundschau vom 14.10.91)
Diese Heuchelei, Deutschlands Schritt zur "Nummer Eins"
wäre im Prinzip dasselbe wie die Einrichtung von machtlosen
Staatsgeschöpfen mit geschenkter Souveränität, ist nicht
zufällig dem SPD-Vorsitzenden eingefallen: Der ist selbst so
gerührt, wenn ihm zum deutschen Imperialismus, den er fordert,
eine idealistische Phrase eingefallen ist, die den Fortschritt
deutscher Macht zum selbstlosen Dienst am Guten stilisiert, daß
er beinahe daran glaubt. Auf den fordernden imperialistischen Gehalt
anerkannter menschenrechtlicher Höchstwerte verstehen sich die
regierenden Christen aber genauso gut:
"Gerade Deutschland ist nach seiner Vereinigung gefordert, den
Völkern in dieser Region zu helfen, ihr Selbstbestimmungsrecht
durchzusetzen." (Erklärung der CSU, Süddeutsche Zeitung
vom 30.9.91)
Sie kriegen damit sogar, wenn schon nicht in der Sache, so doch
für die Zwecke ihrer Parteienkonkurrenz, eine Differenz zum dicken
Inbegriff deutscher Verantwortung für den Rest der Welt her:
"Der Fehler deutscher Außenpolitik ist, daß sie der
gewachsenen Verantwortung Deutschlands nicht ausreichend Rechnung
getragen habe. Nach Lage der Dinge könne die deutsche Position gar
nicht anders sein, als das Schwergewicht unserer Argumentation und
unserer Politik auf das freie Selbstbestimmungsrecht der Völker zu
legen." (Lamers, außenpolitischer Sprecher der CDU,
Süddeutsche Zeitung vom 4.7.91)
Noch schöner der christliche Einfall, deutsches Auftrumpfen aus
Deutschlands unseliger Vergangenheit zu begründen, für die
wir alle uns noch immer in Grund und Boden schämen. Die Heuchelei,
die schon beim Golfkrieg so gut geklappt hat, läßt sich
natürlich im Fall Jugoslawien wieder neu auflegen, gerade weil
Hitler dort auch schon mal aufgeräumt hat: Sich herauszuhalten
"schüfe ein gefährliches Irrlicht moralischer
Indifferenz, das wir uns angesichts unserer unseligen Vergangenheit
nicht leisten können." (der bayrische Innenminister Stoiber,
Süddeutsche Zeitung vom 24.7.91)
Nur merkwürdig, daß man das in anderen zivilisierten
Ländern nicht so sieht. Dort ist man eher der Meinung, daß
durch die freizügige Inanspruchnahme des Menschenrechts auf "Selbstbestimmung der Völker" einiges an
schätzenswerter politischer Ordnung zu Bruch geht. Das neue
Völkerrecht, das deutsche Politiker so glühend vertreten
– freilich auch in Maßen: sie mögen schon noch
darüber entscheiden, wer "Volk" im Sinne deutscher
Völkerrechtspflege ist; irgendwelche Serben in Kroatien sind es
z.B. nicht –, geht Amerikanern und Franzosen eher gegen den
Strich:
"Separatismus ist Chaos und Anarchie"(Eagleburger); "Der negative Nationalismus wie in Jugoslawien artet, wie dieses
Beispiel zeigt, in einen blutigen Krieg aus"(US-Präsident
Bush nach Süddeutscher Zeitung, 11.11.91); "Ich bin nicht
der Meinung, daß das Feinste vom Feinsten des menschlichen
Fortschritts darin besteht, das Mosaik der Stämme
wiederherzustellen... Selbstbestimmung ja, aber eine wilde
Selbstbestimmung in alle Richtungen – nein!" (Frankreichs
Präsident Mitterrand, Süddeutsche Zeitung, 20.9.91)
4.
Mit Jugoslawien und den dortigen Bürgerkriegsparteien haben diese
kulturvollen Einwände gegen ein ungezügeltes völkisches
"Selbstbestimmungsrecht" genauso viel oder wenig zu tun wie
der deutsche Völkerrechts-Moralismus. Was wirklich bemerkt und
bemängelt wird, das ist der unübersehbare Wille des
größeren Deutschland, mit den nationalistischen
Separationswünschen slowenischer und kroatischer Politiker samt
Fußvolk Politik zu machen, nämlich – so stimmt ja die
Anknüpfung an das "Vorbild" der deutschen Einigung!
– seine Politik der Neuordnung Europas weiterzutreiben und
dafür schon wieder einen bestens eingeführten souveränen
Staat aufzulösen. Frankreich muß gar kein Parteigänger
der altjugoslawischen oder serbischen Sache werden, um zu erkennen,
daß hier ein Produkt der von der Grande Nation mitgestalteten
Staatenwelt abgeräumt wird:
"Jugoslawien ist eine wohl überlegte und nicht improvisierte
Schöpfung Frankreichs und seiner Verbündeten nach dem 1.
Weltkrieg. ... Sind diese Tatsachen derart aus unserem Gedächtnis
entschwunden, daß wir uns beeilen könnten, die Sache
Jugoslawiens aufzugeben und – unter europäischem Vorwand
– Deutschland zu folgen, das mit Italien, dessen Regierung
Sehnsucht nach der Achse Berlin-Rom zu haben scheint, das Ende des
jugoslawischen Staates und die Anerkennung eines kroatischen Staates
will?" (Debrè, ehemaliger französischer
Ministerpräsident, in Le Figaro, 9.10.91)
Die nostalgische Einkleidung kann man gleich weglassen, denn das
Argument ist klar genug: Der Ordnungsanspruch deutscher Balkan- und
überhaupt Europapolitik, das begreifen die auswärtigen
Weltordnungspolitiker sofort, ist darauf angelegt, die bisherigen
Verhältnisse in der Staatenwelt aufzulockern, disponibel zu machen
und so umzugestalten, daß am Ende keines der gewohnten
Kräfteverhältnisse, auch innerhalb des vereinigten Westens,
mehr stimmt. Das muß man nämlich schon wollen, um so wie die
Deutschen auf den innerjugoslawischen Separatismus einzusteigen und
ihm, als der Krieg noch gar nicht recht in Gang gekommen ist, das
schöne Ziel vor Augen zu stellen: "Mit jedem Schuß
rückt die staatliche Unabhängigkeit Kroatiens
näher!" – was Kroaten sich von einem deutschen
Außenminister nicht zweimal sagen lassen; die verstehen dieses
goldene Genscher-Wort nicht miß, als Aufruf zur
Mäßigung, sondern ganz richtig als Verheißung für
unerbittliches Durchhalten um jeden Preis. Jedenfalls schlagen sie sich
für ihr Staatsprojekt und tun damit, egal was sonst noch
herauskommt, dem deutschen Außenminister den Gefallen,
Jugoslawien zum Material für seine Neueinteilungspolitik zu
machen. Wie über herrenloses Gelände wird darüber
verfügt – wer dabei welche Drecksarbeit erledigt und ob am
Ende die UNO eine Ordnungstruppe schickt, ist daneben gar nicht von so
überragender Wichtigkeit.
