Wahn & Sinn:
            Die anthroposofische Geheimlehre

Waldorf-Pädagogik ist »in«. Die Traktate Steiners erleben hohe Neuauflagen und in Universitätsseminaren wird Anthroposofie nicht etwa unter dem Motto "Je schwerer die Zeiten, desto Aber- der Glaube" abgehakt, sondern andächtig als Anleitung, die »eigene Mitte« zu finden, rezipiert.

"Das Ewig-Geistige zieht uns hinan..."


Der Mensch, weiß Steiner, ist eigentlich ein Gespenst bzw. Geist, also etwas, das man nicht sehen und hören, nicht riechen und anfassen kann. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, weil sich noch jedes Menschlein irgendwie akustisch oder optisch, als fysische und geruchliche Bereicherung oder Belästigung der Umwelt bemerkbar macht. Für den Geisterseher Rudolf Steiner ist dies kein Rätsel. Denn:
"Der Menschengeist muß sich immer wieder und wieder verkörpern; und sein Gesetz besteht darin, daß er die Früchte des vorigen Lebens in die folgenden hinübernimmt. Aber dieses Leben in der Gegenwart ist nicht unabhängig von den vorhergehenden Leben. Der sich verkörpernde Geist bringt ja aus seinen vorigen Verkörperungen sein Schicksal (Karma) mit." (I, 891)
Aha! Was da als vernunftbegabter Zweibeiner durch die Gegend läuft, gilt als bloße 
»Verkörperung« des »Ewig-Geistigen«. Ziemlich zombiehaft die Konstruktion: Die Lebenden sind die vorübergehenden Abstecher, die der Geist auf der Erde so unternimmt Was der da will, warum diese irdischen Abstecher sein »müssen«, warum der Geist nach einem kurzen Blick auf die Erde nicht wieder die Kurve kratzt und in seine ewigen Gefilde abrauscht, ist weder einsichtig und noch dazu angetan, einen für diesen Geist einzunehmen. Kaum hat er sich nämlich verkörpert, paßt ihm seine irdische Hülle nicht die Bohne. Er macht sich denn auch auf die Socken, sie wieder loszuwerden. Hat er es aber geschafft, mit dem Tode des Menschen seine unvollkommene Hülle wieder abzustreifen, fängt derselbe Zirkus mit einer neuen Hülle von vorne an. So jagt eine Wiedergeburt die nächste, ohne daß der Geist je zur Ruhe und zum Ziel käme. Für einen Geist macht er sich die Sache also ganz schön schwer! Und das, zumal ihm sein irdisches Dasein noch ein zusätzliches Problem einbrockt: Kaum hat er nämlich Menschengestalt angenommen, kriegt er diese Verkörperung als Schicksal aufgedrückt, welches seine künftigen Verkörperungen bestimmt. Der Geist muß also als Mensch an seinem Karma tierisch arbeiten, sonst droht ihm für die nächste Runde die weniger geistige Geistverkörperung als Quakfrosch oder Gänseblümchen!
Hier hält sich Steiner streng an die Logik jeder Religion, derzufolge es einerseits auf die Erdenwürmer gar nicht ankommt, weil sie lauter Hampelmänner des Jenseits sind; derzufolge andererseits alles von den Würmern abhängt, sie also auch Herr über ihre Bestimmung sind. Das muß so sein, weil für den Erdling ja aus seiner geisterhaften Abstammung nichts folgen würde, wenn er bloß Werkzeug wäre. Wenn die Geister also alles im Griff hätten, dann könnte Steiner keine Sekte zur Missionierung der Menschheit gründen. Dann wäre ja der Anthroposof und sein Kritiker genauso im Recht - das Geistige hätte eben beide geschaffen. Aber Steiner will eben jedermann einen irdischen Auftrag verpassen. Deshalb hängt er jedem an, bloß Verkörperung des Geistes zu sein, also vollständig vom Ewig-Geistig-Göttlichen bestimmt zu sein, und lokalisiert in jedermann Kräfte, an deren Einsatz sich erst entscheiden soll, ob der Mensch es zu einer gescheiten Verkörperung gebracht hat. So kommt dem Geist keiner aus, und jeder hat sich das gefälligst als Befehl zu Herzen zu nehmen.

