Bomben auf Europa
Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien - eine Serie schwerwiegender "Erstfälle"


Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien war ein Einschnitt in der europäischen Nachkriegsgeschichte - und ein Offenbarungseid für die Teile der "Linken", die diesen Krieg unterstützten. Während im März 1999 in Deutschland die neugewählte rotgrüne Koalition die Weichen stellte, gehörten der italienischen Regierung neben den LinksdemokratInnen auch die Grünen und die von Rifondazione Comunista (RC) abgespaltene Partei der Italienischen Kommunisten (PdCI) an. Den Kommentar der italienischen Kommunistin Luciana Castellina (79) entnahmen wir der Tageszeitung Il Manifesto vom 24.3.2009, dem zehnten Jahrestag des ersten Bombenangriffs auf Belgrad.

"Guten Abend, meine Damen und Herren. Ich habe soeben dem Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte, General Clark, den Befehl gegeben, die Operationen in der Bundesrepublik Jugoslawien zu beginnen." Es ist 23 Uhr am Abend des 23. März 1999, und dies ist die Erklärung des NATO-Generalsekretärs, des Spaniers Javier Solana, Sozialist und Aktivist unserer Friedensdemonstrationen der 1980er Jahre. (Aber man weiß ja, daß der Frieden ein Anliegen von Jugendlichen ist; die Erwachsenen machen dann später "internationale Politik".)

Am 24. März um 20.25 Uhr der erste Bombenangriff auf Belgrad; am 26. sind es schon 500 "Operationen", genannt: humanitäre Interventionen. Sie werden 78 Tage dauern und 2.700 Tonnen Sprengstoff verbrauchen. (Auf die Frage des damaligen italienischen Ministerpräsidenten D'Alema - "Was machen wir, wenn Milošević Widerstand leistet?" - antwortete der Berater von US-Präsident Clinton, Sandy Berger: "Wir bombardieren weiter.")

Seit diesem 23. März sind zehn Jahre vergangen. Ein Datum, an das erinnert werden muß, denn es war der Beginn einer Serie schwerwiegender "Erstfälle", über die noch zu wenig nachgedacht wurde. Es lohnt sich, sie aufzulisten:

1) Es ist der erste Krieg auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, eine Aggression von Europäern gegen einen anderen souveränen europäischen Staat. Er zerstört den Mythos, demzufolge die Schaffung der Europäischen Union für immer das Gespenst der Bruderkriege auf dem alten Kontinent vertrieben hätte.

2) Zum ersten Mal wird ein internationaler Vertrag brutal gebrochen, der als einer der Grundpfeiler der Nachkriegsordnung gilt: der Vertrag von Helsinki, besiegelt im Rahmen der OSZE, demzufolge die Grenzen der europäischen Staaten unantastbar sind. Die Verletzung der UNO-Charta - ohne Mandat des Sicherheitsrates militärisch zu intervenieren - ist dagegen ein Vergehen, das es schon bei früheren Anlässen gab, das aber in diesem Fall noch schwerwiegender erscheint, weil es nicht den leisesten Anschein eines Hilferufs "von innen" gab: Die serbische Bevölkerung, alle DissidentInnen eingeschlossen, sind über die Aggression entsetzt. Man kann auch kaum noch einmal das Gespenst von München beschwören, wo die feigen demokratischen europäischen Nationen, die Hitler nicht aufhielten, den Weg zur nazistischen Aggression gegen Europa frei machten: Wer kann ernsthaft glauben, daß das kleine und heruntergekommen Serbien das Gleiche vorgehabt haben könnte?

3) Zum ersten Mal kehrt der Krieg nach Europa zurück als Instrument zur Regulierung internationaler Beziehungen - und verstößt so gegen die Prinzipien, auf die der Frieden nach 1945 mühsam aufgebaut worden war. 60 Jahre haben nicht ausgereicht, um den Krieg als legitimes Mittel zu diskreditieren.

4) Zum ersten Mal begnügen sich sämtliche Staaten des atlantischen Bündnisses nicht damit, die US-amerikanische Initiative hinzunehmen, nein, sie engagieren sich direkt, indem sie Menschen, Kriegsmittel, Militärbasen und Flugraum zur Verfügung stellen. Das geschah schon vorab, am 13. Oktober 1998, als die Act Order des NATO-Kommandos verabschiedet wurde. Von diesem Moment an füllt sich die Szenerie mit US-AmerikanerInnen: Generälen, Ministern, Botschaftern, Mediatoren - unter dem Kommando von Madeleine Albright. Der Nachbarstaat Mazedonien wird stillschweigend besetzt. Die Europäer begnügen sich mit der virtuellen Präsenz von Javier Solana. Ihr Bestreben ist es nicht, eine eigenständige Rolle in einer Region zu spielen, die an mehrere Staaten angrenzt; sie sind vielmehr bestrebt, von den Vereinigten Staaten als, wenn auch subalterne, Partner anerkannt zu werden.

5) Zum ersten Mal geht man mit solcher Schamlosigkeit an die selektive Anwendung des internationalen Rechts, in diesem Fall des Selbstbestimmungsrechts der Völker, das von Europa nur den Kosovaren zugestanden wird, die so automatisch zu "Patrioten" werden, obwohl Resolution 1160 des UN-Sicherheitsrates vom 11.3.1998 die Angriffe der UCK "terroristisch" nennt. Zur gleichen Zeit und gegen jedes von den Verträgen der EU getragene Prinzip, demzufolge die gefährliche Verknüpfung von Ethnie und Staatsbürgerschaft zurückzuweisen ist, unterstützt man die These ethnisch begründeter Staaten.