5.
Kein Wunder, daß diese entschlossene deutsche Politik den
Anrainern Jugoslawiens Eindruck macht. Österreich entdeckt seine
alte, mit dem jähen, wenn auch schon länger
zurückliegenden Untergang des Habsburgerreiches unterbrochene
Liebe zu den Slowenen wieder, und manche Landespolitiker können
sich ein 10. Bundesland vorstellen. Der italienische
Außenminister erwägt die Revision des einst mit Tito
abgeschlossenen Grenzvertrages; Politiker Norditaliens würden es
sich zur Ehre anrechnen, ein italienisches Istrien in ihren Reihen
begrüßen zu dürfen. Ungarn erinnert sich an den
ungerechten Trianon-Vertrag, in dem diesem Staat, der sich jetzt doch
voll Europa zugewandt hat, vor 70 Jahren die Vojvodina abgenommen
wurde. Griechenland nimmt Partei für die Serben, weil es keinen
unabhängigen Mazedonenstamm kennen will, also auch keine
Nachbarrepublik dieses Namens. Bulgarien sieht dieselbe Sache
andersherum und ist für eine Abspaltung dieser Republik, um ihr
beste brüderliche Bande antragen zu können. Selbst die
demokratisierten albanischen Politiker finden neben der Einleitung der
Marktwirtschaft, um deren Opfer sich ja die italienische Marine
rührend kümmert, noch Zeit, sich um den staatlichen Verbleib
der Kosovo-Albaner zu sorgen. Die politischen Vertreter der
jugoslawischen Muslime sind in der Türkei gern gesehene
Gäste. Offensichtlich erleben nicht bloß Kroaten und Serben
einen Aufbruch nationaler Gefühle.
6.
An den deutschen Standpunkt reicht diese allgemein auflebende Lust auf
Beute allerdings gar nicht heran. Deutschlands
Neueinteilungs-Bedürfnis ist gar nicht auf neue Provinzen oder
Kolonien auf dem Balkan aus, deswegen damit auch gar nicht zu
befriedigen. Die Bonner Politik will am Fall Jugoslawien eine
weltpolitische Linie festlegen, die sich zuerst die EG-Partner
unbedingt zueigen machen sollen – gerade dieser Anspruch auf
Gefolgschaft, und nicht irgendwelche "Alleingänge" des
einen oder anderen Partners, heizt ja den EG-internen Streit so heftig
an. Inhalt dieser europäischen Leitlinie ist ein Revisionismus von
ziemlich grundsätzlicher Art: der Wille, zunächst in Europa,
aber nicht auf Europa beschränkt, die Verhältnisse in der
Staatenwelt zu revidieren. Die "wiedervereinigte" "Nummer Eins" stellt den Antrag, das internationale
Kräfteverhältnis neu, und zwar auf sich zuschneiden zu
dürfen, und vereinnahmt dafür als erstes seine Euro-Partner.
Denen müßte nach deutscher Rechnung ebenso an einer
Generalrevision aller unter dem Ost-West-Gegensatz entstandenen und "verkrusteten" weltpolitischen Zuordnungen,
Zuständigkeiten usw. gelegen sein. Und wenn nicht ebenso, weil
manche Nachbarn die Staatenwelt, wie sie ist, mit größerem
Recht als ihr Werk betrachten können als die erst jetzt in den
Vollbesitz ihrer Kräfte gelangte Verlierernation, dann eben ein
bißchen weniger: Deutschland übernimmt schon die
Führung.
7.
Was sie da betreibt, setzt die deutsche Politik selbst gern in eine
Beziehung zum Golfkrieg. So wie die USA am Golf, so müßte
Europa in Jugoslawien – und unabsehbaren ähnlich gelagerten
Fällen – zu Werk gehen können. Rüstungsbedarf wird
angemeldet und der Rest von Staats-Pazifismus zertrümmert, der
jahrzehntelang als deutsche Wiederbewaffnungs- und Nato-Ideologie vom
nicht zu führenden, sondern zu verhindernden Krieg gute Dienste
geleistet hat:
"Jugoslawien ist ein Beispiel für eine Aufgabenstellung, die
sich künftig häufiger ergeben könnte. Das gilt auch
für die Einbindung deutscher Streitkräfte in die
europäische Struktur der Gemeinschaft bzw. der WEU. Das
jugoslawische Beispiel zeigt, daß die bisherige deutsche Haltung
unmöglich noch längere Zeit aufrechterhalten werden
kann." (Lamers von der CDU, FAZ vom 26.7.91)
Das alles läuft unter dem ideologischen Stichwort "Konfliktlösung":
"Eine europäische Friedenstruppe läßt sich binnen
14 Tagen auf die Beine stellen. Wir müssen nicht gerade in der
vordersten Linie stehen, aber – anders als im Golfkrieg –
an Ort und Stelle an der Konfliktlösung beteiligt sein."
(derselbe in der Süddeutschen Zeitung vom 18.9.91)
Der besondere Reiz dieses Stichworts liegt nicht bloß in seiner
Leistung, Gewalt moralisch zu rechtfertigen. Bemerkenswert ist die
Sichtweise, wonach der Bürgerkrieg in Jugoslawien ungefähr
dasselbe sein soll wie der Überfall des Irak auf Kuwait,
nämlich ein zweifelsfreier Eingriffstatbestand für
Mächte mit weltpolitischer "Verantwortung". Noch
bemerkenswerter, daß mit dem Etikett "Lösung"
das amerikanische Eingreifen gezielt in einen Topf geworfen wird mit
der deutschen Einmischung auf dem Balkan, so als läge in beiden
Fällen dasselbe Ordnungsinteresse vor, nur eben an einem anderen
Objekt. In Wahrheit ist nämlich das Gegenteil der Fall.
