Ein Beitrag zur Kritik der bürgerlichen Wissenschaft

GEFÜHL  &  VERSTAND

Daß diese beiden einen Gegensatz bilden, gilt im Reich der Wissenschaft als ausgemacht. Ebenso, daß jeder dieser beiden Pole vom Standpunkt des jeweils anderen sein Plus und Minus verdient hat. So darf bei "Gefühl" in Abgrenzung zur "kalten Intelligenz", die sich manches Zerstörungswerk nachsagen lassen, alles Gute assoziiert werden: Von "echt" über "unmittelbar" bis "harmoniestiftend" reichen die dem Gefühl zugesprochenen Attribute, und ein ganzes Geschlecht rühmt sich, diese Vorzüge des Fühlens so ziemlich gepachtet zu haben. Sogar in den Rang eines unwidersprechlichen Arguments hat man das Gefühl erhoben: "Ich empfinde es eben so!"

Solcher Mißbrauch des Gefühls als Argumentersatz leuchtet genau denselben Leuten schwer ein, die andererseits dem Gefühl den harschen Vorwurf fehlender Vernunft zu machen verstehen. Da fängt man sich schon mal leicht den Vorwurf der weltfremden Gefühlsduselei oder auf Lateinisch: emotionaler Argumentation ein, wenn man sich über eine Unschönheit der bürgerlichen Welt empört. So jemand muß sich dann sagen lassen, daß er es an der nötigen "vernünftigen" Distanz fehlen lasse, die dann nicht kalte Intelligenz heißt.
Offenbar denken bürgerliche Geister eben bei Gefühl und Verstand immer nur an das Eine: Die Anpassung an die bürgerlichen Realitäten wird einem Willen abverlangt, wann immer er in dem Verdacht steht, sich der Abweichung schuldig zu machen. Und diese klagen solche Leute an, wenn sie einmal gefühlskalte Intelligenz, das andere Mal unvernünftige Gefühlsduselei monieren. Die Fähigkeit, Fühlen und Nachdenken, diese unterschiedlichen Formen der Willensbetätigung, richtig zu unterscheiden, leidet unter dieser Parteilichkeit allerdings ein wenig.

Vom Fühlen und Denken
Im Gefühl mißt das Individuum die Lage, in der es sich befindet, an seinem Bedürfnis und empfindet die Übereinstimmung oder Differenz von seinsollendem und vorliegendem Zustand als angenehm oder unangenehm:
"Der fühlende Wille ist daher das Vergleichen seines von außen kommenden, unmittelbaren Bestimmtseins mit dem durch seine eigene Natur gesetzten Bestimmtsein. Da das letztere die Bedeutung dessen hat, was sein soll, so macht der Wille an die Affektion diese Forderung, mit jenem übereinzustimmen. Diese Übereinstimmung ist das Angenehme, die Nichtübereinstimmung das Unangenehme."
(Hegel, Enz. III § 472, Hervorhebungen im Original)

