Ein Be- und Gedenkaufsatz von Sonja Krell, gewidmet dem guten Gewissen von verblödeten Untertanen hierzulande

Hunger im Kapitalismus — saublöd, aber wohl nicht zu ändern...

Sonja Krell ist bei unserer nur allzu gemeinen Heimatzeitung zuständig für die Kommentierung von Gedenktagen. Es ist ja keineswegs so, daß unsere wundervolle demokratisch-kapitalistische Gesellschaftsordnung die Augen vor den ruinösen Folgen ihrer Existenz verschlösse. Gerade ja deshalb, weil sie auf Schritt und Tritt dementiert, daß es sich um immanente Folgen ihres Systems handelt. Als »Schattenseiten«, als allzu menschliche »Unzulänglichkeiten« nimmt sie diese durchaus wahr. Ja, sie erinnert ausdrücklich daran. Wie zum Beispiel neulich, als des Welthungers einmal mehr bedenklicherweise zu gedenken war.
»Mal wieder!« Man hört heraus, wie lästig den Protagonisten einer an sich heilen Welt kapitalistischen Wohlstands dieses Thema ist. So auch bei Sonja Krell, die diesbezüglich zu einem wüsten, ja chaotischen brain storming anhebt:
 
"Manche Probleme erscheinen so übermächtig, daß man sich im Laufe der Zeit mit ihnen abfindet." (AZ, 16.10.12, im folgenden ihr Kommentar in belassener Reihung.)
Aber man kennt ja die Betreiber der Weltordnung und ihre Ansprüche, die geben sich nicht geschlagen! Dabei gibt es, so Sonja Krell, durchaus Erfolgsmeldungen an der Hungerfront von Staat und Kapital, wenn man bloß richtig rechnet:

"Für die Hilfsorganisationen ist es bereits eine gute Nachricht, daß die Zahl der Hungernden deutlich niedriger ist, als zuletzt geschätzt."
»Erfolg« für jene, die hoch genug schätzen, um dann überrascht sein zu können, daß »nur« 870 Millionen Menschen als chronisch unterernährt gelten. Dazu zählen all die nicht, die durchschnittlich aufs Jahr gerechnet mindestens 1 US-$ pro Tag zur Verfügung haben. Daß der Erfolg an der Hungerfront, der keiner ist, ein makabrer Einfall ist, entgeht auch keineswegs dem wägenden Blick der Journalistin:

"Tatsächlich aber sind die Zahlen alarmierend: 870 Millionen Menschen gelten derzeit als chronisch unterernährt, weltweit sterben jedes Jahr zweieinhalb Millionen Kinder an den Folgen. Der eigentliche Skandal aber ist, daß all diese Menschen nicht hungern müßten. Nach Berechnungen der Welternährungsorganisation ist genug für alle da: Die weltweit produzierten Lebensmittel reichen aus, um die gesamte Menschheit ernähren zu können."
Mit der Subsumtion des Hungers unter den Begriff »Skandal« wiederholt sie ihren Ausgangspunkt, dem zufolge zwar etwas gemacht werden müßte, aber praktisch nichts gemacht werden kann, sind die Lebensmittel doch nur dann Lebensmittel, wenn und nachdem sie sich als Geschäftsmittel bewährt haben. So wird der Hunger vorzugsweise zu einem Riesenproblem aufgeblasen:

"Hunger ist in erster Linie ein Verteilungsproblem. Während jeder Achte zu wenig zu essen hat, sind fast doppelt so viele Menschen übergewichtig. In den Entwicklungsländern geht etwa die Hälfte aller Nahrungsmittel nach der Ernte verloren, weil sie nicht gelagert werden können oder beim Transport verderben. In unserer Überflußgesellschaft dagegen sind die Kühlregale voll — und die Mülltonnen. In der EU landet die Hälfte aller Lebensmittel im Abfall."
Mit dieser moralischen Empörung ist eines immerhin geleistet, nämlich die Frage nach den Gründen des Hungers bzw. den Gründen seiner offenbar überhaupt nicht adäquaten Bekämpfung um die Ecke gebracht. Der Frage, ob die in den Drittweltstaaten produzierten Nahrungsmittel überhaupt für die einheimische Bevölkerung — angesichts deren Zahlungsunfähigkeit 
vorgesehen ist, wird der Lüge von der unzureichenden Lagerung gekonnt umschifft: Die Lebensmittel, die nach Westeuropa, Japan und in die USA exportiert werden, können doch auch adäquat gekühlt, gelagert und transportiert werden!

