Wisconsin, USA

Dieser US-Bundesstaat geriet neulich nicht zum ersten Mal in seiner Geschichte in die Schlagzeilen: Michael Moore (Video on this Blog) verschaffte den Gegnern der antigewerkschaftlichen ultrareaktionären Regierung in der Hauptstadt Madison auch die nötige internationale Aufmerksamkeit, leider mit viel nationalem Pathos, das der Arbeiterklasse noch nie etwas genützt hat. Was ist los in Wisconsin?

Zuletzt - vielleicht erinnert sich noch mancher - stand Wisconsin im Jahre 2001 in den Schlagzeilen, als deutsche Politiker sich dort die Klinke in die Hand gaben, das dortige, demokratische Verarmungsmodell als vorbildlich zu er- und verklären. Die SPD-Agenda 2010 wurde in dieser Façon dann ja auch gestrickt.

Dabei war alles mal so ganz anders in Wisconsin, zumindest in dessen größter Stadt Milwaukee. Nur eben eine ganz schlechte Alternative, weil - ähnlich Michael Moore heute - Maßstäbe und Meßlatten des Kapitalismus gar nicht wirklich tangierend. Es war so, wie die radikalste sozialdemokratische Politik, wie sie heute nur noch von einer kleinen Minderheit der Partei DIE LINKE vertreten wird - von der SPD ganz zu schweigen - sein könnte:

Die Neue Augsburger Zeitung schrieb am 06.05.1911, also vor ziemlich genau 100 Jahren, folgenden hämischen Kommentar gegen die damaligen deutschen Sozialdemokraten:

"Die Stadt Milwaukee im Staate Wisconsin, die mehr als 375.000 Einwohner zählt, von denen die größere Hälfte Deutsche sind, befindet sich seit ungefähr Jahresfrist vollständig unter sozialdemokratischer Herrschaft. Es war im April 1910, als Emil Seidel, ein bekannter Führer der amerikanischen Genossen, von der sozialistischen Mehrheit des Gemeinderats zum Bürgermeister von Milwaukee ausgerufen wurde. Natürlich wurde dieses Ereignis im roten Lager als der Beginn einer neuen Aera gefeiert, unter der sich die Stadt Milwaukee in kürzester Zeit in ein Paradies für die ganze Bevölkerung, jedenfalls aber für die lohnarbeitende verwandeln werde. Genosse Seidel selbst verstieg sich in seiner Antrittsrede zu der bombastischen Ankündigung, er werde einmal den Bürgerlichen zeigen, wie man nach marxistischen Grundsätzen kommunale Musterpolitik treiben könne. Gesagt, getan! Auf Biegen und Brechen wurde alles, wofür der Stadtsäckel nur eben ausreichte, verstadtlicht und nach marxistischen Rezepten umgewandelt. Um die Arbeiterlöhne möglichst hoch und die Arbeitszeit möglichst kurz zu halten, wurden ferner verschiedene, selbstverständlich ebenfalls sozialistisch organisierte Industriebetriebe neu geschaffen, einerlei ob ein Bedürfnis dafür vorlag oder nicht. Anfänglich ging dann auch alles ganz nach Wunsch, wenigstens soweit die Klasse der Lohnarbeiter dabei in Betracht kam. Mit dem Augenblick jedoch, als die städtischen Finanzen erschöpft waren und die bis zum äußersten angezogene Steuerschraube eine weitere Anpassung nicht mehr zuließ, zeigte sich plötzlich die Kehrseite der Medaille. Der sozialistische Betrieb erwies sich überall als unwirtschaftlich und überaus kostspielig, so daß die rote Stadtverwaltung wohl oder übel zu Lohnherabsetzungen und zur Verlängerung der Arbeitszeiten schreiten mußte. In zahlreichen Fällen mußten die Arbeiter sogar noch länger arbeiten, als sie es unter der »kapitalistischen« Produktionsweise jeweils gewohnt gewesen waren.
Damit nicht genug, erwies sich bald auch die Vornahme von Arbeiterentlassungen als notwendig. Ein Bericht des Londoner »Standard« beziffert die Zahl zufolge der Experimente der sozialdemokratischen Stadtverwaltung von Milwaukee brotlos gewordenen Arbeiter auf rund 20.000 und fügt hinzu, daß in keiner anderen amerikanischen Stadt auch nur annähernd soviel Not und Elend herrsche wie in Milwaukee. Daß daran nur die sozialistische Mißwirtschaft schuld sei, ergebe sich zur Genüge aus der Tatsache, daß in den übrigen Teilen des Staates Wisconsin Arbeitslosigkeit so gut wie unbekannt sei.  Weiter schildert der
»Standard« die Zustände, wie sie das sozialistische Stadtregiment geschaffen habe, recht ergötzlich wie folgt: »Mit der Stadtreinigung hapert es an allen Ecken und Enden, die Entfernung von Müll und Unrat geschieht nur sehr unvollkommen und auf manchen Nebenstraßen stockt die Reinigung bereits seit vier Monaten. Die Arbeiter beginnen Milwaukee zu verlassen und sich dorthin zu wenden, wo es zuvor weniger Sozialismus, aber desto mehr Beschäftigung gibt.« Am interessantesten ist jedoch die Mitteilung, daß der Genosse Bürgermeister in seiner Not und Bedrängnis sich unlängst an verschiedene industrielle und gewerbliche Organisationen der Stadt gewandt habe, damit diese Rat schaffen sollten, wie der so arg verfahrene Karren der roten Stadtverwaltung wieder flott gemacht werden könnte. Das war also das Ende vom Liede der so pomphaft angekündigten »kommunalen Musterpolitik nach marxistischen Grundsätzen«.
Hier die Praxis, sie ist nicht minder verworren wie die Theorie. Maurenbrecher [opportunistischer SPD-Funktionär, der die letzten Radikalen aus der Partei jagen wollte und über sie herzog, daß es der NAZ das Herz erquickte (Anm. von KoKa] hat recht: Sie wissen nicht, was sie wollen; nichts ist der Inhalt ihrer Politik." [Hervorhebungen im Original]

Und nun liebe Arbeiter und Gewerkschafter in Wisconsin, denkt mal scharf nach, was, aus all den heutigen und gestrigen Zuständen für Lehren zu ziehen, angebracht wäre.
Trotz allem eine Nationalflagge schwenken?
(12.03.2011)