Die Botschaft
dieses Widerspruchs ist klar:
1. Du, Mensch, habe Hochachtung vor Dir. Aber nur vor Dir als Teil der ewig-geistigen Weltordnung. Was immer die auch sei. Nimm Dich nicht als etwas anderes und darin schon gar nicht wichtig.
2. Als Verkörperung des Göttlich-Geistigen mußt Du ständig an Dir arbeiten. Denn Dein Schicksal, das Deine zukünftigen Leben bestimmt, willst Du Dir doch nicht versauen.
3. Dein Auftrag hinnieden lautet, mit Dir, mit Deiner wahren Bestimmung ins Reine zu kommen. Laß ab von allem, was Dich daran hindern könnte. Betrachte die irdische Welt nur daraufhin, wie sie Dir Hilfe oder Störung bei Deinem Bemühen ist, zur Harmonie mit Dir selbst zu kommen Deine späteren Reinkarnationen werden es Dir danken. Denke daran, was Du in den jeweils späteren Leben sein wirst, das bestimmst Du durch fleißige Arbeit am Karma in den jeweils früheren.

Leib-Seele-Identität: Gedanken zur Unzeit machen krank
Wenn sich jetzt die Jünger Steiners daran machen, den irdischen Auftrag zu erfüllen, um dem Nachwuchs zu einem schmucken Karma zu verhelfen, kann ja der Seher Steiner nun wirklich nicht überall dabeisitzen, um zu sagen, wohin das Ewig-Geistige bei Franz oder Gretel nun tendiert. Angesagt ist ein Code, in welchem die jedermann sichtbaren Fänomene der kindlichen Entwicklung in die kühnen Abstraktionen des Ewig-Geistigen der wahren Menschwerdung übersetzt werden. Kurz: An der Verkörperung muß sich ablesen lassen, was sich da jeweils verkörpert; was wiederum nur der Hohepriester selbst »spirituell
« erkannt zu haben braucht. Der Leib, behauptet er, ist nicht nur irgend so eine Hülle für das Göttlich-Geistige, sondern das Göttlich-Geistige selbst existiert als »fysischer Leib«. Und in dem steckt nun schon alles Höhere drin, und es muß nur herausgekitzelt werden, was dann zum wahren Menschsein führt. Weswegen es auch kein Wunder ist, daß sich für die Anthroposofie der Körper rächen muß, wenn am Geist vorbei erzogen wird. Ist doch der Geist auch Körper:
"Man muß die geistige Führung des Kindes so leiten, daß sie in den Organismus in der richtigen Weise hineinwirkt, daß man zum Beispiel nicht so durch das Überladen mit Gedächtnisstoff bei dem Kind wirkt, daß im späteren Alter Stoffwechselkrankheiten hervorkommen. Und wenn die Leute den Zusammenhang zwischen Gicht und Reumatismus und dem falschen Unterricht ... kennen würden, dann würden sie erst auf einem wirklichkeitsgemäßen Boden in Bezug auf die Erziehungskunst stehen." (III, 135)
Da kennt der Rassismus dieser theosofischen Anthropologie kein Pardon: Wenn der Zahnwechsel, die erste Regel, das erste Grinsen oder sonstwas falsch gedeutet wird, gibt's Gicht oder Ähnliches. Die Behauptung eines naturnotwendigen Entwicklungsganges hält am pädagogischen Wahn, mit allen erzieherischen Mitteln nur die Kindsnatur zu bedienen, derart beharrlich fest, daß doch glatt an der Natur der 
»Beweis« der Fehlerziehung erbracht wird, wofür sonst andere, mehr »soziale Abweichungen« wie »mangelnde Integrationsfähigkeit« oder »zügelloser Egoismus« bei diesen oder jenen »Abweichlern« entdeckt werden.
Zu diesem Zwecke haben die Anthroposofen den natürlichen Entwicklungsweg des Menschen detailliert vorgeschrieben und genau darauf geachtet, daß der Verstand erst dann - naturgemäß - seine Schulung erfahren darf, wenn dem Verstand schon ziemlich viel zugemutet worden ist.

