Volksbeglückung als politisches Programm

Das (Staats-)Programm Volksbeglückung kommt am besten zum Tragen – und das scheint eine Erkenntnis neueren historischen Datums zu sein – wenn Staatseigentum und Privateigentum nebeneinander bestehen. Es kommt nicht von ungefähr, daß in den Zeiten zunehmender Privatisierung staatlicher Aufgaben viele, die nicht davon profitieren, dem Staat eine Rolle als Volksbeglücker zuschreiben, der dafür zu sorgen habe, für ein gewisses Gleichgewicht zu sorgen, ein Gleichgewicht zwischen Privat- und »Gemein«-interessen.

Der Gedanke, warum ein Staat bestimmte gesellschaftliche Bereiche einst der Privatwirtschaft entzogen hat und heute das nicht mehr einsieht, tun zu müssen, ja es geradezu als kontraproduktiv im ureigenen Staatsinteresse betrachtet, ein Gedanke dahingehend kommt bei den Leuten nicht auf, die auf einen gemeinwohlorientierten Staat setzen, als hätten sie je von einem solchen profitiert. Sicher, es mag sein, daß sich ihre Lage verändert hat, daß sie weniger Lohn erhalten, weil sie jetzt unter privater Regie arbeiten, mag sein, daß sie ganz wegrationalisiert worden sind. Doch gerade dann, wäre es doch viel naheliegender, sich zu fragen, was für eine Rationalität denn dann vorliegt. Stattdessen halten sie einen völlig unsachlichen Appell an den Staat selber vonnöten, als hätte sich in dessen Rationalität im Grunde gar nichts geändert, als sei das Geschehen seiner Fürsorge gleichsam aus der Hand geglitten.
Sie schreiben dem Staat allen Ernstes eine Funktion als Volksbeglücker zu, die er nie hatte. Aus gutem Grund beließ er ja sein Volk tagaus tagein in dieser Hinsicht im unklaren, nicht selten griff er auch zu handfesten Lügen (mitunter als »Wahllügen« verharmlost). Solche Leute sind so naiv und nehmen die staatliche Lüge, für ein »Gemeinwohl« zu sorgen, ernst, sehr ernst sogar.  Mitunter so ernst, daß sie meinen, eine neue Partei gründen zu müssen, weil die alten »versagt« hätten.

Jürgen Elsässer _ Iran Fakten Und wenn solche Leute über den nationalen Tellerrand mal hinausblicken, entdecken sie sogar Staaten, die Privateigentum verstaatlichen und sich tatsächlich als Volksbeglücker in Szene setzen. So zum Beispiel in Venezuela, wo Präsident Chávez der Privatwirtschaft einen mächtigen staatlichen Sektor gegenübergestellt hat. Da sind die Löhne zwar – wenn überhaupt – kaum höher als im privaten, aber immerhin staatlich garantiert. Da kann dann das Volk schön vergleichen: Staatliche Volksbeglückung für prima halten und die Privatwirtschaft mißbilligen, mißbilligen mit dem – hier moralisch gebrauchten – Begriff »Ausbeutung«, versehen mit einem Ausrufezeichen der Empörung.
Doch nicht nur Freunde der »Dritten Welt« entdecken dort ungeheuerliche Perspektiven – nicht zuletzt für ihre politischen Programme im Zentrum des Imperialismus. Dieses Modell hat auch Kuba nunmehr eingeleuchtet. Sowohl in ganz praktischer, staatsrentabler Hinsicht wie in der Hinsicht, das Volk von den segensreichen Leistungen eines sozialistischen Staates noch viel besser zu überzeugen als bisher. [Zu diesem wichtigen Thema siehe den Kuba-Artikel in GegenStandpunkt 1-2012!]
Wie in dem Artikel sei hier nochmal betont, daß Kuba sein Reformprogramm nicht als einen Weg in den Status eines »Dritt-Welt-Staates« auffaßt, daß es damit – allen Dementis zum Trotz – eine Axt an den Staat der Volksbeglückung gelegt hat. Der Begriff von Volksbeglückung (man kann auch »Sozialismus« dazu sagen) ist allerdings dehnbar. Schon dies spräche für etwas anderes, als dieses Verhältnis einfach neu zu interpretieren. Es spräche tatsächlich für die Auflösung des Gegensatzes von Volk und Herrschaft, es spräche für eine Kritik der (selbsternannten) Volksbeglücker im Staatsinteressse, gleichgültig wieviele Untertanen ihnen zujubeln und wieviele nicht. Es spräche auch für eine Ökonomie weder nach Staatsdirektiven noch nach Kapitalverwertungszielen. Um das aus beiden gezogene Abstraktum einer »Produktivität« schlechthin geht es sowieso nie.

