Mark Twain: Der Interviewer
Machen wir nun einen großen Sprung nach Amerika. Dort nimmt in
der satirischen Schilderung von Presseverhältnissen und
Presseleuten der Schriftsteller Mark Twain (geboren 1835 in Florida,
gestorben 1910 in Redding/Connecticut, sein richtiger Name war Samuel
Langhorne Clemens) einen besonderen Platz ein. Mark Twain, der
nacheinander Setzerlehrling, Mississippilotse, Goldgräber,
Reporter in San Francisco und auf Hawaii und Lokalredakteur einer
bedeutenden Zeitung war, hat recht anschauliche Berichte über die
Entwicklung der amerikanischen Presse in der zweiten Hälfte des
vergangenen Jahrhunderts geschrieben. Da ist die wundervolle Geschichte
über das »Zeitungsmacken«
in dem amerikanischen Südstaat Tenessee, einem Land, in dem
— wenn man Mark Twain glauben darf — das Blei der
Pistolenkugeln fast eine größere Rolle bei der Gestaltung
einer Zeitung spielte als das Blei im Setzkasten, und da ist die
herrliche Skizze, in der Mark Twain erzählt, wie er — bar
jeder Fachkenntnis — eine landwirtschaftliche Zeitung redigiert.
In Amerika wurden auch das Interview und der Interviewer erfunden
— der Interviewer, für den ein Wiener Schriftsteller die
treffende Bezeichnung »Zusammenkünftler« prägte, mit der Erklärung: »Er kommt mit uns zusammen, ohne daß wir es wollen.« Auch Mark Twain traf einmal mit einem solchen Zusammenkünftler zusammen:
TWAIN: Herein!
REPORTER: Guten Tag, Mr. Mark Twain. Ich komme von der
»Täglichen Rundschau«. Ich hoffe, ich störe
nicht. Ich komme, um Sie zu interviewen.
TWAIN: Was wollen Sie mit mir machen?
REPORTER: Ich möchte Sie interviewen.
TWAIN: Ach so, ja – ja!
REPORTER: Sie wissen ja, es ist heute Mode, jeden Kerl zu interviewen, der irgendwie prominent geworden ist!
TWAIN: Wirklich, — ich habe früher noch nichts davon
gehört. Das muß ja sehr interessant sein! Was machen Sie
denn damit?
REPORTER: (für sich) Ach, gut — gut — das ist wirklich
entmutigend. Man sollte es in einigen Fällen wirklich mit dem
Gummiknüppel machen! (zu Twain) Normalerweise besteht ein
Interview darin, daß der Interviewer Fragen stellt und der
Interviewte die Fragen beantwortet. Alle Leute sind jetzt wild danach!
— Erlauben Sie mir nun, Herr Twain, Ihnen einige bestimmte Fragen
vorzulegen, um die bemerkenswerten Ereignisse Ihrer öffentlichen
und privaten Vergangenheit ans Licht zu bringen?!
TWAIN: Aber mit Vergnügen — mit Vergnügen! Ich habe
allerdings ein sehr schlechtes Gedächtnis! — Ich hoffe, Sie
machen sich nichts daraus. Um mich präziser auszudrücken
— ich habe ein unregelmäßiges Gedächtnis —
ein ungewöhnlich unregelmäßiges Gedächtnis!
Manchmal funktioniert es wie im Galopp, und dann wieder können
vierzehn Tage vergehen, bis ich an einen bestimmten Punkt komme. Das
ist mein ganzer Kummer!
REPORTER: Das macht nichts! Sie werden sicher Ihr Bestes tun!
TWAIN: Gewiß! Ich werde meine ganze Kraft einsetzen!
REPORTER: Danke! Können wir nun beginnen?
TWAIN: Bitte!
REPORTER: Wie alt sind Sie?
TWAIN: Neunzehn, im Juni!
REPORTER: Tatsächlich! Ich hätte Sie für
fünfunddreißig oder sechsundreißig gehalten! —
Und wo sind Sie geboren?
