DENG XIAOPING

EINEN SOZIALISMUS CHINESISCHER PRÄGUNG AUFBAUEN

(Auszüge aus einem Gespräch mit der japanischen Delegation der 2. Sitzung des Rats chinesisch-japanischer Persönlichkeiten, die nicht Regierungsmitglieder sind.)
(30. Juni 1984)


Seit der Niederschlagung der "Viererbande" und der Einberufung der 3. Plenartagung des XI. Zentralkomitees der Partei haben wir die richtigen ideologischen, politischen und organisatorischen Linien sowie eine Reihe von Prinzipien und politischen Richtlinien ausgearbeitet. Was ist die ideologische Linie? Sie bedeutet das Festhalten am Marxismus und am marxistischen dialektischen und historischen Materialismus, oder mit anderen Worten, das Festhalten an der Suche der Wahrheit in den Tatsachen, für die Genosse Mao Zedong eintrat. Es ist sehr wichtig für China, am Marxismus festzuhalten, und es ist ebenso wichtig, am Sozialismus festzuhalten. Seit dem Opiumkrieg war China mehr als ein Jahrhundert Aggression und Demütigung ausgesetzt. Die chinesische Revolution war deshalb siegreich, weil das chinesische Volk den Marxismus angenommen und daran festgehalten hat, den Weg von der Neuen Demokratie zum Sozialismus einzuschlagen.

Man könnte fragen: Falls China statt des sozialistischen den kapitalistischen Weg begangen hätte, hätte sich das chinesische Volk befreien oder hätte China sich schließlich erheben können? Die Kuomintang ist diesen Weg über 20 Jahregegangen und hat bewiesen, daß er nicht erfolgreich war. Die chinesischen Kommunisten hingegen, die am Marxismus festhielten und den Marxismus in Übereinstimmung mit den Mao-Zedong-Ideen mit den konkreten Bedingungen in China verbanden, sind ihren eigenen Weg gegangen und haben die chinesische Revolution zum Sieg gebracht, indem sie die Städte von den Dörfern her einkreisten. Wenn wir nun umgekehrt keine Marxisten wären oder den Marxismus nicht mit den chinesischen Verhältnissen verbunden hätten und nicht unserem eigenen Weg gefolgt wären, dann wäre China zersplittert geblieben, hätte weder Unabhängigkeit noch Einheit erlangt. Frei heraus gesagt, China muß am Marxismus festhalten. Hätten wir kein volles Vertrauen auf den Marxismus gehabt, hätte die chinesische Revolution niemals siegen können. Dieses Vertrauen ist eine treibende Kraft. Falls wir nach Gründung der Volksrepublik den kapitalistischen anstatt den sozialistischen Weg eingeschlagen hätten, hätten wir diesem Chaos, das von Inflation, unstabilen Preisen, Armut und Rückständigkeit bestimmt war, nicht ein Ende machen können. Wir sind von sehr rückständigen Verhältnissen ausgegangen. Es gab im Grunde genommen keine Industrie, die wir vom alten China hätten übernehmen können, und wir hatten nicht genug Getreide zum Essen. Manche Leute fragen, warum wir uns für den Sozialismus entschieden haben. Wir antworten, weil der Kapitalismus in China fehl am Platze war. Wir müssen die Probleme der Ernährung, der Arbeitsbeschaffung für die Bevölkerung und der Wiedervereinigung Chinas lösen. Das ist der Grund, warum wir immer wieder bekräftigen, am Marxismus und am sozialistischen Weg festzuhalten. Doch mit Marxismus meinen wir den Marxismus, der auf die chinesischen Verhältnisse abgestimmt ist, und mit Sozialismus meinen wir den Sozialismus, der den chinesischen Verhältnissen entspricht und chinesisch geprägt ist.

