Warum schämt sich Frau Merkel eigentlich für die Morde von drei Neonazis?

1.

Ja, das tut sie. Mehrmals und in aller Öffentlichkeit bekundete die Kanzlerin: "Die Mordserie ist eine Schande, das ist beschämend." Ihr Hofstaat folgte ihr und das gesamte Parlament verabschiedete einstimmig eine Schamresolution anläßlich der Aufdeckung des NSU: "Wir – das Parlament – sind zutiefst beschämt, daß nach den ungeheuren Verbrechen des NS-Regimes rechtsextremistische Ideologie in unserem Lande eine blutige Spur unvorstellbarer Mordtaten hervorbringt." Bestürzt kann man sein, vielleicht auch entsetzt - aber beides nur im ersten Augenblick. Denn mit dem zweiten Augenblick müßte das Nachdenken über die Ursachen der Mordserie einsetzen, damit sich zukünftige Bestürzung über ähnliche Taten in Grenzen hält. Und zum Nachdenken müßte auch gehören, sich Klarheit zu verschaffen über den Zusammenhang zwischen der ganz gewöhnlichen, von der Ausländerpolitik je nach Konjunktur immer wieder angeheizten Ausländerfeindlichkeit guter Deutscher und jener mörderischen »Ausländerpolitik«, die der NSU dann über ein Jahrzehnt hinweg nicht mehr den regierenden Demokraten überlassen wollte, sondern in die eigenen Hände genommen hat. Daran fehlt es in den Kreisen der für die Abwehr, Ausweisung und Zulassung von Ausländern Verantwortlichen. Natürlich! Denn wer wollte von ihnen schon die Fundamentalkritik ihrer eigenen Ausländerpolitik verlangen [1]. Stattdessen wird sich geschämt.

2.

Aber warum eigentlich? Scham paßt doch gar nicht zu der Gefühlslage einer Kanzlerin, könnte man meinen. Ist sie doch weder für die Taten des NSU verantwortlich noch verbindet sie etwas mit Tätern. Die zählen zu den Feinden der Demokratie. Da ist eine Bekräftigung der Feindschaftserklärung angesagt. Und die erfolgte ja auch. Was soll dann das Schämen? Scham ist doch nur angesagt, wenn man sich selbst bei einer Tat oder einem Gedanken ertappt, der gar nicht zum eigenen moralischen Repertoire paßt. Ebenso schämt sich eine Mutter, wenn sich ihr Kind in einem öffentlichen Verkehrsmittel über einen über die Maßen korpulenten Mitfahrer kaputtlacht. Weil: Das macht man nicht, das ist ungehörig, weiß die Mutter. Das Kind aber noch nicht. Wenn die Mutter dann mit öffentlicher Scham reagiert, lastet sie sich ganz öffentlich das fröhliche Kind als ihr Erziehungsversagen an und wird rot. Über ein fremdes Kind hätte sie sich mit dieser Geisteshaltung mokiert. Es verbindet sie mit ihm ja auch nichts: keine Familienbande, deshalb keine Verantwortung für den Anstand des Nachwuchses.

3.

Ob die Kanzlerin rot geworden ist, ist nicht überliefert. Es ist auch nicht anzunehmen. Dafür war die Schambekundung zu kalkuliert und zu demonstrativ. Die Kanzlerin, ganz Landesmutter, weiß sich aber offensichtlich für diese Landeskinder, die da auf diese schiefe Bahn geraten sind, irgendwie verantwortlich, wenn sie ein ums andere Mal darauf insistiert, daß solche Taten von Neonazis »zu uns«, meint: zu Deutschland nicht passen; genauer: nicht mehr zu Deutschland, zu der modernen demokratischen Nachkriegsrepublik passen. Das will sie gesagt haben und das will sie allen Deutschen ins Stammbuch geschrieben haben: »So geht Deutschland nicht mit Ausländern um. Das gehört sich nicht. Weder wir, die Regierung, und erst recht nicht ihr, die Bürger, dürfen so mit Ausländern verfahren!« Das klingt nicht nur wie ein Dementi, sondern ist eins und ist deswegen entsprechend geständig. Wir, verkündet sie damit, bringen doch die Ausländer nicht um, die uns nichts nützen. Das wäre gegen Recht und Gesetz. Da haben wir ganz andere Mittel und Wege, um sie los zu werden. Und wenn dabei welche umkommen, dann sind das bedauerliche Kollateralunfälle, die aber nicht auf unser Konto gehen. Denn wer sich klammheimlich über unsere Grenzen schleicht, der weiß ja, daß er nicht willkommen ist.