Wofür auch immer die USA am Golf Krieg geführt haben:
für eine Aufmischung wohl eingerichteter
Kräfteverhältnisse ganz sicher nicht. Die allgemeine
Zielangabe hat zwar "neue Weltordnung" gelautet; das Neue
daran ist aber erklärtermaßen, daß auch nach dem Ende
des alles übergreifenden "Ost-West-Konflikts" der alte
Monopolanspruch der USA auf wirksame Kontrolle über die
Staatenwelt und fällige Korrekturen Bestand haben, sogar mehr denn
je wirksam werden soll. Eingerichtete, funktionierende
Verhältnisse werden nicht gestört, schon gar nicht durch
aufstrebende Nationalstaaten, die ihren Tabellenplatz im Weltgeschehen
unbedingt verbessern wollen: Das ist die Lehre, die die USA mit ihrem
Krieg am Golf erteilen und verankern wollten.
Und das ist nun eben so ungefähr das Gegenteil von dem, was
Deutschland im Jugoslawien-Konflikt treibt und betreibt. Deutschland
ergreift da die Gelegenheit für eine Revision der politischen
Landkarte; und wenn alle Verantwortlichen mit größter
Sicherheit davon ausgehen, daß gleichartige Fälle sich
wiederholen, dann geben sie weniger ihrer Sorge Ausdruck, daß die
Erhaltung wünschbarer Zustände noch viel Mühe kosten
wird; dann drücken sie vielmehr die hoffnungsvolle Erwartung aus,
daß die Zukunft mit ihren absehbaren nationalistischen Konflikten
noch ganz viele Gelegenheiten bieten wird, ganz neue politische
Landkarten zu zeichnen. Indem es den jugoslawischen Bürgerkrieg
erstens zu einem Krisenfall erklärt, der zweitens nach
europäischer Regelung ruft, die drittens einen Staat kaputtmacht
und einige neue stiftet, tritt Deutschland in prinzipiellen Gegensatz
zum Konservativismus der amerikanischen Weltordnungspolitik. Und es ist
schon eine Spitzenleistung deutscher diplomatischer Heuchelei –
aber mit der hat sich der "Genscherismus" ja ohnehin
längst in aller Welt bestens eingeführt –, diesen
Gegensatz als überfällige Pflichterfüllung
gegenüber der amerikanischen Führungsmacht hinzustellen, als
Einlösung aller Forderungen, die die USA beim Golfkrieg an ihre
Verbündeten gestellt, und aller Versprechungen, die die Deutschen
ihnen gegeben hätten.
8.
Die skeptische Frage nach den Mitteln einer solchen Weltpolitik des
Umräumens und Neu-Einrichtens lassen deutsche Politiker sich gerne
stellen, weil sie nur zustimmen können, daß es daran noch
sehr fehlt – verglichen mit der Größe des Vorhabens.
Sie lassen solche Fragen aber nicht als Einwand gegen ihren Standpunkt
gelten. Das haben sie im Zuge der EG-Krisenbewältigungspolitik
klargestellt, als der niederländische Ratspräsident dem
ewigen deutschen Genörgel, man sollte mehr und direkter
eingreifen, die Erkundigung entgegensetzte, ob Deutschland denn seine
Bundeswehr für diesen edlen Zweck abstellen wollte. So beim Wort
genommen, besannen sich die deutschen Politiker doch lieber wieder auf
ihr Grundgesetz, von dem sie sich bislang ein weiterreichendes
militärisches Engagement untersagen lassen. Die aufgeregte
Öffentlichkeit mochte das überhaupt nicht schlucken; der
Moralismus des Golfkriegs-Vergleichs hat ihr so gut gefallen, und nun
doch wieder "Drückebergerei"! Dabei paßt die
Zurückweisung des Ansinnens, vor Ort für Ordnung zu sorgen,
genau zum politischen Zweck. Es geht den Deutschen eben überhaupt
nicht um Waffenbrüderschaft mit irgendeiner Partei vor Ort, um
militärische Stationierungsrechte in Kroatien oder gar um die
Aufgabe, innerhalb des ehemaligen Jugoslawien Grenzen zu
überwachen und wildgewordene Nationalisten in Schach zu halten.
Das alles anderen überlassen, die damit deutschen
Neuordnungsvorstellungen Genüge tun; die gewünschten
Neueinteilungen in europäischer Solidarität und durch die UNO
abgesegnet von deren Blauhelmen vornehmen lassen; also: keine
Alleingänge unternehmen, sondern eine politische Linie
verallgemeinern, dadurch daß andere sie durchsetzen: Das ist
europäische Weltpolitik, wie Deutschland sie versteht.
Vorläufige Bilanz von Schlächterei und Schlichtung auf dem Balkan:
Zwei neue Staaten und ein Schritt in Richtung auf eine Weltmacht Europa nach deutschem Plan
1.
Seit die Regionalpolitiker des alten Jugoslawien ihren Streit um
nationale Autonomie in Gang gebracht haben, ist der Meinungspluralismus
im demokratischen Europa um eine feste Rubrik reicher. Der
eintönige Inhalt: Europa blamiert sich.
Das ist also gleich klar und allgemein akzeptiert, daß das
Bündnis der Zwölf zuständig ist und herausgefordert,
wenn auf dem Balkan gestritten wird. Und damit ist sofort auch schon
eine Forderung auf dem Tisch, die nie mehr in Frage gestellt wird,
sondern als fraglos gültiger Gesichtspunkt in jede Betrachtung des
Geschehens eingeht: Wo die EG zuständig ist, da hat jeder andere
Anspruch sein Recht verloren; da wird pariert, ohne Wenn und Aber. Und
wenn nicht? Dann gehört durchgegriffen, und zwar bedingungslos,
sofort und mit Erfolg.
Den Maßstab muß man nämlich schon anlegen, um sich
über eine schmähliche Niederlage der Europäer im
Jugoslawien-Streit aufzuregen; um Ohnmacht zu registrieren, wo
Parteien, die um ihre Sache immerhin Krieg führen, nicht auf einen
diplomatischen Wink hin ihre Sache aufgeben; und nicht bloß das:
um diese Ohnmacht gleich auch noch als zutiefst ungehörig zu
empfinden. Es ist das Anspruchsniveau, das so empfindlich macht. Die
guten Europäer wollen ihre Gemeinschafts-Obrigkeit offenkundig im
Besitz eines unbestrittenen, von allen anderen Staaten anerkannten
Gewaltmonopols in Europa sehen; darunter tun sie’s nicht und
fühlen sich beschämt.