Was heißt Sozialismus und was heißt Marxismus? Darüber waren wir uns früher nicht ganz im klaren. Der Marxismus mißt der Entwicklung der Produktivkräfte äußerst großes Gewicht bei. Wir treten für den Kommunismus ein. Aber was bedeutet Kommunismus? Er bedeutet das Prinzip jeder nach seinen Fähigkeiten und jeder nach seinen Bedürfnissen", was hochentwickelte Produktivkräfte und einen überaus großen materiellen Reichtum erfordert. Infolgedessen ist die grundlegende Aufgabe für die sozialistische Periode die Entwicklung der Produktivkräfte. Die Überlegenheit des sozialistischen Systems zeigt sich dadurch, daß seine Produktivkräfte sich schneller und stärker als die des kapitalistischen Systems entwickeln. Was unsere Unzulänglichkeiten seit Gründung der Volksrepublik betrifft, so war eine davon die Vernachlässigung der Entwicklung der Produktivkräfte. Sozialismus bedeutet Beseitigung der Armut. Armut ist nicht‘ Sozialismus, noch weniger Kommunismus. Die Überlegenheit des sozialistischen Systems besteht vor allem in seinem Vermögen, die Produktivkräfte schrittweise zu entwickeln und das materielle und kulturelle Lebensniveau der Bevölkerung allmählich zu verbessern.
Wir stehen nun vor dem Problem, wie wir heute, da China noch rückständig ist, die Produktivkräfte entwickeln und das Lebensniveau des Volks verbessern. Das führt uns zurück zu der Frage, ob wir weiter am sozialistischen Weg festhalten oder den kapitalistischen Weg einschlagen sollen. Der kapitalistische Weg kann weniger als 1 Prozent der chinesischen Bevölkerung Wohlstand bringen; über 90 Prozent der Bevölkerung kann er nie zum Wohlstand verhelfen. Aus diesem Grund müssen wir am Sozialismus festhalten. Das sozialistische Verteilungsprinzip jeder nach seiner Leistung" wird keine übermäßig große Kluft im Reichtum schaffen. Folglich wird es keine Polarisierung geben, auch wenn unsere Produktivkräfte sich in den folgenden 20 bis 30 Jahren entwickelt haben.
Das Minimalziel unserer vier Modernisierungen besteht darin, Ende des Jahrhunderts ein, vergleichsweise wohlhabendes Leben zu erreichen. Ich habe das zum ersten Mal gegenüber dem früheren japanischen Ministerpräsidenten Masayoshi Ohira während seines Besuchs hier im Dezember 1979 erwähnt. Mit einem relativ wohlhabenden Leben meinen wir, daß das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen des Bruttosozialprodukts am Ende des Jahrhunderts 800 US-Dollar erreichen wird. Für Sie ist das ein niedriges Niveau, für uns ist es jedoch ein ehrgeiziges Ziel. China hat heutzutage eine Bevölkerung von 1 Milliarde, Ende des Jahrhunderts werden es 1,2 Milliarden sein. Wenn wir das Bruttosozialprodukt, das zu dieser Zeit 1 Billion erreicht haben wird, nach dem kapitalistischen Prinzip verteilen würden, wäre das nur ein geringer Betrag, der uns nicht dabei helfen könnte, Armut und Rückständigkeit zu überwinden. Nur weniger als 1 Prozent der Bevölkerung würden ein besseres Leben führen, während über 90 Prozent arm bleiben würden. Doch das sozialistische Verteilungsprinzip ermöglicht es allen Menschen, besser zu leben. Aus diesem Grund wollen wir am Sozialismus festhalten. Ohne Sozialismus kann das Lebensniveau der chinesischen Bevölkerung nicht verbessert werden.

