Unerwünschte Bewegung in Nord-Afrika

Kaum einen Monat ist es her, als sich die pluralistischen Medien des demokratischen Imperialismus übereinstimmend über einen Herrscher vor den Toren EU-Europas vehement erzürnten: Er hieß nicht Ben Ali und hatte unvergleichlich weniger Leichen im Keller als der. Der nämlich konnte nicht in die Kritik geraten, weil er seit gut 23 Jahren eine Lizenz zur Wahrung imperialistischer Interessen in Tunis und Umgebung und dafür wiederum einen Freibrief hatte, nach Gutdünken mit seiner Untertanenschaft zu verfahren, Mord und Folter inklusive versteht sich, welche zur Niederhaltung kritischer Elemente des Volkskörpers dienten. Für die Erfüllung der ihm übertragenen Aufgaben wurde ihm und seinem Clan denn auch persönliche Bereicherung als Entschädigung zugestanden. Kurzum, es gab keinerlei Grund zur Aufregung oder Beunruhigung. Ganz anders bei demjenigen, der Wahlen ansetzte, um sich von der Mehrheit seiner Untertanen im Amt bestätigen zu lassen, die er dann auch klar gewann, ohne daß es dazu irgendwelcher größerer oder gar maßgeblicher Fälschungen bedurfte. Der imperialistische Vorwurf ging denn auch dahin, daß der Opposition nicht der entsprechende Freiraum und die entsprechenden Mitteln eingeräumt gewesen wären, die ihr eine wirkliche Chance auf einen Machtwechsel gelassen hätte. Nicht nur im Falle Tunesien wäre das ein undenkbarer Vorwurf gewesen. Selbst in einer demokratischen Republik wie der BRD gibt es den Vorwurf nicht: Hier schafft das Kapital mit seinem Einfluß die ungleichen Bedingungen, an denen sich die - ja ebenfalls kapitalistisch strukturierte - Öffentlichkeit überhaupt nie stört.
Tunesien jedenfalls stand außer jeglicher imperialistischer Kritik, es war ja funktional und galt deshalb als Hort der Stabilität, ein Hort der Stabilität in einer nur allzu instabilen arabisch-islamischen Welt; sein Herrscher, Ben Ali, ein in Frankreich und den USA geschulter Militär- und Geheimdienstmann, galt als verläßlich, seine Einreihung in den Antiterrorkampf der USA wurde von diesen ausdrücklich gewürdigt. Seine politischen Gefangenen, seine Morde und die Niederschlagung jeder Regung aus dem Volk, sei es von Studenten, sei es von Arbeitern - man denke an die fortwährenden Streiks der Arbeiter in den Fosfatbergwerken von Gafsa gegen Massenentlassungen und miserable Arbeitsbedingungen -, von allen zusammen gegen die Erhöhung der Lebensmittelpreise und von den religiös Bewegten, die nicht lange Gründe suchen mußten, sich als Anwalt der Armen in Szene zu setzen.
Jetzt, im nachhinein gilt der Diktator freilich ein wenig zu unrecht als verläßlich. Man hätte sich vorzugsweise den neulich so vehement inkriminierten Staat in Auflösung begriffen vorgestellt als eben Tunesien unter Ben Ali, einem Vorbild an arabischer Demokratie und gemäßigt islamischer Herrschaft. Für das deutsche Deppenblatt Spiegel galt er bis zum Tag vor seiner Flucht aus dem Amt und Land als lediglich »diktatur-ähnlich« - ganz im Gegensatz zu dem, der seine Grenzen nicht fürs westeuropäische Kapital zu öffnen gewillt ist, weil er offenkundig und nicht ganz uneigennützig vermeiden will, daß es zu Hungeraufständen kommt, wenn die Leute erstens keine Arbeit und zweitens damit auch nicht mehr genügend Geld zur Verfügung haben. Dann freilich ist die Lage eine andere. Dann erfordert es eben einen starken Mann, der die Härten gegen die Untertanenschaft auch durchsetzt. Aber doch keinen, der sie vermeiden möchte! Ja, es ist das Verbrechen Ben Alis, sich jetzt aus der Verantwortung zu stehlen, jetzt, nachdem in den letzten Jahren das auswärtige Kapitalinvestment in den Keller gesackt, der Tourismus rückläufig ist und die Bevölkerung, so arm sie ohnehin schon war, noch mehr verarmt ist. Jetzt, wo die ehrenvolle Aufgabe, die afrikanischen Flüchtlingsströme von Europas Küsten fernzuhalten, mehr denn je einen starken Mann erfordert! Jetzt auf einmal sollen die Völkerschaften Tunesiens von selber begreifen, was die imperialistische Glocke geschlagen hat: Ganz so, als ob die angetragenen Aufgaben, demokratisch genausogut abzuwickeln wären! Also ganz so, als ob ausgerechnet im ökonomischen Desaster die Rettung in der Änderung der politischen Verfahrensweisen bestehen könnte!
Kurzum, in der EU-europäischen Politik- und Journaille-Szene denkt man jetzt an politische Alternativen zur ökonomischen Alternativlosigkeit eines Drittweltstaates - die 1988 von Ben Ali - unter den Maßgaben des IWF - eingeleitete Privatisierungspolitik (bei gleichzeitiger Schließung der letzten Autofabrik des Landes!) muß längst als gescheitert betrachtet werden -: Exemplarisch für diese Dummheit, die politische Lösung des ökonomischen Desasters steht das Interview eines SPD-EU-Politikers (Gloser aus Nürnberg) in der AZ(20.01.11), der, heuchlerisch den Umsturz begrüßend, gleich schon wieder weiß, was Tunesien nottut: Den sollte man lieber mal fragen, warum die Partei des tunesischen Präsidenten (Rassemblement Constitutionnel Démocratique) in der sozialdemokratischen Organisation der Sozialistischen Internationale vertreten war - er wirft eine neuerliche Beteiligung ehemaliger Regierungsmitglieder dieser Partei in die Diskussion - und nicht die sozialdemokratischen Splittergruppen (Rassemblement Socialiste Progressiste und Mouvement de Démocrates Socialistes). Jene RCD hatte Ben Ali selber in diesen Namen umbenannt, in bewußter Abgrenzung zur bisherigen Parti Socialiste Destourien. Das ist insofern interessant, als er damit genau den heutigen imperialistischen Ansprüchen an ein islamisches Land entgegengekommen war: Die Religiösen nicht ausgrenzen - sie mußten den laizistischen Begriff Destourien, welcher aus vorislamischer, türkischer Epoche stammt und den man so gar nicht übersetzen kann, bewußt als Ausgrenzung empfinden - und einbinden, wie es der Begriff demokratisch nahelegt: Also in die Moschee gehen ja, aber in politischen Fragen die Klappe halten, selbst wenn einem Muezzin der Ruf verboten wird, sobald sich ein Angehöriger des Herrscherclans nach einer Saufnacht gestört fühlt.
Sozialdemokratische Imperialisten finden das natürlich alles voll geil und allenfalls im nachhinein etwas übertrieben diktatorisch.

