Die tolle kapitalistische Alternative zum realen Sozialismus bedarf zusehens einer Rechtfertigung:
Sie hat drastisch mehr Elend geschaffen, als jener je aus eigenem Verschulden gekannt hat
War
Ungarn Vorreiter, als es darum ging, den realen Sozialismus
aufzulösen, so ist es heute kaum minder Vorreiter, den
Kapitalismus in Osteuropa zu diskreditieren. "Nirgendwo
im östlichen Mitteleuropa schlägt die weltweite
Wirtschaftskrise so hart durch wie in Ungarn. Ein dramatischer
Produktionsrückgang wird vom Verfall der Landeswährung
begleitet." (taz, 09.02.09) Das darf natürlich nicht sein:
"Am 28. Oktober 1956 glaubten die
Ungarn, ihre Revolution gegen die kommunistische Unterdrückung
habe gesiegt. Doch das war, wie wir wissen, eine trügerische
Hoffnung. Genau 42 Jahre später, am 28. Oktober 2008, machte
Ungarn nun wieder Geschichte: Nach Tagen intensiver Verhandlungen
verkündete der Internationale Währungsfonds ein
milliardenschweres Hilfspaket für das Land, an dem sich auch die
Europäische Union und die Weltbank beteiligen. Die globale
Finanzkrise war seit Monatsbeginn wie ein 'Finanz-Tsunami' - so der aus
Ungarn stammende, legendäre Investor George Soros - über das
Land gefegt. War Ungarn einst alleingelassen worden, konnte es nun auf
die Solidarität der internationalen Gemeinschaft zählen." (Außenwirtschaft, Januar 2009, Hervorhebung KoKa)
Es sei einmal kurz vor Augen geführt, welche Verhältnisse mittlerweile eingerissen sind, in einem Land, das sich als Vorbild aller Ex-RGW-Staaten gesehen hat:
"Nirgendwo in Europa wird die
Arbeiterklasse vom Kapital dermaßen raffiniert ausgebeutet wie in
Ungarn. Nehmen wir zum Beispiel den südkoreanischen
Reifenhersteller Hankook in Dunaújváros. Hankook hat
seine Mitarbeiter am 20. August, dem ungarischen Nationalfeiertag, 16
Stunden arbeiten lassen. Diese Ausbeutung erinnert mich fast schon an
die Behandlung der schwarzen Sklaven aus Afrika. ..." (Gyula Thürmer von der Ungarischen Kommunistischen Arbeiterpartei, MKPM, in Budapester Zeitung [im folgenden: BZ], 20.01.08)
Das ist nur ein Beispiel für die Spitze des Eisbergs, der etwas grundsätzlicher ausgedrückt so lautet:
"Das heutige System ist eine Diktatur
des Geldes. Geld bedeutet heute soziales Prestige, Gesundheit, Zukunft.
Wer kein Geld hat, der vegetiert dahin [und das sind selbst nach dem Geschmack der Regierung schon viel zu viele]."
(János Fratanolo, Vorsitzender der -kommunistischen- Ungarischen Arbeiterpartei*, BZ, 20.01.08)
Dieses Elend nahm die politische Elite [die trotz der
grundlegenden nationalen Übereinstimmung ein Höchstmaß
an gegenseitigen Animositäten pflegt] aus Sozialdemokraten (MSZP),
Liberalen (SZDSZ) - diese bildeten zuletzt die Regierung, wobei die SZDSZ 2008 offiziell ausgeschieden,
diese aber zumindest punktuell weiter mitträgt - und Konservativen
(Fidesz) für die von ihr gewollte Vorreiter- und Vorbildrolle, mit
der sie sich einen Platz an der Sonne im Westen erhoffte, in Kauf, ohne
mit der Wimper zu zucken. Sie bekam dafür zweifellos Anerkennung
im Westen. Und diese Anerkennung schlug - wer hätte das gedacht -
so durch, daß die Lohnverhältnisse Ungarns gar als
vorbildlich für diesen selbst erachtet werden:
" 'Die Mitarbeiter sind bereit, Veränderungen zu tragen und Verzicht zu üben", sagte [Ministerpräsident]
Rüttgers am Samstag beim Neujahrsempfang der NRW-CDU in
Düsseldorf. Sie hätten angeboten, ein Kosten-Niveau
mitzuentwickeln, das mit den Produktionskosten von Nokia in Ungarn
vergleichbar sei. … ' Wenn ein solches Angebot da ist, dann ist
es eigentlich eine Selbstverständlichkeit, daß eine
Unternehmensleitung ein solches Angebot annimmt', sagte
Rüttgers unter dem Beifall von über 1000 Gästen." (Frankfurter Rundschau, 21.01.08)
Jetzt ist Krise; die
Autohersteller wie z.B. Audi in Györ oder Suzuki in Esztergom -
welcher übrigens nonchalant gegen das ungarische Arbeitsrecht
verstößt (was der genannte Gyula Thürmer beklagt) -,
aber auch andere wie General Electric sparen
vor allem an Arbeitszeit, Mitarbeitern und Löhnen. Die
Bosch-Tochter Digital Disc Drives Kft. will sogar das gesamte Werk
schließen, was das Aus für 500 Arbeitsplätze
bedeuten würde (BZ, 02.02.09).** Die Bauwirtschaft erleidet ebenfalls ein Desaster.***
"Im
Januar sind die Reallöhne um 6,8% – bei einem Wachstum des
Verbraucherpreisindexes von 7,1% – zum Vergleichszeitraum des
Vorjahres gesunken, so das Statistische Zentralamt KSH. Die
durchschnittlichen Brutto-Löhne lagen bei 206.200 Forint (in der
Wettbewerbssfäre bei 179.100 Forint, im öffentlichen Dienst bei
281.600 Forint)." (BZ,
25.03.09) - Nach Einschätzung der ungarischen Bevölkerung
selber hat das Land eines der schlechtesten und ineffizientesten [das
ist ja wohl die gewünschte Kombination in Sachen
Beurteilungsmaßstab!] Gesundheitswesen Europas. Ohne Bestechung
("Dankbarkeitsgeld") läuft da nicht viel.