Ihre Theorie der vier Leibchen
ordnet den Lebensaltern die Ausbildung von Geisteskräften in folgender Reihenfolge zu: Sinneswahrnehmung (»fysischer Leib«), Vorstellungsvermögen (
»Äther-Leib«), Gefühl (»Astral-Leib«) und Verstandesbildung (»Ich-Organisation«), wobei mit der letzteren auf keinen Fall vor dem 14. Lebenjahr begonnen werden darf; wie gesagt, sonst Diabetes, Diarröe oder Difteritis.
Als Entwicklungstheorie, die der Erziehungstätigkeit zugrunde gelegt werden muß, verdankt sie ihre Logik dem offenkundigen Interesse, die Verstandestätigkeit als naturgemäße zu begrüßen und zu fördern, wenn der Verstand schon etliche Jährchen anthroposofischer Indoktrination hinter sich hat.
1. Fase:
"Für das Kind (bis zum Zahnwechsel) gibt es noch nichts, als daß es Sinnesorgan ist. Und es nimmt alles, was es aufnimmt, so auf wie ein Sinnesorgan. ... Es geht ganz in seiner Umgebung auf ... Das Kind ist in den ersten 7 Lebensjahren ein rein nachahmendes Wesen." (II, 168f.)
So ein Menschlein hat es schwer in dieser Fase. In ihm haust ein zielloser Nachahmungstrieb, der ihn dazu treibt, alles, was um ihn herum passiert, nachzuahmen. Wo anfangen, was lassen? Der Trieb läßt sie dabei im Stich. Gleichzeitig soll es das Stricken (Oma), Pfeiferauchen (Vater), Schularbeitenmachen (Schwester) und den Vergaser reparieren (Bruder) nachahmen? Diese Erfindung eines leeren Willens wartet geradezu auf den Erzieher, der sich da einschaltet, um dem Göttlich-Geistigen, das sich über den Nachahmungstrieb wohl noch nicht so recht in Szene setzen kann, auf die Sprünge zu helfen. Deshalb das Gebot, die mit der Erziehung Betrauten mögen voll des nachahmenswerten Verhaltens sein.
Dasselbe Prinzip auch in Fase 2 und in der 3. Fase:
"Das Kind soll nicht in abstrakter Weise durch ein bloßes Urteil ... entscheiden, was wahr und falsch ist, was schön und was häßlich ist, was gut und was böse ist. Sondern es soll das Kind etwas als wahr empfinden, wenn der selbstverständlich innig verehrte Lehrer es als wahr empfindet." (IV, 139)
Abgesehen davon, daß Steiner die Unmöglichkeit verlangt, ein Gefühl für Gut und Böse ohne das entsprechende moralische Urteil zu vermitteln, welches dem Kind die Maßstäbe für die moralische Bewertung einer Handlung liefert; abgesehen davon ist auf diese Weise natürlich dafür gesorgt, daß auch kein Streit über 
»wahr und falsch«, über »gut und böse« aufkommen wird. Denn der Lehrer hat nach tiefem Seherblick in die Kindsnatur herausgefunden, welches Gefühl und welches Urteil sich für die Entwicklung des Ewig-Geistigen im Kind frommt. Das dieser Konstruktion zugrundeliegende Ideal jedenfalls liegt auf der Hand: Steiner möchte seine Ideologie unter Umgehung des Verstandes ins Kind versenken.
So wird das Kind langsam reif gemacht zur Betätigung des Verstandes, nachdem am 
»Intellekt« zuvor alles »Störende« getilgt ist. Z.B. so:
"Der Lehrer geht beim Üben im Rechnen immer wieder auf das gleiche Prinzip zurück Das Verteilen, das Verschenken aus einer Einheit heraus. ... Dabei wird gerade das Rechnen und Berechnen, falls man nicht acht gibt, leicht zum Tummelplatz kleiner Egoismen. Wenn du von Karl zwei und Oskar drei und von Katja zwei Bonbons kriegst, wieviel hast du dann? ... In das Zählen, Vergleichen, Messen schießt der Egoismus von selbst ein, besonders wenn an den Verstand appelliert wird. Der Intellekt will seiner Natur nach an sich raffen, neu
»gierig« sein — Herz und Wille müssen Selbstlosigkeit dagegen setzen." (VI, 191f)
Interessant ist es jetzt schon —, daß weniger vor Gicht und Reumatismus, sondern vor 
»Egoismus« und »Materialismus«, nicht vor Leib-Schmerzen, sondern vor Seelen- und Sozial-Schmerzen gewarnt wird. Berechnen macht berechnend, wenn da nicht ein Anthroposof vor ist, der klarstellt, daß das Kind nicht Bonbons zu wollen hat, sondern sich »verschenken« soll, wenn doch schon die Welt der Zahlen immerzu »aus einer Einheit heraus verschenkt«!