Kurzum, es ist schön zu sehen, daß der Imperialismus zwei Sorten Diktatoren kennt, welche, die er unbedingt weghaben will und andere, die er bis zu ihrem Abgang bedingungslos fördert und fordert. Für ein imperialistisches Vorkämpferblatt wie die FAZ stellt sich sogleich die Frage, wie das alles wieder ins rechte Licht gerückt werden kann, nachdem der Diktator Tunesiens sich seines Landes entledigt hat. Jetzt muß an der anderen Front gekämpft werden, dort, wo einer keineswegs weder ans Aufgeben denkt noch daran, sein Volk den westlichen Ansprüchen umstandslos auszuliefern, Ansprüche, die nichts als Not und Elend verheißen, wie überall dort so schön zu beobachten ist, wo ein Statthalter des Imperialismus residiert. Unerträgliche Lebensverhältnisse, die findet der  »freie Westen« erträglich, erträgliche unerträglich, im wahrsten Sinne des Wortes, unerträglich für seine politischen Ansprüche und für sein Kapital.
Es stellt sich also die Frage, wie neue, kapitalerträgliche Verhältnisse herzustellen sind. Und es ist naheliegend, daß dabei an Sanktionen aller Art gedacht wird, Sanktionen die im Falle der tunesischen Diktatur nie ein Thema waren. Im Falle Tunesiens war das Abdanken des Diktators praktisch ein Selbstläufer der ökonomischen Entwicklung, ganz anders im anderen Fall, wo ja gerade die ökonomische Entwicklung diktatorisch verhindert werden soll, die Tunesien und seine Bevölkerung jetzt ins Bodenlose zu stürzen droht.

Ist es nicht schön zu sehen, wie sich »Souveränität« buchstabiert? Dem einen wird sie zu-, dem anderen aberkannt. Der eine hält an ihr fest als letztes Unterpfand gegen einen kapitalistischen Ruin seines Landes, der andere gibt sie auf, aller trügerischen Hoffnungen auf eine kapitalistische Zukunft beraubt.

Einigermaßen verwundert zeigt sich die westliche Öffentlichkeit auch hinsichtlich dessen, daß die organisierte Opposition eigentlich so gar keine Opposition war und ist, verwundert im Falle Tunesien, eher enttäuscht im anderen Falle. Doch sogleich hat man gewußt, woran das liegt, nämlich am Fehlen eines Führers! Wie schön, wenn sich die Opposition also auch noch an den imperialistischen Führungssorgen beteiligen darf: Das politische und ökonomische Programm liegt schon fest, aber beim Führen soll sie gefälligst mitmischen, damit ein Ersatzführer Gewehr bei Fuß steht, wenn der etablierte Führer ausfallen sollte bzw. wenn der imperialistischerseits unerwünscht ist, weil er sich an der Agenda vergeht.
Das Führen wäre freilich eine arg blöde einseitige Angelegenheit, wenn es an Gefolgschaft fehlte: Das aber würde bedeuten, daß sich der »freie Westen« offensiv zur nötigen Verarmung auch in den Drittweltstaaten bekennt und die Verarmung als das Rezept preist, worüber sich geniale Typen zu Diktatoren aufzuschwingen verstehen. Diktatoren im westlichen Sinne freilich, ermächtigt unter der Meinungsmache freier Medien in davor vorgesehenen freien Wahlen - und wenn die Opposition mitspielt, dann reichen da auch schon 50,01 % und brauchen keine sagenhafte 99,27 %, die Ben Ali bei seiner ersten Wahl-Akklamation erhielt, als alle Nicht-Ausgeschlossenen noch an einen angekündigten
Aufschwung kapitalistisch-imperialistischen Rezepts glaubten. Eine solch treudoofe Aufschwungseuforie in der angeblich letzten verbliebenen Diktatur Europas zu erzeugen, ist nicht einfach, doch gibt es etwas, woran der »freie Westen« in seinem unverdrossenen Wahn nicht glaubt? Am wenigsten sicherlich an seine Lügen!

(20.01.11)

[Wie der Römer Cato in weiseer Voraussicht schon sagte: Ceterum censeo Carthaginem esse delendam nec imperium Romae nec imperium pecuniae. Roma imperat et pecunia non olet. Vielleicht wissen jetzt manche, warum an deutschen Schulen Latein gelehrt wird!]