DIE ROTE ARMEE von Joseph Roth in Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 05.08.1920
Genosse Regimentsarzt
Vor drei Tagen sah ich in Augustowo, wie ein einfacher russischer
Soldat einen schlafenden Regimentsarzt weckte. Der Muschik schrie nicht
etwa: Euer Gnaden, Infanterist Iwan Iwanowitsch Kolohin bittet Sie
gehorsamst, aufstehen zu wollen, sondern »Stawajtowarysz!«, was zu deutsch heißt: Steh auf, Genosse!
Und — könnt Ihr's glauben? — der Regimentsarzt stand wirklich auf.
Man kann die Rote Armee verstehen, wenn man die Fantasie aufbringt,
sich einen Offizier vorzustellen, der nicht weiterschläft, wenn
ihm ein Infanterist: Steh auf! sagt. Aber das ist noch immer nicht das
Entscheidende. Sondern die Tatsache, daß der also geweckte
Offizier auch weiter Offizier bleibt.
Denn ich sah, wie der Regimentsarzt sich den Schlaf aus den Augen rieb
und dem Muschik befahl »Pajdjom!« — und wie dann der
Regimentsarzt voranging, der Muschik ihm folgte, hinter ihm »in
Haltung«. Nicht ausgerechnet drei Schritte Distanz, sondern
vielleicht nur anderthalb. Denn es war ein Soldat der Roten Armee.
Offiziere und Soldaten speisen in einer gemeinsamen Messe. Aber die militärische Form ist da. Die Rote Armee ist nicht gedrillt, aber diszipliniert.
Sie wird gewiß nicht schikaniert, aber ausgebildet. Die Russen
werfen nicht mit Pflastersteinen, sondern schießen. Ihre
Karabiner sind von neunziger Konstruktion. Einige österreichische
Mannlicher-Gewehre Modell 95 sah ich auch.
Die Gliederung der Sowjet-Armee
Die Sowjettruppen sind in Divisionen, Brigaden, Regimenter, Kompanien
und Sotnien geteilt, und nicht in Räuberbanden. Ihr
Dienstreglement ist wahrscheinlich ein bißchen
zusammengestrichen, aber es ist da. Die Russen marschieren, und
wahrscheinlich können sie sogar Parade marschieren, kurz, die Rote
Armee ist keine Freibeuterschar, sondern eine Armee. Eine antimilitaristische Armee! O Witz der Weltgeschichte! Kreuzritter des zwanzigsten Jahrhunderts. Kreuzritter des Sozialismus.
Die Reitertruppen des Generals Budjonnin
Dabei war es nicht die eigentliche reguläre Sowjetarmee, die ich
an der ostpreußischen Front zu Gesicht bekommen konnte, sondern
die Freiwilligen; zumeist Kavallerie. Die berühmt gewordenen
Reitertruppen des bolschewistischen Generals Budjonnin.
Dieser war in der zaristischen Armee höherer Unteroffizier, so
etwas wie Offizierstellvertreter gewesen. Aktiv, und hatte es innerhalb eines Jahres bis zum General gebracht.
Er ist einer der verläßlichsten Kommandanten der
Sowjetregierung und bei allen Kavallerietruppen beliebt.
Verläßlicher jedenfalls und beliebter als Brussilow, der nicht, wie Nachrichten in letzter Zeit zu erzählen wußten, ein Kommando an der Nordfront führt, sondern unter scharfer Kontrolle von Sowjetkommissären in Moskau sitzt und nur Pläne für den Generalstab ausarbeitet.
Was den General Budjonnin betrifft, so erzählte mir mein
Gewährsmann, Unteroffizier der russischen Armee, Student von
Beruf, daß der General Soldat mit Leib und Seele und überzeugter Bolschewik
sei. Es sei schwer anzunehmen, sagte der Student, daß ein
ehemaliger aktiver Wachtmeister der zaristischen Armee Sozialist aus
Überzeugung wäre. »Bolschewik«
mag er immerhin sein. Aber es ist sehr wahrscheinlich, daß
Budjonnin (er heißt übrigens nicht Budinnyn, wie sonst
geschrieben wird) trotz seiner strategischen Selbständigkeit,
psychisch Subalterner von Geburt, einem System, das ihn in die für
seine militärische Begriffswelt unerreichbar scheinende
Generalsregion gehoben hat, aus Dankbarkeit ergeben ist.