... und die moralische Quintessenz des anthroposofischen Rassismus

Die Bekämpfung des Egoismus steht auf dem pädagogischen Tilgendkatalog obenan. Ein Vorwurf an den Menschen, der eine komplette verkehrte Theorie über die Welt zum Inhalt hat! Der bloße Umstand, daß jemand ein Interesse verfolgt, soll der Grund dafür sein, daß er seinem Nächsten schwer an den Karren fährt und ihn schädigt. Als wäre mit der bloßen Differenz von Interessen bei Hinz und Kunz ein Gegensatz beider gegeben. Die Gegensätze, die tatsächlich die Welt bevölkern, werden damit vom Konto der tatsächlichen Urheber abgebucht und dem Menschen schlechthin in Rechnung gestellt: Das kapitalistische Geschäft mit dem Wohneigentum ist da für manche Querele zwischen Mieter und Vermieter gut; die betriebliche Kalkulation der Ernährung von Lohnarbeitern als Kosten für das Kapitalwachstum macht das Leben nicht gerade leichter. Und daß ein Staat Demonstranten verprügelt, deren Ego mit AKW oder Raketen nicht einverstanden ist, gehört auch nicht gerade zu den ewigmenschlichen Gegensätzen. So aber soll es der Mensch genau sehen: Er soll auf seinen Interessen nicht bestehen, sonst macht er sich zur Quelle des Unfriedens.
Die Tugend der Dankbarkeit ist das passende Gegenstück dazu Wann immer der Mensch etwas hat, soll er es als unverdiente Gnade auffassen und Dankbarkeit bezeugen. Kurzum: Die Anthroposofie proklamiert hier einen untertänigen Umgang mit den eigenen Interessen, der dafür sorgt, daß die maßgeblichen Interessen dieser Welt prächtig bedient werden und zum Zug kommen.
Das ist nicht einmal die Erfindung Steiners, sondern das Programm aller Pädagogik. Steiners Originalität liegt darin, daß er für seinen Tugendkatalog eigens das Prinzip des Geistig-Göttlichen sich hat einfallen lassen. Ihm entnimmt er als quasi objektive Qualität, was er an Erziehung fordert. Und insofern jeder Hosenmatz als Verkörperung dieses Geistig-Göttlichen behauptet wird, kommt auch die Bauernschläue aller Pädagogik voll zum tragen: Wann immer das Kind, ob mit oder ohne Watschen, unter das Erziehungsziel gebeugt wird, darin wird ihm zutiefst entsprochen, weil nur sein eigenes, ihm innewohnendes Prinzip verwirklicht wird.
Für dieses Programm ist der Gebrauch des Verstandes störend. Daher darf die Verstandesbildung laut Steiner erst einsetzen, wenn das Kind durch begriffslose Aneignung, vermittelt über (Nachahmungs-)Triebe und Gefühle (für den Lehrer) die Moral schon gefressen hat. Wenn der Verstand gelernt hat, Frieden im Umgang mit den Menschen, Demut, Selbstlosigkeit usw. als Tugenden zu akzeptieren, die dem Menschen zu seinem wahren Selbst und dem Karma zu einer frisch-fromm-fröhlichen Auferstehung verhelfen, dann erst ist auch der Verstand dran. Dann darf das Menschlein schon mal nach Begründungen fragen, denn es steht zu erwarten, daß es sich mit Antworten wie, in den Tugenden walte die göttliche Weltordnung bzw. sie entsprächen der wahren Menschlichkeit, zufrieden gibt.
Das Lob des Verstandes, wenn er diegewünschten Antworten zuwege bringt, wird deswegen von Steiner auch groß geschrieben:
"Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann." (I, 93)
Da sind Erkenntnisse über die
»niedrigen Welten« nur störend.


Die Prinzipien der Waldorf-Pädagogik

Steiner leistet sich den Luxus, den Beweis der Überlegenheit seiner Erfindungen über den Menschen praktisch anzutreten. Und dies, wo solche Erfindungen dafür wirklich nicht gedacht sind. Daß in allem, was existiert ein göttliches Prinzip herrsche, mag ein Angebot an eine nach Sinn dürstende Menschheit sein, wenn ihr denn gar nicht einleuchten kann, warum ihr immer so übel mitgespielt wird. Aber das Ewig-Göttlich-Geistige praktisch zur Handlungsmaxime zu machen, das ist doch ziemlich heikel.
Rausgekommen ist eine Schulform, deren Resultate der staatlichen Schulaufsicht irgendwie eingeleuchtet haben müssen. Den staatlichen Segen haben diese Schulen jedenfalls.
Daß der Tugendkatalog der Waldorf-Pädagogik einem modernen demokratischen Kultusminister ein Dorn im Auge sein müßte, läßt sich ja nun wirklich nicht behaupten. Schließlich lernen Kinder auf der Waldorf-Schule auch Lesen, Schreiben, Rechnen, eine Fremd-sprache und staatsbürgerlichen Anstand. Kapitalistisches Privateigentum und demokratischer Wahl-Klimbim sind mit dem Ewig-Geistigen offensichtlich gut verträglich und die sonstigen Spinnereien der Anthroposofen (Eurythmie, Geschichte als Mythologie, die verpönten rechten Winkel in der Architektur, die fast religiöse Goethe-Verehrung usw.) stören nicht groß. So dürfen denn die Anthroposofen glauben, daß in ihrer Schule rein die Anthroposofie bestimmt, was sich für die Menschennatur gehört und nicht die staatlichen Lehrplankomission.

