Sendung über Nietzsche in Radio Orange (mp3) / Teil 1 / Teil 2
Friedrich NIETZSCHE
Gottesmörder, Hitler-Vordenker, Frauenfresser, Genie, Wahnsinniger, oder was?
Das Bekenntnis zu höheren Werten, das mit ihnen bewerkstelligte
Verehren und Verurteilen von sich und anderen, der Wahn von Leuten, die
sich moralisch im Recht wissen und denen man nichts recht machen kann,
die Ausdeutung dieses Wahns zu einer ganzen Weltanschauung, in der Gut
und Böse ihren fiktiven Kampf führen — kurzum, Moral
und Religion waren Nietzsche zutiefst zuwider. Die Verlogenheit von
Moralisten und Christen hat er so gehaßt, daß er sich zu
einer Polemik entschlossen hat, die streckenweise ebenso lehrreich wie
unterhaltsam ist. Davon einige Kostproben.
I. Analyse der Techniken des moralischen und religiösen Selbstbetrugs
Die penetrante Tour von moralisch denkenden Zeitgenossen, die Selbstkritik partout mit einem schlechten Gewissen
verwechseln wollen und lieber wie die begossenen Pudel durch die Gegend
laufen, als einmal einen Fehler einzusehen und dann zu lassen, hat
Nietzsche nicht leiden können. Er hat dieses Benehmen
überhaupt nicht für selbstverständlich gehalten, sondern
mehr für eine "Krankheit" seiner Zeit, von der man sich besser
nicht anstecken läßt. Als historisch gebildetem Menschen war
ihm geläufig, daß einem vorbürgerlichen
Bewußtsein, die Strafe für ein Vergehen kein Anlaß
war, sich seines Willens zu schämen.
"(Sklaven sagten)
nicht: 'das hätte ich nicht tun sollen' -, sie unterwarfen sich
der Strafe, wie, man sich einer Krankheit oder einem Unglücke oder
dem Tode unterwirft, mit jenem beherzten Fatalismus ohne Revolte..." (Genealogie, 15)
Bürgerliche Zeitgenossen hingegen schaffen es
regelmäßig, das, was sie wollen und tun, zu verurteilen. Sie
kennen nicht nur ihr Interesse als Leitlinie ihres Handelns, sondern
nennen höhere Rechtsmaßstäbe ihr eigen, denen sie
genügen wollen, an denen sie ihr Interesse messen, und sie nehmen
sich die immer wieder fälligen Abweichungen von ihrem moralischen
Willen schwer zu Herzen.
"In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum." (Menschliches, Allzumenschliches, 57).
Als solcher beurteilt er sich und seine Taten nach einem doppelten
Maßstab: Er will etwas, weiß und anerkennt zugleich,
daß er das nicht darf, will es trotzdem und macht sich ein
Gewissen daraus.
In diesem Fall folgt der Selbstverurteilung die Strafe der
Zerknirschung, und mit der Reue ist der inneren Gerechtigkeit auch
schon wieder Genüge getan. So ist das schlechte Gewissen der
umständliche Weg zu einem guten.
Wer sich so ein gutes Gewissen
zurecht gelegt hat, der weiß sich im Einklang mit dem, was
Anstand und Sitte verlangen, und ist deswegen zu den
Unverschämtheiten fähig, die den bürgerlichen Alltag mit
seinen vor Rechtschaffenheit strotzenden Menschen so angenehm macht. So
einem ist nicht nur selbstverständlich, daß es in Ordnung
geht, wenn er bei der Verfolgung seiner Interessen anderen auf die
Füße tritt. Er läuft als Vorbild für die
Menschheit durch die Welt und deswegen ist es für ihn geradezu
eine moralische Pflicht, sich zum Richter über andere
aufzuschwingen; und als solcher allen denen, die nicht von derselben
moralischen Güteklasse sind, von Herzen alles Üble an den
Hals zu wünschen:
"Da
ist ein mißratener Mensch, der nicht genug Geist besitzt, um sich
dessen freuen zu können, und gerade Bildung genug, um das zu
wissen; ... ein solcher, der sich seines Daseins im Grunde schämt
– vielleicht beherbergt er dazu ein paar kleine Laster –
... gerät schließlich in einen habituellen Zustand der
Rache, des Willens zur Rache ... was glaubt ihr wohl, daß er
nötig, unbedingt nötig hat, um sich bei sich selbst den
Anschein von Überlegenheit ... zu schaffen? Immer die
Moralität, darauf darf man wetten, immer die großen
Moralworte, immer das Bumbum von Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligkeit,
Tugend ... und wie alle die Idealistenmäntel heißen, unter
denen die unheilbaren Selbstverächter auch die unheilbar Eitlen,
herumgehen." (Die fröhliche Wissenschaft, 359)
Dabei war Nietzsche so schlau, das Fänomen, daß Leute mit
der Berufung auf die allerhöchsten Titel die banalsten Interessen
rechtfertigen, nicht als doppelte Мoral zu "entlarven" und einem Mißbrauch
der Moral zuzuschreiben. Er wußte, daß das Doppelte
notwendig zur Moral dazugehört, weil sie ohne Berechnung und
Verlogenheit nicht zu haben ist:
"Das Lob des
Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften ..., dieses Lob ist jedenfalls
nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit entsprungen! Der
'Nächste' lobt die Selbstlosigkeit, weil er durch sie Voreile hat! Dächte der 'Nächste' selber selbstlos, so würde er jenem Abbruch an Kraft, jene Schädigung zu seinen
Gunsten abweisen, der Entstehung solcher Neigungen entgegenarbeiten und
vor allem seine Selbstlosigkeit eben dadurch bekunden, daß er
dieselbe nicht gut
nennte! – Hiermit ist der Grundwiderspruch jener Moral
angedeutet, welche gerade jetzt sehr in Ehren steht: Die Motive zu
dieser Moral stehen im Gegensatz zu ihrem Prinzip!
