Freerk Huisken
Folgende Beiträge hier hintereinander zusammengefaßt:
1. "School Shooting" - eine Geisteskrankheit?
2. Die Schule ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems
3. "Ich bin wertvoll"
Der Amoklauf von Winnenden:
"School Shooting" – eine Geisteskrankheit?
Tim K. war in psychiatrischer Behandlung! Die Gemeinde der
professionellen Betroffenen atmet auf. Der Massenmord von Winnenden ist
geklärt: Dieser junge Mensch war krank, ein Psychopath, vielleicht
sogar ein "Zombie", wie ein Sprecher der deutschen Sportschützen
ausführte, der sich ja bei seinen Waffenbrüdern auskennt; auf
jeden Fall von schweren Depressionen geplagt, die sich
schlußendlich in einem "erweiterten Suizid" – welche
zynischer Psychologismus! – entladen haben. Zudem, auch das
paßt ins genehme Bild, hatte er im Elternhaus leichten Zugang zu
Waffen und Munition, ist vom Vater sogar in der "Kunst des
Schießens" unterwiesen wurden und war obendrein Besitzer von
Computerspielen der einschlägigen Art. Das "Unfaßbare", wie
ein junger Mensch, der als völlig "ruhig und unauffällig"
galt, der nie aggressiv geworden ist und eher schüchtern war, sich
und 15 weitere Menschen vom Leben zum Tode befördern kann, ist nun
leicht faßbar. Die seelische Störung, "seine Krankheit",
über die man dann auch gar nichts weiter wissen muß,
erklärt einfach alles.
Prompt ist aus der "Unauffälligkeit" von Tim K. – heutzutage
eigentlich ein Lob für junge Menschen – ein
Krankheitssymptom geworden. Dabei bestand diese doch wohl darin,
daß er wie die meisten jungen Menschen in seinem Alter seinen
Schulpflichten ebenso nachgekommen ist wie den Pflichten eines Sohnes
"aus gutem Elternhaus", daß er seine Hobbys gepflegt, sich z.B.
an rohen Computerspielen vergnügt und beim Tischtennisspiel
offensichtlich nichts dabei gefunden hat, daß die Spielverlierer
lebend das Brett verlassen konnten. Und seine "Zurückgezogenheit"
hatte ihn auch nicht daran gehindert, andere Jugendliche einzuladen und
mit ihnen jenen Späßen nachzugehen, die in dieser Generation
einen Unterhaltungswert besitzen. Kurz, er hat gelebt und funktioniert
wie die meisten anderen Gleichalterigen auch. Weswegen auch jene
Psycho-Fahnder einfach – doppelt – dumm dastehen, die nicht
irre werden, nach jedem Amoklauf von jungen unauffälligen Menschen
immer wieder aufs Neue und unbedingt "Muster" und "patterns" finden zu
wollen, an denen man den jugendlichen Massenmörder vor seiner Tat
erkennt, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Doppelt dumm, weil sich
diese Gilde erstens immer wieder und ungerührt vergeblich auf die
Suche macht, und weil sie sich zweitens dabei fleißig dem
Gedanken verweigert, daß unauffällige Jugendliche eben keine
Monster oder Bestien, sondern normale Kids sind. Wie Millionen anderer
machen sie ihre frustrierenden Erfahrungen in Familie, Schule und
Bekanntenkreis, haben diese – wie dies Millionen anderer auch tun
– in ihrem Kopf eingeschlossen, sie bis hin zu Racheplänen
aufgekocht und dann in aller Regel im Geiste einige ihrer Lehrer,
Vorgesetzen, Verwandten oder Bekannten "fertig gemacht" –
wie Millionen andere das täglich tun. Offensichtlich geraten sich
solche Rache- und Tötungsfantasien von Kids und ihr
alltägliches Funktionieren in dieser Gesellschaft erst einmal gar
nicht in die Quere; es ist sogar das Ärgernis zu konstatieren,
daß viele Menschen, junge und alte, weibliche und männliche,
ihren chronisch gewordenen Alltagsfrust offensichtlich besser
aushalten, wenn sie nach Feierabend oder Schulschluß im Geiste
oder virtuell am PC ihren Chef oder Klassenlehrer umbringen, der ihnen
am nächsten Tag sehr real wieder rücksichtslos diktiert, wo
es lang zu gehen hat.
