Warum die Regierung gegenüber dem IWF so widerborstig ist

Die Verhandlungen zwischen dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Regierung von Viktor Orbán über einen neuen Stand-by-Kredit für Ungarn mündeten am vorvergangenen Wochenende in einem offenen Konflikt. Grund dafür war der abrupte Abbruch der Budapester Verhandlungen durch die Delegierten des IWF und der Europäischen Kommission. Die westlichen Wirtschafts- und Finanzblätter kommentierten die Haltung der Regierung Orbán mit Befremden.

Sie erklärten das bockige Verhalten der Regierung gegenüber IWF und Kommission damit, daß diese bereits auf die Kommunalwahlen am 3. Oktober schiele und deshalb keine Wähler mit Sparmaßnahmen verprellen möchte. IWF und  Kommission fordern von Orbán und seiner Regierung nicht nur Sparmaßnahmen, sondern auch Strukturreformen. Die Deutung der Situation durch die westlichen Medien hat zwar durchaus einen Wahrheitsgehalt [doch welchen? Vielleicht den, daß der Westen es für unverstellbar, weil aussichtlos hält, sich seiner überlegnenen Gewalt entgegenstellen zu wollen?], aber zum besseren Verständnis der Haltung der Regierung Orbán ist es auch angebracht, auf die Besonderheiten der politischen Kultur in Ungarn einen Blick zu werfen.

In rationaler Hinsicht ist es schwierig, die Haltung der ungarischen Verhandlungsdelegation zu verstehen [zumindest, wenn man Rationaliät mit imperialistisch-kapitalistischer Räson gleichsezt, nach der sich alles zu richten hat]. Die jüngsten internationalen Beispiele zeigen nämlich, daß sich sogar größere Länder als Ungarn den Erwartungen des IWF beugen mußten. So geriet auch die Ukraine mit dem Währungsfonds über Kreuz, nachdem ihr im Jahr 2008 ein Kredit gewährt worden war. Mit der Drohung, die nächste Tranche des Kredits nicht auszubezahlen, nötigte der IWF die Ukraine aber letztlich dazu, ihr Budgetdefizit zu reduzieren und damit einhergehend die Renten zu senken. In Rumänien wiederum gab es im Frühjahr dieses Jahres großen Aufruhr, da sich die dortige Regierung zur drastischen Senkung der Renten sowie der Löhne der Staatsbediensteten entschloß. Nachdem der rumänische Verfassungsgerichtshof diesen Schritt rechtlich zum Scheitern gebracht hatte, entschied sich die Bukarester Regierung kurzerhand dazu, die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Diese Maßnahme war notwendig, um eine Kredit-Tranche des IWF abzurufen.
 