Die Ausrüstung der Freiwilligen-Truppen
Von allen Seiten hört man, die Bolschewiken, die sich in der
Nähe Ostpreußens zeigen, wären schlecht
ausgerüstet. Das stimmt nicht. Es ist Täuschung. Die
Bekleidung der Truppen nämlich, die jetzt Polen besetzen, ist nur nicht einheitlich.
Es sind, wie gesagt, Freiwilligenregimenter. Sie kämpfen in
denselben Uniformen, in denen sie eingerückt sind. Ich sah nur
wenige Kavalleriepatrouillen in einheitlicher Uniform. Zumeist ist die
Einheitlichkeit der Uniformierung vom Offizier abhängig. Es gibt
Offiziere, die sich aus einem militärischen Stilgefühl heraus
für die Uniformierung ihrer Truppen besonders interessieren. Das
sind zumeist sehr bezeichnenderweise deutsche Offiziere und Unteroffiziere. Man macht sich hier und auch in Ostpreußen kaum eine Vorstellung
davon, wieviel Deutsche in der russischen Armee sind. Die anderen
Unterkommandanten haben weder Sinn dafür noch Zeit dazu. Ich sah
Soldaten in alten sackbraunen Kazapenmänteln, in Pelzmützen,
in einfachen Kappen, dunkelblauen und weißen, und einige sogar
ohne Kopfbedeckung in schwarzen, russischen Blusenhemden. Die
Distinktion der Offiziere ist, wenigstens bei der Kavallerie, meist
irgendwo an der Bluse eine Schleife, in vielen Fällen sind
Offiziere von der Mannschaft überhaupt nicht zu unterscheiden.
Die moralische Verfassung der Sowjet-Armee
Von einem demoralisierten Zustand der russischen Armee kann
überhaupt nicht gesprochen werden. Die Zeit ist endgültig
vorbei, da der Russe seine Stiefel verkaufte und barfuß lief. Es ist überhaupt unmöglich, einem russischen Soldaten etwas abzukaufen,
denn er hat Geld genug, und Schnaps darf er beileibe nicht mehr
trinken, als ihm zugeteilt wird. Essen kann er kaufen, und das tut er
auch. Denn die Verpflegung klappt nicht ganz bei den
Freiwilligenverbänden.
Jedenfalls macht der russische Soldat keine Geschäfte mehr.
Ebensowenig, wie er raucht oder plündert. Man traut seinen Augen
nicht: Ein polnischer Jude redet auf einen Kosaken ein. Der Jude
möchte gern einen Ledergurt kaufen, und der Kosak – weder
verkauft er, noch zieht er eine Nagaika – sondern er
lächelt, lächelt: Njet, batjuszka, njet...
Der Antisemitismus ist offiziell nicht vorhanden. Antisemitische Auslassungen, Diskussionen, Streitigkeiten sind strafbar.
Der jüdische Prozentsatz im russischen Heer ist, wie mir mein
Gewährsmann erzählte, verhältnismäßig
groß. Durchschnittlich sind ungefähr zwölf Juden in
jeder Sotnie [150 Mann].
Zahlungsmittel
Die Russen zahlen mit Sowjetgeld und litauischem. Das
Infanterie-Regiment 101, das ich in Augustowo sah, hatte sehr viel
litauisches Papiergeld. Die Sowjettruppen finden alles furchtbar billig
in Polen. Ich sah, wie ein Infanterist ein Pfund Bonbons in einem
Judenladen kaufte. Er gab fünfhundert Rubel dafür. Als ihm der Jude herausgeben wollte, winkte der Soldat ab.
Die Folge dieser Überschwemmung mit Sowjetrubeln ist natürlich ein rapides Steigen der Preise. In sämtlichen besetzten Gebieten sind die Preise über Nacht um fünfundzwanzig Prozent gestiegen. Die Kaufleure von Suwalki und Augustowo
fangen schon jetzt an, Waren ins Innere von Rußland zu schaffen.