Das Prinzip 1
der Waldorf-Pädagogik -
"Es handelt sich also darum, aus der Natur des Kindes selbst abzulesen, was unterrichtend mit dem Kind geschehen soll." (II, 115)
— ist einerseits der alte, neue pädagogische Unfug, die Notwendigkeit der Erziehung ausgerechnet mit lauter Argumenten, die ihre völlige Überflüssigkeit begründen, ableiten zu wollen. Denn im Kind soll ja bereits alles stecken, was Erziehung erst aus ihm machen will. Andererseits möchte sie darauf bestehen, Lehrplankomission und pädagogische Legitimationswissenschaft zugleich zu sein. So werden denn alle Glaubensartikel über die Kindesentwicklung ganz streng zur »Ableitung« des anthroposofischen Lehrplans herangezogen. Weil sich aber aus dem Verlust der ersten Zähne ebensowenig wie aus dem Verlust der letzten Haare irgendein Unterrichtsinhalt ableiten läßt, geht's dabei lustig zu:
"Das kleine Kind hat bis zum Zahnwechsel sein Seelenleben am stärksten durch die Bewegungen seiner Gliedmaßen zum Ausdruck gebracht, es erlebt sich nach dem Zahnwechsel mehr im Rythmus seiner Atmung und seiner Blutzirkulation. Es hat daher (!!) zu allem, was in Reim, Rythmus und Takt sich gestaltet, ein instinktives (!) Verhältnis." (V, 11)
Und das etwas größere Kind:
"Nun (vom 12. Jahre an) ergreift der junge Mensch sein Skelett, indem er gleichsam vom Muskel über die Sehne zum Knochen übergeht, seine Bewegungen verlieren Rythmus und Anmut, werden eckig, ungeschickt, willkürlich. ... Alles aber, was im Leben und (?) in der Wissenschaft einer mechanischen Gesetz-mäßigkeit unterliegt, kann dem Schüler erst jetzt (!!) mit Nutzen und ohne Schädigung nahegebracht werden, wo sich sein seelisch-geistiges Wesen stärker mit der Mechanik seines Knochensystems verbindet." (V, 25)
Und kurz bevor er platzt, darf er dann die Dampfmaschine kennenlernen.
Ohne große Mühe und mit eben derselben Berechtigung ließe sich auch vor all dem, was da 
»erst jetzt ohne Schädigung« verabreicht werden darf, eine Warnung aussprechen: bloß keine flotten Rythmen, bevor nicht die neuen Beißerchen nachgewachsen sind oder viel Rythmus und Takt gegen eckige, ungeschickte Bewegung. Etwa nach folgendem, ebenfalls original anthroposofischen

Prinzip 2
"Ein aufgeregtes Kind muß man mit roten oder rotgelben Farben umgeben und ihm Kleider von solchen Farben machen lassen, dagegen ist bei unregsamen Kindern zu blauen oder blaugrünen Farben zu greifen. ... Es kommt nämlich auf die Farbe an, die als Gegenfarbe (!!) im Innern erzeugt wird." (VI,182)
Hauptsache alles, was im Unterricht vorkommt, kann als Mittel zur naturgemäßen Beförderung des Ewig-Geistigen behandelt werden. Nichts wird unterrichtet oder beigebracht, damit es nachher gekonnt und gewußt ist. Alles hat eine Funktion zur Hervorbringung dessen, was als Geistiges im Menschen angelegt ist. Dabei versteht es sich von selbst, daß die Formen, in denen sich diese geistige Erweckungspädagogik abspielt, ihrem hehren Zweck entsprechen müssen: Dem Ewig-Geistigen auf der Spur muß man »Hören und Lauschen können
«.

Prinzip 3
lautet also: es hat eine Atmosfäre der »Andacht und des Verehrens
« zu herrschen:
"Niemand kann sich höhere Erkenntnis aneignen, der sie nicht empfängt. Und dieses Empfangen-Können bedeutet vor allem die Fähigkeit der Geduld, des Warten-Könnens, der Erwartung zu pflegen. ... Höhe des Geistes kann nur erklommen werden, wenn durch das Tor der Demut geschritten wird." (I, 94f)
Demut dem Eigentlichen im Menschen selbst gegenüber, Andacht als Haltung, es zu erfahren usw. gibt es nur dort, wo jedes Urteilen durch die grundlose Verehrung des Gegenstandes ersetzt ist. Und grundlos muß sie sein, die Verehrung. Denn - und damit schließt sich der methodische Zirkel - nach Gründen zu fragen, hieße bereits, sich selbst als Instanz, die über Maßstäbe zur Beurteilung des Verhältnisses von Wollen und Sollen verfügt, ins Spiel zu bringen. Das wäre gar nicht demütig, wäre undankbar usw., weswegen man des Ewig-Geistigen denn auch nicht teilhaftig werden könne.