Eine recht totalitäre Sicht der politischen Beziehungen in Europa
liegt da vor. Wer sich zur EG zählt, der sieht sich im
Verhältnis zu Dritten gar nicht mehr als Partei, die um ihre
Ansprüche streiten müßte. So als wäre diese
großartige Gemeinschaft schon gar kein Konkurrent unter anderen
mehr, sondern konkurrenzloses Aufsichtsorgan über alle anderen,
quasi hoheitlich über alle politischen und sogar nationalen
Interessen erhaben, die sich aneinander abkämpfen. Nur dieser
Standpunkt sieht sich angegriffen, wenn Europas Regelungsanspruch nicht
umgehend Erfolg hat, fordert Bestrafung und hält es nicht aus,
wenn das Hineinregieren in fremde Länder doch immer noch etwas
anderes ist und anders aussieht als Verbrechensbekämpfung.
Dabei übertreibt die europäische öffentliche Meinung gar
nicht einmal besonders. Sie saugt sich diesen Standpunkt ja auch nicht
selbständig aus den Fingern. Sie macht sich nur auf ihre
brutal-moralische Art den Anspruch zueigen, den die Vermittler mit
ihren Waffenstillstandsplänen durchaus praktisch aufmachen. Die
bestehen ja darauf, daß eine von ihnen betreute Verhandlung und
von ihnen ausgesprochene diplomatische Ermahnung dasselbe sein soll wie
die Erledigung eines Streits, bei dem es den Parteien um alles geht.
Imperialismus vom Feinsten – keine Frage, wo die Europäer
das her haben und wem sie damit Konkurrenz machen wollen.
2.
Dieser unmittelbare, schlagende Erfolg ist in Jugoslawien nicht zu
haben. Wie auch. Den Parteien dort geht es schließlich um etwas;
daß sie darum Krieg führen, zeigt, daß es ihnen um "alles oder nichts" geht; nämlich immerhin um Sein
oder Nicht-Sein des Allerhöchsten, was es für
Staatsmänner und Befehlshaber gibt: einer souveränen
Staatlichkeit. Dieses Ziel – neue Staaten zu gründen bzw.
den alten zu retten – haben die Machthaber sich ganz autonom
selbst gesetzt; nicht in einem fremden Auftrag, an dem ihr Vorhaben
sich relativieren würde. Entsprechend "totalitär", will sagen: ohne irgendwelche anderen
Gesichtspunkte gelten zu lassen, gehen sie zur Sache. Völlig fehl
am Platze daher solche zivilen Ermahnungen, wie sie der seinerzeitige
gesamtjugoslawische Ministerpräsident vor Beginn der "heißen Phase" noch ausgesprochen hat:
"Marković ruft zur Einheit auf, weil nur so die finanzielle
Unterstützung des Westens zu erhalten sei."
(Süddeutsche Zeitung, 1.6.91)
Kalkulationen mit den Überlebensbedingungen einer
Nationalökonomie verlieren ihr Recht, wenn die Nation selbst in
Frage steht, um deren Ökonomie sich da jemand sorgen will.
Staatengründer oder -retter lassen sich unmöglich von einer
Kostenrechnung beeindrucken, die allenfalls den zweckmäßigen
Gebrauch der erst einmal zu gründenden oder zu rettenden
Staatsgewalt betrifft.
Genau das ist die Schranke, auf die die Vermittlungsversuche der EG
gestoßen sind. Mit Erpressungen wurde da ja nicht gespart; auch
Wirtschaftssanktionen sind verhängt worden. Solche Instrumente der
internationalen Ordnungsstiftung setzen allerdings souveräne
Staaten voraus, deren Regierungen einen berechnenden Umgang mit den
materiellen Grundlagen ihrer nationalen Macht pflegen. Denen ist die
Einsicht vertraut, daß sie das Beste für ihre heimische
Wirtschaft und für ihr politisches Ansehen tun, wenn sie sich
brauchbar für auswärtige Mächte erhalten, diplomatischen
Abmahnungen nach- oder besser noch zuvorkommen – eben "Kooperationsbereitschaft" zeigen. Nationalisten, die sich
einen eigenen Staat erst erkämpfen respektive vor dem Untergang
retten wollen, mit dem sie dann darum streiten und feilschen
können, welche anderen Souveräne sich etwas sagen lassen
müssen und von welchen man sich was sagen lassen muß, sind
für solche erpresserischen Berechnungen unempfänglich und
für diplomatischen Druck unempfindlich.
Da hilft nichts als hingehen und gewaltsam erzwingen, was man
durchsetzen will. Und daß für die Ordnungspolitik der EG
dieser Übergang zur Militanz ansteht, wenn sie ab sofort nicht
bloß berechenbare Souveräne erpressen, sondern zu allem
entschlossene Staatsgründer oder -retter unter ihre Kontrolle
bringen können will, diese "Lehre aus dem jugoslawischen
Bürgerkrieg" ist nun wirklich ausgiebig breitgetreten
worden. Für eine vorläufige Bilanz ist das überhaupt als
erstes zukunftsweisendes Ergebnis festzuhalten: Die EG-Staaten
definieren es als außenpolitische Notlage, daß sie noch
keine gemeinsamen Weltordnungs-Streitkräfte besitzen, haben sich
also einen Auftrag erteilt; auf ihrer politischen Tagesordnung steht
endlich die Frage, wie, mit welchen Konsequenzen für ihr
Verhältnis untereinander, mit welcher Kompetenz- und
Lastenverteilung, in welchem Verhältnis zum ganz neu aufgelebten
Militärbündnis, das sie schon haben, zur Nato, mit wieviel
Truppen und unter welchem Oberbefehl sie ihre Aufgabe erfüllen
sollen. Ihre demokratische Öffentlichkeit haben sie längst
soweit, daß der das alles bloß viel zu langsam geht.
Jugoslawien ist zum "Fall" für den Übergang noch
nicht geworden. Daher das Gerücht von der Ohnmacht der
europäischen Friedensmission, das die engagierten Missionare
selbst zielstrebig in Umlauf gebracht haben.