Daß es sich um eine Frage der Verfügung über Geldmittel handelt, fällt Sonja Krell in diesem Zusammenhang nicht ein, wohl aber eben dies als eine »weitere« Ursache für Hunger:
"Eine weitere Ursache für den Hunger sind die rapide gestiegenen Nahrungsmittelpreise. Getreide kostet heute drei Mal mehr als zu Beginn des Jahrtausends, Fleisch fast doppelt so viel. In Deutschland, wo im Schnitt elf Prozent des Einkommens für Essen ausgegeben werden, fällt das kaum ins Gewicht. In den Entwicklungsländern ist dagegen von einer Milliarde Menschen die Rede, die 75 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben müssen. Dort bedeutet Armut zwangsläufig Hunger."
Irgendetwas muß in den »Entwicklungsländern« also nicht so optimal laufen wie in der glorreichen und vorbildlichen BRD, wo sich die Bevölkerung dank ihrer gut gefüllten Geldbeutel ganz nebenbei ernähren kann, Armut in aller Regel nicht Hunger bedeutet. Natürlich will Sonja Krell mit dieser ihrer Feststellung nicht einem hochnäsig deutschen Rassismus die Türe öffnen. Vielmehr erschlägt die in dem Vergleich in Rechnung gestellte Quantität des Geldes zielstrebig dessen Qualität, also die Frage danach, wofür die Leute ein Einkommen beziehen. Sofern sie überhaupt eines beziehen, und insofern nicht, warum denn dann nicht. Damit ist also nicht weniger erschlagen als die ökonomische Abhängigkeit der einen von der anderen Welt!
Freilich will sich Sonja Krell das nicht so ohne weiteres nachsagen lassen, obwohl es ihrer eigenen Rede zu entnehmen ist: Sie plaudert munter weiter, eben diesen auf der Hand liegenden Einwand aufgreifend, ohne ihn als solchen zu (be)greifen:

"Steigende Preise verschlimmern diese Spirale: Wer zuvor kaum Geld für Essen hatte, ißt noch weniger oder spart an lebensnotwendigen Ausgaben für Medikamente und Schulbildung der Kinder. Verstärkt wird die Entwicklung durch massiv subventionierte Nahrungsexporte der Industrieländer, aber auch durch Dürren und Überschwemmungen. Mitschuld tragen aber auch Spekulanten, die auf steigende Nahrungspreise setzen und diese künstlich nach oben treiben. Daß Großbanken auf Kosten der Hungernden satte Gewinne machen, ist entsetzlich."

Es wird unerklärlicherweise also immer schlimmer! Es fehlt nicht nur an der Zahlungsfähigkeit der Hungerleider, nein, steigende Preise erledigen dieses »Problem« auf sehr unerfreuliche Weise zuungunsten der Hungerleider. Wogegen allerdings kein Kraut gewachsen ist, ebensowenig wie gegen Naturkatastrofen, die ja bekanntlich gerüttelt Anteil am herrschenden Elend haben und nie auf einen stinknormalen kapitalistischen Raubbau an der Natur zurückgehen.
Da fragt sich Sonja Krell schon, ob nicht irgendwelche bösen Kräfte sich verschwörend die Armut zunutze machen, ist sie doch allzu zäh: Offenbar glaubt sie den Spekulanten und den Großbanken nicht, daß deren Geschäfte, wie jene vorzugeben nicht müde werden, gerade deshalb nötig und zweckmäßig seien, um die Armut zu bekämpfen.
Und was die subventionierten Nahrungsmittelexporte anbelangt, ist ihr die Frage fremd, wie die ihre Abnehmer finden sollten, würden sie nicht subventioniert: Diese Nahrungsmittel würden erst gar nicht dorthin gelangen, wo sie so an den Mann gebracht werden sollen.
Und weil Sonja Krell schon so schön am Herumproblematisieren ist, fällt ihr noch was ein. Nicht, daß sie etwas gegen die nur allzu durchschaubaren Geschäftskalkulationen von Kapitalanlegern hätte, aber, daß weite Bereiche landwirtschaftlicher Bodennutzung gar nicht mehr der Nahrungsmittelproduktion dienen, findet sie einfach schrecklich:

"Zum Dritten ist Hunger aber auch ein Ressourcenproblem. Der Großteil des Getreides auf den Feldern wird nicht zu Nahrungsmitteln verarbeitet. 40 Prozent der US-Maismenge werden für Biosprit verwendet, ein Drittel der deutschen Maisernte landet in Biogasanlagen. Für die Versorgungslage hat das verheerende Konsequenzen — bedenkt man, daß die Anbauflächen weltweit zurückgehen."
Unangebracht wäre es allerdings, darob die Frage aufzuwerfen, warum denn die Anbauflächen zurückgehen und warum die verbliebenen nun verstärkt für andere Anbauzwecke verwendet werden.

Kurzum: "Die Ursachen des Hungers sind vielschichtig, der Kampf ist mühsam. Wer Fortschritte erzielen will, muß versuchen, Verteilungsgerechtigkeit herzustellen. Das bedeutet weniger, die Hungernden aus dem Ausland mit Geld zu versorgen, sondern gezielt in die regionale Landwirtschaft zu investieren. ..."
Die Rettung liegt eben — wie könnte es anders sein? –  beim Kapital und seinen lieben Investoren! Also glaubt sie ihnen allen Zweifeln zum Trotz doch!

So ein vielschichtiger Artikel Marke Sonja Krell ist ebenso mühsam wie die Herstellung von »Verteilungsgerechtigkeit«, der Leser merkt es. In seiner Mühseligkeit wird der Artikel dem als Problem vorstellig gemachten Thema vollauf gerecht.

(11.11.12)