Regierung auch von medialer Beurteilung abhängig
 
Es darf natürlich auch nicht außer Acht gelassen werden, daß bei der Entscheidungsfindung des IWF die Wirtschaftsgroßmächte eine bestimmende Rolle spielen [Was heißt hier »auch
«?]. In Hinblick auf die Stimmengewichtung bei den Entscheidungen des Währungsfonds hat allein die USA einen Anteil von 16,74 Prozent, danach folgen Japan und Deutschland mit 6 und 5 Prozent, sowie Frankreich und Großbritannien mit jeweils 4,85 Prozent. Die jetzigen Spannungen könnten also im schlimmsten Fall auch zu Irritationen mit den genannten Großmächten führen [»Irritationen« ist gut gesagt angesichts der Erpressungsmittel, die sie auffahren!]. Es muß überdies darauf hingewiesen werden, daß die Medien immer schärfer Kritik darüber äußern, wie die Fidesz-Regierung zu Macht, Demokratie und Pressefreiheit steht. Wenngleich diese Meinungen bei der Beurteilung Ungarns durch die westlichen Regierungen vorerst noch nicht so sehr ins Gewicht fallen, könnte ein dauerhaft negatives Bild der Regierung Orbán in den Medien aber letztlich dazu führen, daß ihr äußerer Bewegungsspielraum weiter eingeengt wird. [Eine anhaltend renitente Haltung Ungarns wird stracks ins Grundsätzliche überführt, in die Systemfrage!]
Die im Juni veröffentlichten Budgetzahlen sollten die Regierung auch zur Vorsicht gemahnen. Der Fehlbetrag im Haushalt liegt bereits bei 118 Prozent des jährlichen Defizitziels. [Ganz praktisch führt eine renitente Haltung schnurstracks zu einem failed state; wobei die Frage ist, ob sich Ungarn nicht ohnehin auf dem Weg dorthin befindet!] Dies untermauert die Sorgen des IWF, daß das von der Regierung unter Premier Gordon Bajnai (2009-2010) festgelegte Defizitziel in Höhe von 3,8 Prozent des Bruttoinlandproduktes weit überschritten werden wird. Selbst wenn zur Finanzierung der laufenden Ausgaben kein IWF-Kredit notwendig ist, so könnte sich bei einem anhaltend schwachen Forint und einem hohen Budgetdefizit die Regierung doch noch dazu gezwungen sehen, mit dem Währungsfonds auf einen gemeinsamen Nenner zu gelangen und einen neuen Stand-by-Kredit abzurufen.      
 
Die Geister der Vergangenheit in der Gegenwart 
 
Wirft man einen Blick auf die ungarische Politikgeschichte der vergangenen 150 Jahre, so ist zu sehen, daß die politischen Akteure einander immer wieder vorgeworfen hatten, die nationalen Interessen Ungarns nicht gebührend zu verteidigen und das Land an fremde Mächte auszuliefern. [Und wofür spricht nun das Ergebnis?] Die Beschimpfung des politischen Gegners als »Volksverräter
« war denn auch ein wiederkehrendes Element der ungarischen Politik. Auch der Fidesz hat seine Wahlerfolge in den Jahren 1998 und 2010 zum Teil seinem Versprechen zu verdanken, die ungarischen Interessen entschlossener zu vertreten als seine politischen Gegner, die Sozialisten (MSZP). [Auch wenn man aller Mittel dafür entbehrt!] Vor diesem Hintergrund ist es also verständlich, daß die Partei gegenüber einer mächtigen internationalen Institution wie dem IWF die Rechte der Ungarn auf Teufel komm raus verteidigt. Ansonsten wäre die Partei in den Augen ihrer Wähler nicht glaubwürdig. [Was einem depperten Wähler alles als glaubwürdig erscheinen mag, wenn man es ihm glaubwürdig vorkaut, darüber braucht man lieber erst gar nicht räsonieren, weil davon sowieso nichts abhängt!]
Das Streitthema der Bankensteuer fügt sich nahtlos in das soeben skizzierte Bild. Als selbsternannter Verteidiger der nationalen Interessen hatte die Fidesz-Regierung keine andere Wahl, als die Bedenken des IWF über die Höhe der Bankensteuer abzuschmettern und an ihrer unnachgiebigen Linie festzuhalten. Hierbei frohlockte auch die rechtsradikale Partei Jobbik. Nicht so die oppositionelle MSZP – sie kritisierte die Bankensteuer in aller Schärfe. Im Gegenzug wurde sie von Fidesz und Jobbik prompt als Vasall fremder Interessen (des IWF) dargestellt. [Sehr zu unrecht! Es ist nämlich nicht leicht, die nationale Interessenlage in ihrer internationalen Abhängigkeit national denkenden Demokraten klarzumachen! Die Sozialdemokratie spekuliert auf den Mißerfolg der nationalen Alternative und weiß dabei die Westmächte hinter sich - da ist auf das Volk doch geschissen! Und vom Proletariat redet sowieso keiner.] Es gibt also nichts Neues unter der Sonne Ungarns.
[Nicht nur unter der.]

Attila Tibor Nagy, Méltányosság, 26.07.10