Prinzip 4
Die Erzieher sind recht eigentlich »Priester
« (II, 181)
"Wir sind die Pfleger der göttlich-geistigen Weltordnung wir sind die Mitarbeiter; die das Ewige im Menschen pflegen wollen." (II, 179) —
und dürfen also solche gelegentlich schon mal aus der Rolle fallen und Strafen austeilen:
"Die einzig mögliche (Theorie über Strafe) findet man nur; wenn man weiß, daß es sich darum handelt, mit der Strafe die Kräfte der Seele so anzuspannen, daß das Bewußtsein sich erweitert über die Kreise, über die es sich vorher erstreckt hat. ... Eine körperliche Strafe, von einer respektierten erwachsenen Person erteilt, kann mitunter einen günstigen, aufschreckenden Effekt haben." (VI, 172f)
Eine Tracht Prügel zum richtigen Zeitpunkt wirkt oft Wunder, hat schon mein Vater immer gesagt, wenn er zuschlug. Er wußte, daß er Gewalt als Mittel einsetzte, den widerspenstigen Willen zu brechen. Für die Anthroposofie stellt sich das anders dar: Da werden nur 
»Hindernisse hinweggeräumt«, die sich der natürlichen Entfaltung des »ewigen Wesenskerns« in den Weg gestellt haben. Ein abweichender Wille, der vielleicht von Dankbarkeit und Hilfsbereitschaft nicht viel hält, wenn er dafür keine Gründe weiß, ist nicht vorgesehen. Der zeugt eher von ungesunder Seelenverstopfung:
"Das Kind hat in seinem Inneren Kräfte, welche es zersprengen, wenn sie nicht heraufgeholt werden in bildhafter Darstellung. Und was ist die Folge? Verloren gehen sie nicht; sie breiten sich aus, sie gewinnen Dasein, treten doch in die Gedanken, in die Gefühle, in die Willensimpulse hinein. Und was entstehen daraus für Menschen? Es entstehen Rebellen, Revolutionäre, unzufriedene Menschen, Menschen die nicht wissen, was sie wollen..." (VI, 81)
Na bitte, irgendwie hat man es schon immer gewußt, daß der Rebell im Menschen eine Sache seiner Unnatur ist, daß folglich der 
»unzufriedene Mensch« nicht jemand ist, der nicht erhält, was er will, sondern einer, der gar nicht weiß, was er will. Er will eben etwas, was für die Anthroposfie ein von der »göttlich-geistigen Weltordnung« nicht vorgesehener Willensinhalt ist. Im vorgesehenen »natürlichen Willen«, da gibt es nur das Bedürfnis nach Harmonie mit sich selbst. Was anderes ist von der »göttlich-geistigen Weltordnung« nicht geplant; selbst für den Fall nicht, daß die ganze Welt voll von Disharmonien ist, welche einen nicht dazu kommen lassen, das Göttlich-Geistige zu entfalten. Da wird der Anthroposof schon zum Ankläger des »Unfriedens in der Welt«, der »Ausbeutung«, der »Zerstörung der Natur« und der Züchtung »von Egoismus und Materialismus«. All das stört ihn. Jedoch nichts stört ihn als das, was es ist: Der »Unfrieden« nicht als Krieg, in den imperialistische Staaten ihre Leute schicken, um ihrer Souveränität neue und größere Geltung zu verschaffen. Die »Ausbeutung« nicht als die Benutzung und Perpetuierung der Armut des Lohnabhängigen für fremden Kapitalreichtum. Und die »Zerstörung der Natur« nicht als kapitalistischer Zugriff auf eine der natürlichen Springquellen jeden Reichtums All das ist dem bornierten Standpunkt des Anthroposofen nur in einem störend. Es gilt ihm als irdischer Anschlag auf die Verwirklichung seines Harmonieideals. Und jenes ist es auch, welches ihm verbietet, auf die Störung, die die Welt für ihn darstellt anders denn mit der Demonstration seiner harmonietrunkenen Alternative zu antworten; sonst wäre ja die ganze Arbeit am Karma umsonst!