TWAIN: In Missouri.
REPORTER: Wann haben Sie mit dem Schreiben angefangen?
TWAIN: Im Jahre 1836.
REPORTER: Wieso? — Wie ist das denn möglich, wenn Sie erst neunzehn Jahre alt sind?
TwAIN: Ich weiß es auch nicht. Es erscheint bemerkenswert, irgendwie.
REPORTER: Tatsächlich! — Wen sehen Sie als den
bemerkenswertesten Mann an, der Ihnen im Laufe Ihres Lebens begegnete?
TWAIN: Aaron Burr.
REPORTER: Aber Sie können doch Aaron Burr niemals begegnet sein, wenn Sie erst neunzehn Jahre alt sind!
TWAIN: (ironisch) Na, wenn Sie besser über mich Bescheid wissen, als ich selbst, was fragen Sie mich denn noch?!
REPORTER: Nun, es war ja nur eine Andeutung, nicht mehr. Wo haben Sie denn Aaron Burr getroffen, Mr. Mark Twain?
TWAIN: Ja, ich war eines Tages auf seiner Beerdigung, und er bat mich, doch weniger Lärm zu machen, und — —
REPORTER: Aber um Himmels willen — wenn Sie auf seiner Beerdigung
waren, muß er doch tot gewesen sein, dann konnte es ihm doch
völlig gleich sein, ob Sie Lärm machten oder nicht.
TWAIN: Ich weiß es auch nicht! Er war immer ein sonderbarer Mensch, der Aaron Burr!
REPORTER: Das verstehe, wer will! Sie sagen einmal, er hat Sie angeredet, und dann wieder, er sei tot gewesen?!
TWAIN: Ich habe nicht gesagt, daß er tot war!
REPORTER: Aber war er denn nicht tot?
TWAIN: Ja, wissen Sie, einige sagten, er wäre tot, andere sagten wieder, er wäre es nicht!
REPORTER: Und wie ist Ihre Meinung?
TWAIN: (wegwerfend) Mich ging die ganze Geschichte ja nichts an! Es war ja schließlich nicht meine Beerdigung.
REPORTER: Erlauben Sie mir, daß ich etwas anderes frage: Sagen Sie mir bitte Ihren Geburtstag!
TWAIN: (düster) Montag, der 31. Oktober 1693!
REPORTER: Was! Unmöglich! Dann würden Sie ja über zweihundert Jahre alt sein! Wie erklärt sich das?
TWAIN: Da gibt es nichts zu erklären.
REPORTER: Aber Sie haben doch erst gesagt, Sie seien erst neunzehn
Jahre alt, und nun sagen Sie, Sie seien über zweihundert Jahre
alt?! Das ist ja ein kolossaler Widerspruch!
TWAIN: Was, — Sie haben es bemerkt?! — Lassen Sie mich Ihre
Hand drücken! — Oft ist es mir auch als ein Widerspruch
vorgekommen, aber irgendwie konnte ich keinen Entschluß fassen.
Wie schnell Sie das rausbekommen haben!
REPORTER: (räuspert sich verwirrt) Haben Sie, oder hatten Sie — Brüder oder Schwestern?
TWAIN: (nachdenklich) Ach — ich — ich glaube wohl, aber ich erinnere mich nicht!
REPORTER: Donnerwetter! Das ist wirklich die ungewöhnlichste Aussage, die ich in meinem Leben hörte!
TWAIN: Wieso denn? — Warum nehmen Sie das an?
REPORTER: Wie könnte ich anders? — Sehen Sie dort —
wer ist der auf dem Bild dort an der Wand? Ist es nicht Ihr Bruder?
TWAIN: 0 ja, ja, ja! Sie erinnern mich jetzt an ihn, das war ein
Bruder von mir. Es ist William — wir nannten ihn Bill — armer alter Bill!
REPORTER: Warum? — Ist er denn tot?
TWAIN: Nun, ich nehme es jedenfalls an. Wir sind uns nämlich
niemals ganz klar darüber geworden. Es war etwas Geheimnisvolles
um die ganze Sache.