Das ist leicht. Man fährt innerhalb des Sowjetgebiets mit einer
Legitimation der Heimatgemeinde oder überhaupt ohne Papiere. So
hat sich die Welt geändert. Der Paß, ehemals eine russische
Spezialität, ist ein Reise- und Kulturdokument des »freien Westens« geworden.
Sozialisierungsmaßnahmen
Die alarmierenden Nachrichten über gewaltsame und sofortige
Sozialisierungen durch die russische Armee sind falsch, zumindest
tendenziös übertrieben. Mit jeder größeren
russischen Truppe rückt ein Zivilkommissar ein. Dieser hat nur die Aufgabe, die administrative Leitung der Behörden zu überwachen, keinesfalls aber das Recht, auf eigene Faust zu sozialisieren. Die Berichte von wilden Banden, die »sozialisierend«
den Bolschewisten auf dem Fuße folgen, sind
selbstverständlich gefärbt. Daß sich hinter dem
Rücken einer erobernden Armee Räuberbanden bilden, ist
besonders bei den Verhältnissen in Polen selbstverständlich.
Allein diese Banden rauben eben, sozialisieren aber nicht. Richtig
sozialisiert wird nur in auffallend großen Gutshöfen, wo
Knechte und Mägde sich den Besitz der Herrschaft teilen. Der
polnische Gutsbesitzer würde bei dieser Gelegenheit von den
Sowjettruppen sicherlich auch zu Rate gezogen werden. Aber er ist
längst mit seinem beweglichen Vermögen geflüchtet.
Daß sich jedoch die Sowjetarmee in jeder eroberten Stadt mit
Bitten um Rat und Hilfe an die dort bestehenden Arbeiterorganisationen
und Gewerkschaften wendet, ist nur natürlich. Man kann von einer
Roten Armee wirklich nicht verlangen, daß sie etwa die
Vereinigung der Ritter vom Malteserorden oder einen feudalen Herrenklub
um Unterstützung angehe. Den Sicherheitsdienst übernehmen
Arbeiter, aber ohne daß die alte Polizei, die in Augustowo zum
Beispiel eine Art Einwohnerwehr ist, aufgelöst werden würde.
Der einzige »Terrorakt« der russischen Armee war der,
daß die Stadtpolizei die weißen Binden ablegen
mußte. Daß sich in jeder polnischen Stadt nach dem
Einmarsch der Sowjettruppen sofort ein Arbeiterrat bildet, ist
selbstverständlich. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn
ich annehme, daß in Deutschland Arbeiterräte, ohne daß
Sowjettruppen einmarschiert wären, gebildet worden sind.
Die Stimmung der Bevölkerung
Die Bevölkerung, die in den letzten zwei Wochen sich nicht auf die
Straße gewagt hatte, ist über den Einmarsch der Russen
herzlich froh. Man versteht das, wenn man hört, daß die
Polen in Suwalki auch bei
Stammesgenossen, polnischen Bauern, nicht nur Juden und etwa dort
wohnenden Russen, Vieh requirierten, Pferde, Geld, Materialien, ohne zu
bezahlen, und Tiere und Gegenstände, die man ihnen nicht
überlassen wollte, auf der Stelle vernichteten bzw. totschlugen.
Vor ihrem Abzug aus Suwalki veranstalteten sie, wie ich schon
berichtete, ein kleines Mordfest. In Grodno brachten die Polen sechzig jüdische Familien um. Nach bewährten Mustern wurden siebzehn junge Männer geblendet, schnitt man Frauen die Brüste ab und vergewaltigte Minderjährige.
Auch die katholische Bevölkerung kam schlimm weg. Nun, da selbst
von der gefürchteten Sozialisierung nichts zu sehen ist, freuten
sich Jud und Christ über die Sowjetarmee. Die Polizeistunde ist
zwar für 9 Uhr festgesetzt. Aber die neunte Abendstunde ist nach russischer Zeit (Moskau) zwölf Uhr Mitternacht. Und auch wenn man nach neun auf die Straße kommt, wird man mit Towarisch (Genosse) angeredet.