Die besonderen Arten des Gefühls – Freude, Furcht, Ärger, Trauer, Zuneigung, Scham etc. – ergeben sich daher aus den beiden Seiten des Vergleichs; dem, was sich das Individuum als erwünschte Lage vorgenommen hat einerseits und der der Bewertung der vorfindlichen Situation andererseits. Furcht, "das Gefühl meines Selbstes und zugleich eines mein Selbstgefühl bedrohenden Übels" (ebd.), empfindet nur, wer seine Lage als gefährlich einschätzt, statt sich in Sicherheit zu wiegen.  In der Scham z.B. empfindet der Mensch die Abweichung seines Tuns von einer von ihm gebilligten Pflicht, was ein mit moralischen Maßstäben ausgestattetes Individuum voraussetzt. Der Maßstab, an dem das Subjekt die Welt im Fühlen mißt, ist dabei ebensowenig Gegenstand der Reflexion wie die Beurteilung der Situation. Beides ist vorausgesetzt. Dabei können ganz zufällig gewählte Gesichtspunkte, die keinem Argument je standhalten würden, ebenso zur Anwendung kommen wie andere, denen ein fertiges Weltbild zugrunde liegt.
Wer am Montagmorgen gerademal die richtige Konsistenz seines Frühstückseies zum Dreh- und Angelpunkt seines Lebensgefühls erkoren hat, dem mag ein zu hart gekochtes Ei die Laune für den Tag verderben. Wer bei der Nationalhymne von einem wohligen Schauer ergriffen wird, der hat schon mehr mit sich angestellt, als sich den Zufälligkeiten von Launen hinzugeben. Der muß schon das Urteil über seine Nation im Hirn haben, er sei in ihr bestens aufgehoben. Und Ärger über den Militarismus von George W. Bush wird nur derjenige empfunden haben, der eine Kritik an diesem Erfolgsweg der amerikanischen Weltherrschaft hatte.
Das Individuum bringt also u. a. die Quintessenz seiner Einsichten über die Welt als Maßstab des Fühlens zur Anwendung, ohne sich die Gründe dafür jeweils neu vorlegen zu müssen. Ihm ist z.B. seine Stellung zum Führer der amerikanischen Weltmacht gewiß, und der Ärger stellt sich deshalb automatisch ein, ohne daß es sich seine Einwände gegen diesen Entscheidungsträger in Erinnerung rufen müßte. Daher können sich Gefühlsurteile auch von Verstandesurteilen trennen. Die neu gewonnene Einsicht, daß Eifersucht ein Fehler ist, fällt nicht zusammen mit der Korrektur des gewohnheitsmäßig und selbstverständlich im Gefühlsurteil angelegten Maßstabs, so daß man in diesem Fall nicht umhinkommt, sich zu kritisieren, wenn man sich im alten Fahrwasser ertappt.
Im praktischen Gefühl liegt ein Widerspruch, welcher seine vernünftige Auflösung im Übergang zum Verstandesurteil findet: Der Vergleich von sich mit der Welt wird vom Individuum angestellt, weil es die praktische Übereinstimmung seiner objektiven Lage mit seinen Interessen will. Zugleich verhält es sich im Fühlen passiv. Es läßt sich von einer ihm vorausgesetzten Realität beeindrucken. Wer sich über etwas ärgert, wird es daher rationellerweise nicht beim Ärgern, dem Konstatieren von Abweichung belassen, sondern darauf sinnen, den Grund seines Ärgers zu beseitigen.
"Im praktischen Gefühl ist es zufällig, ob die unmittelbare Affektion mit der inneren Bestimmtheit des Willens übereinstimmt oder nicht. Diese Zufälligkeit, dieses Abhängigsein von der äußeren Realität, widerspricht dem sich als das An-und-fürsich Bestimmte erkennenden, die Objektivität in seiner Subjektivität enthalten wissenden Willen. Dieser kann deshalb nicht dabei stehenbleiben, seine immanente Bestimmtheit mit dem Äußerlichen zu vergleichen und die Übereinstimmung dieser beiden Seiten zu finden, sondern er muß dazu fortschreiten, die Objektivität als ein Moment seiner Selbstbestimmung zu setzten, jene Übereinstimmung, seine Befriedigung also selber hervorzubringen." (ebd. §473)
Wer es darauf abgesehen hat, seine Lebensumstände seinen Interessen gemäß zu machen, sollte sich dabei allerdings nicht von seinem Gefühl leiten lassen. Wenn nämlich die richtige Abhilfe gefragt ist, dann bedarf das der Loslösung von der Befangenheit im vergleichenden Urteil zugunsten einer objektiven Prüfung der beiden Seiten des Vergleichs. Zur Klärung der Frage, warum ein ärgerlicher Zustand herrscht, damit man weiß, wo der Hebel der Änderung anzusetzen ist, trägt das Gefühlsurteil, daß er vom Ideal abweicht, wenig bei. Wer Angst hat, seine Bremsen könnten versagen, der sollte sich weder der Empfehlung der Psychologie anschließen, seine Angst in gruppendynamischen Sitzungen zu bearbeiten, noch sollte er die psychologische Lüge glauben, Angst sein ein Mechanismus, der zu sinnvollem Fluchtverhalten führe. Vielmehr empfiehlt es sich, seinen Verstand zu gebrauchen und die nächste Werkstatt anzulaufen. Wenn es darum geht, den Grund der Angst zu beheben, ist Angst wirklich der schlechteste Ratgeber.

Die bürgerliche Ideologie: Gefühl gut – Verstand schlecht
Die bürgerliche Manier, Gefühl und Verstand nicht zu unterscheiden, sondern mit moralischenPlus- und Minuspunkten zu versehen, will dem Fühlen das Lob zuteil werden lassen, hier herrsche keine "Zweckrationalität". Fühlen bürge daher im Gegensatz zum Verstand für "liebende Hingabe", Harmonie und wie die Attribute alle heißen. Diese Übersetzung hat zwar die Wahrheit nicht auf ihrer Seite, denn Zweckfreiheit kennzeichnet ein fühlendes Individuum sicher nicht; und wer einmal einen Wutausbruch erlebt hat, mag auch die harmoniestiftende Qualität des Gefühlslebens bezweifeln. Aber dieses falsche Lob der Emotion plaudert immerhin aus, welches Moment bürgerlichen Ideologen am Fühlen so gut gefällt: Daß der Mensch sich im Gefühl nicht theoretisch zum Herrn der ihn umgebenden Lebensumstände macht, das hat es ihnen angetan. So sehr, daß sie diese negative Bestimmung, Fühlen sei nicht Begreifen und Bestimmen der Welt, zur Eigenart des Gefühls machen. Im Willen zum Begreifen der Realität vermuten sie nämlich die Absicht, sie nach eigenem Bilde zu formen. Und in dieser menschlichen Schwäche, auch Egoismus genannt, liegt bekanntlich die Quelle aller Übel, vom Krieg bis zur Atomkraft. Dabei muß man nur die kleine Verwechslung unterschreiben, alles Mißliebige auf der Welt verdanke sich der Tatsache, daß "der Mensch" sich "die Schöpfung untertan" machen will und nicht etwa dem Inhalt der in dieser Republik qua Gewalt verbindlich gemachten Ziele von Kapital und Staat.