REPORTER: Das ist traurig, sehr traurig. Er verschwand?
TWAIN: Nun ja, das kann man wohl sagen. Wir haben ihn beerdigt.
REPORTER: Beerdigt! Beerdigt, ohne zu wissen, ob er tot war oder nicht!
TWAIN: 0 nein, so war es nicht! Er war schon richtig tot!
REPORTER: Ich muß bekennen, daß ich das alles nicht
begreife. — Wenn Sie Ihren Bruder beerdigt haben und Sie
wußten, daß er tot war — —
TWAIN: (betont) Nein, Nein! — Wir glaubten nur, daß er tot war!
REPORTER: Jetzt verstehe ich. Er wurde wieder ins Leben zurückgerufen?
TWAIN: Ich wette, er wurde es nicht!
REPORTER: So etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gehört!
— Jemand starb. Jemand wurde beerdigt. Nun, wo ist denn da das
Geheimnisvolle?
TWAIN: Ja, das ist es eben! Genau das! Sehen Sie, junger Freund, wir
waren nämlich Zwillinge — der Verstorbene und ich —
und nun passen Sie genau auf, wir wurden in der Badewanne verwechselt,
als wir zwei Wochen alt waren, und einer von uns ertrank! Aber wir
wissen bis heute nicht, welcher von uns beiden! Einige meiner
Verwandten glauben, es war Bill, der ertrank. Andere wieder glauben,
daß ich es war!
REPORTER: Das ist erstaunlich. — Und was glauben Sie denn selbst?
TWAIN: Das weiß der Himmel! Ich würde schon etwas dafür
geben, um es zu wissen. (feierlich) Dieses ernste und furchtbare
Geheimnis hat mein ganzes Leben überschattet. — Aber Ihnen,
mein junger Freund, werde ich jetzt ein Geheimnis enthüllen, das
ich vorher noch niemals einem lebenden Menschen anvertraut habe. Einer
von uns beiden Zwillingen hatte ein besonderes Kennzeichen — ein
großes Muttermal auf dem Rücken der linken Hand — und
das war ich. (eindringlich flüsternd) Und das Kind mit dem
Muttermal war das, was in der Badewanne ertrank.
REPORTER: (nach einer Weile zögernd) Nun gut, ich weiß allerdings nicht, wo hier nun das Geheimnisvolle sein soll.
TWAIN: Sie wissen es nicht? Nun, ich weiß es. Immerhin ist doch
das verkehrte Kind beerdigt worden. Aber ich bitte Sie inständig,
erwähnen Sie es nicht, wenn es jemand von meiner Familie
hören kann!
REPORTER: Gut, ich glaube, ich hab' jetzt genug Material für
meinen Artikel, und ich darf Ihnen für die Mühe, die Sie mit
mir gehabt haben, herzlich danken. Aber noch eins — ich bin sehr
interessiert an Ihrem Bericht über Aaron Burrs Beerdigung.
Könnten Sie mir nicht sagen, aus welchen Gründen Sie glauben,
daß Aaron Burr ein bemerkenswerter Mensch gewesen ist?
TWAIN: Ach, das war bloß eine Kleinigkeit! Nicht einer unter
fünfzig würde es überhaupt bemerkt haben. —
Hören Sie, als die Predigt vorüber war, und der Trauerzug
sich für den Weg zum Friedhof formiert hatte, und Aaron Burr
hübsch auf dem Leichenwagen aufgebahrt war, richtete er sich auf
und sagte, er wolle noch einen letzten Blick auf die Landschaft werfen.
Ja, und er stand denn auch tatsächlich auf und setzte sich neben
den Kutscher.
(Man hört einen Stuhl umfallen, Stöhnen, dann Stille)
TWAIN: Nanu! Da ist der junge Mann doch tatsächlich in Ohnmacht
gefallen! Ja, die jungen Leute heutzutage haben alle schlechte Nerven.
05.05.12