
Achtung
Nachtrag: kleine Verbesserung bezüglich der Ausgaben des
Aufbau-Verlags 05.03.11!
Tschernyschewski
Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewskis Roman wurde 1863 im Sowremennik
veröffentlicht, von der Zensur kaum ernstgenommen und so nur
unerheblich gekürzt. Ein bürgerlicher Wissenschaftler
schrieb
schon 1879 über diesen Roman: Während meiner
sechszehnjährigen Universitätstätigkeit ist
mir kein
einziger Student begegnet, der den berühmten Roman nicht
bereits
vom Gymnasium her kannte; eine Gymnasiastin der fünften bis
sechsten Klasse, die sich nicht mit den Abenteuern der Wera Pawlona
bekannt gemacht hätte, wäre als dumme Gans bezeichnet
worden." In einem geheimen Zensurbericht wird sorgenvoll vermerkt, der
Roman habe großen Einfluß auf das
äußere Leben
einiger kurzsichtiger und in ihren Moralbegriffen ungefestigter Leute
sowohl in der Hauptstadt als auch in der Provinz ausgeübt. Es
sei
vielfach vorgekommen, daß Menschen, dem Beispiel der
Tschernykowschen Helden folgend, ein anderes Leben begannen:
"Töchter verließen ihre Mütter und
Väter, Frauen
ihre Ehemänner, manche gingen noch weiter, bis zu den
äußersten Extremen; es gab Versuche, in der Art von
Vereinen
oder Handwerkerartels [Artels = freiwilliger genossenschaftlicher
Zusammenschluß] kommunistische Wohngemeinschaften
einzurichten."
Als Karl Marx in seinen späten Jahren noch begann, russisch zu
lernen, bezeichnete er die Werke Tschernyschewskis als einen Hauptgrund
dafür. Er schreibt in einem Brief an Sigfrid Meyer vom
21.01.1971:
"... Ich weiß nicht, ob ich Ihnen
mitgeteilt,
daß ich seit Anfang 1870 mich selbst im Russischen
unterrichten
mußte, was ich jetzt ziemlich geläufig lese. Die
Sache kam
daher, daß man mir von Petersburg Flerowskis sehr bedeutendes
Werk über die »Lage der
arbeitenden Klasse (bes. Bauern) in
Rußland« zugeschickt hatte
und daß ich auch mit den
ökonomischen (famosen) Werken von Tschernyschewski (zum Dank
zu
den sibirischen Minen seit 7 Jahren verurteilt) bekannt werden wollte.
Die Ausbeute lohnt die Mühe, die ein Mensch von meinen Jahren
in
der Überwältigung einer Sprache hat, die den
klassischen,
germanischen und romanischen Sprachstämmen so fernab liegt.
Die
geistige Bewegung, die jetzt in Rußland vorgeht, zeigt,
daß
es tief unten gärt. Die Köpfe hängen immer
durch
unsichtbare Fäden mit dem body des Volks zusammen. ..."
(MEW 33, S. 173)
Er nennt ihn u.a. auch im Nachwort zur zweiten Auflage des »Kapitals«: "Es ist eine Bankrotterklärung
der »bürgerlichen«
Ökonomie, welche der große russische Gelehrte und
Kritiker N. Tschernyschewski in seinem Werk »Umrisse
der politischen Ökonomie nach Mill« bereits meisterhaft beleuchtet hat."
(MEW 23, S. 21)
Daß auch Lenin mit seinen Schriften bekannt war und sie
geschätzt hat, braucht wohl nicht extra erwähnt zu
werden,
hat er doch selbst den Titel des Romans für eine seiner
Schriften
übernommen. Wirklich verbrecherisch ist allerdings,
wie diejenigen, die sich auf Lenin berufen, den
materialistischen
Gesellschaftskritiker Tschernyschewski in ihre moralische
Staatsideologie meinten einordnen zu müssen. Tschernyschewskis
Roman Was tun? lag schon bald in deutscher
Übersetzung vor (KoKaverfügt
über die 2. Auflage, die 1890 von F. A. Brockhaus in
Leipzig in drei Teilbänden gedruckt wurde). 1947 erschien eine
im
SWA-Verlag und 1952 dann eine im Aufbau-Verlag der DDR, in dessen
Nachwort - in einer Auflage von 1980 ersetzte dieses das Vorwort von
Georg Lukács (was einerseits gut ist, weil dieses Werk eines
Vorwortes entbehren kann, noch dazu eines mit Frasen
aufgeblähten,
andererseits schlecht, weil eben nichtsdestoweniger eines Nachworts) -
man folgendes Gesülze lesen kann: "Tschernyschewski
als revolutionärer Vorkämpfer für die
Bauerninteressen
war kleinbürgerlicher Demokrat. Die Bedeutung der
Arbeiterklasse
als einer selbständigen Kraft des gesellschaftlich-politischen
Lebens und als der einzigen konsequent revolutionären Klasse
erkannte er nicht. ... So kann es nicht wundernehmen, daß
sein
theoretisches Denken, verglichen mit der damaligen Entwicklung des
Marxismus, nicht Schritt halten konnte [Im Gegensatz dazu hat die DDR samt ihrer
ML-Ideologie ja wunderbar Schritt gehalten!]. Er blieb zeit seines Lebens als
Anhänger von Ludwig Feuerbach auf dem Standpunkt des
anthropologischen philosophischen Materialismus stehen, das
heißt, er machte das natürliche und nicht das
gesellschaftliche Wesen des Menschen zum Angelpunkt seiner
philosophischen Überlegungen. Was die Perspektive der
historischen
Menschheitsentwicklung anbelangt, kam er über den utopischen
Sozialismus nicht hinaus."