Warum Waldorf-Pädagogik »alternativ« ist
Es gäbe einige Gründe, Kritik an dem Treiben in der Regelschule anzumelden: Prüfungen, Zensuren, Sitzenbleiben, Konkurrenz um Noten usw. geben Aufschluß über den Zweck dieser Bildungsveranstaltung. Als Schüler hat man seinen Verstand so zuzurichten, daß man sich den vorgesetzten Stoff zu dem Zweck reinzieht, im Vergleich zu anderen Schülern besser beurteilt zu werden. Der staatliche Zweck ist die Herstellung des Materials für seine Berufshierarchie: Die Guten gehen aufs Gymnasium und haben die Chance auf einen Professorenposten, die Schlechten können mit dem Hauptschulabschluß oder sogar ohne darauf hoffen, noch Hilfsarbeiter oder ähnliches zu werden.
Doch daß Noten diese für die Aussortierten höchst ungemütliche Verteilung zuwegebringen, ist nicht der Inhalt der Kritik, die Anthroposofen an der Regelschule üben. Ihre Sorte Kritik trifft sich im übrigen mit Alternativ-Pädagogen und fortschrittlichen Eltern, die ihre Kinder vor der repressiven Erziehung der Regelschule bewahren wollen. Weswegen es auch sehr gerecht ist, wenn einigen Alternativen die Waldorf-Schule ziemlich alternativ vorkommt Sie entdecken in der Tat einige ihrer Lieblingsspielzeuge - Unterricht ohne Noten, praxisorientierter und Projektunterricht, angstfreies Lernen, Naturverbundenheit, Förderung der Kreativität - dort wieder.
Man kann dasselbe natürlich auch kritisch gegen die Anthroposofie wenden, ihr zwar zugute halten, daß es dort keinen Konkurrenzdruck etc. gebe, aber das jenseitige Brimborium der Steiner-Pädagogik suspekt finden. Seltsamerweise werden solche Kritiker der Waldorf- Schule gar nicht stutzig über ihre eigenen Ideale von Schule, wenn sie bemerken, daß dieselben offenbar wunderbar in das religiös-filosofische Weltbild Steiners passen.

Beispiel 1: Keine Noten = keine Erziehung zum egoistischen Ellenbogendenken

Altemativpädagogen haben an Noten auszusetzen, sie seien nicht objektiv, sorgten außerdem für Schulangst und ein mieses Konkurrenzklima statt für Solidarität unter den Schülern. Deswegen ziehen manche die Waldorf-Schule einer Regelschule vor, weil man dort sein Abitur auch ohne dauernden Notendruck kriegen kann.
Für Steiner hat dieselbe Notenkritik einfach einen tieferen Sinn: Noten stacheln die Kinder zu Konkurrenzdenken an, was für Steiner — wie für andere Alternativos auch — unter Egoismus fällt. Wer in der Schule auf seinen Vorteil bedacht nach guten Noten strebt, der vergeht sich nach Steiner an seinem eigentlichen Ziel, nämlich der Verwirklichung des Ewig-Göttlich-Geistigen. Schließlich ist der Mensch für Steiner qua Natur ein Teil eines harmonischen Ganzen, welches mit dem Kosmos auch den lieben Nächsten einschließt. Und so betrachtet entfernt sich der Mensch von sich selbst, wenn er in Konkurrenz zu anderen seinen Vorteil erreichen will. Statt sich in der bestimmungs-gemäßen Harmonie mit der Welt und den Mitmenschen zu befinden, schwingt er sich zum Nutznießer, also zum Herren des Kosmos auf. Das bedeutet Disharmonie, und Disharmonie macht krank. Demut ist also angesagt. Bei dieser Selbstfindung stören nach Steiner die Noten.

Fazit: Alternativpädagogen sind sich einerseits mit Steiner durchaus einig in Sachen Notenkritik: Nicht, daß das Resultat der schulischen Konkurrenz ein angenehmes Leben für die meisten ausschließt, finden sie skandalös. Gang im Gegenteil: Daß die Schule dieses Ziel auf 
»unterschiedlichen Wegen« anstrebt, stinkt ihnen. Wir finden: Wer diese reaktionäre Moral unterschreibt, soll bei Steiners Mystizismus nicht zimperlich werden. Daß der kosmische Weltgeist den Eigennutz für die Menschennatur nicht vorgesehen hat, ist doch eine sehr passende Filosofie, wenn man den Leuten ihr eigenes Interesse an einem guten Leben als Verstoß gegen ihr eigentliches Bedürfnis nach Freiheit von diesem Interesse andichten will.