Das ist die Botschaft, die mit der Scham vermittelt werden soll. Deswegen ist sie auch etwas für die Öffentlichkeit. Doch ist das nicht alles. Es bedarf schon noch der Aufklärung darüber, warum zu dieser patriotischen Botschaft das Schämen paßt:

4.

Wer sich so äußert, als hätte er selbst Hand an Ausländer gelegt oder sei zumindest mit dafür verantwortlich, hat ein intimes Verhältnis zu den Tätern. Natürlich ist diese Intimität zwischen der Merkel und dem NSU politisch geprägt; sie buchstabiert sich so: Im Namen des beide einenden Deutschtums wird sich da geschämt. Wie gesagt: Die deutsche Landesmutter weiß sich gerade wegen der Abscheu vor den Taten der Nazis doch irgendwie und ganz elementar eins mit den Tätern. Es sind eben deutsche Landeskinder! So bringt Scham die Verurteilung der Taten mit dem Festhalten am gemeinsamen Deutschtum zusammen.

Der Beleg dafür liegt auf der Hand: Als die Mordserie an den Ausländern noch deren Landsleuten aufs Konto geschrieben wurde, rührte sich kein deutsches Schamgefühl. Für Fremde schämen, dazu bestand kein Anlaß und gab es keinen Grund. Da weiß man vielmehr gleich woran man ist: Wenn sich die Ausländer untereinander in Drogenkriegen abschlachten, Schutzgelderpressungen mit exemplarischen Morden untermauern oder sich wechselseitig in Ehrenhändeln massakrieren, dann ist das typisch für die – wußten Kripo und Geheimdienste sofort. Denn denen ist jenes Ausländerbild nicht fremd, das an deutschen Stammtischen ausgepinselt wird. Schämen war erst angesagt, als sich herausstellte, daß den drei Jungdeutschen – aus dem Osten stammend, aber nach der »Wiedervereinigung« erzogen – eingefallen war, mit Ausländern so mörderisch zu verfahren, wie es inländischen Bürgern einfach nicht zusteht und wie es Politik, Medien und Wissenschaftler nur vom »verbrecherischen Nazi-Regime« kennen wollen.

5.

Allerdings sind jungdeutsche Täter nicht gleich jungdeutschen Tätern. Als damals die RAF einige Mitglieder der nationalen Elite umbrachte, stellte sich in Kreisen der Politik keine Scham ein. Das politische und geheimdienstliche Verhältnis war vielmehr von einer Feindschaftserklärung beherrscht, die zur vollständigen Auflösung bzw. Eliminierung dieser ebenfalls aus dem Untergrund operierenden anarchistischen Zirkel führte. Offensichtlich handelte es sich bei diesen jungen Deutschen aus gutem Hause nicht um Landeskinder, die es trotz ihrer bzw. wegen ihrer Taten immer noch irgendwie einzugemeinden galt. Wer wie die RAF im demokratischen Staat den politischen Feind - die Verkörperung »des Schweinesystems« - sieht und dies mit Entführungen und Exekutionen propagiert, der ist jener verzeihenden Haltung nicht würdig, mit der sich Scham die inkriminierte Verfehlung immer mehr oder weniger selbst anlastet. Es kennt der Staat nämlich dort kein Pardon, wo er selbst in seinen Grundfesten erschüttert werden soll. Da steht das Trennende, die Feindschaftserklärung, turmhoch über dem Gemeinsamen, der deutschen Staatsbürgerschaft [2]. Da steht nichts als politische Ausgemeindung bis hin zur fysischen Liquidierung an.

6.

Der NSU dagegen wird ein Rückfall in überwundene deutsche Zeiten attestiert: "... nach den ungeheuren Verbrechen des NS-Regime...", heißt es in der Bundestagsentschließung, mit der darauf hingewiesen wird, daß die Zeiten des NS-Regimes seit gut sechs Jahrzehnten vorbei sind und deshalb für eine faschistische Gesinnung in der deutschen Demokratie kein Platz ist. So erklärt sich der politische Sachverstand das Ungehörige der Taten des NSU: Sie stehen für etwas, das einst schon zu Deutschland gehörte, nun aber nicht mehr zu Deutschland paßt, weil »unsere Vergangenheit« bekanntlich bewältigt worden ist. Die Diagnose »Rückfall« bemüht sehr gezielt die Vorstellung einer nationalen Kontinuität zwischen der NS-Zeit und der heutigen. Beide Systeme waren deutsche Systeme, das verbindet bei allem, was sie trennt [3]. Nicht so sehr die Zahl der Toten, die auf das Konto des NSU gehen, erschreckt die Politiker. Sie schämen sich vielmehr demonstrativ, weil sie bei diesen Deutschen eine Gesinnung vorfinden, die sie in und mit der Nachkriegszeit doch ausgeräumt wissen wollten. So entdecken sie mit der Rückfall-Diagnose in der Tat ein Stück eigenes Versagen. Ihre berechnend kleinlaute Frage heißt: Haben wir wirklich alles getan, um die verbrecherische Gesinnung der NS-Zeit vollständig im deutschen Volke auszurotten? Haben wir uns – etwa - in der schulischen Befassung mit dem Nationalsozialismus Versäumnisse zu Schulden kommen lassen?