Das Kulturniveau der Bolschewiken-Armee
Im allgemeinen ist das geistige Niveau des russischen Soldaten dasselbe
geblieben, nur das moralische hat sich gehoben. Ich sprach mit mehreren
Kosaken, die von Lenin nichts wußten. Dagegen ist Trotzki geradezu eine legendäre Persönlichkeit im russischen Heere. »Trotzki«, sagte mir einer, »ist der größte Mann der Welt. Wenn er spricht, kann er alles von den Soldaten haben. Er spricht so laut, daß ihn zwei Regimenter, in weitem Karree aufgestellt, hören können. Trotzki ist größer als der Zar.«
Zeitungen sind bei keinem russischen Soldaten vorzufinden. Von Zeit zu
Zeit bekommen sie umsonst das sozialistische offizielle Blatt
zugesendet. Heeresberichte werden vom Kommandanten beim Appell
verlesen. Politische Vorträge halten Studenten, Schriftsteller,
Künstler, die eigens zu diesem Zweck die Truppen besuchen.
Schreiben und lesen können immer noch die wenigsten Soldaten. Es
wird politisiert. In den Schänken, wo allerdings kein Schnaps
verabreicht wird, sitzen die Muschiks herum und lassen sich,
gewöhnlich von einem jüdischen Kameraden, vorlesen.
Die Freiwilligenmeldungen
Man macht sich kaum einen Begriff davon, wie viele junge Leute sich
freiwillig zur Roten Armee melden. Und das sind nicht nur Polen,
Deserteure, die vorher geflüchtet waren und jetzt
zurückkehren, sondern Deutsche, und zwar deutsche Arbeiter aus dem
Rheinland. Mit jedem Schiff, das von Swinemünde nach
Königsberg fährt, kommen ungefähr zwanzig
rheinländische Arbeiter, die sich der Roten Armee zur
Verfügung stellen wollen. Sie haben selten Glück. Sie sind
ungeschickt genug, mit vorschriftsmäßig visierten
Pässen über die Grenze kommen zu wollen; da aber die
Interalliierte Kommission im Verein mit der deutschen Behörde
überhaupt jeden Grenzverkehr verbietet, ist ein Überschreiten
der Grenze nur auf Schleichwegen möglich. Die deutsche Postenkette
an der Grenze ist sehr dicht, aber die polnischen Deserteure, die nach
Rußland hinüberwollen, sind auf einen Trick gekommen. Sie
lassen sich von jemandem begleiten, der im Lande bleiben will. Und
während sie die Flucht wagen, stellt sich der simulierende
Flüchtling hart an der Grenze auf und läßt sich von den
Wachtposten so lange beobachten, bis er annehmen kann, daß sein
Kamerad glücklich drüben ist.
Sie rüsten...
So sieht die Rote Armee aus. Sie wird nicht nach Ostpreußen
kommen. Sie kann nicht nach Ostpreußen kommen. Das Hakenkreuz in
Ostpreußen ist viel zu stark. Mir geschah folgendes auf der
Rückreise von Insterburg nach Königsberg. An einem
Kupeefenster hart neben mir stand ein blonder junger Mensch und
unterhielt sich mit einem draußen stehenden Passagier. Dieser
steckte dem Mann im Kupee irgend etwas mit geheimnisvollem
Augenzwinkern zu, ich vermutete, eine Waffe. Aus dem Innern des Kupees
kam plötzlich ein kleiner, runder, satter Kaufmann aus Insterburg
oder Umgebung hervor.»Hören Se, junger Mann, ich nähme Ihren Platz ein, wenn Se nich wächgehn.«
Der junge Mann wendete sich um. »Sie brauchen sich nicht so aufzuregen.«Der andere: »Sonst känn ich glauben, Sä sind auch so een Jud. Aber Se sind ja een deutscher Mänsch.«
Darauf der Junge unter Hinweis auf sein Hakenkreuz: »Diese Beleidigung lasse ich nicht auf mir sitzen.«
Aus einer dunklen Kupeenische ächzte die Stimme eines Juden: »Immer Jud, Jud, was kann ich dafür, daß mein Vater ein Jud war?«
Später, beim Aussteigen in Königsberg, kam ich zufällig
mit der Hand an die Rocktasche des Hakenkreuzhelden. Ich tastete
mindestens einen Armeerevolver. In der Hand trug der junge Mann eine
Munitionskiste. Sie war sehr schwer.
Es wird gerüstet in Ostpreußen.
Joseph Roth
