Türkei: Die EU erpreßt ihren NATO-Partner, als wäre der ein Feindstaat
Das Interesse des Imperialismus - sowohl des europäischen
wie des US-amerikanischen - an der Türkei ist immens. In strategischer
Hinsicht. Zum einen gegen die angrenzenden Staaten Irak, Iran und Syrien -
somit zur gesamten "Krisenregion" Naher Osten -, zum anderen - wie damals
gegen die UdSSR - heute gegen das neue Rußland. Die neue Erdölleitung
von Baku über Tiflis nach Ceyhan (und die geplante Abzweigung nach Mitteleuropa)
mit der Intention, Erdöl aus dem Kaspischen Meer an Rußland vorbei
direkt in den Westen zu schaffen, diese Pipeline dokumentiert dies nachdrücklich.
Während die USA strategisch wichtige Militärstützpunkte in
der Türkei unterhalten - u.a. den Atomwaffenstützpunkt Incirlik
- versucht die EU dieses strategische Defizit gegenüber den USA mit den
Beitrittsverhandlungen, die die Stärkung der EU zum Ziel haben, wettzumachen.
Und zwar so, daß sich die Türkei, selbst NATO-Mitglied, allen
Ordnungsvorstellungen der EU umstandslos zu unterwerfen hat. Erst wenn die
Türkei mit ihrem wirklich nicht unbeträchtlichen Gewaltapparat dermaßen
in Europa verankert ist, wird sie die strategische Verstärkung Europas
sein, werden ihre Streitkräfte umstandslos zu den europäischen hinzugezählt
werden können. Dafür übt die EU erheblichen Druck auf die Türkei
aus, den Einfluß des Militärs auf die Politik zu beschränken:
Dem nationalen Sicherheitsrat, der die Politik der türkischen Regierung
jahrzehntelang diktierte, steht jetzt erstmals ein (ziviles) Regierungsmitglied
vor. Das und der wachsende Einfluß des türkischen Parlaments auf
den Verteidigungshaushalt sind der EU freilich noch überhaupt nicht genug.
Noch immer besitzt das Militär zuviel nicht EU-konforme Macht. Das zeigt
sich im wesentlichen an den beiden von der EU zu essentiellen Fragen gemachten
Punkten: Der Kurden- und der Zypernfrage.
Die Kurden sind, von der EU zum Menschenrechtsfall erkoren, der Stachel im
Fleisch der Türkei selber, den sie, was immer sie auch tun mag, gar nicht
loswerden kann. Dabei unterscheiden sich die Integrationsmethoden der Türkei
gar nicht einmal so sehr von den hierzulande gegenüber Ausländern
angewandten - der einzig wesentliche Unterschied besteht darin, daß
die Türkei ihre Kurden nicht einfach abschieben kann, wenn sie ihr nicht
passen, weshalb sie liquidatorische Mittel einsetzt. Die Kurden eignen sich
also hervorragend, der Türkei ihre mangelnde Unterwerfungsbereitschaft
ein ums andere Mal vorzuhalten, da braucht sich wirklich niemand mehr an Abdullah
Öcalan zu erinnern. Was für die Inlandskurden gilt, gilt erst recht
für die Auslandskurden in den türkischen Anrainerstaaten. Über
sie hat die Türkei nicht zu verfügen, die gehören "uns" und
sind ein lebender Beweis für die Grenzen der Ansprüche der Türkei
nach sicheren Grenzen. Ein konkurrierendes imperialistisches Interesse diesbezüglich
gilt es - und das betrachten hauptsächlich, aber nicht nur die USA als
ihre Aufgabe - zu beschränken.
Das gilt auch für den anderen Zankapfel, Zypern. Dessen griechischer
Teil ist seit 2004 EU-Mitglied - als pars pro toto! Nichtsdestotrotz stehen
im Nordteil Zyperns 30.000 türkische Soldaten, die einer europäischen
Vereinigung Zyperns, so die EU-Sicht, störend im Wege stehen und durch
nichts legitimiert sind. Und während die Zyperntürken EU-Fähnchen
schwenken in der (weitgehend illusorischen) Erwartung einer besseren Zukunft
in der EU, knüpfen die Zyperngriechen an ihre Zustimmung die gewaltmäßige
Bereinigung der Lage: Abzug des türkischen Militärs. Besser könnten
die Karten für einen kolossalen, raumgreifenden Fortschritt des EU-Imperialismus
gar nicht gemischt sein. Welcher Verantwortliche in der EU mag da an noch
so minimale Konzessionen denken?
Beide Fälle - die Kurden und Zypern zusammen - ergeben eine umfassende
Klarstellung an die Adresse der Türkei und ihre Ambitionen: Außerhalb
des türkischen Territoriums hat die Türkei nichts verloren, weil
dort alles in EU-Regie (bzw. US-Regie) geregelt wird und in besten Händen
ist. Und in Sachen Innenpolitik hat sie europäische Richtlinien umstandslos umzusetzen.
Kein (deutsch-)europäischer Politiker will die Türkei nicht
in Europa haben, nur so, wie die Türkei ist und sich mit eigenen
Staatsinteressen versteht, will sie keiner in Europa haben. Das, was an
Unterwerfung der türkischen Gastarbeiter in der BRD längst
durchgesetzt ist und allenthalben verfeinert wird, das wird nun mit dem
ganzen Staat Türkei versucht. Daß sich das nicht auf eine
Kopftuchfrage (und damit auf den ganzen religiösen Quark - die
derzeitige Regierung unter Ministerpräsident Erdogan ist
konservativ orientiert, seine Frau trägt Kopftuch) reduzieren
läßt, ist ebenso klar, wie umgekehrt, daß die
Kopftuchfrage (d.h. die "Emanzipation" der Frau) Ausdruck des ungemein
prinzipiellen Unterwerfungsanspruchs gegenüber der Türkei
ist, den sie zu erbringen hat. Die EU sagt der Türkei, daß
sie ihre Pappenheimer schon am Kopftuchtragen erkennt, und da die doch
wohl nicht als solche erkannt werden möchten, sollen sie sich
gefälligst beugen: Politisch und militärisch; ökonomisch
(als IWF-abhängig) und kulturell sowieso.
Und wenn die Türkei aufgrund ihrer (partiellen) Verweigerung "Europa
vergessen kann" (Prof. Dr. U. Steinbach, dt. Orientinstitut Hamburg, in: greenpeace
magazin 4.06), was dann? Europa kann selbstverständlich deshalb noch
lange nicht die Türkei vergessen, weil es sich mit der Eingemeindung
der Türkei ein Projekt vorgegeben hat, an dem es sich selber messen lassen
will, nicht zuletzt in Konkurrenz zu den USA.
(Zum Thema Türkei siehe auch: GegenStandpunkt 3/2000 und 2/2004)