Beispiel 2: Handwerklich-künstlerische Orientierung = keine Verkopfung
Altemativpädagogen finden handwerklich-künstlerische Elemente des Unterrichts höchst fortschrittlich. Da kann endlich der ganze Mensch seine Kreativität entfalten, statt von verkopftem Unterricht an seiner Selbstverwirklichung gehindert zu werden!
Steiner unterschreibt diesen Anti-Intellektualismus sofort. Natürlich wird der Mensch vergewaltigt, wenn man ihn durch Wissen über die Welt theoretisch zum Herren über sie macht, ihm also die Voraussetzung an die Hand gibt, seine Umwelt auch praktisch in den Griff zu kriegen. Wo uns der Weltgeist doch zum Stäubchen bestimmt hat! Es geht Steiner eben darum, Demut und Dankbarkeit gegenüber dem Ewig-Geistig-Göttlichen ins Herz der Kinder zu versenken. Und für diesen Zweck erscheint ihm der Verstand, welcher Begreifen statt sich Einfügen zum Inhalt hat, als höchst unsicherer Kantonist, den er lieber umgangen sehen möchte.
Pardon, das möchte natürlich nicht Steiner, sondern das Kind selbst. Dessen Entwicklung hat er nämlich abgelauscht, daß handwerkliches Treiben für die Kleinen genau das richtige Transportmittel seiner Ideologie ist. So nämlich "macht jeder Schüler die Erfahrung: Das Material hat auch einen eigenen Willen. Wenn man die Eigenart der betreffenden Holzart nicht entsprechend respektiert, zersplittert es." (Erziehung zur Freiheit, E. Carlgren, S. 108) Wenn man im Kopf noch halbwegs bei Trost ist, dann könnte einem der Widerspruch an Steiners Behauptung auffallen: Daß ein Stück Holz bei sachgemäßem Umgang frei verfügbares Material für menschliche Vorhaben ist - man kann es ebensogut verbrennen wie verzieren - soll ausgerechnet beweisen, daß in diesem Stück Holz ein mit eigenem Willen begabtes Subjekt vorliegt, dem man untertänigsten Respekt zu zollen hat. Was will es denn nun? Damit das einem Kind einleuchtet, ist eben schon ein bißchen mehr als handwerkliche Betätigung nötig. Diese verkehrte Theorie erfährt nämlich kein Kind, wenn ihm wegen unsachgemäßer Handhabung ein Stück Holz zersplittert. Denn die Erklärung dieses Sachverhalts kann man nicht erleben. Da muß man den Kopf schon ein bißchen in Aktion setzen. Aber da werden Anthroposofen schon nachhelfen und dem Kind beibiegen, was es nun »erfahren« hat!

Fazit: Alternativpädagogen und Anthroposofen sind sich durchaus einig in ihrer Abscheu vor dem Intellekt. Beide wittern im Interesse an Wissen eine Störung der Harmonie zwischen Mensch und Welt. Wer nämlich der Welt die Frage aufmacht, 
»WARUM« sie so ist, wie sie ist, ist theoretisch auf Distanz gegangen und behält sich damit vor, nur vom Urteil über die Welt abhängig zu machen, ob er sich in Übereinstimmung mit ihr befindet. Wenn Kinder also zu der devoten Haltung erzogen werden sollen, auf Biegen und Brechen in der Welt eine Gelegenheit zur Selbstverwirklichung zu entdecken, dann läßt man solche Fragen besser nicht aufkommen.
Das könnte nur Gräben zwischen Kind und Welt aufreißen. Ob man dieses Erziehungsprogramm wie Alternativos nun besser mit dem Nutzen begründet, den es für ein sinnerfülltes Leben bringt oder wie Steiner als natürlichen Weg zur Teilhabe am geistig-göttlichen Weltprinzip vorstellig macht, ist dabei scheißegal.

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Literaturnachweis:
(I
II)  J. Hemleben (Hg), R. Steiner in Selbstzeugnissen, Reinbeck 1963
(I
II)  Über die Erziehungsfrage, in: R. Steiners Anthroposofische Menschenkunde und Pädagogik, Dornach
(III)  Die Kunst der moralischen und fysischen Erziehung, in: R. Steiners Anthroposofische Menschenkunde, Dornach
(IV)  Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, R. Steiner, Dornach
(V
I)  Vom Lehrplan der freien Waldorf-Schulen, Stuttgart 1962
(VI)  Erziehung zur Freiheit, Die Pädagogik Rudolf Steiners, Franz Carlgren, Stuttgart 1972

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[Erstveröffentlichung Mai 1990]