Natürlich ist der Schritt von der Mordfantasie zum Massenmord
nicht zwingend, ausgeschlossen aber eben auch nicht. Wenn es so ein
Jugendlicher schafft, die anerzogenen Moral- und Rechtsschranken
beiseite zu schieben, wenn sich sein Racheanliegen bei ihm zu einer
Frage seiner Ehre ausgewachsen hat, mit der das Wissen um die
Konsequenzen seiner Tat in den Hintergrund rückt, dann sucht er
sich eben die Mittel für seinen Rachefeldzug und findet sie
– ob nun im Tresor des Vaters oder auf dem Waffenmarkt.
"Unfaßbar" ist all das nicht, und daß sich "die Tat jeder
rationalen Deutung entziehe", wie es nach jedem Amoklauf in Rahmen der
ritualisierten Betroffenheitsorgien regelmäßig heißt
– so etwas fällt den Wills, Plaßbergs oder Illners bei
"Kollateralschäden" auf Kriegsschauplätzen im Nahen Osten nie
ein –, ist ein Urteil, das nicht zur Kenntnis nehmen will, was da
passiert ist. Der Tat selbst und ihren Umständen läßt
sich bereits so einiges entnehmen – vielleicht sogar
schlüssiger als den Chat-Ankündigungen von Tätern, in
denen sie auch nur ihre Motivlage mehr oder weniger ungeordnet
ausbreiten.
So wird es wohl kein Zufall sein, wenn alle hierzulande zu
unrühmlichen Ehren gelangten Amokläufer eine bzw. ihre Schule
aufsuchen und dort ein Blutbad an Schülern und Lehrern anrichten.
Weder haben diese Jugendlichen in der Fußgängerzone, noch
bei einer Sportveranstaltung oder im Kaufhaus um sich geballert. Sie
haben ganz bewußt diesen Tatort gewählt und die dort
arbeitenden Schüler und Lehrer, oftmals ohne sie zu kennen, als
Repräsentanten einer Institution umgebracht, die sie als
verletzenden Angriff auf ihre Persönlichkeit, wenn nicht gar auf
ihre personelle Existenz erfahren haben. Das muß man ernst nehmen
und sollte es nicht als rein subjektive Deutung eines kranken
Verstandes abbuchen, die mit der Wirklichkeit der Schule nichts zu tun
hat. Was ist denn die wirkliche Schule? Sie ist zum einen eine
Lernkonkurrenzveranstaltung, in der Lehrer über zukünftige
Lebenschancen junger Menschen befinden, und auf die Schüler zum
anderen heute ganz selbsttätig eine Anerkennungskonkurrenz drauf
satteln, die manchen Schülern wichtiger ist als die gute Zensur in
jener Konkurrenz, die allein zählt – nicht selten, weil sie
mit der ohnehin schon abgeschlossen haben.
Die eine Konkurrenz, das ist die schulisch inszenierte
Leistungskonkurrenz, in der der nationale Nachwuchs nach Elite und
Masse durchsortiert wird, sprich: in seiner Mehrzahl von
weiterführender Bildung und d.h. von weniger unerfreulichen
Berufen ausgeschlossen wird; eine Konkurrenz, deren Protagonisten
wissen, warum sie am Jahresende anläßlich der Zeugnisvergabe
pädagogische Seelsorge anbieten und hoffen, daß sich keiner
ihrer Schüler das Leben nimmt, weil er sich "mit dem Zeugnis"
nicht nach Hause traut; eine Lernkonkurrenz, in der sich Schüler
immer zugleich das Rüstzeug fürs ganz normale Durchwursteln
in der sich anschließenden Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und im
Berufsleben aneignen: Denn sie erfahren, daß sie nur dann nicht
zu den Verlierern gehören, wenn sie dazu beitragen, andere zu
Verlierern zu machen, was Anschwärzen ebenso einschließt,
wie Neid und Missgunst; wenn sie dem "Schein" den Vorrang über ihr
"Sein" geben, also Können vortäuschen, andere der
Täuschung überführen und was der weiteren Tugenden des
gar nicht so "heimlichen Lehrplans" der Konkurrenz mehr sind.