3.
Daß die EG-Häuptlinge mit ihrer wohlmeinenden Einmischung
auf einen autonomen Kriegswillen stoßen und daran ihre Schranke
finden, ist allerdings bloß die halbe Wahrheit, und zwar erst die
zweite Hälfte. Daß sie es mit einem Krieg um
Staats-Neugründungen zu tun haben, war nämlich nicht von
Anfang an ausgemacht. Sie selber haben es ganz entscheidend mit dahin
gebracht.
Die ersten Einsätze der jugoslawischen Bundesarmee waren darauf
gerichtet, es zu einer solchen kriegerischen Streitfrage gar nicht
kommen zu lassen. Der Separatismus konkurrierender Regionalpolitiker
ist zunächst allemal nicht mehr als ein staatsinterner
Verfassungskonflikt, der mit den Mitteln des Notstandsrechts behandelt
wird; und genau so, als Anschlag auf die staatliche und
gesellschaftliche Ordnung, haben auch in Belgrad die obersten
Befehlshaber ihre Staatskrise gesehen – was ihnen hierzulande
freilich nicht das gute Image von Terrorismus-Bekämpfern, sondern
das schlechte von unverbesserlichen Panzerkommunisten eingebracht hat:
"Die Armee befindet sich in einem aufgezwungenen Kriegszustand
und muß die Grundlage Jugoslawiens verteidigen, die Erfolge der
sozialistischen Entwicklung und die Interessen aller Völker in
Jugoslawien. Das Mehrparteiensystem hat Zwietracht unter der
Bevölkerung gesät und hat radikale Gegner der Einheit
Jugoslawiens an die Macht gebracht, die, ohne Grenzen zu kennen,
versuchen, das gegenwärtige System zu vernichten und den
klassischen Kapitalismus in seiner schlimmsten Form
einzuführen." (General Adžić im Corriere della Sera vom
8.7.91)
Vielleicht darf man ja auch ganz ohne Parteilichkeit daran erinnern,
daß die Bundesarmee in Kroatien angefangen hat, um sich zu
schlagen, als sie von der Republikführung als Besatzungsarmee
definiert und in ihren Kasernen eingeschlossen und ausgehungert wurde:
Sehr lange hat sie um ihren Status als Bundesorgan und insofern
für den Vorrang des Bundesrechts vor dem Landesrecht der
Republiken gekämpft; insofern auch darum, die zivile
Staatsräson Jugoslawiens und seinen Platz in der europäischen
Staatenordnung zu erhalten. Der Zusammenhang, den die serbische Zeitung
Borba hergestellt hat, ist nicht einfach absurd:
"Wenn irgendjemand uns noch die zugesagten 5-Milliarden-Kredite
der EG retten kann, dann nur die Bundesarmee." (10.6.91)
Verrechnet hat sich die jugoslawische Zentrale in der EG. Wie sollte
man aber auch in Belgrad gleich mitkriegen, daß für Europas
Führer gar nicht mehr der gewöhnliche Geschäftsgang mit
dem altbekannten und wohl berechenbaren Partner Jugoslawien anstand,
gar nicht mehr der zivile Verkehr mit Krediten und Exporten –
nach offizieller jugoslawischer Staatsmeinung alles andere als "Kapitalismus in seiner schlimmsten Form"! –, auch
mit ein paar politischen Erpressungen, sondern die totale
Kündigung? Die EG selbst hat sich ja erst nach und nach zu diesem
neuen Standpunkt hingearbeitet.
Von Anfang an hat sie dabei nie bloß nachvollzogen, was der
innerjugoslawische Streit jeweils schon an "Fakten
geschaffen" hatte; Fakten in dem Sinn, daß durch Todesopfer
darüber entschieden wäre, ob sie wegen unberechtigtem
Zentralismus oder rechtlosem Provinz-Separatismus anfallen und ob eine
auswärtige Macht zum alten Souverän oder zu neuen Machthabern
halten soll, gibt es sowieso nicht. Das Umgekehrte gibt es schon eher:
daß die Klärung der Frage, ob es bei einer Schlächterei
um Notstandsübungen eines unbestritten souveränen Staates
oder um berechtigte Abspaltungen neuer Souveräne geht, bei den
Todesopfern und anderen Fakten einige Wirkung entfaltet. Und da ist
durchaus eine produktive Leistung der EG zu verzeichnen. Mit ihrem
Dazwischentreten haben die Vermittler aus dem großen Europa
nämlich die Lage definiert: Ab da ist Erhalt oder Zerfall
Jugoslawiens keine innerjugoslawische Frage mehr; die Bundeskompetenz,
über solche letzten Fragen zu entscheiden, ist zum bloßen
Parteistandpunkt herabgesetzt, der auswärtiger Beurteilung und
Entscheidung unterliegt; der Krieg ist kein jugoslawischer
Bürgerkrieg mehr, der mit irgendeiner inneren "Lösung" endet, sondern die Auseinandersetzung
zwischen Kräften, die als gleichberechtigte Verhandlungs-Gegner
und insoweit als gleichrangige Völkerrechtssubjekte anerkannt sind.
4.
Mag sein, die Bundesgewalt in Belgrad und ihre Armee hätten sich
auch darüber hinwegsetzen und den alten Staatsverband retten
können – nebenbei: Ob das den Viel-Völkern schlechter
bekommen wäre, sollten nicht ausgerechnet die für ausgemacht
halten, die das "Selbstbestimmungsrecht der Völker"
preisen und da auch nicht fragen, was dessen Klartext, ein militanter
Separatismus, den damit Beglückten bringt. Man sollte sich also
lieber überhaupt von der Lust am moralischen Aufrechnen trennen
und den sachlichen Fortschritt im jugoslawischen Kriegsszenario
würdigen, der mit dem Brioni-Abkommen im Sommer 91 erreicht war.
Da hat sich nämlich die Bundesarmee auf die Rolle der einen
Konfliktpartei festlegen lassen, die den Kampf für ihr Kriegsziel,
die staatliche Einheit, einstellt, wenn dafür die Gegenpartei,
Slowenien und Kroatien, ihr Ziel der staatlichen Souveränität
nicht etwa aufgeben, sondern um drei Monate vertagen. Für die
abtrünnigen Provinzen ist dies der entscheidende Schritt zu ihrer
Anerkennung als eigenständige politische Subjekte neben der
Zentralgewalt; der Vertrag behandelt sie bereits als entstehende
Staaten. Für die Armee und ihre Oberbefehlshaber ist die Grenze
festgelegt, bis zu der ihre souveräne Zuständigkeit noch
reicht: auf Kroatien und Slowenien erstreckt sie sich nicht mehr.
