AUS: ak - zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 524 / 20.1.2008

Land der begrenzten Freiheit
Der Prison Industrial Complex in den USA

2,25 Millionen Menschen saßen im Jahre 2006 in den USA in Haft. Diese Zahl veröffentlichte das US-Justizministerium im Dezember. Die Vereinigten Staaten führen damit weiterhin die weltweiten Gefängnisstatistiken an - in keinem anderen Land ist die Inhaftierungsrate so hoch: auf 100.000 EinwohnerInnen kommen 751 Insassen. Dabei widerlegen selbst amtliche Statistiken die verbreitete Meinung, dass eine Zunahme der Kriminalität für den 500-Prozent-Anstieg der Gefängnisbevölkerung in den vergangenen dreißig Jahren verantwortlich gemacht werden kann.
Stattdessen hat sich in den USA bei WissenschaftlerInnen und AktivistInnen der Begriff des "Prison Industrial Complex" zur Beschreibung dieser Entwicklung durchgesetzt. In Anlehnung an den von US-Präsident Dwight D. Eisenhower 1961 geprägten Ausdruck vom "militärisch-industriellen Komplex" soll damit auf die Verbindungen zwischen Unternehmen, der Regierung, der Correctional Community und den Medien in die rasant wachsende Gefängnisindustrie verwiesen werden.
Fast die Hälfte der US-Gefangenen sind African Americans, obwohl diese nur 13 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die Wahrscheinlichkeit, als schwarzer Bürger inhaftiert zu werden, liegt sechs Mal höher als für weiße. Die Gründe dafür lassen sich bis in die Zeit der Sklaverei zurückverfolgen.
Während der Sklaverei war die Mehrheit der Gefängnisinsassen in den Südstaaten weiß. Versklavte Schwarze wurden bei Verstößen gegen die Slave Codes - der rechtlichen Festschreibung des hierarchischen Sklavensystems - von den SklavenhalterInnen bestraft. Mit dem Ende des Bürgerkrieges im Jahre 1865 und der 13., 14. und 15. Verfassungsänderung wurden African Americans schließlich die Bürgerrechte sowie das Wahlrecht zugesprochen. Gleichzeitig legte die 13. Verfassungsänderung, welche die Aufhebung der Sklaverei deklarierte, jedoch auch den Grundstein für die Entwicklung des Prison Industrial Complex.

Von der Sklaverei zur Inhaftierung
Die Sklaverei wurde abgeschafft, jedoch mit der Ausnahme, dass sie als Bestrafung für ein Verbrechen weiterhin zulässig sei. Um die fast vier Millionen freien Schwarzen von der Ausübung ihrer neu erlangten Rechte abzuhalten, wurden die ehemaligen Slave Codes in den Jahren nach dem Bürgerkrieg von den ehemaligen Sklavenhaltern durch die Black Codes ersetzt. Diese kriminalisierten bei African Americans beispielsweise das Mieten oder Besitzen von Ackerland, das Tragen von Waffen, die Landstreicherei, unter der das Fehlen eines Arbeitsvertrages mit einem weißen Arbeitgeber oder die Arbeitslosigkeit zu verstehen waren, beleidigende Gesten, das Versammlungsrecht oder das Kündigen eines Vertrages. Ein Verstoß gegen die Black Codes hatte eine harte Bestrafung zur Folge, die meist Inhaftierung und Zwangsarbeit bedeuteten. Als Resultat waren innerhalb kürzester Zeit die Mehrheit der Gefängnisinsassen Schwarze. Durch die Rassifizierung von Verbrechen wurde das Strafjustizsystem damit zum Instrument der Wieder-Versklavung von African Americans.
Dass die rasant steigenden Inhaftierungsraten schwarzer US-AmerikanerInnen den Zugriff auf billige Arbeitskräfte garantieren sollten, wird durch das Convict Lease System deutlich, das in dieser Zeit in den Südstaaten entstanden war. Weißen wurde dadurch ermöglicht, Häftlinge für einen geringen Betrag zu mieten, um sie auf den ehemaligen Sklavenfarmen arbeiten zu lassen. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren dabei so katastrophal, dass der Historiker David M. Oshinsky von den Umständen sogar als "worse than slavery" - schlimmer als Sklaverei - spricht. Wurden die Sklaven noch als Eigentum angesehen, was ein Interesse daran entstehen ließ, sie aus Profitgründen möglichst nicht umzubringen, garantierte die Kriminalisierung dem Convict Lease System einen ständigen Nachschub an Häftlingen.
Mehr als hundert Jahre später erreichten die Inhaftierungsraten durch die Ausrufung des "War on Drugs" durch US-Präsident Roland Reagan neue Ausmaße. Mit seinem Amtsantritt 1981 erhob Reagan den Kampf gegen den Drogenhandel unter Verwendung von Kriegsterminologien zu einem nationalen Sicherheitsproblem. Obwohl die Kriminalität zu diesem Zeitpunkt bereits wieder abnahm, wurde die öffentliche Zustimmung zu einem regelrechten Gefängnisbauboom, einer Aufstockung des Budgets vom Justizministerium und eklatanter Verschärfungen der Strafgesetzgebung mit dem Verweis auf einen vermeintlichen Kriminalitätsanstieg gewonnen.

