Zum Tode von Tomás Borge, dem nicaraguanischen Revolutionär:
"Das ehemalige Zentrum der Stadt [Managua nach dem Erdbeben 1972] wurde
mit Stacheldraht eingezäunt, um seinen Wert zu verringern, es
kaufen und wieder verkaufen, es noch einmal kaufen und noch einmal
wiederverkaufen zu können. Geschäft ist Geschäft, meine
Damen und Herren.
Wir stellen das dar, was inzwischen allgemein die dritte Welt genannt
wird, auch wenn es welche gibt, die behaupten — dem einen wirren
oder anderen zum Verwirren gekauften Anthropologen zufolge —,
daß wir zur vierten Welt, derjenigen der Eingeborenen
nämlich, gehören. Es gibt Nicaraguaner, die besitzen soviel
Fantasie, daß sie uns zur fünften Welt rechnen, derjenigen,
die García Márquez in seinen Büchern dargestellt hat. ...
Ein hoher Prozentsatz der ökonomisch aktiven Bevölkerung war
in der Landwirtschaft beschäftigt und in allen möglichen
Sparten unterbeschäftigt, oder beschäftigt damit, im Kampfe
oder aber Hungers zu sterben. Wir sind ein Volk, das keine eigene
Technologie besitzt, das nur Rohstoffe produziert, die keinen
Pfifferling wert sind, das Fertigprodukte so teuer kaufen muß wie
das Silber von Potosí, eine ganz alltägliche
Abhängigkeit.
Gold, Platin, Kupfer, Holz, Krabben, die nicht flink genug sind, um
nicht im Munde der Reichen zu verschwinden, Bananen, Zucker,
hervorragender Reis, Brechwurz, der Geist und After entspannt, Kaffee,
der Flor-de-Caña-Rum, der beste der Welt, und Poesie produzieren
wir und raubt man uns.
Wir kaufen Schrauben, Geländewagen, ein paar Traktoren, eine
gewisse Anzahl »Yves Saint Laurent«-Hemden, japanische
Autos, chemische Produkte aus Italien. »Bye-bye«, die Art
und Weise, sich zu verabschieden, importieren wir aus dem Englischen
und die Tränen aus dem Französischen. ... Und wir kaufen
Miniröcke in Miami, die aus weniger Stoff bestehen, jedoch viel
teurer sind als die langen Röcke aus Masaya.
Wir importieren auch Horror- und Sexfilme; und wir exportieren Angst,
denn man fürchtet uns wie den Teufel selber. Vielleicht sind wir
ja gefährlich, weil diese arm gemachten Länder, ob sie es
wollen oder nicht, eine Gefahr für die Reichen darstellen. Das
Erdbeben von 1972 war das Vorspiel zu einem ernsten sozialen Beben, dem
andere Erdbeben folgen sollten. –
1930 betrug der Wert der Exporte 8.300.000 Dollar, und bis 1939 sind
die Exporteinnahmen gleichgeblieben. Während des 2. Weltkrieges
konnten bis zu 15 Millionen angehäuft werden, die sich aber aus
dem Schatz der Nationalbank verflüchtigten, als die Goldreserven
verpfändet wurden mit dem Ziel, einen lächerlichen Kredit von
einer halben Million Dollar zu bekommen.
Nicaragua war von den Marines besetzt. Sandino bedrohte mit seiner
Guerillaarmee die Pazifikregion. Die Abteilung von Umanzór,
einem General aus Sandinos Armee, besetzte Chichigalpa; die Truppen des
Generals Pedro Altamirano ritten über die Wege und schnurstracks
ins Bewußtsein der Menschen. Die sandinistischen Truppen
gelangten bis ans Ufer des Managuasees, bis San Francisco el Carnicero,
sie besuchten die Diskussionszirkel der Universität und das
Gestottere der Gewerkschaften.
41 Jahre später, im Jahre 1972, war die Lage für die Diktatur
günstig; die Konservativen hielten Ruhe, und die Sandinisten
schwiegen nach den Ereignissen von Pancasán. Was geschah nach
dem Beben? Die Einwohner von Managua, auch die Staatsbeamten und
Soldaten, flohen aus der Stadt und verstreuten sich über das ganze
Land. Zunächst hatte Somoza keine Leute mehr in seinen Kasernen,
doch alsbald kamen gut ausgerüstete nordamerikanische Truppen aus
der Panama-Kanalzone zur Verstärkung.
Die Regierungsfunktionäre verloren jegliche Scham wie jemand, der
einfach splitterfasernackt über die Avenida Insurgentes spaziert,
die längste Straße Mexikos und der ganzen Welt. Sie
verzichteten auf jegliche Moral und brachten die internationalen
Hilfsgüter an sich, ohne an das Leid der Armen auch nur eine
Sekunde zu denken. Sie überfuhren mit ihren Mercedes Benz
Fußgänger und Weihnachtsbäume. Auch Somoza legte alle
falsche Scham ab und erklärte sich, obwohl er nicht Staatschef
war, zum Vorsitzenden des Nationalen Notstandskomitees. Sogleich
errichtete er ein Ministerium für Wiederaufbau, das seine Familie
nutzte, Zement, Ziegelsteine, Farbe, Holz, Fertighäuser,
dressierte Hunde, überhaupt alles einzusacken.
Wer sich nicht bereicherte, galt als dumm, als ein Idiot, er wurde
schieläugig angesehen und verachtet, man lud ihn nicht zu den
Cocktailpartys oder zu den Festen der Dinorah Sampson, der Geliebten
Somozas, in deren Haus es zwei Pools gab, die von oben und unten
illuminiert wurden. Die Regierung hielt es auch nicht für
notwendig, Rettungsbrigaden einzusetzen; jeder mußte seine
verletzten Angehörigen, die unter den Trümmern wimmerten,
selbst retten. Die größte Sorge Somozas war es, seine
politische Herrschaft zu sichern. In den ersten Tagen nach dem Beben
kam es zu Plünderungen, die mit der Schußwaffe brutal
unterdrückt wurden, aber die höchsten Offiziere der
Nationalgarde plünderten hemmungslos zum eigenen Nutzen. Die
internationale Hilfe, die das Erdbeben ausgelöst hatte, erreichte
nie die Geschädigten. Sie wurde ihnen, ohne daß man sich
groß Mühe gab, es zu verbergen, geraubt.
So wurde von Wiederaufbau geredet, doch nichts wieder aufgebaut. So
wurde von Schadenserhebung gesprochen, doch nicht einmal eine Liste der
Toten angefertigt. Diese Mondlandschaft stellte die Bühne, auf der
sich die revolutionäre Entwicklung der nächsten Jahre
vollzog. Das Bürgertum geriet in einen Prozeß wachsender
Spaltungen und Spannungen; Henry Ruiz schreibt: »Im Jahre 1973
hat sich Somoza endgültig vom Rest der Bourgeoisie entfremdet. Er
mischte sich ins Banken- und Finanzgeschäft und kollidierte mit
der Finanzbourgeoisie des Landes. Es reichte ihm nicht mehr, die
Produktionsmittel zu kontrollieren, er wollte auch die Geldwirtschaft
in Händen halten und verstieß so gegen die Regeln, die er
selbst für die Bourgeoisie aufgestellt hatte. Mit dem Erdbeben
bricht Somoza diese Regeln und zieht sich Feindschaft und Neid zu, es
bildet sich eine Gruppe politischer Gegner. So senkt Somoza selbst die
Waagschale der Stabilität gegen sich.«" (aus Borges Autobiografie »Mit rastloser Geduld«, 1989, dt. 1992, S.246-9)
(04.05.12)