Das, womit sich
diese Moral beweisen will, widerlegt sie aus ihrem Kriterium des
Moralisten ... Sobald ... der Nächste (oder die Gesellschaft) den
Altruismus um des Nutzens willens
empfiehlt, wird der gerade entgegengesetzte Satz: 'Du sollst den
Vorteil auch auf Unkosten alles anderen suchen' zur Anwendung gebracht,
also in einem Atem ein 'Du sollst' und 'Du sollst nicht' gepredigt!" (Die fröhliche Wissenschaft, 21)
Nietzsche wartet hier mit der Entdeckung auf, daß das Ideal der
Selbstlosigkeit, das noch zu jeder moralischen Selbstdarstellung
gehört, eines ist, mit dem sich allemal Interessen
ins rechte Licht setzen; und er weiß, daß dieser
Widerspruch notwendig ist. Der pur negative Imperativ der
Selbstlosigkeit läßt sich nämlich gar nicht
praktizieren. So öd, wie die moralfilosofischen Prediger dieses
Ideals meinen, sind nämlich noch nicht einmal Moralisten,
daß sie ihr Interesse prinzipiell für null und nichtig
erklären würden. Deswegen bedürfen auch die Verfechter
dieses Ideals, wenn sie es begründen, der gegenteiligen Maxime
– Selbstlosigkeit nützt.
Dieser Grund oder das "Motiv", wie Nietzsche sagt, rückt
allerdings die edle Maxime in ein zweifelhaftes Licht. Sie ist eben
kein wirkliches Motiv – was die Leute wirklich treibt und
treiben, steht auf einem ganz anderen Blatt. Sondern sie ist Mittel der
Selbstdeutung, der moralischen Selbstüberhöhung, für die
ein gediegenes Maß an Selbstverleugnung offenbar das "Argument"
abgibt.
Dasselbe gilt übrigens auch für den umgekehrten Fall, in dem
ein Schaden in eine selbstlose Tat desjenigen umgelogen wird, der ihn
gerade erlitten hat:
"Will jemand ein wenig in das Geheimnis hinab- und hinuntersehen, wie man auf Erden Ideale fabriziert?
Wer hat den Mut dazu? ... Die Schwäche soll zum Verdienste
umgelogen werden, ... und die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur
'Güte'; die ängstliche Niedrigkeit zur 'Demut'; die
Unterwerfung vor denen, die man haßt, zum 'Gehorsam'... Wenn die
Unterdrückten, Niedergetretenen, Vergewaltigten aus der
rachsüchtigen List der Ohnmacht heraus sich zureden: 'Laßt
uns anders sein als die Bösen, nämlich gut! Und gut ist
jeder, der nicht vergewaltigt, der niemanden verletzt, der nicht
angreift, der nicht vergilt, der die Rache Gott übergibt, der sich
wie wir im Verborgenen hält, der allem Bösen aus dem Wege
geht und wenig überhaupt vom Leben verlangt, gleich uns, den
Geduldigen, Demütigen, Gerechten' – so heißt das, kalt
und ohne Voreingenommenheit angehört, eigentlich nichts weiter
als: 'Wir Schwachen sind nun einmal schwach; es ist gut, wenn wir
nichts tun, wozu wir nicht stark genug sind';
aber dieser herbe Tatbestand, diese Klugheit niedrigsten Ranges, welche
selbst Insekten haben, hat sich dank jener Falschmünzerei und
Selbstverlogenheit der Ohnmacht in den Prunk der entsagenden stillen
abwartenden Tugend gekleidet, gleich als ob die Schwäche des
Schwachen selbst – das heißt doch sein Wesen, sein Wirken,
seine ganze einzige unvermeidliche, unablösbare Wirklichkeit
– eine freiwillige Leistung, etwas Gewolltes, Gewähltes,
eine Tat, ein Verdienst sei." (Genealogie, 13)
*
Diese Tour, sich in der Einbildung zum selbstbewußten Subjekt
einer Lage zu stilisieren, deren Subjekt man offenkundig nicht ist, hat
Nietzsche insbesondere zu einer Kritik von Religion und Christentum
beflügelt. Die Kombination aus freiwilliger Selbsterniedrigung und
Selbstgerechtigkeit, die Christenmenschen an den Tag legen, war ihm
einfach zuviel. Er hat sich deshalb auch nicht lange mit der lahmen
Bestreitung der Existenz Gottes aufgehalten, die doch bloß an
Zweifeln herumlaboriert, welche die Christen selber hegen, sondern sich
gleich den Inhalt der gläubigen Vorstellungen zur Brust genommen.