6) In Italien wird zum ersten Mal die Verfassung offiziell außer Kraft gesetzt, denn obwohl Artikel 11 das ausdrücklich verbietet, beteiligt sich unser Land am Krieg gegen Belgrad; und dieser Krieg wird nicht vom Parlament gebilligt, das nur im Nachhinein die Entscheidungen der Regierung ratifiziert. Staatspräsident Scalfaro will einwenden, daß das illegitim ist, wird aber zum Schweigen genötigt.

7) Es ist wahr - niemals in der Geschichte waren internationale Verhandlungen ein Beispiel für Transparenz und Rechtlichkeit. Aber noch nie gab es so einen Skandal wie den von Rambouillet, der als Übereinkunft verkauft wurde, obwohl es sich nur um eine einseitige Erklärung handelte - während der serbische Vorschlag (90% der Staatsgewalt übertragen an eine autonome kosovarische Behörde und Präsenz von OSZE-Schutztruppen) nicht einmal diskutiert wurde. Die angebliche Ablehnung Belgrads löst den Krieg aus. Aber Belgrad kann nicht auf dem Umweg eines Anhangs B etwas akzeptieren, das mysteriös bleibt: Dieser Anhang wird weder übersetzt noch veröffentlicht. Es ist leicht zu verstehen, warum: Er sieht die zeitlich unbegrenzte Besetzung des gesamten jugoslawischen Territoriums durch NATO-Truppen vor, das dadurch zu einer Art gigantischer extraterritorialer NATO-Basis geworden wäre. Es handelt sich hier um eine "Killer-Klausel", eingefügt nicht in der Hoffnung, sie könnte akzeptiert werden; vielmehr sollte ihre voraussehbare Ablehnung durch Belgrad den sofortigen Beginn der Bombardierungen legitimieren.

8) Auch was den skrupellosen Einsatz der Medien angeht, handelt es sich nicht um etwas völlig Neues. Aber niemals zuvor wurden die Fakten so sehr durch emotionale Splitterbomben verdreht, die über den Fernsehschirm auf die Zuschauer geschleudert wurden. Man soll nicht Opferzahlen gegeneinander aufrechnen, auch weil von beiden Seiten Brutalitäten begangen wurden. Es bleibt ein Fakt, daß angefangen mit dem Massaker von Račak am 16. März 1999 (trotz der Zweifel seriöser JournalistInnen aus der ganzen Welt) jeder bewaffnete Konflikt zwischen UCK-Banden und serbischen Banden oder Einheiten zu ethnischer Säuberung führte. Aber nicht nur das: Das Gros solcher Vorgänge vollzog sich erst nach Beginn der NATO-Bombardements, nicht davor, so daß sie nicht zur Rechtfertigung der Intervention herangezogen werden können.

9) Das Kosovo war auch die erste relevante Probe auf die Gültigkeit der so genannten internationalen Justiz. Es hat den Unterschied zwischen der Rolle der Politik und der Justiz aufgehoben und damit eine gefährliche Konfusion geschaffen. Bis zu dem Punkt, daß die Funktion einer Recht sprechenden Polizei von der NATO selbst und den Geheimdiensten ihrer Mitgliedsländer ausgeübt wurde. Aus der Rechtsprechung wurde eine extraterritoriale Blankovollmacht, die es erlaubt, außerhalb jedes legalen Rahmens zu operieren. In einer Welt, die durch eine absolute Asymmetrie der Macht charakterisiert wird, erweist sich eine internationale Justiz als unmöglich. Die humanitäre Intervention, gegründet auf technologische (militärische und mediale) Überlegenheit, produziert nur eine kollektive Todesstrafe.

10) Und schließlich, die wahre Neuheit: Der Kosovokrieg war der erste Krieg der Linken. Nicht allein in dem offensichtlichen Sinne der aktiven Beteiligung einer Regierung mit Verantwortlichen aus der Tradition jener, die gegen den Ersten Weltkrieg rebelliert hatten; sondern auch durch die verwirrte, wenn nicht duldende Haltung fortschrittlicher Intellektueller und von Teilen der Bewegungen, die von der Idee fasziniert waren, die NATO könnte der bewaffnete Arm von Amnesty International sein (wie später, in Afghanistan, der bewaffnete Arm des Feminismus.)

Mit zehn Jahren Abstand ist das Problem Kosovo ungelöst, offen und dramatisch - auch wenn die NATO-Staaten, nach den Bomben, zu einer offiziellen Anerkennung der Unabhängigkeit des Landes schritten und damit endgültig alle internationalen Regeln brachen, ohne den Weg zu einer wirklichen Lösung zu ebnen. Aber diesmal hat die in Europa regierende Linke sich immerhin gespalten: Der Außenminister der Regierung Zapatero, Moratinos, trägt die Entscheidung nicht mit, und Madrid hat den Rückzug seines Truppenkontingents angekündigt. Womit bewiesen wäre, daß die Welt nicht untergeht, wenn sich jemand den US-amerikanischen Diktaten widersetzt.

Luciana Castellina

Übersetzung: Js.

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aus: ak - zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 538 / 17.04.2009
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Analyse & Kritik