Schüler selbst ergänzen heutzutage diese Leistungskonkurrenz,
deren Zwecken sie sich unterwerfen müssen, deren Mittel –
dabei handelt es sich nicht um das Lernen, sondern das zensierte Lernen
– sie gar nicht in der Hand haben und deren Resultaten sie
ohnmächtig gegenüber stehen, um eine eigene, eben die
Anerkennungskonkurrenz. In der führen sie sich als die
Herren ihrer Konkurrenzmittel auf: Alle rohen Formen der Angeberei und
des Mobbing – geschlechtsspezifisch sortiert – stehen dabei
hoch im Kurs. Da wird geklaut und erpreßt, geschlagen und
ausgegrenzt, werden Schulen demoliert und Mutproben der brutalsten Art
abverlangt. Gelernt haben die Kids, daß der Mensch ohne
Selbstbewußtsein nichts ist, daß man also mit einer Portion
Selbstbewußtsein die Zumutungen von Schule, Familie und
Straße besser aushält – und nur deswegen ist das
Selbstbewußtsein zum Erziehungsziel avanciert. Und das
übersetzen sie sich in den Selbstbefund, irgendwie "Superstar" zu
sein, wenn nicht der "Deutschlands", dann doch wenigstens der der
Schule oder der Klasse. Der Anerkennungswahn, der sich hier austobt,
erweist sich als ein Psychoprodukt von Konkurrenzerfahrungen, das
inzwischen das Privatleben derart okkupiert hat, daß jede
vernünftige Bilanzierung des materiellen Gehalts einer
individuellen Lebenslage nur allzu oft überlagert wird von der
Frage, wie viel Beifall man für neue Klamotten, geschwollenen
Bizeps, Sexual- und Saufleistungen, nebst Frech- und Rohheiten aller
Art von Mitmenschen erhält, die denselben anerzogenen und
inzwischen durchgesetzten geistigen Deformationen anhängen. Wenn
zudem heute Schüler mit 9 oder 10 Jahren ihre Schulhefte auf
Lehrergeheiß mit dem Spruch "Ich bin wertvoll!" zieren –
das fällt sachgemäß unter Ethikerziehung –, dann
darf man sich endgültig nicht wundern, daß dabei der eine
oder andere Robert S. oder Tim K. herauskommt. Denn wo in Schule,
Familie und Umfeld vermehrt Erfahrungen gemacht werden, die diesen
Spruch gerade nicht mit Material unterfüttern, wenn Niederlagen
dieser oder jener Art sich vielmehr zu Frust verdichten, dann
läßt er sich ebenso in die selbstzerstörerische Frage:
"Bin ich wirklich wertvoll?", wie auch in den fremdzerstörerischen
Beschluß: "Denen werde ich es zeigen, daß ich wertvoll
bin!", umsetzen. Es schließt eben die radikalisierte Sorge ums
eigene Selbstbewußtsein durchaus beide brutalen Verlaufsformen
ein: die Tötung und die
Selbsttötung.