Was Christen mit ihrem Verstand anstellen, hielt er für so
ziemlich die niederste Art, seinen Geist zu betätigen, und sein
Vergleich mit dem Willen, sich durch Drogen zu betäuben, liegt ja
nicht ganz fern. Christen beherrschen den Kniff, in ihrem
Verhältnis zur Welt, deren Unbill als einen eigens für sie
erfundenen Prüfstein zurechtzulügen; so verwandeln sie sich
das wirkliche Übel in ein erfundenes Gut:
"Wenn uns ein
Übel trifft, so kann man entweder so über dasselbe
hinwegkommen, daß man seine Ursache hebt, oder so, daß man
die Wirkung, welche es auf unsere Empfindung macht, verändert:
also durch ein Umdeuten des Übels in ein Gut, dessen Nutzen
vielleicht erst später ersichtlich sein wird. Religion und Kunst
(auch die metafysische Filosofie) bemühen sich, auf die
Änderung der Empfindung zu wirken, teils durch Änderung
unseres Urteils, teils durch Erweckung einer Lust am Schmerz ... Je
mehr jemand dazu neigt, umzudeuten und zurechtzulegen, umso weniger
wird er die Ursachen des Übels ins Auge fassen und beseitigen; die
augenblickliche Milderung und Narkotisierung, wie sie z.B. bei
Zahnschmerz gebräuchlich ist, genügt ihm auch in ernsterem
Leiden. Je mehr die Herrschaft der Religionen und aller Kunst der
Narkose abnimmt, umso strenger fassen die Menschen die wirkliche
Beseitigung der Übel ins Auge." (Menschliches, Allzumenschliches, 108)
Nun steht er da, der Christ, vor seinem Prüfstein, und darf sich ob seiner Verfehlungen auf die Brust schlagen:
"Es ist ein
Kunstgriff des Christentums, die völlige Unwürdigkeit,
Sündhaftigkeit und Verächtlichkeit des Menschen
überhaupt so laut zu lehren, daß die Verachtung des
Mitmenschen dabei nicht mehr möglich ist. 'Er mag sündigen,
wie er wolle, er unterscheidet sich doch nicht wesentlich von mir: Ich
bin es, der in jedem Grade unwürdig und verächtlich ist', so
sagt sich der Christ. Aber auch dieses Gefühl hat seinen
spitzigsten Stachel verloren, weil der Christ nicht an seine
individuelle Verächtlichkeit glaubt: er ist böse als Mensch
überhaupt und beruhigt sich ein wenig bei dem Satze: wir alle sind
einer Art." (Menschliches, Allzumenschliches, 117)
Der Übergang von der Selbsterniedrigung zur Selbstgerechtigkeit des Christen war Nietzsche also geläufig. Er liegt im Bekenntnis
zur eigenen Sündhaftigkeit, mit dem sich Christen auf dem
richtigen Pfad wissen und sich über den Rest der Menschheit
erheben. Was für eine jämmerliche Figur er dabei abgibt, kann
man wieder bei Nietzsche nachlesen. Der Widerspruch vom Maßstab
eines antimaterialistischen Jenseits für ein Zurechtkommen mit dem
unheiligen Diesseits gebiert den Alltagschristen, dessen Heuchelei
Nietzsche als eine sehr folgerichtige, schon fast als seiner Kritik
unwürdige Dummheit ansah:
"Wenn das
Christentum mit seinen Sätzen vom rächenden Gotte, der
allgemeinen Sündhaftigkeit, der Gnadenwahl und der Gefahr einer
ewigen Verdammnis recht hätte, so wäre es ein Zeichen von
Schwachsinn und Charakterlosigkeit, nicht Priester, Apostel oder
Einsiedler zu werden und mit Furcht und Zittern einzig am eigenen Heile
zu arbeiten; es wäre unsinnig, den ewigen Vorteil gegen die
zeitliche Bequemlichkeit so aus dem Auge zu lassen. Vorausgesetzt,
daß überhaupt geglaubt
wird, so ist der Alltagschrist eine erbärmliche Figur, ein Mensch,
der wirklich nicht bis drei zählen kann, und der übrigens,
gerade wegen seiner geistigen Unzurechensfähigkeit, es nicht
verdiente, so hart bestraft zu werden, wie das Christentum ihm verheißt." (Menschliches, Allzumenschliches, 116)
*
Und weil er diese Techniken der moralischen Selbsterniedrigung und
gläubigen Selbstgerechtigkeit nicht leiden konnte, kritisierte
Nietzsche auch die professionellen Lobhudler dieser Touren. An seinen
filosofierenden Kollegen entdeckte er das banale Bedürfnis, die
allseits praktizierte Demutshaltung durch gelehrte Frasen zu
rechtfertigen.
"Was die Filosofen
'Begründung der Moral' nannten und von sich forderten, war, im
rechten Lichte gesehen, nur eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, ein neues Mittel ihres Ausdrucks,
also der Tatbestand selbst innerhalb einer bestimmten Moralität,
ja sogar, im letzten Grunde, eine Art Leugnung, daß diese Moral
als Problem gefaßt werden dürfe – und jedenfalls das Gegenstück einer Prüfung, Zerlegung, Anzweiflung, Vivisektion eben dieses Glaubens." (Jenseits von Gut und Böse, 186)
Eine eigenartige Wissenschaft, die die Moral zum Gegenstand hat und
sich die Analyse ihres Gegenstands versagt, bloß weil sie auf die
Moral nichts kommen lassen will. Daß sie sich dabei
mordsmäßig ins Zeug legen und der Moral enorme Bedeutung zu
verleihen suchen, fand Nietzsche eher lächerlich:
"Alle Ethiken
waren zeither bis zu dem Grade töricht und widernatürlich,
daß an jeder von ihnen die Menschheit zugrunde gegangen sein
würde, falls sie sich der Menschheit bemächtigt hätte." (Fröhliche Wissenschaft, 1)
*
Schön langsam freilich wäre die Frage fällig gewesen,
was vernünftige Wesen zu solchen Meisterleistungen der Unvernunft
bringt, wieso Moralisten stets doppelt urteilen, ihre Interessen nur
unter dem Vorbehalt höherer Maßstäbe gelten lassen
wollen und diese wiederum sehr selbstbewußt ihren eigenen
Interessen gemäß zur Anwendung bringen. Die Auflösung
dieser Frage hätte an dem Widerspruch weiterzudenken, den
Nietzsche den moralisierenden Menschenkindern um die Ohren gehauen hat:
Er hielt es für erniedrigend und für eine Schande, daß
sie für das eigene Dürfen argumentieren.