Natürlich blieb es Slowenen und Kroaten überlassen, diese
vertragliche Festlegung praktisch wirksam zu machen und die Bundesarmee
aus ihrem Land hinauszuwerfen; mit so etwas haben sich die
EG-Unterhändler nicht die Finger schmutzig gemacht; sie haben ja
bloß vermittelt. Immerhin haben sie aber mit ihrer Vermittlung
den Preis festgesetzt, den Slowenen und Kroaten seither bei jeder
Kriegsaktion unmittelbar vor sich sehen dürfen: die Loslösung
von Belgrad. Slowenien hat das Abkommen denn auch als
De-facto-Anerkennung verstanden und die dazu passenden Fakten
geschaffen, nämlich die Armee in ihren Stellungen, vor allem an
der Staatsgrenze, angegriffen; die Armeeführung wollte sich nicht
mit der EG anlegen und hat ihre Truppen abgezogen. Kroatien versucht
dasselbe, mit wechselndem Erfolg an der Front, auf alle Fälle aber
mit dem einen entscheidenden politischen Erfolg: Mit jedem Kriegstag
mehr wird aus dem Aufstand gegen die Zentralgewalt auch faktisch ein
Krieg zwischen Kroatien und Serbien. Direkt so war das Brioni-Abkommen
zwar nicht gemeint, so wie es ja auch nicht der Freibrief für
Slowenien war, als welchen es die dortige Führung genommen hat.
Genau so ist das Abkommen aber praktisch "ausgefüllt"
worden, und zwar mehr und mehr von beiden Seiten: Die Bundesarmee
verkörpert immer weniger den politischen Willen, die Einheit des
jugoslawischen Gesamtstaats zu erhalten, weil dieser Wille selber sich
mit dem Fortgang des Kampfes verflüchtigt. Der Weggang der Kroaten
und Slowenen aus den zentralen Institutionen des Gesamtstaats
überläßt diese dem serbischen Nationalinteresse. Der
Auszug von Slowenen und Kroaten aus der Armee läßt diese als
serbische Körperschaft zurück; ihr Auftrag reduziert sich
darauf, vom serbischen Standpunkt aus genau dieselbe
Nationalitätenfrage aufzuwerfen, die die abtrünnigen
Republiken mit ihrem Anspruch auf ein eigenes Staatsvolk gestellt
haben, nämlich alle die Serben "heimzuholen", denen
ihre bisherige gesamtjugoslawische Heimat mit ihrer
Viel-Völker-Gemütlichkeit abhanden gekommen ist. Auf der
anderen Seite wird aus separatistischem Unrecht immer mehr ein
nationales Recht.
Jeder neue Vermittlungsversuch der EG bestätigt diese Entwicklung.
Jede Waffenstillstandsvereinbarung degradiert die Bundesarmee mehr zum
bloßen Instrument serbischer Nationalinteressen; bekräftigt
auf der anderen Seite den Status der kroatischen Republik als
anerkannte Macht, die weniger gegen eine souveräne Zentrale um
ihre Autonomie kämpft als gegen einen Nachbarn, der sein
Staatsvolk sammeln will, um ihre legitimen Grenzen. Jeder neue Bruch
eines Waffenstillstands bekommt so gleichfalls für beide Seiten
einen Sinn: Serbien sucht seine Chance, national verkehrte
Grenzziehungen des alten Gesamtstaats zu korrigieren; Kroatien
verhindert Kompromißlösungen, die die Republik auf einen "Erfolg" unterhalb der vollen Souveränität, also
auf einen Mißerfolg festlegen und darin festhalten könnten.
Mit jedem Waffenstillstand sind eben die Gegner erneut auf ihre
Kriegsmittel verwiesen, wollen sie selbst noch etwas dazu tun,
daß sie für die Neugliederung der politischen Landschaft bei
den entscheidenden Organen im Gespräch bleiben. Kein Wunder,
daß unbestechliche Beobachter nie ausmachen konnten, welche Seite
jeweils mehr Verstöße gegen die vielen
Waffenstillstände auf dem Gewissen hat.
So haben sich die Parteien mit ihrer Kriegführung darauf
eingestellt, daß über den politischen Ertrag ihrer
völlig autonomen Gemetzel ganz woanders entschieden wird. Sie
haben auch versucht, an der entscheidenden Stelle den Ertrag
einzuklagen, den sie sich wünschen, und dafür an die
Konkurrenz ihrer Aufsichtsmächte zu rühren, die ihnen ja auch
nicht verborgen geblieben ist:
"Die Kroaten fühlen sich als Opfer des Mißtrauens der
anderen EG-Staaten gegenüber Deutschlands, weil dieses
insbesondere von Frankreich und Holland verdächtigt werden, nach
der Wiedervereinigung eine Sonderrolle in Europa zu spielen."
(FAZ, 11.10.91)
"Europa dürfe nicht schweigen, wenn auf seinem Boden
mögliche Interessenzonen eingerichtet werden." (der
serbische Ministerpräsident Mitrović laut Süddeutscher
Zeitung vom 9.7.91)
Die Entscheidung war allerdings schon in dem Moment gefallen, als die
EG-Mächte mit ihrem vermittelnden Eingreifen der Zentralmacht ihre
Souveränität über das Geschehen bestritten. Ab da
mußte Kroatiens Präsident Tuđman den Krieg im Grunde nur in
Gang halten, um seinem Ziel näherzukommen und Genschers
Prophezeiung von der mit jedem Schuß näherrückenden
Souveränität wahrzumachen – vielleicht haben die
deutschen Politiker ja an diesen Sachzusammenhang gedacht, wenn sie den
Standpunkt vertreten haben, mit der Anerkennung der neuen
Souveräne käme der Krieg zum Erliegen: Zumindest
entfällt der erste kroatische Kriegsgrund, "halbe
Lösungen" zu verhindern. Dafür gibt es jetzt den
andern: die Grenzen wiederherstellen, die der serbische Gegner
verschoben hat. Und das ist für eine erste Bilanz auch
festzuhalten: Aus dem Bürgerkrieg, der mit zutiefst verbotenen
Waffenlieferungen aus dem großen ausländischen Freundeskreis
eines unabhängig-nationalistischen Kroatien hinreichend in Gang
gehalten werden konnte, ist durch konsequente Ausfüllung des von
der EG vorgegebenen Kampfrahmens ein Grenzkrieg zwischen unfertigen
neuen Nationalstaaten geworden, an dem vorerst die UNO-Blauhelme ihre
Freude haben.