Aber nur darüber reden ist nicht genug. Die heutige Welt ist eine offene Welt. Die Rückständigkeit Chinas in der Vergangenheit war auf die Politik der verschlossenen Tür zurückzuführen. Nach der Gründung der Volksrepublik China wurden wir von anderen blockiert, und so blieb das Land bis zu einem gewissen Grad abgeriegelt, wodurch Schwierigkeiten für uns entstanden. Einige "linke" politische Richtlinien und insbesondere die "Kulturrevolution" haben Unheil verursacht. Kurz gesagt, die Erfahrungen der vergangenen über 30 Jahre beweisen, daß eine Politik der verschlossenen Tür den Aufbau verhindert und keine Entwicklung ermöglicht. Deswegen gelten folgende Prinzipien als die ideologische Linie, die auf der 3. Plenartagung des XI. Zentralkomitees der Partei formuliert wurde: an der Verbindung des Marxismus mit den chinesischen Verhältnissen, der Suche der Wahrheit in den Tatsachen, der Verbindung der Theorie mit der Praxis und Ausgehen von der Wirklichkeit festhalten. Das heißt mit anderen Worten, an den grundlegenden Ideen des Genossen Mao Zedong festzuhalten. Unsere politische Linie konzentriert sich auf die vier Modernisierungen [die Modernisierung der Industrie, der Landwirtschaft, der Verteidigung, der Wissenschaft & Technik] und besteht dementsprechend auf der Entwicklung der Produktivkräfte. Außer einem Weltkrieg wird uns nichts von diesem elementaren Punkt abbringen. Selbst wenn ein Weltkrieg ausbricht, werden wir uns nach dem Krieg dem Aufbau widmen. Eine Politik der verschlossenen Tür ist dem Aufbau nicht förderlich. Es gibt zwei Arten von Abriegelung: die eine ist gegen andere Länder gerichtet, die andere gegen China selbst, indem sich ein Gebiet oder eine Abteilung gegenüber anderen abriegelt. Wir schlagen vor, die Entwicklung ein wenig schneller voranzutreiben, nur ein wenig schneller, nicht zu schnell, denn das wäre unrealistisch.
Um dies zu erreichen, müssen wir die inländische Wirtschaft wiederbeleben und eine Politik der Öffnung nach außen verfolgen. Zuerst müssen wir das Problem der ländlichen Gebiete, in denen 80 Prozent der Bevölkerung leben, beilegen. Chinas Stabilität hängt von der Stabilität der ländlichen Gebiete mit diesen 80 Prozent ab — das ist die chinesische Realität, von der wir ausgehen sollten. Wie erfolgreich unsere Arbeit in den Städten auch sein mag, ist das ohne stabile Grundlage der ländlichen Gebiete nutzlos. Darum müssen wir als erstes das Problem der ländlichen Gebiete lösen, indem wir in diesen Gebieten die Wirtschaft wiederbeleben und eine Öffnungspolitik verfolgen, um auf diese Weise die Initiative von 80 Prozent der Bevölkerung vollen Entfaltung zu bringen. Ende 1978 haben wir diese Politik festgelegt, die nun nach einigen Jahren die erwünschten Erfolge zeigt.

Auf der kürzlich einberufenen 2. Tagung des Vl. Nationalen Volkskongresses wurde beschlossen, den Schwerpunkt der Reform von den ländlichen Gebieten auf die Städte zu verlegen. Die städtische Reform umfaßt nicht nur Industrie und Handel, sondern auch Wissenschaft, Bildung und alle anderen Bereiche. Kurz, wir werden die Reform im Inland fortsetzen. Was unsere Beziehungen mit ausländischen Ländern anbelangt, so werden wir die Politik einer weiteren Öffnung gegenüber der Außenwelt verfolgen. Wir haben 14 große und mittelgroße Küstenstädte geöffnet. Wir heißen ausländische Investitionen und fortgeschrittene Techniken willkommen. Management ist ebenfalls eine Technik. Wird dies unseren Sozialismus schwächen? Gewiß nicht, denn die sozialistische Wirtschaft bildet unsere Hauptstütze. Unsere sozialistische Wirtschaft hat eine so starke Grundlage, daß sie Dutzende von Milliarden ausländischer Fonds absorbieren kann, ohne die sozialistische Grundlage zu erschüttern. Außerdem halten wir am sozialistisehen Verteilungssystem fest und dulden keine wirtschaftliche Polarisierung. Auf diese Weise werden die ausländischen Investitionen ohne Zweifel eine wichtige Ergänzung zum Aufbau des Sozialismus in unserem Land darstellen, und wie die Sache heute so steht, ist diese Ergänzung unentbehrlich. Natürlich wird dies einige Probleme mit sich bringen, doch die negativen Aspekte haben weit weniger Bedeutung als die positiven Ergebnisse, die durch ausländische Investitionen bei der Beschleunigung unserer Entwicklung erzielt werden können. Es ist ein kleines Risiko, kein großes.
Wenn man über unsere Pläne spricht — das sind sie. Wir werden Erfahrungen sammeln und neue Lösungsmöglichkeiten ausprobieren, wenn neue Probleme auftauchen. Zusammenfassend gesagt, wir sind überzeugt, daß dieser Weg zum Aufbau eines Sozialismus chinesischer Prägung richtig und praktikabel ist. Wir sind diesen Weg fünfeinhalb Jahre gegangen und haben befriedigende Ergebnisse erzielt. Wir wollen das Bruttosozialprodukt Chinas bis zum Ende des Jahrhunderts vervierfachen. Das Entwicklungstempo hat unser gesetztes Ziel bislang übertroffen. Ich kann also unseren Freunden mitteilen, daß wir nun noch zuversichtlicher sind.

[Deutsche Originalveröffentlichung des Verlags für fremdsprachige Literatur, Beijing]