Dieser Widerspruch ist in der Tat alles andere als
selbstverständlich und auch nicht in der Menschennatur angelegt.
Er entspringt einer Welt, in der eine rechtsetzende Gewalt die
Verfolgung von Privatinteressen konzessioniert; in der im staatlich
gesetzten Recht die Bedingungen formuliert sind, die jedes
Privatsubjekt anerkennen muß, will es sein Interesse
betätigen; und in der deswegen die Frage des Dürfens in allen
Überlegungen präsent ist und die Leitlinie vorgibt, nach der
sich Interessen begründen. Wer solche Verhältnisse als seine
Heimat begreift, der legt sich mit dem Willen, mit ihnen
zurechtzukommen, auch den entsprechenden Verstand zu: Er argumentiert
im Geist der Rechtfertigung und handhabt selbstbewußt die
Maßstäbe des Dürfens, als wären sie auf seinem
eigenen Mist gewachsen. Wirkliches Recht und eingebildetes Recht gehen
bei ihm nun endgültig durcheinander, was aber nicht weiter von
Bedeutung ist, weil er nach wie vor praktisch gezwungen ist, sich an
ersteres zu halten, und seine moralischen Überlegungen nur die
dazugesetzte Selbsttäuschung mit Inhalt füllen, die
Abhängigkeiten, denen er genügen muß, würden auf
seiner Einsicht beruhen und er würde in ihnen nur seiner Freiheit
nachgehen.
Solch eine Rückführung der Sfäre moralischer
Einbildungen auf den Boden der Tatsachen ist dem Autor einer
"Genealogie der Moral" überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Im
Gegensatz zu seinen Befunden über das merkwürdige Betragen
seiner Zeitgenossen bewegt sich seine Erklärung der Moral ganz
innerhalb der Vorstellungswelt und Einbildungen, die das
moralfilosofische Menschenbild ausmachen. Von wegen: "Jenseits von Gut
und Böse"!
II. Antimoral — Der Gegensatz von Vernunft und Interesse umgekehrt
Wo die Morafilosofie den Menschen in ein Tier, das seinen niederen
Trieben nachgeht, und ein Vernunftwesen, das zu Höherem
befähigt ist, aufspaltet; wo ein Kant das "Vernunftgesetz"
aufstellt, daß der Mensch "nicht aus Neigung, sondern aus
Pflicht" handeln solle; kurz: wo moralfilosofische Lehrmeister einen
prinzipiellen Gegensatz von Vernunft und Interesse behaupten und mit
großen Tönen als ihre Wahrheit verkünden – da
tritt Nietzsche mit folgendem Standpunkt auf:
"Die Falschheit
eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil: darin klingt
unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es
lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar
Art-züchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu
behaupten, daß die falschesten Urteile uns die unentbehrlichsten
sind.... Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehen: das heißt
freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten
Wertgefühlen Widerstand leisten; und eine Filosofie, die das wagt,
stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse." (Jenseits von Gut und Böse, 4)
Wie kommt man eigentlich darauf? Nietzsches Frage: "Gesetzt wir wollen
Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewißheit? Selbst
Unwissenheit?" (Jenseits, 1) ist nämlich gar nicht so schwer zu
beantworten: Wer über die Umstände, in denen er steht, nicht
Bescheid weiß, der braucht gar nicht erst den Versuch starten,
sie seinem Interesse gemäß zu machen. Wem Ungewißheit
lieber ist, der kann sein Tun mit frommen Wünschen begleiten, und
sich darüber wundern, warum sie immer nicht in Erfüllung
gehen. Und wer von falschen Vorstellungen ausgeht, darf nachher seinen
Schaden bilanzieren. Nietzsche scheint daran seine Zweifel zu haben. Er
wirft die Frage auf, ob nicht die Wahrheit lebensfeindlich ist und
vielleicht deswegen das falscheste Urteil viel förderlicher sein
könnte. Woran er dabei denkt, ist die "Wahrheit", "von der alle Filosofen bisher mit Ehrerbietung geredet haben"; ihre
"Wahrheit" ist regelmäßig der Standpunkt der moralischen
Pflicht, des Geringschätzens des Interesses und einer
lebensfeindlichen Einstellung. Nietzsche bezieht sich auf diese
moralfilosofische Gleichsetzung von Wahrheit und Lebensfeindlichkeit
und kommt zu dem Beschluß: "Wenn das Wahrheit ist, dann bin ich
gegen die Wahrheit und für das Leben." Und das ist ziemlich
unkritisch für einen, der sich schon mal lustig macht über
das, was Filosofen mit ihrem Wahrheitspathos anpreisen:
"Was dazu reizt,
auf alle Filosofen halb mißtrauisch, halb spöttisch
zublicken, ist nicht, daß man hin und wieder dahinterkommt, wie
unschuldig sie sind – wie oft und wie leicht sie sich vergreifen,
kurz ihre Kinderei und Kindlichkeit – sondern, daß es bei
ihnen nicht redlich genug zugeht: während sie allesamt einen
großen und tugendhaften Lärm machen, sobald das Problem der
Wahrhaftigkeit auch nur von ferne angerührt wird." (Jenseits von Gut und Böse, 5)
Mit seinem Plädoyer für das Leben und gegen die Wahrheit teilt
Nietzsche die moralfilosofische Lüge, daß Wahrheit und
Leben, Vernunft und Interesse einen Gegensatz bilden. Er schlägt
sich nur auf die andere Seite des verkehrten Gegensatzes und das ist
auch nicht viel schlauer:
"Der Mensch hat
allzulange seine natürlichen Hänge mit 'bösem Blick'
betrachtet, so daß sie sich in ihm schließlich mit dem
'schlechten Gewissen' verschwistert haben. Ein umgekehrter Versuch
wäre an sich möglich – aber wer ist stark genug dazu? -, nämlich die unnatürlichen
Hänge, alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen,
Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Tierwidrigen, kurz die bisherigen
Ideale, die allesamt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale
sind, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern." (Genealogie, 24)
"Wir haben eine Kritik der moralischen Werte nötig, der Wen dieser Werte ist erst einmal in Frage zu stellen
– ... Man nahm den Wen dieser 'Werte' als gegeben, als
tatsächlich, als jenseits aller In-Frage-Stellung; man hat bisher
auch nicht im entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, 'den
Guten' für höherwertig als 'den Bösen' anzusetzen,
höherwertig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit,
Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den
Menschen überhaupt. Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit
wäre? Wie? wenn im 'Guten' auch ein Rückgangssymptom
läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift? ...