Offenbar hat der Autor Wolf Düwel
den Roman gar nicht gelesen, sonst könnte er solch
hahnebüchenen Unsinn
wahrlich nicht behaupten! Genau das Gegenteil ist nämlich
richtig!
Daß er sich im folgenden auch noch auf Lenins Beurteilung der
historischen Höhe des Kapitalismus beruft, der
Tschernyschewski
nicht gerecht werden konnte, weil sie damals noch nicht so weit war,
macht die Sache nicht besser, im Gegenteil. Auch Lenin hätte
an
(nicht nur) dieser Stelle mal ein klares Kontra verdient: Anstatt die
Verhältnisse so zu interpretieren, wie sie einem gerade
für's Weltbild in den Kram passen, hätte man mal auf
die
Überlegungen und Einsichten Tschernyschewskis Rekurs nehmen
können - nicht nur
über die Psyche des bürgerlichen Individuums - die
besonders,
aber bei weitem nicht nur:
"...»
Wie sinderbar«,
denkt Wjerotschka, »was
er von den Armen und von den Frauen gesprochen, und dann das, wie die
wahre Liebe beschaffen sei; darüber habe ich auch schon
nachgedacht, das habe ich auch schon gefühlt - aber woher habe
ich
es eigentlich? Stand es etwa in den Büchern, die ich gelesen?
-
Nein, dort steht es anders, dort werden solche Ideen bezweifelt,
bekrittelt, als ob sie etwas Ungewöhnliches, Unglaubliches
enthielten, als ob sie Phantasien wären, die an und
für sich
schon, aber niemals verwirklicht werden könnten. Mir dagegen
schienen sie so einfach, so natürlich, mir kam es vor, als ob
sie
etwas Selbstverständliches wären, als ob es nicht
anders sein
könnte, als daß sie ins Leben treten
müssen. Und doch
habe ich diese Bücher für die besten gehalten. Da ist
z.B.
George Sand - eine so gute, so moralische Schriftstellerin - aber sie
erklärt diese Ideen für Hirngespinste. Oder unsere
Schriftsteller - doch nein, unsere Schriftsteller sprechen davon gar
nicht. Oder Dickens - er spricht zwar davon, aber scheint keine
Hoffnung auf einstige Verwirklichung dieser Ideen zu haben. ...«..."
[Tschernyschewskij,
»Was thun?«,
1890, Teil 1, S. 164f, Orthografie im Original]
-
"...»...Und
was ist nothwendig? Ueber jeden Zweig des Wissens gibt es einige
Hauptwerke; in den übrigen Werken wird nur das wiederholt,
verwässert, verdunkelt, was viel vollständiger und
klarer in
den wenigen Hauptwerken enthalten ist. Mithin braucht man nur diese zu
lesen; das Lesen der andern ist unnöthiger Zeitverlust.
Betrachten
wir z. B. die russische Belletristik. Ich kenne Gogol's
Erzählungen; nehme ich nun die Erzählungen vieler
anderer
Schriftsteller zur Hand, so ersehe ich schon aus fünf Zeilen
auf
je fünf Seiten, daß ich nichts darin finden
würde als
einen verwässerten oder verzerrten Gogol; wozu soll ich sie
also
lesen? Dasselbe gilt auch von der wissenschaftlichen Literatur, ja hier
ist die Grenzlinie noch schärfer gezogen. Habe ich Adam Smith,
Malthus, Ricardo und Stuart Mill gelesen, so kenne ich das Alpha und
das Omega dieser Wissenschaft und brauche keinen einzigen von den
hundert andern Nationalökonomen zu lesen, so berühmt
sie auch
sein mögen. Aus fünf Zeilen auf je fünf
Seiten ersehe
ich schon, daß ich da nicht einen ursprünglichen,
ihnen
eigenthümlich zukommenden Gedanken finde; alles ist entlehnt
und
breitgetreten. Ich lese nur so weit, als sie wirklich
Selbständiges enthalten.«
Deshalb lies er sich auch nicht dazu bewegen, Macaulay zu lesen.