... und umgekehrt
Nichts belegt schöner, welcher Standpunkt dem Gefühl solche Ehren eingebracht hat, als das perfide Lob des Verstandes, das aus derselben Quelle stammt: Die Aufforderung "Sei doch vernünftig!" und "Reagier doch nicht so emotional!" ist nicht mißzuverstehen als Aufruf, für die eigene Sache Vernunft zu bemühen.
Hier handelt es sich um einen Ordnungsruf, der dann ergeht, wenn jemand in den Verdacht gerät, sein Interesse zum Maß der Dinge zu erheben, statt die "Vernunft" der Anpassung an das Vorhandene zur Richtschnur seines Treibens zu machen. Dieser Vorwurf, "bloß emotional" zu sein, wendet sich daher auch gegen Äußerungen, die sich ganz auf dem Feld des Argumentierens bewegen.
Daß "Angst ein schlechter Ratgeber ist", diese Kritik haben sich zu Nachrüstungszeiten Friedensbewegte eingefangen, die Einwände gegen diesen Aufrüstungsschritt zu machen wußten. Hier fällt eben denselben Leuten, die ansonsten das Gefühl als Hort der Zweckfreiheit hochleben lassen, ein Mangel des Gefühls ein. Das Gefühl kann sich nämlich ganz subjektiv gewählte Gesichtspunkte zur Meßlatte machen, die gar nicht zur gewünschten Deckung von Individuum und Realität führen, die man doch dem Gefühl so gern als Leistung bescheinigt. daß diese Feststellung einer Abweichung dasselbe wie Kritik ist, wissen Leute ganz genau, die verlangen, daß man sich seine Maßstäbe fürs Fühlen und Urteilen bei den herrschenden Instanzen abzuholen hat. Wer die Gleichung verletzt, Vernunft sei dasselbe wie selbstbewußtes Sich-fügen, dem wird mit dem Totschläger "bloß gefühlsgeleitet" mitgeteilt, daß er das Recht auf argumentative Befassung verwirkt hat.

In bester Gesellschaft
Mit dem Lob auf die Vernunft als Kontrollinstanz gegen die "subjektive Willkür" befindet sich die Wissenschaft also in bester Gesellschaft. Ebenso mit der Verherrlichung des Gefühls als Bürge gegen menschliche Amtsanmaßung. Welcher Politiker wüßte denn nicht, daß unsere Kultur im Allgemeinen und die Erziehung im Besonderen an einer "Überfrachtung" mit Ratio krankt, die, weil zutiefst inhuman, einer echten "Herzensbildung" Platz machen sollte?
Auch die politisch Verantwortlichen wissen eben am Gefühlsurteil sehr zu schätzen, daß hier ohne "Hinterfragen" geurteilt wird. Die gewünschten nationalen Ideologien wollen sie der Prüfung durch den Verstand nämlich lieber nicht aussetzen. Der nimmt sich ja am Ende die Freiheit heraus, die Zustimmung zum großen Ganzen von dafür gelieferten guten Gründen abhängig zu machen. Und da es solche offenbar nicht gibt, hängt man dem Manipulationsideal an, das "Pro" möge sich ohne Infragestellung durch die Ansprüche der Vernunft ins Gefühl versenken lassen. Auch diese Vorstellung hat zwar die Wahrheit nicht auf ihrer Seite, denn der gefühlsmäßige Zuspruch zur Nation hängt allemal davon ab, daß ein Mensch sich dafür (verkehrte) gute Gründe zurechtgelegt hat. Sie kündet aber immerhin davon, wie unbedingt demokratische Politiker den Nationalismus im Volk verankert sehen wollen.

Fazit:
Die Entgegensetzung von Gefühl und Verstand, die am Gefühl die "Abwesenheit von Zweckrationalität" und die Vernunft als Zügel gegen die "subjektive Willkür" des Gefühls schätzt, stellt der bürgerlichen Gesellschaft kein gutes Zeugnis aus. In beiden Fällen steht nämlich die freie Stellung am Pranger, die die Welt an den eigenen Interessen mißt und den Standpunkt zu ihr vom Ergebnis dieser Prüfung abhängig macht.

"Aber ich empfinde es so!"
So beruft sich mancher aufs Gefühl, um einen
Standpunkt gegen Einwände zu rechtfertigen. Gerade so, als sei das Fühlen eines Menschen etwas so Hochwertiges und Unwidersprechliches, daß man den darin ausgedrückten Willen auch gleich zu respektieren statt zu kritisieren hat. Vorsicht! Auch der letzte Faschist hat den Haß gegen die Juden und die Liebe zu Deutschland, für das er gemordet hat, ganz tief empfunden. Das macht die Sache doch nicht besser, oder?

Dr. Peter Decker / Nürnberg