So daß gerade die Moral daran schuld wäre, wenn eine an sich
mögliche, höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde?" (Genealogie der Moral, Vorrede 6)
Das soll also das Gegenstück zum Antimaterialismus der
Moralfilosofie sein? Mit seiner "Umwertung aller Werte" bleibt
Nietzsche mittendrin im moralischen Menschenbild. Er votiert für
das Tierische, Böse im Menschen und damit für jene erfundenen
Eigenschaften, die Moralfilosofen dem Menschen anhängen, um daraus
die Notwendigkeit ihrer sittlichen Imperative "abzuleiten". Beim Guten
will er durchschaut haben, daß es der Sfäre verlogener
Idealisierungen angehört, aber das Böse, das bloße
Abziehbild davon, hält er für die wirkliche Natur des
Menschen, die man besser nicht unterdrücken soll. Und am Ende
nimmt er der Moralfilosofie sogar noch ab, daß dieser
Geisterkampf zwischen der Moral und dem Bösen auch noch die
Weltenläufe und das Geschick der Menschheit bestimmt! Dabei ist
das Böse ebensowenig wirklich wie das Gute. Das Prädikat
böse zieht man sich zu, wenn man gegen allgemein anerkannte
Maßstäbe verstößt. Aber das ist keine Beurteilung
eines Interesses, sondern eine Verurteilung: es gehört sich nicht.
Es wird also ein Vergleich angestellt mit einem Maßstab, der
gelten soll, aber nicht gilt, und die Abweichung davon wird dem
"bösen" Willen als Absicht unterstellt. Dabei geschehen noch nicht
einmal Verbrechen geschehen aus dem Motiv, gegen das Recht zu
verstoßen. Und wo sie dennoch so beurteilt werden, da ist ein
Rechtsfanatismus am Werk, der überhaupt kein anderes Kriterium der
Beurteilung mehr kennt, als die Geltung des Rechts. Und Nietzsche will
ausgerechnet diese Ausgeburt des moralischen Verfolgungswahns wahr
machen. Das mag moralinsaure Gemüter schockieren, mit ihren
eigenen Fantasiegebilden konfrontiert zu werden, aber mit Materialismus
ist diese Antimoral Nietzsches auch nicht zu verwechseln. Die Figuren,
die er sich ausmalt und zu seinem Ideal kürt, sind sehr
absichtsvoll den gängigen moralischen Vorstellungen darüber
nachgezeichnet, was kategorisch verboten gehört. Ihr Tun zeugt
nicht gerade davon, daß der Irrationalismus des Bösen die
Kritik an der Interessensfeindlichkeit der Moral ist; mehr als die
Spießer-Vorstellung vom Einmal-so-richtig-die-Sau-rauslassen
fällt Nietzsche auch nicht als Alternative zur Moral ein:
"... Sie treten in die Unschuld des Raubtier-Gewissens zurück,
als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer
scheußlichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändigung,
Folterung mit einem Übermute und seelischen Gleichgewichte
davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei,
überzeugt davon, daß die Dichter für lange nun wieder
etwas zu singen und zu rühmen haben. Auf dem Grunde aller dieser
vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle nach Beute und Sieg
lüstern schweifende blonde Bestie
nicht zu verkennen; ... Diese 'Kühnheit' vornehmer Rassen, toll,
absurd, plötzlich, wie sie sich äußert, das
Unberechenbare, das Unwahrscheinliche selbst ihrer Unternehmungen, ihre
Gleichgültigkeit und Verachtung gegen Sittlichkeit, Leib, Leben,
Behagen, ihre entsetzliche Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem
Zerstören, in allen Wollüsten des Siegs und der Grausamkeit
..." (Genealogie, 11)
Exkurs:
Nietzsche und Hitler — ein absurder Vergleich
Die Geschichte mit der "blonden Bestie", sein Schwelgen in der
Vorstellung vom zur vollen Pracht gebrachten "Herrenmenschen", seine
Verachtung für die Juden, von deren Moral er die Welt
zugrundegerichtet sah — "Alles verjüdelt oder verchristlicht
oder verpöbelt sich zusehends." (Genealogie, 192) — all das
hat Nietzsche den Vorwurf eingetragen oder ihn mindestens in den
Verdacht gebracht, so etwas wie ein geistiger Vorfahre Hitlers gewesen
zu sein: "Denker Nietzsche — Täter Hitler" war einmal im Spiegel
zu lesen. Dieser Vergleich ist nach beiden Seiten hin absurd. Weder
wäre Nietzsche für ein Staatsprogramm zu begeistern gewesen,
das von den Volksgenossen die totale Unterordnung verlangt und für
diese Forderung mit dem Lob sämtlicher moralischer Knechtstugenden
Propaganda gemacht hat. Noch war Hitler für eine Filosofie zu
haben, die das losgelassene Individuum predigt und sein Recht, auf
alles zu pfeifen, was der Gemeinsinn für heilig erklärt. Aber
bitte, wenn er sein soll, der Vergleich, — nachlesen, was bei
Hitler steht über den Herrenmenschen:
"Der Arier ist
nicht in seinen geistigen Eigenschaften an sich am größten,
sondern in dem Ausmaß der Bereitwilligkeit, alle Fähigkeiten
in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Der Selbsterhaltungstrieb
hat bei ihm die edelste Form erreicht, indem er das eigene Ich dem
Leben der Gesamtheit willig unterordnet und, wenn die Stunde es
erfordert, auch zum Opfer bringt ... In der Hingabe des eigenen Lebens
für die Existenz der Gemeinschaft liegt die Krönung allen
Opfersinns." (Mein Kampf, S.326 f)
Die Idealfigur, die Hitler zum Herrenmenschen stilisiert, ist der
totale Untertan, der bis zur Einsatz seines Lebens im Dienst am Staat
aufgeht, dem dafür nichts versprochen werden muß, weil er
die Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst als seinen Lebenssinn
auffaßt, ein nützlicher Vollidiot, der sich wahrscheinlich
auch noch darüber freut, wenn ihm sein Führer das Lob
ausspricht, daß man mit ihr wirklich alles anstellen kann, und
ihm dafür gerne den Mangel an geistiger Größe verzeiht.
