Vietnam 32 Jahre nach dem Abzug der US-Truppen
Seit
Saigon in Ho-Chi-Minh-Stadt umbenannt wurde, ist die Metropole zum
Motor der vietnamesischen Wirtschaft geworden. Die Stadtautobahnen
werden derzeit vierspurig ausgebaut, der Mekong untertunnelt. Die
ersten U-Bahnlinien befinden sich in Planung; und in Long Thanh
soll an der Straße zum Badeort Vung Tàu dem früheren
Cap Saint-Jacques, ein neuer Flughafen entstehen.
Auch rundum das bunte und lebendige Hanoi entsteht ein ganzer Gürtel von Satellitenstädten.
Seit im
vorigen Dezember die Mekongbrücke nahe Savannakhet eingeweiht
wurde, sind die Voraussetzungen geschaffen, um das herrlich gelegene Da
Nang mit seinem Hafen zur Drehscheibe für den Handel ins
südliche Laos und nordöstliche Thailand zu machen. Es
könnte eine Alternative zum überlasteten Flußhafen
von Bangkok werden.
Seit der
Jahrtausendwende brummt die vietnamesische Wirtschaft wie keine andere
in Südostasien. Bis 2004 lag das jährliche
Wirtschaftswachstum bei 7 Prozent, seitdem stieg es auf knapp
über 8 Prozent. Vietnam ist nach Thailand der
zweitgrößte Reisexporteur der Welt, beim Kaffee macht
es Brasilien die Spitzenstellung streitig.
Die
Auslandsdirektinvestitionen wuchsen im Jahr 2006 um 50 Prozent auf
über 7 Milliarden Euro. Nach einer Umfrage des Asia Business
Council vom November 2006 planen 38 Prozent der befragten
multinationalen Konzerne Investitionen in Vietnam. Damit liegt das
südostasiatische Land hinter China (85 Prozent) und
Indien (51 Prozent), aber noch vor den Vereinigten Staaten (36 Prozent)
auf Platz 3 der Weltrangliste. Die vietnamesische Diaspora, die ein
immenses Reservoir an Know-how und Kapital repräsentiert, ist bei
den Behörden neuerdings besser gelitten. Die Kinder der Boat
People der 1970er Jahre schaffen heute wichtige Verbindungen zum Ausland
und pumpen erhebliche Summen in die nationale Wirtschaft (voriges Jahr
über 3 Milliarden Euro). Die Entwicklung wird auch von den
internationalen Geldgebern gefördert: 3,42 Milliarden Euro haben
sie für 2007 an Investitionen geplant, 20 Prozent mehr als im
Vorjahr. An der Spitze liegt dabei die asiatische Entwicklungsbank mit
knapp 900 Millionen Euro, gefolgt von der Europäischen Union mit
730 Millionen Euro sowie Japan und der Weltbank mit jeweils
684 Millionen Euro.
Anfang
der 1990er Jahre weckte Vietnam schon einmal die Begehrlichkeiten
des Auslands. Die Öffnung für Auslandsinvestitionen und
Tourismus war aber noch so neu, der kommunistische Apparat zögerte
noch so sehr, daß das Interesse bald wieder nachließ. Es
war noch zu früh nach einem halben Jahrhundert Krieg. Erst 1989
hatte Hanoi seine Truppen aus Kambodscha zurückgezogen; erst ein
Jahr später endeten die gelegentlichen Scharmützel an
der Grenze zu China. Die letzten Kriegsgefangenen des 1975 besiegten
Saigoner Regimes wurden erst 1990 freigelassen.
Als
Vietnam im Oktober 1991 in Paris mit China ein Friedensabkommen
über Kambodscha unterzeichnete, steckte der
Normalisierungsprozeß zwischen beiden Ländern erst in den
Anfängen. Chinas Führung war verstimmt, weil der kleine
Nachbar im Süden ihr zwanzig Jahre lang getrotzt hatte, und wollte
die Bedingungen diktieren. Die Kommunistische Partei Vietnams (KPV) wiederum mußte hinnehmen, daß das von den USA verhängte
Wirtschaftsembargo bis 1994 dauerte und daß ihr wichtigster
Verbündeter, die Sowjetunion, zerfiel. Doch dann begann die
regionale Integration des Landes: 1995 wurde Vietnam in die
Vereinigung südostasiatischer Nationen (ASEAN) aufgenommen,
die kurz zuvor noch als Erzfeind gegolten hatte. Im selben Jahr nahm
das Land diplomatische Beziehungen zu Washington auf.