5.
Jugoslawien ist also kaputt. Die Volkstums-Nationalisten vor Ort haben
es zerstört; die EG hat es gebilligt. Oder genauer: sie hat den
Zerfall betreut, die Erfolgsbedingungen für Separatisten
definiert, dem Krieg so ein realistisches europäisches Ziel
verpaßt. Dessen erste Stufe ist erreicht: Zwei neue Kleinstaaten
sind auf der Welt.
Kaputt ist natürlich auch so ziemlich alles, womit das alte
Jugoslawien der EG und ihrer Geschäftswelt dienlich war; von
bedeutenderen Mächten gebraucht zu werden, ist für einen
Staat eben offensichtlich keine Existenzgarantie, weil brauchen da
allemal benutzen, nicht benötigen heißt. Ob aus den
Nachfolgestaaten etwas annähernd ähnlich Brauchbares wird,
ist noch völlig offen. Eine politische Ökonomie nach dem
Katastrophenmodell des slowenischen Wirtschaftsministers Muncinger
dürfte besonnene Kapitalisten jedenfalls eher skeptisch stimmen:
"Der Krieg könnte die Möglichkeit bieten, den
Wirtschaftsaufbau auf moderner Basis zu bewerkstelligen, wie in
Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg." (kein Scherz in
Erinnerung an einen betagten Farbfilm mit Peter Sellers, sondern
ernsthaft zum Besten gegeben in der Süddeutschen Zeitung vom
11.11.91)
Offenbar kommt es darauf aber auch nicht an. Nicht nur für die
engagierten Nationalisten, auch für die auswärtigen Betreuer
ist der Wert von Staats-Neugründungen nicht in
Geschäftsbeziehungen zu messen – zumal die sich ohnehin
ergeben: So abwegig es ist, einen deutschen Drang zu einem
quasi-eigenen Adria-Hafen als "Hintergrund" für
Deutschlands tatkräftiges Eintreten für Sloweniens und
Kroatiens Autonomie auszumachen, so fest steht natürlich,
daß alles, was in diesen Ländern geschäftlich
läuft, deutschem Zugriff offensteht oder überhaupt von da
inszeniert wird. Der besondere Reiz der neuen europäischen
Staatsgeschöpfe liegt aber schlicht darin, daß sie
Geschöpfe der europäischen Führungsmächte sind.
Dabei ist es gar nicht so, als ob solche Kreaturen ihren Schöpfern
nichts als Freude machen würden. In Kroatien müssen die
Mentoren aus Bonn auf alles aufpassen: Vor der offiziellen Anerkennung
mißfiel ihnen, daß sich Anhänger der Privatarmee, die
die Hauptlast des Krieges trägt, gerne mit Hakenkreuzen und
Ustascha-Symbolen aus der faschistischen Vergangenheit des Landes
öffentlich präsentieren und so der serbischen Propaganda
Recht geben; sie sorgten dafür, daß der Führer, Paraga,
auf Befehl des Präsidenten aus dem Verkehr gezogen wurde. Nach der
Anerkennung müssen sie den Präsidenten selbst auf die
vorschriftsmäßige Friedenslinie hintrimmen und daran
hindern, daß er die UNO-Pläne zur Blauhelm-Stationierung,
kaum akzeptiert, gleich wieder in einen Freibrief für die
Rückeroberung serbischer Gebiete innerhalb der aus jugoslawischer
Zeit überkommenen kroatischen Grenzen umdeutet. Der Mann kapiert
offenbar nicht, daß Deutschlands Sorge nicht dahin geht,
kroatischen Ambitionen zum Erfolg zu verhelfen, sondern die deutsche
Politik der Anerkennung der neuen Republiken weltweit
durchzudrücken.
Denn um den Erfolg geht es: An den neuen Grenzen auf ehemals
jugoslawischem Gebiet beweist Europa, geführt durch Deutschland,
seine Staatsgründungsmacht. Unter seinem Zugriff emanzipieren sich
nicht bloß die Separatisten der ersten Stunde; auch die andern
Republiken erklären sich für unabhängig, um auf sich als
interessante Objekte europäischen Interesses aufmerksam zu machen,
und lassen sich folgsam aus Brüssel die Bedingungen diktieren,
unter denen sie ihr Anerkennungsgesuch einreichen dürfen. Wenn man
dort ein Referendum in Bosnien-Herzegowina wünscht, wird es
veranstaltet, auch wenn den Veranstaltern selbst klar ist, daß
etliche Volksteile das als Kampfansage betrachten und versprochen
haben, es entsprechend zu beantworten. Von den alten staatlichen
Strukturen bleibt nichts übrig; ganz offen, was aus Serbiens
Versuch wird, gemeinsam mit Montenegro eine Art Nachfolgestaat
aufzumachen. Europa nimmt sich Kompetenzen heraus wie eine Siegermacht
nach einem Krieg – geführt haben den zwar andere vor Ort;
aber damit ist deren entscheidende Rolle auch schon definiert und
erledigt. Sie sind bloß Instrumente für die weltpolitische
Rolle, die die EG-Staaten in Jugoslawien exemplarisch übernehmen
und gleich auf den anderen, ungleich größeren zerfallenen
Vielvölkerstaat im Osten ausgedehnt wissen wollen. "Sieg im
Kalten Krieg" ist für die verbündeten Europäer und
die wiedervereinigten Deutschen an ihrer Spitze eben keine Metapher,
sondern ein blutig ernst genommener Standpunkt: Als weltpolitische
Siegermacht stellen sie sich auf.
6.
Mit welchem Erfolg?