Die Verharmlosung, die in dieser Diagnose steckt, sollte man nicht übersehen. Als ob diese Nazis Restbestände der »Ewiggestrigen« wären, die 33-45 überlebt haben! Dabei handelt es sich um neue und junge Nazis, die zum Teil von der »Hitlerei« gar nicht mehr überzeugt sind. Daß hier nicht Nachwehen der Hitlerzeit zu registrieren sind, sondern daß der demokratische »Schoß« fruchtbar ist und bleibt, geht meilenweit an den Grundüberzeugungen der Regierenden vorbei.

7.

Und an denen lassen sie nun mal nicht rütteln. Weswegen die mit der Scham-Zurschaustellung zugleich reklamierte Verantwortung auch eine vorwärts weisende Ansage enthält: Wir waren und wir sind weiterhin zuständig dafür, daß sich in unserem Volk keine Gesinnung breit macht, die unsere Grundüberzeugung in Frage stellt, daß die Demokratie ein Bollwerk gegen jede Sorte von Extremismus, also von Faschismus und Kommunismus ist. Deswegen steht für die Regierenden im Bund und in den Ländern auch nicht eine nachholende Erziehungsarbeit an, mit der »Versäumnisse« korrigiert werden sollen. So ist das mit der kleinlaut daher kommenden Suche nach möglichen Fehlern nicht gemeint: Fehler in der geistigen »Vergangenheitsbewältigung« sehen die Landesmütter und -väter schon mal nicht. Es steht auch keine Gesinnungskorrektur an, die sich mit faschistischen Argumenten auseinandersetzt, sondern effektivere Gesinnungskontrolle.

Und dafür gibt es genug Abteilungen der Staatsgewalt, denen diese Aufgabe obliegt. Diese Staatssicherheitsorgane haben, erfährt man nun, bei ihrem Auftrag, jeden Bürger mit abweichender politischer Gesinnung aufzuspüren, zu verfolgen, zu überwachen und gegebenenfalls aus dem Verkehr zu ziehen, versagt – wenigstens bei den neuen Nazis, den Extremisten von rechts. Da mußten sich die Behördenchefs glatt auch ein wenig öffentlich schämen.

8.

Keine Frage: Wenn Politiker sich öffentlich für die Morde von drei Neonazis schämen, ist das weder ein Grund, sie für Empathie zu loben, noch ihnen eine Neuorientierung im Umgang mit »Extremismus« zu Gute zu halten. Dem Innenminister Friedrich ist schon zu glauben, wenn er verkündet, daß jetzt gegen Neofaschisten und die NPD andere Seiten aufgezogen werden, die Maß nehmen an den Erfolgen der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen Linksextremismus, Kommunismus, Anarchismus und des Terrorismus verdächtige Moslems.

Freerk Huisken


www.fhuisken.de
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[1] Vgl. dazu die ausführliche Befassung mit dem Zusammenhang in: F. Huisken, Der demokratische Schoß ist fruchtbar – Das Elend der Kritik am (Neo-)Faschismus, VSA-Verlag, 2012

[2] Wer in der Schule gelernt hat oder noch lehrt, daß uns Scham- und Schuldgefühle gut anstehen, wenn es um die Befassung mit dem »3. Reich« geht, muß sich dieselbe Kritik gefallen lassen: Nur im Namen des Deutschtums, daß die heutigen Deutschen mit den damaligen eint, läßt sich an ein solches Gefühl appellieren. Da steht dann das Denken in Kategorien der nationalen Zugehörigkeit über der Kritik am Faschismus. Das ist nichts als, nationalistische Indoktrination im Namen des offiziellen Antifaschismus. (Vgl. R. Gutte, F. Huisken, Alles bewältigt, nichts begriffen. Nationalsozialismus im Unterricht, VSA-Verlag, 2. Auflage 2007)

[3]  
Da hatte die RAF richtig Pech gehabt, daß es keine anarchistische Fase in der deutschen Geschichte gab!