2006
kündigte der US-Konzern Intel an, 800 Millionen Euro in den Bau
einer Halbleiterfabrik zu investieren. Als Produktionsstandort
wählte Intel einen Technologiepark in der Nähe von
Ho-Chi-Minh-Stadt. Dort sollen 4000 Arbeitsplätze
entstehen, doch wird mit einem erheblichen Multiplikatoreffekt
gerechnet, weil sich darum herum dutzende von Subunternehmen,
Zuliefererbetrieben und Forschungsinstitute ansiedeln werden.
Als Bill
Gates im April 2006 für einen Tag in Hanoi Station machte, wurde
er von Studenten bestürmt. Auch die vietnamesische Führung,
die gerade den 10. Parteitag der KPV abhielt, bestand auf einem
Treffen mit dem Microsoft-Chef. Der riet ihnen, sich nicht mit der
Chipherstellung zu begnügen, sondern in das Geschäft mit
Software und IT-Dienstleistungen einzusteigen.
Bereits
2005 war der Umsatz des Software-Sektors um 40 Prozent gewachsen und
beschäftigte 15000 Arbeitskräfte. Vincent Kapa, Chef der 2001
gegründeten Firma Synexer, gehört zu den Pionieren der
vietnamesischen Software-Branche. Schon damals träumte er davon,
es mit der indischen IT-Metropole Bangelore aufzunehmen. Heute ist der
Traum längst Realität. Vietnam könnte in wenigen Jahren
die Filippinen, Thailand und sogar Malaysia überrunden.
Taiwan und Japan wollen aus politischen Gründen nicht
ausschließlich in China investieren. Und Vietnam hat weitere
Verteile zu bieten: Die Bevölkerung ist sehr jung und, obwohl nur
10 Prozent der Sekundarstufenabgänger ein Universitätsstudium
beginnen, soll der Mathematikunterricht besser sein als in Thailand, wo
40 Prozent auf die Universität wechseln.
Mit
über 14 Millionen Surfern nutzten im Dezember 2006 17,5 Prozent
der vietnamesischen Bevölkerung regelmäßig das
Internet; im September 2005 waren es erst 8 Millionen. Einen eigenen Internetanschluß besitzen inzwischen rund 4 Millionen Vietnamesen.
Ein
Pilotprojekt will den ländlichen Raum über Telezentren ans
Netz anschließen. Da der Aufschwung im Land erst mit einiger
Verspätung begann, hat die Mobiltelefonie Modernisierung und
Ausbau des Festnetzes überflüssig gemacht. Die Zahl der
Handys verdoppelt sich alle zwei Jahre. Im Juli 2006 telefonierten
bereits 18,5 Prozent aller Vietnamesen mobil.
Nike,
Canon, Alcatel, Fujitsu, Siemens und andere Konzerne lassen sich
in Vietnam nieder oder erweitern ihre Operationen ganz erheblich. Auch
wenn Vietnam in Sachen Korruptionsbekämpfüng, lnfrastruktur
und Bankenwesen einigen Nachholbedarf hat, scheinen die Investoren
vor allem Vorteile zu sehen: Das Land hat ein niedriges
Lohnniveau, die Arbeitskräfte lassen sich leicht anlernen,
und die Bürokratie wird trotz autokratischer Altlasten
auch neuen Aufgaben gerecht, sobald die Politik klare vorgaben
macht.
Das
starke Wachstum muß freilich nicht von Dauer sein. "Wenn so viel
Geld aus dem Ausland nach Vietnam strömt, muß der Staat noch
sorgfältiger überlegen, welche Investitionen er wirklich
wünscht", meint Kongkiat Oposwongkarn, Chef der Asia Plus Securities. "Auch für ein schnell wachsendes Land kann es
böse Überraschungen geben", verweist er auf die
Schwierigkeiten, die Thailand neuerdings hat.