Daß Hitler mit seinem Heldengemälde sich auch nur im
mindesten in einen Gegensatz begibt zu den jedermann geläufigen
moralischen Idealen, kann man ihm nicht vorwerfen — die Tugend
der Selbstlosigkeit, der Wert der Gemeinschaft, von der man nichts hat,
und die Einsicht in den Zusammenhang von edlem Charakter und der
Bereitschaft zum Opfer kommen ausgiebig zum Zug. Auch daß er in
seinen Taten nicht gehalten hat, was er mit der Kundgabe seiner
moralischen Absichten versprochen hat, ist nicht wahrscheinlich —
bei den Versprechungen! Also von wegen: "Unmoral" des Dritten Reiches
und seines Führers! Eher schon läßt sich an Dokumenten
aus dieser Zeit studieren, was sich mit moralischen Idealen alles
"begründen" läßt. Wenn Hitler dennoch ausgerechnet in
den Verdacht gerät, die moralischen Werte verraten zu haben, so
kann man daraus getrost die Lehre ziehen, daß ein moralisches
Recht ziemlich genau ebenso weit reicht, wie der Erfolg der Sache, den
dieses Recht überhöht; und den vergeigt zu haben, ist die
einzige, für Nationalisten allerdings unverzeihliche moralische
Fehlleistung Hitlers.
Doch was hat das alles mit Nietzsche zu tun? Erstens: null! Zweitens
kann man dem Totschlägerargument "Wie Hitler!" entnehmen, zu
welcher Radikalität brave Moralisten fähig sind, wenn jemand
ihre Moral anpinkelt. Drittens ist es eine ganz andere Sache, zu
erklären, was Nietzsche zu seinen rassistischen Ausfällen
bewogen hat. Wie jeder, der sich mit seinen Ansprüchen an den Rest
der Menschheit enorm im Recht weiß — "Recht"
großgeschrieben —,
und deswegen davon ausgeht, daß sich jedermann nach diesen
Ansprüchen richten muß, verfertigt auch Nietzsche aus diesem
Recht seine Lehre von der Menschennatur. Wo die als Argument auftritt,
ist sie allemal definiert durch die Ansprüche, die einer hat und
in sie hineinlegt. Und stehen mit den auf diese Weise deduzierten
Eigenschaften "des Menschen" erst mal seine Fähigkeiten fest,
diesen Ansprüchen auch nachzukommen, so ist die sich
anschließende Sortierung der Menschheit nach diesem Kriterium in
mehr menschliche Artgenossen und in solche, die eher unter das Verdikt
unmenschlich und menschenunwürdig fallen, nur konsequent und die
Empfehlung eines entsprechenden Umgangs mit ihnen geradezu
unausweichlich. Die Rechtfertigung davon ist schließlich der
ganze Inhalt des Argumentierend mit der Natur des Menschen.
Es ist schon armselig, den Rassismus nicht an dieser seiner
Argumentationsweise festzumachen, sondern ihn am Gebrauch von Vokabeln
wie "Rasse", "Jude" usf. entlarven zu wollen — gerade so als
wären die Rassen selbst und nicht der rechtfertigende Umgang mit
ihnen Produkt des Rassismus —,
und ihn dann prompt nicht mehr wiederentdecken zu können, wenn ein
Moralfilosof oder ein Bundespräsident von heute die Menschennatur
bemüht.
So ist also nicht weiter verwunderlich, daß auch bei Nietzsche
das eigentlich Rassistische überhaupt nicht in Verruf geraten ist.
Der kompromißlose Kritiker der Charakterlosigkeit von Christen
und Moralisten argumentiert immerhin sehr unbefangen mit dem
Menschenbild biederer Moralfilosofen. Die sehen des Menschen Natur
bestimmt durch einen Konflikt zwischen dem hehren moralischen Sollen
und den leidigen Neigungen, die diesem Sollen immer in die Quere
kommen. So auch Nietzsche, der eben diesen Konflikt mit umgekehrtem
Vorzeichen versieht.