Noch etwas ist der Tat zu entnehmen. Täter machen ihren
"Frust" zur Privatsache, die andere nicht nur nichts angeht, die sogar
vor anderen geheim gehalten werden muß. Nicht zuletzt deswegen
ist Tim K. "unauffällig". Denn wer seine Schwächen,
Beschädigungen und jene Ohnmacht offenbart, die seine
tatsächliche Lage nun einmal kennzeichnen, der erfährt nur
allzu oft, daß ihm all dies als seine höchst
persönliche Eigenschaft um die Ohren und manchmal nicht nur um
diese geschlagen wird. Der weiß auch, daß jede zugegebene
Schwäche in allen Konkurrenzlagen – solchen, an denen die
Existenz, und solchen, an denen das Selbstbewußtsein hängt
– von anderen brutal zum eigenen Vorteil ausgenutzt wird. Dann
wird man als Schwächling, als Loser, als Opfer einsortiert und
behandelt. So etwas darf nicht sein, weswegen die Welt der
Heranwachsenden nur aus "coolen Typen" besteht, die sich den
psychologischen Selbstbetrug zur zweiten Natur werden lassen. Als
ohnmächtige Wichte, die sie sind und bleiben, ziehen sie dann
schon einmal aus der dauerhaft und quälend erfahrenen Ohnmacht den
ziemlich verkehrten Schluß, selbst einmal Macht, und gelegentlich
sogar Macht in seiner existenziellsten Form als Macht über Leben
und Tod auszuüben.
So etwas registrieren die einschlägigen Talkshowrunden hier und
da. Jedoch nur um blöd anzumahnen, daß "wir alle" mehr
"aufeinander zugehen", uns "mehr umeinander kümmern" sollten und
daß den Lehrern "mehr Zeit für die lieben Kleinen"
eingeräumt werden müßte. Lauter Idealisierungen
herrschender Konkurrenzverhältnisse werden da als konkrete
Vorschläge ausgerechnet von denen unterbreitet, die gerade eine
Schulreform beschlossen haben, in der schulischer Leistungsstreß
verschärft, Konkurrenz unter Lehrern institutionalisiert,
Schulzeit verkürzt, das standardisierte Testwesen ins Zentrum des
Unterrichts gerückt wird und allen Ernstes eine Erziehung zu mehr
"Frustrationstoleranz" jede Überlegung, was sich gegen die
Ursachen des "Frusts" machen läßt, erschlägt; die aber
auch an anderen Fronten, so auf dem Arbeitsmarkt, in der Berufswelt, in
den Sozialsystemen, auf dem Wohnungsmarkt und in der Familie dafür
sorgen, daß den Bürgern als Mittel zur Sicherung ihrer
Privatexistenz allein der Weg bleibt, sich gegen andere
Privatexistenzen – mit erlaubten Mitteln oder solchen am Rande
der Legalität – konkurrierend durchsetzen. Da
läßt sich gut "aufeinander zu gehen", da läßt
sich gut um den "Mitmenschen kümmern"! Neu ist das alles nicht,
aber heftiger wird's schon. Weswegen es erneut nicht verwundern darf,
daß Menschen, deren Kopf randvoll ist mit unbewältigten
Lebens- und Anerkennungsproblemen, diese solange mit sich selbst
ausmachen, bis sie meinen, der Welt auf jene Weise Beweise für
ihren erfundenen Selbstwerts zeigen zu müssen, die sie von der
Welt gelernt haben: als Machtausübung mit den Mitteln der Gewalt!
(16.03.09)
Die Schule ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems
Wenn der Filologenverband anläßlich des Amoklaufs von
Winnenden eine „Gefahrenzulage für Lehrkräfte“
fordert, hat er in gewisser Hinsicht den Nagel auf den Kopf getroffen.
