»Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität«


Wann setzen die Staatsverantwortlichen eine Enquete*-Kommission ein? Wenn eine ihrer Ideologien sich in der Praxis nicht so bewährt hat, wie sie sollte. Wenn also z.B. das Wirtschaftswachstum zu wünschen übrig läßt; erst recht, wenn es ganz ausbleibt. Da fällt den Verantwortungsträgern ein, daß sie ja eine Wissenschaft haben, die vom Staat befugt und beauftragt »frei« forscht. Und flugs ist sie zusammengestellt, die Enquetekommission namens »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität«.

Doch schon der Titel ist ein einziges Rätsel für den, der nicht ideologisch, also wissenschaftlich im eigentlichen Sinne zu denken sich erlaubt. Was wachsen soll, ist sonnenklar: »Die Wirtschaft«, also die Profite freier Kapitale. Daß ein solches Wachstum nicht automatisch »Wohlstand« nach sich zieht, liegt auf der Hand. Schließlich hat man bei »Wohlstand« immer eine nationale Volksgemeinschaft im Auge, aus der mittlerweile komischerweise so viele herausfallen und noch einige mehr ganz offenkundig davon bedroht sind, herauszufallen. Und mit einer viel beschworenen – ebenfalls ziemlich automatisch aus dem Wachstum sprießenden – »Lebensqualität« ist es nur allzu offenkundig ebensowenig weit her. Das sieht man u.a. an den steigenden Kosten im Gesundheitssektor. Seltsam?

Kurzum, der Staat macht sich ernstlich Sorgen um die Gleichheitszeichen seiner ideologischen Formel, einer Formel des Kapitalismus schlechthin: »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität«. Wie borniert er an seiner Ideologie festhält, macht nicht minder die Reihenfolge dieser drei Begriffe deutlich: Er sagt ja nicht als erstes »Lebensqualität«: »Verdammt nochmal, Lebensqualität muß sein! Schauen wir mal, wie wir aus Lebensqualität auch ein Wachstum für die Profite hinkriegen.« Das wäre ja auch lächerlich. Schließlich ist »Lebensqualität« einzig und allein so zu verstehen: Als etwas, was der schönen heilen Welt des Kommerzes – der Realisierung von Mehrwert – entspringt, den Unternehmensgewinnen also nachgeordnet ist.

Staatsverantwortliche denken in ihrer Stupidität so: Wenn das Wirtschaftswachstum nur hoch genug ausfällt, dann sickert ganz zwangsläufig etwas nach unten durch. Wenn nicht, dann nicht. Aber das geht natürlich nicht. Nicht wegen der »Lebensqualität« – sondern wegen dem Staatsinteresse, das so gar nicht vorkommt in jener Begriffsfolge. Denn nicht für die Lebensqualität der Bevölkerung ist das Wirtschaftswachstum gedacht, nein, für den Reichtum des Staates selber. Denn der hat seine Machtansprüche gegenüber anderen Staaten und will sich dafür die nötigen ökonomischen Mittel aus seiner Volkswirtschaft ziehen, einer Volkswirtschaft, die so gut wie ausschließlich aus freien Kapitaleignern besteht. Die braucht man ja auch gar nicht zu ihrem Glück zwingen, die wissen schon selber, daß ihr Metier der Profit ist und sonst nichts.

Die Sorge um das »Wachstum« ist also eine Sorge um den Staat und seine Macht, einem Staat, der sich für diesen Erfolgsweg entschieden hat (zumal ihm nach einem hochkant verlorenen Krieg gar nichts anderes übriggebleiben war). Wenn Staatsprotagonisten also behaupten, Wachstums schaffe Arbeitsplätze – was ja wohl etwas anderes ist als »Wohlstand und Lebensqualität!« –, dann zu eben diesem Zweck. Mehr Wachstum, mehr Steuerzahler, mehr Reichtum in der Staatskasse.

Besonders ärgerlich ist es natürlich, wenn der Staat mit seiner Staatskasse das Wachstum anschieben und -stacheln muß, von dem der Staat ja profitieren will. Wieviel Kredit ist also sinnvoll, in die Wirtschaft zu pumpen, wenn das Wachstum ausbleibt? Sind die Kredite uneinbringbar, leidet dann nicht die »Lebensqualität« des Staates selber darunter? Muß er, der Staat, mit seinen weltweiten Ansprüchen dann nicht kleinere Brötchen backen? Nein, das kann und darf nicht sein, so der der Dreierformel »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« unterstellte Imperativ.

All das Dargelegte halten die Wirtschaftsprofessoren, die sich zu dieser Enquete verpflichten ließen, nicht für weiter befassungswürdig. Sie teilen ja die Sichtweise ihrer Brotherren. Keiner stellt sich hin und sagt: »Eure kapitalistische Ideologie hat mit Wissenschaft nicht die Bohne zu tun. Macht euren Sauladen doch alleine und schaut, wo ihr bleibt mit eurem Wachstum, eurem Wohlstand und eurer Lebensqualität. Und wenn Deutschland zugrunde geht, die Wissenschaft noch lange nicht.«

Die beauftragten Bildungsträger arbeiten sich also ab an den Vorgaben. Und strengen sich diesbezüglich gehörig an, die Meriten zu verdienen, derer sie begierig sind. Sie sind denn darob nicht einer Meinung. Und an dieser Stelle muß davon abgesehen werden, daß Wissenschaft sowohl mit Meinung wie mit Pluralismus gar nicht kompatibel ist. Also der Anspruch, Wissenschaft zu sein, von vorneherein ausgeräumt ist.