Die Bilanz der Macher in Europas Hauptstädten fällt
zwiespältig aus. Zwar haben sie einiges bewegt, aber doch noch
viel zu wenig ordnungsstiftende Macht auf den Balkan "projizieren" können. Für diesen Mangel kennen
sie zwei Gründe. Erstens haben sie für ihre Bedürfnisse
zu wenig Machtmittel. Die politischen Gelegenheiten, "Verantwortung" zu übernehmen, sind nach dem Ende des
Ostblocks größer als ihre Fähigkeit, sie auszunutzen
und ihrer "Verantwortung" gerecht zu werden. Diese
mangelhafte Fähigkeit ist nach ihrer Einschätzung auch ein
militärisches Problem, dessen Lösung eine sachgerechte
Neueinteilung der Streitkräfte nebst passender Ausrüstung
erfordert. Vor allem ist sie aber eine Folge mangelnder Einigkeit
untereinander. Viel mehr gemeinsame Außenpolitik, letztlich die
Politische Union muß kommen, um den "Herausforderungen" gewachsen zu sein, sprich: um die
Chancen wirkungsvoll wahrnehmen zu können, die die Kapitulation
der Sowjetmacht und der Neuordnungsbedarf ihres alten Machtbereichs den
Europäern bieten.
Weil sie sich darin einig sind, hat jeder europäische
Regierungschef seine eigene nationale (Miß-)Erfolgsbilanz. Denn
für jeden europatreuen Verantwortungsträger besteht die
gewünschte Einigkeit darin, daß die andern mit ihm einig
werden. Und diese Rechnung kann nie für alle gleichermaßen
aufgehen. Am ehesten zufrieden zeigen sich die Deutschen. Kohl und
Genscher haben in aller Freiheit den Slowenen und Kroaten die
staatliche Anerkennung "noch vor Weihnachten" versprochen
und dies ihren zögernden Partnern als politischen Sachzwang
erklärt, dem die sich gleichfalls unterwerfen müßten,
um einen deutschen Alleingang zu verhindern. Demonstrativ unbeeindruckt
haben sie sich gezeigt von den dringlichen Warnungen von UNO-Vertretern
und US-Politikern vor einer einseitigen Anerkennung der
abtrünnigen Republiken. Einen Kompromiß haben sie
gewährt: den Aufschub der offiziellen Anerkennung um einen Monat
und ein vorheriges neutrales Gutachten über die
Anerkennungswürdigkeit der neuen Staaten nach den vom deutschen
Außenamt formulierten EG-Anstandsregeln für
Souveränitäts-Kandidaten – und haben ihn sofort
über den Haufen geworfen: Die Anerkennung wurde doch sofort
ausgesprochen, das Prüfungsergebnis gleich für unverbindlich
erklärt, der Botschafteraustausch vorgenommen, obwohl das Ergebnis
gegen Kroatien ausfiel. Für diesen Sieg ließ sich Kohl auf
dem CDU-Parteitag mit stehenden Ovationen feiern. Getrübt wird er
nur dadurch, daß die wichtigen europäischen Verbündeten
zwar nichts verhindert, aber auch nicht hundertprozentig mitgezogen
haben: Gegen die ausschließliche EG-Zuständigkeit, wie
Deutschland sie will, haben sie die UNO-Kompetenzen herausgekehrt, die
sie Deutschland voraushaben; und Botschafter aus Großbritannien
und Frankreich sind in Zagreb und Ljubljana Mitte Februar noch immer
nicht eingelaufen.
Diese Staaten sind eben nicht so glücklich darüber, daß
Deutschland eine Linie vorgegeben hat, der sie sich anschließen
mußten; nach Bremsungsversuchen, die sie am Ende dann doch lieber
aufgegeben haben. Ein interessantes Dilemma: Deutschland macht ihnen
die Politik des selbstbewußten Umräumens der politischen
Landschaft vor, die sie selber so sehr wollen, daß sie gar nicht
richtig dazu kommen, darin eigene nationale Bedingungen einzubringen.
Also versagen sie sich der Einigkeit – in mehr symbolischen
Nebendingen.
So kehrt für alle beteiligten Europäer am Ende die alte Frage
wieder, ob per Saldo die politische Einigkeit, die sie alle für
unerläßlich und dringlich halten, vorangekommen ist oder
unter dem Nationalismus der andern gelitten hat.
7.
In diesen Streit unter europawilligen Nationalisten sollte man sich
besser nicht einmischen. Schon aus theoretischen Gründen ist es
eher schädlich, sich dem Problembewußtsein von Machthabern
anschließen zu wollen. So bleibt man nämlich unter Garantie
in den nationalen Alternativen eines erfolgreichen Imperialismus
befangen.
Für eine objektive Zwischenbilanz der Fortschritte, die Europa am
"Fall" Jugoslawien gemacht hat, gibt die zwiespältige
Zufriedenheit der Macher ein paar Hinweise. Sie verrät erstens,
daß die EG-Staaten Weltordnungsmacht sein wollen, daß sie
sich bewußt in diesem Sinn betätigen, daß sie ihre
Erfolge und Mißerfolge an diesem Vorhaben bemessen und daß
sie in Jugoslawien vorangekommen, ihre Ansprüche aber gleichfalls
gewachsen sind. Zweitens brauchen sie für diese Politik die Macht
ihrer Partner. Gerade ihr Streit und ihre bedingte Zufriedenheit
miteinander zeigen, daß sie alle nicht bloß national
operieren, notfalls ohne oder gegeneinander, sondern Dinge betreiben,
denen sie sich, allein auf sich gestellt, gar nicht gewachsen sehen.
Drittens ist der Streit ums Wie ihrer gemeinsamen Weltpolitik im
wesentlichen einer ums Wer: um die Frage der nationalen
Federführung im übernationalen Kollektiv. Das ist zwar ein
wenig paradox; denn in dem Maße, wie ihnen das Zusammenlegen
ihrer nationalen Potenzen gelingt und tatsächlich ein
europäischer Imperialismus betrieben wird, kürzt sich die
Frage nach dem nationalen Wer heraus. Viertens ist dieser Standpunkt
aber offensichtlich noch nicht erreicht. Die Hauptmächte Europas
bewahren sich neben ihrem Auftreten als kollektives Subjekt einer neu
zugeschnittenen Weltordnung die Freiheit des national berechnenden
Umgangs mit ihrer gemeinsamen Macht.
Daß das Ganze einen Widerspruch darstellt, hindert die Macher
Europas nicht im geringsten daran, offensiv in der Welt
herumzufuhrwerken. Das ist das fünfte Fazit der EG-Politik zur
Zertrümmerung Jugoslawiens und Neuordnung der Erbmasse.
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