III. Psychologie der Moral — Alles eine Frage des Selbstbewußtseins
Damit jedoch spielt sich alles, was Nietzsche zur Kenntnis nimmt, was
er kritisiert und was er als fällige Korrekturen vorschlägt,
auf der Ebene des Selbstbewußtseins, der idealisierenden Bilder
ab, die sich die Menschheit von ihrem wirklichen Treiben macht. Wenn
Nietzsche über die Fabrikarbeit redet, so kommt dabei durchaus
vor, daß da Leute ausgenutzt werden, daß ihnen das nicht
gut bekommt — aber das ist für ihn das Uninteressanteste;
was er daran kritisiert, ist die Charakterlosigkeit, mit der sich die
Ausgenutzten ihren Schaden in eine Tugend umlügen. Wenn er auf den
Staat zu sprechen kommt, so kommen die Zwecke und Mittel dieser
obersten Gewalt gar nicht erst vor — daß er eine Schande
ist für so geistreiche Leute, wie Nietzsche einer ist, lautet der
Einwand. Und bei der Ehe kommen ihm auch nur die ziemlich vulgären
Bilder von Mann und Frau in den Sinn, nach denen der starke
Beschützer Haus und Familie behütet und ein zartes Wesen nach
Unterordnung ruft.
Er erklärt sich alles psychologisch: Wenn einer nichts zählt
im wirklichen Leben, dann kommt das daher, daß er sich dazu
erniedrigt hat und deswegen eigentlich auch nichts Besseres verdient
hat. Wer hingegen etwas hermacht, beweist damit seine
Durchsetzungskraft und hat Charakter. In beiden Fällen gerät
ihm die verlogene Selbstrechtfertigung, die nachgereichte idealistische
Deutung von Mißerfolg und Erfolg zum wirklichen Grund dafür,
wie sich ein Individuum durchzusetzen in der Lage ist. Die beiden
Eckpunkte seiner psychologischen Theorie sind haargenau dieselben wie
in der Moralfilosofie: Was hier natürliche Selbstsucht
heißt, die durch die Tugend beschrankt werden soll, ist bei
Nietzsche "der Wille zur Macht", der darauf zu achten hat, daß er
sich nicht durch die Fallstricke moralischer Anmache behindern
läßt. Die Erklärungskraft dieser Theorie ist nicht
übermäßig. Sie erschöpft sich in der
tautologischen Auskunft, daß ein Selbst solange nicht zum Zug
kommt, solange es sich verleugnet, und Nietzsche findet letzteres
menschlich derart verständlich, daß er sich die
Überwindung der Touren moralischer Selbstverleugnung nur als Akt
einer außerordentlichen Willensanstrengung vorstellen kann, zu
dem nur die wenigen starken Gemüter, nicht aber die Masse der
Schwachen fähig sind. So sehr hängt Nietzsche an der Moral. Und so wenig taugt seine Kritik an der Moral.
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Sein kategorischer Imperativ lautet: "Mehr Rückgrat, Leute!", er
verlangt Ehrlichkeit und einen Willen, der sich seiner nicht
schämt, sondern zu dem steht, was er sich vorgenommen hat:
"Während der
vornehme Mensch vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit lebt, so
ist der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit
sich selber ehrlich und geradezu." (Genealogie, 194)
Nietzsche verabschiedet sich nicht vom Geist der Rechtfertigung mit
seinem doppelten Maßstab des Wollens und Dürfens, dessen
Verlogenheit ihm so unangenehm aufgefallen war. Sein "vornehmer Mensch"
verkörpert lauter Ideale, die dem Rechtfertigungsgedanken selbst
angehören: Die Heucheleien der Moral wollen schließlich
geglaubt werden; Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sind also ihre
verlogenen Ideale. In deren Namen fängt Nietzsche das
Rechtfertigen an: Wer offen heraussagt, was er will, und dazu steht,
der darf:
"... das
souveräne Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der
Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome
übersittliche Individuum (denn 'autonom' und 'sittlich'
schließt sich aus), kurz den Menschen des eigenen unabhängig
langen Willens, der versprechen darf – und in ihm ein stolzes, in
allen Muskeln zuckendes Bewußtsein davon, was da endlich errungen
und in ihm leibhaft geworden ist, ein eigentliches Macht- und
Freiheitsbewußtsein, ein Vollendungsgefühl des Menschen
überhaupt. Dieser Freigewordene, der wirklich versprechen darf,
dieser Herr des freien Willens, dieser Souverän – wie sollte
er es nicht wissen, welche Überlegenheit er damit vor allem
voraushat, was nicht versprechen und für sich selbst gutsagen
darf, wie viel Vertrauen, wie viel Furcht, wie viel Ehrfurcht er
erweckt – er 'verdient' alles
dreies – und wie ihm, mit dieser Herrschaft über sich auch
die Herrschaft über die Umstände, über die Natur und
alle willenskürzeren und unzuverlässigeren Kreaturen
notwendig in die Hand gegeben ist?" (Genealogie, 208)
Diese Umkehrung des doppelten Maßstabs — nicht das
Dürfen soll das Wollen rechtfertigen, sondern das Wollen das
Dürfen — ist eine selten dämliche Alternative zur
gängigen Moral, die Nietzsche nicht paßt. Schließlich
ist seine Maxime "Ich darf, weil ich will" nichts als die Weigerung,
die Vernünftigkeit eines Willens und die Zweckmäßigkeit
seines Tuns zu prüfen. So ist jeder Unsinn erlaubt, wenn er nur
gewollt wird, und jeder Schaden geht in Ordnung, wenn sich "das