Nachdem
er eine Viertelstunde darin geblättert hatte,
erklärte er: »Ich kenne
alle Zeuge, welche die Lappen zu diesem Flickwerk liefern
mußten.«
Er las mit großem Vergnügen den »Jahrmarkt
des Lebens« von Thackeray und begann darauf »Arthur
Pendennis«
von demselben Verfasser, doch schon bei der 20. Seite legte er das Buch
wieder fort. »Alles aus dem 'Jahrmarkt des
Lebens',
nichts Neues darin - überflüssig zu lesen. Jedes
Buch, das
ich lese, muß so gehaltvoll sein, daß es mir das
Lesen von
hundert anderen Büchern erspart.«..."
[»Was thun?«,
1890, Teil 2, S. 199ff]
Die
Figur, die Tschernyschewski das sprechen ließ,
heißt
Rachmetow. Er war dann später den antimaterialistisch
gesonnenen
Realsozialisten überhaupt nicht geheuer - Wie auch! -, weshalb
auch er
eine entsprechend einordnende Bemerkung im oben bereits
erwähnten Nachwort erhielt. Für den DDR-Rezensenten
war
Rachmetow ein "Ideal
des neuen Menschen", er bemerkt gar nicht Tschernyschewskis Kritik an
einem falschen Materialismus innerhalb der gesellschaftlichen
Verhältnisse, weil er einer materialistischen Kritik generell
abhold ist. Da der Realsozialist und ML-Ideologe Kritik ja nie anders
kennt als eine moralische an den herrschenden Zuständen und
Materialismus nur als Staatsmaterialismus - also einem der Gewalt -
anerkennt, bezichtigt er Tschernyschewski eines "materialistischen
Anthropologismus", der natürlich als solcher hinter Marx
zurückgeblieben sei (was er zu beweisen sich erst gar nicht
anheischig macht).
Im Gegensatz
dazu schrieb dazu etwa Plechanow: "Fast jeder unserer
bedeutenden
Sozialisten der 1860er und 1870er Jahre war zum nicht geringen Teil ein
Rachmetow." Ausgerechnet freilich Plechanow, jener
begeisterte Schwafler über die »dialektische
Methode« weist auf
Tschernyschewskis Skizzen über die Gogolsche Periode
hin [in: Eine Kritik unserer Kritiker, Berlin 1982, S. 82f], indem der
den Fortschritt durch Hegel, aber gleichzeitig dessen wesentlichen
idealistischen Krückstock zur Sprache, den Widerspruch, die
Wahrheit als Abstraktum verurteilen zu
müssen, brachte:
"... Diese Manier, sich nicht um die Wahrheit zu
bemühen, sondern um die Bestätigung angenehmer
Vorurteile,
benannten die deutschen Philosophen (besonders Hegel) »subjektives
Denken«,
Philosophieren zum eignen Vergnügen und nicht aus lebendigem
Bedürfnis nach Wahrheit. Hegel ist dieser inhaltlosen und
schädlichen Beschäftigung scharf zu Leibe gegangen.
Als
notwendiges Schutzmittel gegen jede Versuchung, zugunsten
persönlicher Wünsche oder Vorurteile von der Wahrheit
abzuweichen, stellte Hegel die berühmte »dialektische
Denkmethode«
auf. Ihr Wesen besteht darin, daß der Denker bei keinem
positiven
Schlußergebnis stehenbleiben darf, sondern suchen
muß, ob
es an dem Gegenstand, über den er nachdenkt, nicht
Eigenschaften
und Kräfte gibt, die im Gegensatz zu dem stehen, was auf den
ersten Blick an diesem Gegenstand erkennbar ist; hierdurch war der
Denker gezwungen, den Gegenstand von allen Seiten zu betrachten, und
die Wahrheit ergab sich ihm nur als Folge des Kampfes aller
möglicher gegensätzlicher Meinungen. Auf diese Weise
kam man
an Stelle der bisherigen einseitigen Auffassungen des Gegenstandes nach
und nach zu einer umfassenden, allseitigen Erforschung und zum
lebendigen Begriff von allen wirklichen Eigenschaften des Gegenstandes.