Der War on Drugs und der Prison Industrial Complex
Im Kontext einer bis auf zehn Prozent angestiegenen Arbeitslosigkeit, hervorgerufen durch die Deindustrialisierung und die Rezession 1982, begann die Reagan-Administration mit der drastischen Kürzung sozialstaatlicher Maßnahmen. Die ohnehin schon prekäre ökonomische Situation vieler US-AmerikanerInnen - insbesondere der von Schwarzen und People of Colour, die trotz der Errungenschaften der Bürgerrechts- und Black-Power-Bewegung noch überdurchschnittlich oft in Armut lebten - verschlechterte sich deutlich, während die verabschiedeten Steuererleichterungen gerade Unternehmen und wohlhabenden US-BürgerInnen zu Gute kamen.
Während sich die sozialen und ökonomischen Probleme in den USA verschärften, fokussierte sich die Reagan-Administration auf den "War on Drugs". Anstatt die Drogenabhängigkeit durch Therapiemöglichkeiten und Präventionsarbeit als öffentliches Gesundheitsproblem zu begreifen, basierte die Anti-Drogen-Rhetorik Reagans auf einem strafrechtlichen Umgang. Dieser beinhaltete die Einführung von Mandatory Minimum Sentences, d.h. unabhängig von den Tatumständen und den Motiven der Angeklagten vorgeschriebene Mindeststrafen. Dadurch wurde beispielsweise im Rahmen der Anti-Drug Abuse Acts von 1986 und 1988 die Mindesthaftstrafe für die Beteiligung an Drogengeschäften von zehn auf 20 Jahre angehoben. Als Konsequenz wurden zum einen vor allem kleine DrogendealerInnen, die im Fokus der Strafverfolgungsbehörden standen, und nicht die Drogenkartelle von den strafrechtlichen Änderungen getroffen. Zum anderen konnten strafmildernde Umstände wie Armut - der Hauptfaktor, der US-Frauen dazu bewegt, kriminell zu werden - nicht mehr von RichterInnen berücksichtigt werden.
Zudem kam es zu einer strafrechtlichen Unterscheidung zwischen Crack-Kokain, bei dem bereits der Besitz von fünf Gramm zu einer Haftstrafe von mindestens fünf Jahren führt, und pulverisiertem Kokain, bei dem der Besitz 500 Gramm übersteigen muss, um eine fünfjährige Haftstrafe nach sich zu ziehen. (1) Dies spiegelt die soziale Konstruktion von Kriminalität wieder: Crack-Kokain, als billige, gestreckte Variante des pulverisierten Kokains entwickelt, wurde vor allem von einkommensschwachen Menschen, pulverisiertes Kokain hingegen primär von wohlhabenden BürgerInnen konsumiert - beide Drogen haben jedoch dieselben gesundheitlichen Auswirkungen. Medial wurde dies in den 1980er Jahren durch eine unverhältnismäßige Berichterstattung untermauert. Unter Heranziehung von Begriffen wie der "Crack Epidemie" und des "Crack Babys" - als rassistisches und sexistisches Stereotyp über schwarze Crack-abhängige schwangere Frauen, die hegemonialen Vorstellungen von Weiblichkeit widersprechen - wurde Drogenabhängigkeit als innerstädtisches, sprich Ghettoproblem von People of Colour, Schwarzen und armen Menschen dargestellt.
Zusammen mit einer stärkeren polizeilichen Überwachung von Nachbarschaften, dem racial profiling, durch das Rastermerkmale wie eine dunkle Hautfarbe von der Polizei festgelegt werden und auf dessen Basis kontrolliert wird, und dem Stereotyp des "schwarzen Kriminellen" kam es zu überdurchschnittlich vielen Inhaftierungen schwarzer Menschen und People of Colour, die 70 Prozent der Gefängnisbevölkerung ausmachen.

