Chen Dong Chun / ChinaLiebe Mitbürgerinnen und liebe Mitbürger,

wie in all den Jahren zuvor haben Sie es auch in dieser Weihnachtszeit nicht an mildtätigen Gaben fehlen lassen. Sicher haben sich auch diesmal wieder viele von Ihnen an die Millionen Hungernden erinnern und zur Spende bewegen lassen. Dafür möchte ich Ihnen an dieser Stelle mein herzliches Dankeschön sagen. Und da ich weiß, daß seit den unseligen Vorkommnissen in Wiesbaden ein Politiker-Wort nicht mehr viel gilt, will ich es nicht versäumen, Ihnen die Aufrichtigkeit meines Dankes zu erläutern. Sie werden fragen, warum ein Dank im Namen darbender Negerkinder mehr sein soll als eine leere Frase. Sie werden fragen, was wir Politiker davon haben. Ich verstehe Ihre Zweifel und will die Antwort nicht schuldig bleiben. Deshalb möchte ich Sie auf einen wichtigen Umstand aufmerksam machen: So sehr sich die verhungernden Menschen in Afrika und anderswo darüber freuen werden, durch ihre Spende sechs Wochen länger leben zu können, so wenig gilt meine Anerkennung allein dem gespendeten Geld, das ja, wie wir alle wissen, nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Viel begrüßenswerter scheint mir die Gesinnung zu sein, die Sie mit solchen Spenden an den Tag legen. Denn Ihre Großzügigkeit zeigt eines ganz unzweideutig: nämlich die unerschütterliche Gutgläubigkeit in unsere Selbstdarstellung, wir Politiker würden unser ganzes Streben und all unsere Macht auf den Kampf gegen den Hunger richten und dabei mit übermächtigen Schicksalsmächten ringen. Wer so denkt, kommt niemals auf die Idee, nach den wahren Gründen für Hunger und Elend zu fragen. Nein, Sie und ich wissen: der Geist wahrer Nächstenliebe ist demütig und bescheiden. Er will nichts wissen, sondern leistet seine Hilfe und schüttelt ansonsten den Kopf über Gottes unerforschlichen Ratschluß.
Damit bin ich auch schon bei dem zweiten Punkt, für den wir Politiker Ihnen Dank schulden. Wie Sie sich wahrscheinlich erinnern können, haben wir vor einigen Jahren eine großangelegte Kampagne unter dem Motto "Hilfe für Afrika" gestartet und dabei nicht zu knapp ihr Mitgefühl in Anspruch genommen. Unter Hinweis auf die zum Himmel schreiende Not, die unverzüglich gelindert werden müsse, haben wir damals die Erörterung der Gründe des Hungers auf später verschoben. Meine Kollegen und ich rechnen es Ihnen hoch an, daß diesbezügliche Nachfragen ausgeblieben sind. Wir haben uns also schon damals richtig verstanden, und das hat uns gezeigt, daß im Umgang mit Ihnen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, derartige Heucheleien überflüssig sind. Seien wir also ehrlich. Ihnen und uns, die wir auch in Zukunft helfen wollen, geht doch gar nichts ab, wenn die Ursachen für die weltweite Not unbekannt bleiben. Ja, mehr noch — es wäre sogar ausgesprochen schädlich für die weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen uns Politikern und Ihnen, den Bürgern, wenn sich herumsprechen würde, mit welchen Zwecken und Methoden unser geliebtes Gemeinwesen an der Herstellung und Beförderung des Hungers überall auf der Welt beteiligt ist. Nur deshalb versuchen schließlich die Feinde unserer harmonischen deutschen Volksgemeinschaft, die Kommunisten, diese Gründe publik zu machen. Unermüdlich weisen sie darauf hin, was unserer guter EURO anrichtet, wenn er einmal nicht als Spende, sondern in der üblichen Form als Kapital in alle Welt exportiert wird. Erst neulich mußte ich wieder in einem solch fürchterlichen Flugblatt folgendes lesen:

 »Wenn bundesdeutsche Firmenchefs, unterstützt von ihren Politikern, Geld exportieren, dann schenken sie den Empfängern gleich ein ganzes Produktionsverhältnis dazu. Sie schaffen Arbeitsplätze: Farmen und Betriebe, in denen selbst völlig ungeschulte Arbeitskräfte etwas gut Verkäufliches herstellen können. Das Problem, daß es in den "Entwicklungsländern" keine Kaufkraft für die hergestellten Güter gibt, sehen sie ein und lösen es auch. Sie selbst kaufen Zinn und Baumwolle, Rosen aus Äthiopien und Jutetaschen aus Bangla Desh. Das geht natürlich nur, wenn sie daraus in der Marktwirtschaft ein Geschäft machen können. Also setzen sie sich für den Exporterfolg der "Dritt-Welt-Länder" ein und sorgen an Ort und Stelle für konkurrenzfähige Produktionspreise. Für Löhne bleibt selbstverständlich wenig Spielraum. Für überkommene Formen der Selbsterhaltung bleibt neben der frisch eingeführten Geldwirtschaft erst recht kein Platz, immer mehr Leutebrauchen eine Lohnarbeit, die es für sie nicht gibt — also sind sie "zu viele". Überbevölkerung und Verarmung — das schafft neue Probleme — und schon wieder sind die Macher von Marktwirtschaft und Demokratie mit Rat und Hilfe zur Stelle. Mit der Schulung und Ausrüstung von Polizei- und anderen Staatsbeamten sorgen sie für bürgerliche Disziplin unter den Exoten. Gleichzeitig müssen sie aufpassen, daß die Verwalter der Staatsgewalt vor Ort nicht übermütig werden und über ihre Verhältnisse leben. Man gibt ihnen Geld, aber nicht geschenkt. Der Zwang zum Schuldendienst erzieht auswärtige Wirtschaftspolitiker zu Sparsamkeit und Vernunft. Für neuen Kredit bieten sie Land und Leute zu geschäftlicher Benutzung feil. Und wieder lassen Bankiers, Industrielle und staatliche Entwicklungshelfer in Berlin und anderswo sich rühren und nehmen hier eine Erzgrube, dort einen Großgrundbesitz, da den Aufbau einer Chemiefabrik ohne Giftfilter in Kauf, um dem Schuldnerland seine Zahlungsbilanz zu verbessern.
Und all das tun sie schon seit vier bis fünf Jahrzehnten; schon längst vor dem Aufschwung der mildtätigen Hungerhilfe sind "unsere" Geschäftsleute und Politiker aktiv geworden. Und sie lassen sich auch nicht täuschen, wenn es um den Hunger gerade mal wieder etwas stiller geworden ist. Sie sorgen dafür, auch ohne es an die große Glocke zu hängen.«

Nun frage ich Sie allen Ernstes: wem nützt ein solches Wissen? Unterstützt es die Spendenmoral? Keineswegs, ganz im Gegenteil. Befördert eine solche Analyse etwa die gute Meinung über das segensreiche Wirken unseres Geschäfts und unserer Politiker auf der Welt? Das ist nicht abzusehen. Nein, eine solche Meinung läßt den gebotenen Respekt vor den Interessen unserer Nation vermissen und muß deshalb als unsachlich zurückgewiesen werden. Ich will noch einen Schritt weitergehen: es muß dafür gesorgt werden, daß unser intaktes deutsches Nationalbewußtsein vor Anfechtungen dieser Art bewahrt bleibt.
Deshalb mein dringender Rat an Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger: Meiden Sie das Lesen von Flugblättern und Broschüren, die derart gefährliches Gedankengut enthalten können! Wenn Sie von entsprechenden Veranstaltungen hören, warnen Sie Nachbarn, Freunde und Verwandte! -
Ich danke Ihnen nochmals ganz, ganz herzlich für Ihr offenes Herz und ihre Spenden, denn mir ist wohl bewußt, daß auch für unser Land schon schwerere Zeiten angebrochen sind. Fröhliche Weihnachten!