Wie reagiert der ungarische Staat nun?
" 'Die ungarische Regierung hat ein
umfassendes Paket geschnürt, das die Wirtschaft stärken
wird', begründete der Direktor des IWF, Dominique Strauss-Kahn, in
einer in Washington verbreiteten Erklärung den Milliardenkredit." (taz,
29.10.08) Die breit angelegte Hilfe umfaßt 12,3 Mrd. Euro an
Kreditzusagen des IWF, von der EU wurden 6,3 Mrd. Euro und von der
Weltbank 1 Mrd. Euro versprochen.
Und das schreibt das Fachorgan Außenwirtschaft zum Sparprogramm:
"Das Paket zu erfüllen wird
Ungarn und die Bevölkerung auf eine harte Probe stellen. Es
besteht im wesentlichen aus zwei Teilen: einem Sanierungsprogramm
für den Staatshaushalt und einem Fonds für die Rettung
gefährdeter Banken. Unter dem Sparpaket verpflichtet sich die
Regierung, das Budgetdefizit 2009 auf 2,5 Prozent zu senken. Schritte
dafür sind: Einfrieren der Gehälter im öffentlichen
Dienst, Streichen des 13. Gehalts für Staatsangestellte;
Streichung des 13. Gehalts für Frühpensionisten und
Einführung einer Obergrenze für Pensionen von 80000 Forint
(300 Euro); Verschiebung der Anpassung von Sozialleistungen an die
Inflation (gegenwärtig 5,4 Prozent); und Ausgabenkürzungen in
allen Ministerien." (Januar, 2009)
Wie war das doch gleich noch mal im so viel geschmähten
Realsozialismus, dem man zwar nicht loben muß, aber doch so
verdammen, wie es westliche Feindbildpflege auch angesichts des
angerichteten kapitalistischen Malheurs nicht müde wird zu tun,
auch wiederum nicht:
"In diesen 40 Jahren [real existierenden Sozialismus]
ist der Wohlstand der ungarischen Gesellschaft spürbar gestiegen.
Die Menschen haben besser gelebt als beispielsweise in der
Zwischenkriegszeit. Der Sozialismus hat die Klasse der Arbeiter und
Bauern emporgehoben und ihnen zum ersten Mal die Möglichkeit zur
schulischen Bildung geboten. Leider wurden in den 40 jahren aber
zahlreiche Fehler begangen [welche? wäre dann aber auch eine ernstzunehmende Frage!].
Auch war die Zeit einfach zu kurz, um einen prosperierenden Sozialismus
zu errichten. Schließlich dürfen wir nicht vergessen,
daß die kommunistische Ideologie [vielleicht war die Ideologie der Fehler?]
in armen Ländern obsiegt hat. Hätte der Sozialismus etwa in
Österreich Wurzeln geschlagen, wäre er wahrscheinlich
erfolgreich gewesen." (Gyula Thürmer, BZ, 20.01.08) -
Dabei hatten sich gerade in Ungarn mit und aufgrund der
kapitalistischen Restauration die national
bewegten Gemüter so wahnsinnige Hoffnungen gemacht, von einer
Vorreiterrolle Ungarns in Europa bis hin zu einer Rückkehr zur
staatlichen Größe alter K.- und K.-Zeiten wurde
geträumt! Dieser Frust läßt Nationalisten jetzt
zunehmend radikal werden, das bekommen die Minderheiten, insbesondere
die ohnehin abseits stehenden Sinti und Roma vehement zu spüren,
aber auch Tote sind nicht mehr sicher; so wurde das Grab des
langjährigen Staats- und KP-Chefs János Kádár
geschändet und dessen Leiche geraubt. Bei Wahlen tendieren
Parteien und Wähler zunehmend nach rechts und faschistische Horden
ziehen
plündernd durchs Land, ohne daß die Staatsgewalt groß
Einhalt gebieten würde, vielleicht nicht einmal kann oder will.
So sieht der Staat aus, der mit Lettland um die rote Laterne in Europa konkurriert...
(05.04.09)
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* Die ungarische KP hat sich 2005 gespalten; ähnlich wie andere
ML-Parteien zum Beispiel in Italien, aber auch hier in der BRD,
wenngleich auf Miniformat (MLPD/DKP), werfen sich die einstigen
Realsozialisten gegenseitig Verrat an der gemeinsamen Sache vor.
** Zwei Drittel der Industrie sind übrigens in
ausländischer Hand, 90 % der Telekommunikation, 60 % des Energiewesens,
dazu kommen offene Forderungen ausländischer Banken von über 107
Milliarden US-Dollar, neben dem, daß sie ohnehin die Mehrheit des
ungarischen Geldkapitals stellen.
*** "So realisierten in den letzten
Jahren sehr viele Ungarn ihren Traum vom Eigenheim.
Steuererleichterungen machten die Aufnahme von Krediten möglich,
die heimischen Banken boten Hilfe in stabiler Schweizer Währung an,
und die Familie bürgte für die Söhne und Töchter.
Das Problem dabei jedoch war: Der Kredit wurde zwar in Forint
ausgezahlt, aber am Tag der Überweisung in Schweizer Franken
umgerechnet [wo die geschäftstüchtige Schweizer Geschäftswelt überall ihre sauberen Finger drin hat!]." (taz, 28.10.08)