Gefängnisse als Programm gegen Armut
Wer für welche Straftat, wo, wann und für wie lange inhaftiert wird, ist in den Vereinigten Staaten maßgeblich durch die "Rasse" bestimmt. Auch wenn es human-biologisch keine "Rassen" gibt, hat das Konzept als soziale Konstruktion reale Folgen. Obwohl die Kriminalitätsrate von schwarzen US-AmerikanerInnen keinesfalls höher liegt als die von weißen, werden sie mit einer sechs Mal höheren Wahrscheinlichkeit inhaftiert, bekommen längere Haftstrafen, höhere Kautionen und Bußgelder und mit einer höheren Wahrscheinlichkeit die Todesstrafe, insbesondere, wenn das Opfer weiß ist.
Die Zahl wegen Drogendelikten Inhaftierter ist seit den 1980er Jahren um 1.100 Prozent auf 500.000 angestiegen - als Resultat des "Tough on Crime"-Ansatzes, der unter Reagan zu einem explosionsartigen Anstieg der Gefängnisbevölkerung führte und bis dato fortgesetzt wird. Waren 1972 noch 330.000 Menschen inhaftiert, sind es derzeit auf Grund verschärfter Strafgesetzgebungen 2,25 Millionen.
Mit der Expansion der Gefängnisindustrie erweiterte sich auch der Einfluss von Privatunternehmen in den Bau von Gefängnissen, der Erbringung von Dienstleistungen, wie der medizinischen und Essensversorgung, und Waren, wie elektronischen Überwachungsgeräten und Hygieneprodukten. Das Betreiben und Errichten von Haftanstalten begann in den 1980er Jahren große Mengen an Kapital anzuziehen, so dass es im Jahre 2000 bereits 150 privatisierte Strafanstalten mit etwa 92.000 Insassen in den USA gab. Pro Gefangene zahlt die Bundesregierung, der Staat oder der Landkreis eine Pauschale an das jeweilige Unternehmen. Die US-Firmen Corrections Corporation of America und Wackenhut bilden dabei die Marktführer und kontrollieren 76 Prozent des globalen privaten Gefängnismarktes.
Die Analogien zum Convict Lease System verdeutlichen sich ferner in der Arbeit von Insassen für Unternehmen wie Victorias Secret, IBM oder Boeing. Um gewerkschaftlich organisierten Jobs zu entgehen, nutzen Firmen verstärkt Häftlinge als Arbeitskräfte, die auf Grund ihrer Inhaftierung von ArbeitnehmerInnenrechten wie den Mindestlohn oder der Möglichkeit eines Streiks ausgeschlossen sind. Mit einer Stundenlohn von wenigen Cent von der in einigen Bundesstaaten noch ein Anteil für Steuern, Unterkunft und Essen abgezogen wird, oder einer Bezahlung mit sogenannten good time-credits, sprich einer Reduzierung der Haftstrafenzeit, profitieren die Unternehmen direkt von der steigenden Anzahl an Häftlingen.
Mit dem Abbau des Sozialsystems in den 1980er Jahren wurde die Inhaftierung das primäre Regierungsprogramm für Arme, wie die Wissenschaftlerin und Aktivistin Angela Y. Davis es bezeichnet. Der Wandel weg von sozialstaatlichen Leistungen hin zu einem strafrechtlichen Umgang mit sozioökonomischen Problemen hat die Kriminalisierung vor allem von African Americans und People of Colour zu einem Mittel sozialer Kontrolle werden lassen. Die Wahrscheinlichkeit, inhaftiert zu werden, ist beispielsweise für Schwarze und Latinos im Bundesstaat New York größer, als auf ein College zu gehen. In Kalifornien überstieg das staatliche Budget für Gefängnisse 1996 erstmals dessen Ausgaben für das Hochschulwesen.
Während Rehabilitations- und Bildungsprogramme für Insassen gestrichen werden, sind die Gefängnisse als Absatzmärkte, die Häftlinge als Arbeitskräfte und somit die Inhaftierung möglichst vieler Menschen zu einem profitablen Geschäft geworden. Indes politisch und medial die Armutsdiskussion mittels eines Kriminalitätskodex rassifiziert wird, sehen sich die Häftlinge ihrer Bürgerrechte beraubt. So verbieten 48 Staaten und der Distrikt von Columbia Insassen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen; 33 Staaten verbieten dies auch Menschen, die auf Bewährung sind, und sieben US-Staaten entziehen ehemaligen StraftäterInnen lebenslang ihr Recht zu wählen. 4,7 Millionen US-AmerikanerInnen haben derzeit auf diese Weise ihr Stimmrecht verloren - davon 1,46 Millionen der 10,4 Millionen wahlberechtigten Schwarzen.

Jana Pareigis
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Anmerkung:
1) Derzeit ist die Diskussion um die strafrechtliche Unterscheidung zwischen Crack-Kokain und pulverisiertem Kokain in den USA neu entfacht und scheint zu einer Änderung der Mindesthaftstrafe für Crack-Kokain zu führen.


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