Offensichtlich gibt es auch hierzulande – die us-amerikanische
Schulen mit ihren Überwachungssystemen stehen ohnehin dafür -
immer wieder Schüler, die die Schule als eine Art Frontabschnitt
erfahren, an dem Lehrkräfte sie so drangsalieren, daß sie
glatt an Gegenwehr oder Rache denken. Pure Einbildung oder verfehlte
subjektive Deutung eines recht harmonischen Schullebens durch einen
Schüler, der die Welt nur noch durch die Brille von
Counterstrike-Szenarien sieht, ist das nicht. Man muß gar
nicht viel geistigen Aufwand betreiben, um an der Schule Seiten
festzuhalten, die Schüler derart "frustrieren", daß
sie immer mal wieder den "ungerechten", autoritären oder
rücksichtslosen Lehrern mindestens im Geiste Rache androhen.
Allein schon die gesonderte Einrichtung von "Vertrauenslehrern" spricht
Bände: Das normale Lehrer-Schüler-Verhältnis ist
offensichtlich eher von Miß-, denn von Vertrauen charakterisiert.
Und wenn jene bayerische Schulsprecherin, die nach dem Amoklauf von
Winnenden in der Talk-Sendung von M. B. Illner von
"vertrauenswürdigen Vertrauenslehrern" sprach bzw. sich versprach,
so unterstreicht das noch einmal, daß selbst diese Einrichtung
der Schulbehörde zum schulinternen Auffangen von kleinen oder
größeren Dissonanzen nicht dasselbe ist wie die Konstitution
eines Vertrauensverhältnisses. Wie auch? Es bleibt doch der
vertrauenswürdigste Vertrauenslehrer eben Lehrer, also Agent jener
Schuleinrichtung, die eben zunächst einmal nicht das Vertrauen der
Schüler zu genießen scheint.
Oder nehmen wir den ganz normalen Unterricht, in dem das Lernen als
permanente Bewährungsprobe für die Schüler inszeniert
ist, auf die sie sich mit allerlei "Tricks" einstellen, die bei
näherem Hinsehen ebenfalls verraten, wie es um das
institutionalisierte Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern
bestellt ist. So weiß jeder Schüler, daß er sich
möglichst nicht bei Lerndefiziten ertappen lassen darf,
obwohl die nichts als das Produkt des Unterrichts sind. Folglich
muß er seine Wissenslücken und Unkenntnis vertuschen und
ganz bei sich behalten, weil er weiß, daß ihre Offenlegung
nicht deren Beseitigung, sondern deren Bestrafung durch schlechte Noten
nach sich ziehen kann. Der Übergang zu
Täuschungsmanövern aller Art ist bei Tests und
Klassenarbeiten deswegen angesagt, weil auch sie nicht angesetzt
werden, um dem Lehrer Auskunft über den Kenntnisstand der Klasse
zu geben, sondern um diesen zu benoten. Was bedeutet, daß so eine
Arbeit vom Lehrer nach einer gewisser Zeit rücksichtslos
gegenüber der Frage angesetzt wird, inwieweit eigentlich die
Klasse den Stoff beherrscht. In Kauf genommen wird damit, daß
– wie die Zensurenverteilung zwischen 1 und 6 belegt –
nicht wenige Schüler irreversibel benotet werden, denen der
Unterricht wenig Chancen eröffnet hat, sich adäquat
vorzubereiten. (Was mit Lehrern geschieht, die den Ehrgeiz haben, allen
Schülern den verlangten Unterrichtsstoff nahe zu bringen,
hat man jüngst in Bayern erfahren: Das zieht
Disziplinarmaßnahmen nach sich.) Wenn Schüler das Material
für solche Bewährungsproben aber nicht im Kopf haben, dann
kommen sie auf die Idee, es sich anderweitig zu organisieren. Und dann
heißt merkwürdigerweise jede Hilfeleistung, die man vom
Nachbarn einholen möchte - vom Lehrer hat man sie gerade nicht
erhalten - Betrug. Ratsam ist es für Schüler ebenfalls, mit
seinem Urteil über Lehrer, Lehrermeinungen und Lehrstoff dann
behutsam umzugehen, wenn es aus kritisch, d.h. aus dem Rahmen
fällt.