souveräne Individuum" dazu entschlossen hat. Vom Irrationalismus
des Bösen, mit dem Nietzsche die Menschheit aus ihrer moralischen
Befangenheit schrecken wollte, war bereits die Rede. Aber was macht
sein vornehmer, von den "Ketten" der Moral endlich befreiter Mensch,
wenn er seine Vornehmheit und Freiheit auslebt? Er wählt sich
— Pflichten:
"Zeichen der
Vornehmheit: nie daran denken, unsere Pflichten zu Pflichten für
jedermann herabzusetzen; die eigene Verantwortlichkeit nicht abgeben
wollen, nicht teilen wollen; seine Vorrechte und deren Ausübung
unter seine Pflichten rechnen." (Jenseits von Gut und Böse, 272)
Dasselbe, was beim Moralisten
für dessen Menschenunwürdigkeit gesprochen haben soll, seine
Untertänigkeit, sein sich Ducken unter Pflichten, zeichnet den
Menschen aus, wenn er es als sein frei gewähltes Privileg
"begreift". Und wo eben noch das Mitleid als geradezu ekelerregende
Unart zwischenmenschlichen Umgangs gegeißelt wurde, da gilt das
Mitleid nun als Zeichen eines edlen Charakters:
"Ein Mann sagt:
'Das gefällt mir, das nehme ich zu eigen und will es schützen
und gegen jedermann verteidigen'; ein Mann, der eine Sache führen,
einen Entschluß durchführen, einem Gedanken Treue wahren,
ein Weib festhalten, einen Verwegenen strafen und niederwerfen kann;
ein Mann, der seinen Zorn und sein Schwert hat, und dem die Schwachen,
Leidenden, Bedrängten, auch die Tiere gern zufallen und von Natur
zugehören, kurz ein Mann, der von Natur Herr
ist ... wenn ein solcher Mann Mitleiden hat, nun! dies Mitleiden hat
Wert! Aber was liegt am Mitleiden derer, welche leiden! Oder derer,
welche gar Mitleiden predigen!" (Jenseits von Gut und Böse, 293)
Der Unterschied zum gewöhnlichen Moralisten, auf den Nietzsche
soviel Wert legt, daß er sich gar keinen größeren
Gegensatz vorstellen kann, liegt also gar nicht in einer Absage an den
Inhalt der Moral, an die Pflichten und Vorschriften, denen sich der
Mensch unterordnen soll. Er liegt vielmehr in dem
Selbstbewußtsein, mit dem die Pflichten anerkannt werden und die
Unterordnung stattfindet. Und selbst dieser Unterschied existiert nur
in Nietzsches Einbildung – aber für die ist er ja auch
gemacht:
IV. Einbildung für Eingebildete
Es ist nämlich nicht so, daß nur Herr Nietzsche und sein
"souveränes Individuum" zu diesem Akt der Freiheit fähig
wären. Noch der verstaubteste Moralfilosof preist nicht die
Knechtung der Menschheit an, sondern die Freiheit des Willens, in der
er die Fähigkeit sieht, Pflichten anzuerkennen und sich ihnen
unterzuordnen. Und noch nicht einmal studiert muß man haben, um
sich mit dem Bewußtsein der Freiheit in seine Pflicht zu
fügen. Der Witz an der Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung,
die Nietzsche an den
Christen und Moralisten so wenig leiden konnte, besteht gerade in dem
"Selbst-". Das moralische Individuum geht gerade nicht auf in der
praktischen Unterordnung unter die Sachzwänge des Geldverdienens
und die Gewalt des Rechts. Es leistet sich eine Interpretation seiner
Unterordnung, legt sich für alles, was es tun muß, gute
Gründe zurecht und verfügt so über ein Weltbild, in dem
alles, was ihm begegnet, den Anschein erweckt, als würde es auf
seiner Einsicht beruhen. An seiner Lage ändert das gar nichts; in
seiner Einbildung spielt er jedoch den Herrn seiner Lage. Daß es
sich bei der Moral um ein Bewußtsein der Abhängigkeit
handelt, ist dem Inhalt dieser Einbildungen durchaus zu entnehmen
– daher der doppelte Maßstab von Wollen und Dürfen;
aber sie ist ein verkehrtes Bewußtsein dieser Abhängigkeit,
in dem sich die abhängige Variable als Souverän über
seine Abhängigkeit fingiert: Es selbst entscheidet über
Dürfen und Nicht-Dürfen, läßt sich von niemandem
etwas vorschreiben, außer seiner freien Einsicht in die
Notwendigkeit und läßt sich nicht beugen, sondern weiß
eine ganze Latte höherer Werte aufzuzählen, vor denen es sich
erniedrigt. Diese Dummheit macht das Bewußtsein seiner Freiheit
aus und ausgerechnet die hält Nietzsche der Verlogenheit der Moral
entgegen:
"Das stolze Wissen
um das außerordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit, das
Bewußtsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich
und das Geschick ..." (Genealogie, 209)
Ein Unterschied ist bei alledem doch nicht zu übersehen. So
großkotzig, aristokratisch und elitär, wie Nietzsche es tut,
traut sich so schnell niemand mit dieser Dummheit anzugeben. Das liegt
allerdings nicht am Argument, sondern daran, daß sich "die Masse"
mit dieser Angeberei blamieren würde. Auch hier entscheidet sich
einiges am Erfolg und an der wirklichen Stellung im Leben. Die dazu
gehörenden Einstellungen – ob einer mehr auf Mitleid und
Gnadengesuch macht oder ein anderer seine Durchsetzungskraft
beschwört – geschmacklich bewerten zu können,
gehört deswegen zu den niedersten Instinkten, über die
bürgerliche Individuen verfügen.
(Erstveröffentlichung 1990)