Obwohl
Vietnam nun schon seit einigen Jahren boomt, wurde dies erst am 7.
November 2006 allgemein bewußt, als nämlich Vietnam in die
Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen wurde. Mitte November
richtete das Land den Asien-Pazifik-Gipfel aus, zu dem alle
Staats- und Regierungschefs der Region anreisten, mit hunderten von
Journalisten im Schlepptau. Und kurz darauf votierte der
US-Kongreß für "normale und ständige
Handelsbeziehungen" zu Vietnam. Unternehmen aus den USA nutzten
George W. Bushs Vietnambesuch und brachten Aufträge in
Höhe von insgesamt 1,5 Milliarden Dollar nach Hause, vor allem
für den Bau von Elektrizitätswerken, die Ho-Chi-Minh-Stadt
und Umgebung mit Strom versorgen sollen.
Das
vietnamesische Regime wird immer weniger von alten Kämpfern
bestimmt, die ihre Legitimität aus den Siegen von einst
beziehen. Die KPV besitzt zwar nach wie vor das politische
Machtmonopol, aber die Partei hat beschlossen, neben Arbeitern,
Bauern und Intellektuellen auch Kapitalisten in die Partei
aufzunehmen. Die Diktatur des Proletariats ist nach wie vor in der
Präambel der Verfassung verankert. Aber marktwirtschaftliche
Prinzipien gewinnen immer mehr an Boden. Die allermeisten
Arbeitsplätze entstehen mittlerweile im Privatsektor.
Die KPV
versucht neue Legitimität zu gewinnen, indem sie sich als
treibende Kraft der wirtschaftlichen Entwicklung profiliert. Die hart,
aber geschickt geführten WTO-Beitrittsverhandlungen
stärkten ihre Glaubwürdigkeit. Im übrigen weisen
ausländische Investoren darauf hin, daß man, um einen
Stromanschluß zu bekommen, in Vietnam durchschnittlich 17
Tage warten muß, in Thailand hingegen 23 Tage. Bei einem
Telefonanschluß dauert es in Vietnam 9 und in Thailand 15 Tage.
De facto
paßt sich der kommunistische Apparat pragmatisch an den
wirtschaftlichen Wandel an. Schon lange haben sich die
Funktionäre damit abgefunden, daß sich das ehemalige
Saigon samt den 13 umliegenden Provinzen zum Zentrum der
vietnamesischen Wirtschaft entwickelt Der Generationenwechsel
erleichtert den Wandel. Viele Vietnamesen aus kommunistischen
Familien stehen heute mit mindestens einem Bein im
Geschäftsleben, sind in der Baubranche oder in der
Entwicklungsplanung tätig. Von denen, die heute um die
fünfzig sind, haben viele an westlichen Universitäten
studiert.
Die KPV
entwickelt also ziemlich rasch einen modernen Regierungsstil, doch
ebenso rapide nehmen die Probleme zu. Vor allem die wachsende
Korruption in den eigenen Reihen bereitet Kopfzerbrechen. Manche
Skandale waren nicht zu verheimlichen. Anfang 2006 ging durch die
Medien, daß die Abteilung PMU-18 des Transportministeriums
öffentliche Gelder veruntreut hat. Die kommunistische
Parteiführung mußte Sanktionen verhängen. Es ging um
erkaufte Protektion bis in die höchsten Staatsämter und einen
luxuriösen, ja ausschweifenden Lebensstil. Die Affäre
erregte genug Aufsehen, um noch einmal den legendären General Vo
Nguyen Giap zu mobilisieren. In einem offenen Brief an die Partei
meinte der Sieger von Dien Bien Phu (1954) und Saigon (1975), die
Partei sei "zu einem Schutzschild für korrupte Beamte
geworden."