Und da das Lernen in der Schule als Konkurrenz um gute Noten, um gute
Zeugnisse, die den Fortgang der Bildungskarriere ermöglichen
sollen, organisiert ist, bekommt die "Klassenkameradschaft" nicht
selten merkwürdige Züge. Da wird das Abschneiden von
Mitschülern mißtrauisch daraufhin begutachtet, ob auch mit
gleicher Elle gemessen worden ist. Die gute Note, die man selbst
verfehlt hat, gönnt man anderen dann nicht, wenn man meint,
daß sie ungerechtfertigterweise erworben worden ist, weil
der Lehrer mal wieder gemäß seiner Vorurteile oder Vorlieben
den Rotstift angesetzt hat. Der Übergang zur Mißgunst darf
nicht fehlen. Da sperren sich Schüler gegen das Abschreiben, weil
die gute Note des Mitschülers die eigene relativiert. Warum das so
ist und in der Lernkonkurrenz so sein muß, liegt auch auf der
Hand: Die Leistungskonkurrenz soll immerhin jene Schüler
ermitteln, denen der Weg auf Gymnasium versperrt oder erschwert wird.
Und da die Proportionen, in der die Schüler nach Hauptschule und
weiterführendem Schulwesen durchsortiert werden, gerade nicht
durch individuell erbrachten Leistungen bestimmt sind, sondern im
Prinzip vorher behördlich festgelegt werden, steht für alle
Schüler längst fest, daß die Konkurrenz viele Verlierer
und weniger Sieger hervorbringt.
Wenn also der Filologenverband eine "Gefahrenzulage für
Lehrkräfte" fordert, hat er ein zwar zynisches, aber doch
realistischeres Bild von dem, was die Lehrer in der Schule anrichten,
im Kopf als jene GEW-Vorständlerin, die statt dessen anmahnt,
daß "der Leistungsdruck gesenkt werden" und den
"Lehrkräften mehr Zeit für die Schülerinnen und
Schüler" zur Verfügung gestellt werden müsse. Das ist
wohlfeile Gewerkschaftspolitik, die immer das Gegenteil von dem
anfordert, was die Bildungspolitik – nicht erst seit PISA I
– flächendeckend inszeniert. Das vermittelt gute Absichten,
stellt sich aber ignorant gegenüber den Zwecken, die zur Zeit mit
Schulpolitik durchgesetzt werden. Vermittelt wird vielmehr der
Eindruck, daß die in den Ländern für Schule
zuständigen Politiker eigentlich genauso gut das Gegenteil von dem
tun können, was sie nun gerade gezielt betreiben, man sie
also nur auf das hinweisen müßte, was der GEW zufolge der
Schule gut täte und schon würden sie von ihrer Politik
ablassen. Daß der Leistungsdruck durch Verkürzung der
gymnasialen Schulzeit, durch Einführung von standardisierten
Leistungstests und der damit verbundenen neu installierten Konkurrenz
zwischen Lehrer, zwischen Schule und zwischen Regionen gerade
erhöht wird, daß sich Frau Schavan und KollegInnen davon ein
besseres Abschneiden im PISA-Ranking und eine effektiveren Einsatz von
Bildung für die Standortkonkurrenz versprechen, daß also
alles andere als schulpolitische Willkür herrscht, interessiert
die gewerkschaftlichen Gutmenschen weniger.
Was hat das alles mit den Amokläufen der letzten Jahre zu tun?