So weit, so schlecht. Im wesentlichen entpuppen sich nun zwei Meinungen.
"Seiner Meinung nach [des Wortführers der einen Gruppe, Prof. Paqué] brauche die Wirtschaft hohes Wachstum, um Schulden bedienen zu können, Sozialsysteme zu finanzieren und international wettbewerbsfähig zu bleiben. Daher solle die Politik versuchen, durch die richtigen Maßnahmen »noch ein bißchen mehr rauszuholen«." (dieses Zitat und alle folgenden aus dem Artikel »Das Fetisch Wachstum« von Steffen Lampe, Volkswirtschaftler, taz, 14.05.12)
Logo, was sonst möchte man hinzumeinen. Einfach hohes Wachstum schaffen, dann lösen sich alle »Probleme« sehr schnell in nichts auf!

Doch da erhebt eine zweite Fraktion einen überraschenden Einwand:
"Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder legt den Schwerpunkt hingegen auf die Frage, wie unsere Gesellschaft angepaßt werden kann, um mit niedrigen Wachstumsraten gut zu funktionieren. Diese Frage ist Teil des Arbeitsauftrags der Kommission. Dabei geht es um eine Vielzahl gesellschaftlicher Bereiche, angefangen bei den öffentlichen Schulden und den Sozialsystemen bis hin zu den Strategien zum Umgang mit Arbeitslosigkeit."
Ganz schön komplex, möchte man hinzumeinen. Immerhin hat diese Fraktion es geschafft, die vorgegebene Trilogie des »Wachstums, des Wohlstands und der Lebensqualität« in einen Haufen von ganz konkreten »Problemen« zu überführen, deren Bewältigung einer wahren Herkulesaufgabe gleicht.

Und nun kommt noch Steffen Lange, der das Wachstum als einen Fetisch betrachtet, also für wenig bis überhaupt nicht essenziell für das System, für überflüssig gar, für nebensächlich zumindest. Wer zum »Wachstum« Fetisch sagt, der bestreitet, daß es der Zweck des ganzen Systems schlechthin ist. Sicher, »Wachstum« ist nichts anderes als die ideologische Form des Marxschen Tauschwerts, doch das tut dem vorgebrachten Standpunkt keinen Abbruch: Dieser Zweck wird mit dem Verdacht »Fetisch« gar nicht wirklich bestritten, er wird lediglich relativiert, nämlich so:
"Ziemlich unterbelichtet bleibt eine dritte Position: eine grundsätzliche Kritik an weiterem Wachstum in den reichen Industrienationen, sei es wegen des Klimawandels oder weil weiterer materieller Reichtum nicht den menschlichen Bedürfnissen entspricht."

Anders ausgedrückt: Wachstum ist nicht alles. Was ihm – gleichzeitig! – fehlt, sind Leistungen, die es per se nicht zu erbringen imstande ist. Damit wird bestritten, daß beispielshalber die Verarmung großer Teile der Bevölkerung hier wie in der »Dritten Welt« eine Leistung eben dieses Systems ist, also keineswegs eines seiner Unzureichenheit.
Mit Kausalzusammenhängen hat offenbar diese ansatzweise kritische Fraktion nicht mehr am Hut als die beiden anderen. Wie soll sich ihrer Meinung nach ein Staat um Armut und Klimawandel kümmern, wenn er nicht das auch dafür nötige Kleingeld in der Schatulle hat beziehungsweise die erforderlich hohen Kredite auflegen kann, ohne den Wert seines Nationalgeldes selber aufs Spiel zu setzen? Völlig falsche Frage! Steffen Lange denkt einfach kontrafaktisch so: Weniger Wachstum, weniger Armut, weniger Klimawandel, also ist weniger Wachstum gar nicht schlecht. Einfach wegen der Folgen – der positiven »Leistungen«! –, die es dann erzielt, wiewohl die gar nicht bezweckt sind. Aber man kann dem Wachstum ja mal diesen Zweck andichten, wenn es sowieso ausbleibt....

So mündet Steffen Lange da, wo die herrschenden Ideologen von vorneherein stehen: Wenn man dem Wachstum nur die passende Ideologie anhängen kann, dann geht es auch in Ordnung, freilich nur dann. Nach Langes Meinung braucht es also eine neue Dichtkunst, die das infragegestellte Wachstum wieder fraglos glaubwürdig macht
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(04.06.12)
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* Das französische Wort bedeutet schlicht »Untersuchung«  und geht auf das bürgerliche Frankreich zurück, wo solcherart Kommisionen in Folge der französischen Revolution erfunden worden sind. In der BRD klingt es einfach besser, schließlich geht es ja um eine Untersuchung der »Wissenschaft«, auch wenn es sich um nichts als einen Hohn auf die handelt.