Seit dem
Tod des langjährigen KP-Chefs Le Duan 1986 wird die Partei von
einer Troika geleitet, deren Mitglieder eine lange Parteikarriere
vorweisen mußten, bevor sie an die Macht gelangten. Ein
Novum brachte der 10. Parteitag, auf dem man dem scheidenden
Generalsekretär Nong Due Manh zwei Neulinge an die Seite
stellte: Staatschef Trinh Minh Triet und Ministerpräsident Nguyen
Tan Dung. Damit sitzen nun zwei "Südstaatler" - Triet und Dung -
an der Seite eines "Nordstaatlers". Für eine Bewertung
dieser ungewöhnlichen Konstellation - bislang saß in der
Troika jeweils ein Vertreter des Südens, einer des Zentrums
und einer des Nordens - ist es freilich noch zu früh. Weniger
Beachtung fand, daß Armee und Sicherheitsdienste ihre
Stellung im Apparat ausbauen konnten - wohl für alle
Fälle.
Der
Wandel zeigt sich auch an der regen Literaturszene. Vor einigen Jahren
brach eine neue Schriftstellergeneration, darunter viele alte
Kämpfer und KP-Mitglieder, mit der bisherigen, in der Tradition
des sozialistischen Realismus stehenden Literatur. Nguyen Huy
Thiep, Duong Thu Huong, Bao Ninh, Pham Thi Hoai räumten mit einem
Mythos auf - und der zugehörigen Heuchelei: Vietnam hatte
eine Umwälzung erlebt, aber keine Revolution. Auf die neuen
Literaten, die auch Gesellschaftsreportagen verfassen, wußten die
staatstreuen Schreiberlinge nur mit Zensur und Geschichtsklitterung zu
antworten, vor allem in den Geschichtsbüchern für den
Schulunterricht. Doch diese Rückzugsgefechte werden mit
nachlassender Leidenschaft geführt.
Vor
einigen Jahren erschien im Verlag Thanh Nhien (Die Jugend) die
"Erzählung des Jahres 2000". Darin berichtet der Autor
über die harten Haftbedingungen, die er dreißig Jahre
zuvor im Rahmen einer Kampagne gegen die „Revisionisten"
erdulden hatte. Das Buch zirkulierte schon im ganzen Lande, bevor
es wenige Wochen nach Erscheinen vom Staat verboten wurde. Im
Gegensatz zu früher schlägt die Zensur also erst im
nachhinein zu. Jetzt haben die Verleger zu entscheiden, ob ein Buch in
den Handel kommt, riskieren dabei allerdings, daß derStaat es
wieder aus dem Verkehr zieht.
Seit der
Jahrtausendwende hat eine neue Autorengeneration das Ruder
übernommen. Diese jungen Leute kommen von überall her, auch
aus dem Ausland. In Saigon bilden sie kleine Gruppen. Die "Antipoeten"
gründeten "Mo Mieng" (Mund auf), die Poetinnen die Gruppe
"Gottesanbeterinnen" - nach der Insektenart, deren Weibchen nach dem
Geschlechtsakt die Männchen fressen. Die junge Literatur
richtet sich wieder mehr aufs Private und tritt zugleich weltoffen und
traditionsbewußt auf.
Die
Kulturpolizei überwacht diese tastenden Versuche abseits
ausgetretener Wege mit Argusaugen. "Zen ist kein
Nudelfertiggericht", erwidert Ly Doi, der Sprecher für Mo Mieng. "Vertikal gegen Horizontal: Die Losungen kommen nicht mehr
von oben", erklärt sein Mitstreiter, der Maler Nhu Huy.
Vietnam
ist seit Jahren in Aufbruchstimmung. Die KP arrangiert sich mit
dem Wandel, nimmt aber alles, was nur im Entferntesten nach politischer
Dissidenz aussieht, an die kurze Leine. Noch gibt es in Vietnam
eine Menge wirtschaftliche und politische Engpässe.
Das Land
hat noch einen weiten Weg vor sich. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich
seit 1990 zwar verdreifacht, lag 2006 aber erst bei 550 Euro im Jahr.
Bis 2010 soll es auf 850 Euro anwachsen. Doch bei alledem darf man nie
vergessen, daß das Land noch nicht einmal seit zwei
Jahrzehnten im Frieden lebt.
Jean-Claude Pomonti
le monde diplomatique 2/2007