Einiges. Zunächst einmal ist diesen Einlassungen von Filologen und
der GEW zu entnehmen, daß sie schon einen Zusammenhang zwischen
dem "School Shooting" in Erfurt, Emsdetten und Winnenden und jenen
Anstalten, in denen sie tätig sind, sehen. In der Tat, es wird
wohl kein Zufall sein, wenn alle hierzulande zu unrühmlichen Ehren
gelangten Amokläufer eine bzw. ihre Schule aufsuchen und dort
ein Blutbad an Schülern und Lehrern anrichten. Weder haben
diese Jugendlichen in der Fußgängerzone, noch bei einer
Sportveranstaltung oder im Kaufhaus um sich geballert. Sie haben ganz
bewußt diesen Tatort gewählt und die dort arbeitenden
Schüler und Lehrer, oftmals ohne sie zu kennen, als
Repräsentanten einer Institution umgebracht, die sie als
verletzenden Angriff auf ihre Persönlichkeit, wenn nicht gar auf
ihre personelle Existenz erfahren haben. Das muß man ernst nehmen
und sollte es nicht als rein subjektive Deutung eines kranken
Verstandes abbuchen, die mit der Wirklichkeit der Schule nichts zu tun
hat. Was ist denn die wirkliche Schule? Sie ist zum einen –
wie bereits angedeutet - eine Lernkonkurrenzveranstaltung, in der
Lehrer über zukünftige Lebenschancen junger Menschen
befinden, und auf die Schüler zum anderen heute ganz
selbsttätig eine Anerkennungskonkurrenz drauf satteln, die
manchen Schülern wichtiger ist als die gute Zensur in der
wichtigen, der Lernkonkurrenz – nicht selten, weil sie mit der
ohnehin schon abgeschlossen haben. Die Protagonisten der schulisch
inszenierte Leistungskonkurrenz, in der der nationale Nachwuchs nach
Elite und Masse durchsortiert wird, wissen, warum sie am Jahresende
anläßlich der Zeugnisvergabe pädagogische Seelsorge
anbieten und hoffen, daß sich keiner ihrer Schüler das Leben
nimmt, weil er sich "mit dem Zeugnis" nicht nach Hause traut.
Die Schüler selbst ergänzen diese Leistungskonkurrenz,
deren Zwecken sie sich unterwerfen müssen, deren Mittel -
dabei handelt es sich nicht um das Lernen, sondern das zensierte Lernen
- sie gar nicht in der Hand haben und deren Resultaten sie
ohnmächtig gegenüber stehen, um eine eigene, eben die
Anerkennungskonkurrenz. In der führen sie sich als die Herren
ihrer Konkurrenzmittel auf: Alle rohen Formen der Angeberei und des
Mobbing – geschlechtsspezifisch sortiert – stehen dabei
hoch im Kurs. Da wird geklaut und erpreßt, geschlagen und
ausgegrenzt, werden Schulen demoliert und Mutproben der brutalsten Art
abverlangt. Gelernt haben die Kids in der Schule, bei "Deutschland
sucht den Superstar" usw., daß der Mensch ohne
Selbstbewußtsein nichts ist, daß man also mit einer Portion
Selbstbewußtsein die Zumutungen von Schule, Familie und
Straße besser aushält – und nur deswegen ist das
psychologisierte Selbstbewußtsein zum Erziehungsziel
avanciert. Und das übersetzen sie sich in den Selbstbefund,
irgendwie "Superstar" zu sein, wenn nicht der "Deutschlands", dann doch
wenigstens der der Schule oder der Klasse. Der Anerkennungswahn, der
sich hier austobt, erweist sich als ein Psycho-Produkt von
Konkurrenzerfahrungen, das inzwischen das Privatleben derart
okkupiert hat, daß jede vernünftige Bilanzierung des
materiellen Gehalts einer individuellen Lebenslage nur allzu oft
überlagert wird von der Frage, wie viel Beifall man für neue
Klamotten, geschwollenen Bizeps, Sexual- und Saufleistungen, nebst
Frech- und Rohheiten aller Art von Mitmenschen erhält, die
denselben anerzogenen und inzwischen durchgesetzten geistigen
Deformationen anhängen. Wenn zudem heute Schüler mit 9
oder 10 Jahren ihre Schulhefte auf Lehrergeheiß mit dem Spruch
"Ich bin wertvoll!" zieren – das fällt unter
Ethik-Erziehung! - , dann darf man sich endgültig nicht wundern,
daß dabei der eine oder andere Robert S. oder Tim K. herauskommt.
