Wiglaf Droste

Dokumentation des Beitrags für die junge welt (26.01.12)

--------------------------------------------------------------------------------

Abgeholt und mitgenommen
Wenn Politiker »die Menschen« entdecken



Man solle »die Sorgen und Nöte der Menschen ernst nehmen«, sagt ein Politiker und ergänzt eindringlich: »Wir müssen die Menschen abholen!« Einer seiner Kollegen nimmt den Faden auf und fordert: »Wir müssen die Menschen mitnehmen!«

Wenn man als einer von »den Menschen«, über die stets im Plural gesprochen wird, nicht weghört, kann man sich fragen: Wer sind eigentlich diejenigen, die sich immerzu »wir« nennen? Und wer sind »die Menschen«, von denen sie reden? Es muß sich jedenfalls um zwei verschiedene Gruppen handeln, zwischen denen es keine Verbindung gibt und von denen die erste aus aktiven und die zweite aus passiven Mitgliedern besteht. Die einen holen ab und nehmen mit, die anderen werden »die Menschen« genannt, abgeholt und mitgenommen. Sie sind Objekte und werden verwaltet. Aber haben sie darum überhaupt gebeten?

Wer über »die Menschen« spricht, legt damit nahe, daß er selbst etwas anderes ist. In dem kleinen Wort »die« liegt etwas Trennendes, Distanzierendes und auf Fremdheit Verweisendes. Auf der einen Seite steht das handelnde »Wir«, auf der anderen stehen nicht Menschen, sondern im Gegenteil eben »die Menschen«. Sie wurden auch schon »die Menschen draußen im Lande« genannt, was nicht ohne Rätselkraft ist: Wer »im Lande« ist, befindet sich drinnen und soll dennoch draußen sein? Und wo befindet sich derjenige, der alle anderen »draußen im Lande« wähnt? Drinnen vor der Tür?

Wer die Sprache der Politik ernst und für voll nimmt, kollidiert schnell mit der Logik, gewinnt aber Erkenntnis über das Selbstverständnis der Sprechenden. Die Mitglieder der »politische Klasse« genannten Kreise sind ohne jeden Zweifel davon überzeugt, daß ihnen Definitionsmacht und Handlungsmandat zustehen: Sie repräsentieren diejenigen, die sie wie mit einem Gummihandschuh über der Zunge als »die Menschen« bezeichnen, sie sprechen in ihrem Namen und agieren für sie.

Die Frage, ob sie dazu legitimiert worden sind, stellt sich ihnen nicht mehr; sie halten sich für gewohnheitsrechtlich ermächtigt. Wer bestimmt, was er mit »den Menschen« tun muß, ohne sie gefragt zu haben, ob ihnen das überhaupt recht ist, hat das Prinzip der Entmündigung anderer längst verinnerlicht, es ist ihm zur Selbstverständlichkeit geworden. Wer »die Menschen abholen« oder »mitnehmen« muß, als chauffiere er einen Schulbus, hat sich von denen, über und für die er spricht, ohne jemals mit ihnen zu sprechen oder ihnen zuzuhören, längst so weit entfernt, daß er weder sie noch den Vorgang des Sichentfernens überhaupt wahrnimmt.

Wenn einer über »die Menschen« spricht, weiß man, daß er mit realen Menschen keinen Kontakt hat, sondern nur mit seinesgleichen, mit denen er über andere bestimmt. Die Politiker- und Medienformulierung »die Menschen« meint eben nicht Menschen, sondern eine amorfe, mundlos dumpfe Masse. Der Versuch, mit Sprachmenschelei humanes Interesse zu simulieren, ist durchsichtig. »Die Menschen« ist reiner Verfügungsjargon; die Steigerung »die Menschen haben ein Recht darauf« legt sogar nahe, der Sprecher könne Rechte worauf auch immer gewähren oder entziehen. In der Formel von »den Menschen« offenbart sich ein Selbst-, Welt- und Menschenbild, das sich so teilnahmsvoll und egalitär gibt, wie es gleichgültig und hochmütig ist.