Von den imperialistischen Staaten wird Kubas neue Politik als allenfalls halbe Sache auf einem Weg hin zur Freiheit des Kapitals genommen. Umgekehrt befürchten sie in Venezuela unter der Regie von Chávez ein Umlenken in die Unfreiheit. Anhänger volksbeglückender Staaten dagegen erscheint der Ex-Putschist und Volkstribun in Caracas als Hoffnungsträger, der mutig dem Kapital die Stirn bietet. Es ist keine Frage, daß man auch so sein Volk in die Pflicht nehmen kann, in die Pflicht, einen nationalen Aufbruch zu schaffen, der in der Tat in einem »Dritt-Welt-Staat« auch nicht viel anders hinzukriegen ist. Und wahrscheinlich muß man in die Volksrepublik China schauen, um das Vorbild für eine solche Politik schlechterdings zu finden. Doch gerade an diesem Fall sieht man sehr schön, daß die Inpflichtnahme immer beide Seiten hat, die private und die staatliche.  Und daß es auf ein gewisses »Gleichgewicht« anzukommen scheint, wenn man es mit der staatlichen Volksbeglückungspolitik ernst meint. Ansonsten kommt es zu unrühmlichen »Auswüchsen«. Auf der einen Seite kann man diesbezüglich nämlich die staatliche »Bürokratisierung« geißeln, auf der anderen Seite die »Ausbeutung«, womit nicht etwa der Marxsche Sachverhalt des Arbeiterlohnes – der seinem Begriff nach immer unter dem Wert der geleisteten Arbeit liegt, weil der Arbeiter aufgrund seiner Armut erpreßbar ist und nur so seine Arbeitskraft rentabel angewandt werden kann – gemeint ist, sondern ein unterdurchschnittlicher Lohn, ja oftmals ein Lohn, der zur eigenen Reproduktion nicht wirklich ausreicht.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Kritiken – am Staat einerseits und an der Privatwirtschaft andrerseits – ihre Konjunkturen haben. Ja, daß sie sich wechselseitig reflektieren. Ja, Staaten versuchen sich durch eine diesbezügliche (partielle) Änderung ihrer Staatsräson einen Vorteil in der zwischenstaatlichen Konkurrenz zu verschaffen. Doch gerade diese Tatsache macht eines deutlich, daß das, was einmal als revolutionäre Perspektive in der »Dritten Welt« eine Einkreisung der imperialistischen Staaten versprach, aufs brutalste gescheitert ist. Man braucht gar nicht daran zu erinnern, daß ein Chávez lieber mit dem Präsidenten Kolumbiens auf Du & Du steht, als dessen Regime als vom Imperialismus gestützt einen unnachgiebigen Vernichtungskrieg gegen Aufständische führend zu geißeln. Es wäre in der Tat grotesk einem so ambitionierten Staatsmann wie Chávez schmählichen Verrat an ELN und FARC vorzuwerfen. Das unterlassen selbstverständlich auch Raúl und Fidel Castro.

Gänzlich absurd ist, wenn hierzulande irgendwelche Linke Hoffnungen auf aufstrebende, weil (inter)national bewußte und volksbeglückend auftretende Staaten in Lateinamerika setzen. Vor allem: Damit eine politische Kritik durch einen Hinweis auf die Vorbildfunktion, die sie jenen Lateinamerika-Sozialismen zuerkennen, ersetzen. Das ist nichts anderes als Solidarität mit dem eigenen – im Grunde perspektivlosen – Bild von der Welt. Mit Gewalt, mit Staatsgewalt soll diesem Bild eine Perspektive verschafft werden. Traurig, aber wahr. Nicht traurig, wenn solche Linke darüber einpacken (können).

[Abbildung: Jürgen Elsässer ist einer der unermüdlichsten Propagandisten volksfreundlicher Herrschaft: Hier die Abbildung seines Buches über den Iran, in dem er die 30-Stunden-Woche und den 6-Stunden-Tag der Islamischen Republik preist, einen ganz ohne den Begriff Sozialismus verdammt volksfreundlichen Staat also verteidigt. Ahmedinedschad durfte er gar höchstpersönlich die Hand schütteln!]

(19.05.12)