Denn wo in Schule, Familie und Umfeld vermehrt Erfahrungen gemacht
werden, die diesen Spruch gerade nicht mit Material unterfüttern,
wenn Niederlagen dieser oder jener Art sich vielmehr zu Frust
verdichten, dann läßt er sich ebenso in die
selbstzerstörerische Frage: "Bin ich wirklich wertvoll?", wie auch
in den fremdzerstörerischen Beschluß: "Denen werde ich es
zeigen, daß ich wertvoll bin!", umsetzen. Es schließt eben
die radikalisierte Sorge um jenes Selbstbewußtsein, das sich nur
in Idealkonstruktionen von sich selbst herumtreibt und damit Abstand
von einer bewußten Bestandsaufnahme der tatsächlichen Lage
des "Selbst" Abstand nimmt, beide brutalen Verlaufsformen ein: die
Tötung und die Selbsttötung.
Aber es gibt noch den anderen Zusammenhang zwischen der angedeuteten
"Schulkultur" und den Befunden über die jüngsten
Amokläufe: Die Täter machen ihren "Frust" zur
Privatsache, der andere nicht nur nichts angeht, der sogar vor anderen
geheim gehalten werden muß. Auch das haben sie in der Schule
gelernt. Und nicht zuletzt deswegen ist Tim K. "unauffällig".
Schüler wissen, was geschehen kann, wenn sie ihre Schwächen,
Beschädigungen und jene Ohnmacht offenbaren, die ihre
tatsächliche Lage nun einmal kennzeichnen. Sie erfahren dann nur
allzu oft, daß ihnen all dies als ihre höchst
persönliche Eigenschaft um die Ohren und manchmal nicht nur um
diese geschlagen wird. Gelernt haben sie, daß jede zugegebene
Schwäche, jedes angezeigte Defizit in allen Konkurrenzlagen
– solchen, an denen die Existenz, und solchen, an denen das
Selbstbewußtsein hängt - von den Veranstalten der Konkurrenz
und von Mitkonkurrenten zum eigenen Vorteil ausgenutzt wird. Dann wird
man als Versager, Schwächling, als Loser, als Opfer einsortiert
und behandelt. So etwas darf nicht sein, weswegen die
Welt der Heranwachsenden nur aus "coolen Typen" besteht, die es
sich den psychologischen Selbstbetrug zur zweiten Natur werden lassen.
Als ohnmächtige Wichte, die sie sind und bleiben, ziehen sie dann
schon einmal aus der dauerhaft und quälend erfahrenen Ohnmacht den
ziemlich verkehrten Schluß, selbst einmal Macht, und
gelegentlich sogar Macht in seiner existenziellsten Form als Macht
über Leben und Tod auszuüben.
Die Amokläufer sind also keine defekten Monster, die ihre
Mordgelüste eine Zeit lang hinter der Fassade des
"unauffälligen, ruhigen Jungen" verstecken. Es handelt sich
vielmehr um aus dem Ruder gelaufene brave Lehrlinge eines
pädagogisch und politisch intendierten Curriculums, mit dem sie in
Schule und Gesellschaft von Kindesbeinen an traktiert werden.
(30.03.09)
Dokumentation aus der Süddeutschen Zeitung
vom 23.03.09
Literaturhinweis:
Freerk Huisken
Über die Unregierbarkeit des Schulvolks
Rütli-Schulen, Erfurt, Emsdetten usw.
erschienen 2007 im VSA-Verlag
EUR 12,80
ISBN 978-3-89965-210-9
Inhalt:
"Nicht beschulbar"
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Warum "Jugendgewalt" eine Ideologie ist
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"Killerspiele", was sie sind und als was sie gelten
Erfurt, Emsdetten… – der nächste Amoklauf kommt bestimmt
Über Konkurrenzverlierer und Selbstbewusstseinskult, über verletzte Ehre und demonstrative Rache
Debatte
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