Die Erklärung der Wirklichkeit wurde zur wesentlichen Pflicht
philosophischen Denkens. Hieraus ergab sich eine
außerordentliche
Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit, über die man
sich
früher keine Gedanken gemacht hatte, indem man sie ungeniert
zugunsten der eigenen, einseitigen Vorurteile entstellte. So trat
gewissenhafte, unermüdliche Wahrheitssuche an die Stelle der
bisherigen, willkürlichen Auslegungen. In der Wirklichkeit
hängt aber alles von den Umständen, von den
örtlichen
und zeitlichen Bedingungen ab, und Hegel erkannte daher, daß
die
allgemeinen Phrasen, mit denen man bisher über Gut und
Böse
geurteilt Latte, ohne die näheren Umstände und
Ursachen zu
untersuchen, unter denen die betreffende Erscheinung entstanden war
— daß diese allgemeinen, abstrakten Redereien
unbefriedigend seien: jeder Gegenstand, jede Erscheinung hat eigene
Bedeutung und muß unter Berücksichtigung der
Umstände
beurteilt werden, unter denen sie existiert; diese Regel fand ihren
Ausdruck in der Formel: »Es
gibt keine abstrakte Wahrheit, die Wahrheit ist konkret«,
d.h. ein definitives Urteil läßt sich nur
über eine
bestimmte Tatsache fällen, und zwar nach Untersuchung aller
Umstände, von denen sie abhängt. ...
Wir haben jedoch bereits gesagt, daß der Inhalt des
Hegelschen
Systems durchaus nicht seinen Grundsätzen entspricht, die er
selbst verkündete und auf die wir hingewiesen haben. Im Feuer
der
ersten Begeisterung hatten Belinski und seine Freunde diesen inneren
Widerspruch nicht bemerkt, und es wäre auch
unnatürlich
gewesen, wenn er sich gleich beim ersten Male hätte bemerken
lassen: er wird durch die ungewöhnliche Kraft der Hegelschen
Dialektik äußerst gut verdeckt, so daß in
Deutschland
selber nur die reifsten und stärksten Geister — und
auch sie
nur nach langem Studium — diesen inneren Zwiespalt zwischen
den
Grundideen Hegels und seinen Schlußfolgerungen bemerkten. Die
größten der zeitgenössischen deutschen
Denker, die
Hegel an Genialität nicht nachstanden, waren selber unbedingte
Anhänger aller seiner Auffassungen, und es verging lange Zeit,
bis
sie ihre Selbständigkeit wiedergewinnen und nach Aufdeckung
der
Fehler Hegels eine neue Richtung in der Wissenschaft begründen
konnten. So pflegt es immer zu gehen: Hegel selber war lange Zeit ein
unbedingter Verehrer Schellings, Schelling ein Verehrer Fichtes, Fichte
— Kants; Spinoza, der Descartes an Genialität weit
überragte, hielt sich lange Zeit für dessen treuesten
Schüler.
Wir sagen dies alles, um zu zeigen, wie natürlich und
notwendig
die unbedingte Anhängerschaft an Hegel war, der Belinski und
seine
Freunde für einige Zeit verfielen. Sie teilten hierin das
Schicksal der größten Denker unserer Zeit. Und wenn
Belinski
sich später über seine frühere bedigungslose
Begeisterung für Hegel ärgerte, so hatte er auch
hierin
Gefährten, die an Geistesstärke weder ihm noch Hegel
nachstanden. ..." [zitiert aus: Ausgewählte
Philosophische Schriften, Moskau, 1953, S. 601 ff]
Plechanow zitiert nur das, was ihm in den Kram paßt - die
Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit, über die man
sich
früher keine Gedanken gemacht hat, indem man sie ungeniert der
eigenen, einseitigen Vorurteile entstellte - nicht aber, daß
Tschernyschewski darüber hinausgeht. Plechanow bleibt in
Hegels
Widerspruch verhaftet, wenn er schreibt, "dann sei es nicht
schwer,
die Rolle der Dialektik in der Entwicklung des Sozialismus von der
Utopie zur Wissenschaft zu verstehen." [Kritik unserer
Kritiker, S. 82f.] So einfach kommt man vom Abstraktum zum Konkretum
und bleibt eben doch abstrakt!
Nun gut, jetzt ist schon fast zuviel gesagt, jetzt ist der »scharfsinnnige
Leser« gefragt,
den Tschernyschewski in Was tun?
explizit herausgefordert hat!
(01.01.2011)